Disgardium, Buch 3: Die Vernichtende Seuchevon Dan Sugralinov
Kurze
Zusammenfassung von Buch 1 und 2
Planet Erde, 2074-2075
AUF UNSEREM PLANETEN
leben derzeit 20 Milliarden Menschen. Ein Drittel davon sind Nicht-Bürger:
jene, die für die Gesellschaft als wertlos betrachtet werden und daher kein
Recht darauf haben, in den Genuss der Annehmlichkeiten der Zivilisation zu
kommen. Das UN-Bildungsministerium verlangt von jedem Teenager zwischen 14 und
16 Jahren, täglich eine Stunde in Disgardium zu verbringen. Nachdem Alex
Sheppard beim Erstellen seines Charakters einen Fehler gemacht hat, der zu
Problemen beim Leveln führt, verliert er schnell das Interesse am Spiel. Über
ein Jahr lang verbringt er zusammen mit Eve O’Sullivan, einem Mädchen aus
seiner Nachbarschaft, die in ihn verliebt ist, die obligatorische Stunde auf
einer Bank neben dem Gasthaus der Sandbox.
Seine Eltern wollen
sich scheiden lassen, wodurch ihr Staatsbürgerschaftsstatus sich senken wird.
(„A” ist die höchste Klasse, die die Elitebürger der Welt besitzen, und „L” ist
die niedrigste Klasse, die für die unterste soziale Schicht der Gesellschaft
reserviert ist.) Es würde ihr Einkommen so stark beeinflussen, dass sie Alex’
Ausbildung nicht mehr bezahlen könnten. Sein Traum, in einer Welt, in der die
Kolonisation des Planeten Mars Realität geworden ist und die Umlaufbahn der
Venus verschoben werden soll, ein Weltraum-Reiseführer zu werden, würde sich
zerschlagen.
Nun hat Alex keine
andere Wahl, als Disgardium zu spielen – allein schon, um sein Studium zu
finanzieren. Er wählt den Namen „Scyth” für seinen Ingame-Charakter.
Um die Ausgewogenheit
des Spiels zu bewahren und imba Spieler unschädlich zu machen, hat der
Entwickler des Spiels, Snowstorm Inc., sich das System der „Gefahren” einfallen
lassen. Alle Spieler, die vom Artefakt Flamme der Wahrheit als Gefahr
identifiziert werden, können durch ein einfaches Ritual aus dem Spiel entfernt
werden. Diejenigen, die die Gefahr eliminieren, erhalten eine Belohnung, die
vom Potenzial der Gefahr abhängt, während die eliminierten Spieler je nach
ihrem erreichten Level belohnt werden. Auf diese Weise ist es für potenzielle
Beseitiger oder „Verhinderer”, wie sie sich lieber nennen, interessanter, die
Gefahr so früh wie möglich zu beseitigen, bevor sie höhere Level erreichen
kann.
Die Gefahren müssen
sich indessen aufs Leveln konzentrieren und versuchen, so lange wie möglich
unentdeckt zu überleben, denn die Belohnung, die sie erhalten, richtet sich
nach ihrem aktuellen Level, wobei „A” die höchste Gefahrenklasse ist und „Z”
die niedrigste.
Durch eine Wendung des
Schicksals wird Scyth zu einer Gefahr der Klasse A. Mehrere Faktoren kommen
zusammen, um ihn an die Spitze zu bringen. Er wird von einem NPC namens Patrick
O’Grady mit einem Fluch belegt. Patrick ist der erste Mensch, dessen
Bewusstsein digitalisiert und ins Spiel übertragen wurde. Ein weiterer NPC und
Boss eines Dungeons, der Verfluchte Lich Dargo, wird tatsächlich von einem
Nicht-Bürger namens Clayton gespielt. Clayton war früher ein Raumschiffpilot,
der nach einem lebensbedrohlichen Unfall seine Staatsbürgerschaft verloren hat.
Als er sieht, wie Scyth immer wieder stirbt, ohne aufzugeben, täuscht er seine
Niederlage vor und erlaubt Scyth, ihn zu töten.
Als Belohnung für den
Sieg über den Endboss des Dungeons erhält Scyth das Mal der Vernichtenden
Seuche, das ihm die Fähigkeit verleiht, allen zugefügten Schaden zu absorbieren.
Zusammen mit Patricks Fluch ermöglicht es Scyth, das unerforschte Gebiet im
Morast zu erreichen und den sterbenden Avatar von Behemoth zu finden, der einer
der fünf Schlafenden Götter ist.
Scyth freundet sich mit
den Dementoren an, seinen Klassenkameraden Ed „Crawler” Rodriguez, Hung
„Bomber” Lee, Melissa „Tissa” Schäfer und Malik „Infect” Abdulalim. Scyth hilft
ihnen, eine Wette gegen Big Po zu gewinnen, dem Anführer von Axiom, dem
Spitzenclan in Tristads Sandbox. Gemeinsam mit seinen neuen Freunden bilden sie
ihren eigenen Clan: die Erwachten.
Die Erwachten gewinnen
die jährlichen Spiele in der Junior-Arena, indem sie auf der Insel Kharinza
einen Tempel der Schlafenden Götter errichten. Ihr Sieg erregt die
Aufmerksamkeit der Rekrutierer der Verhinderer-Allianz, die aus den stärksten
Clans in Disgardium besteht.
Nach ihrem Sieg in der
Arena werden Scyth und die Mitglieder seines Clans von der Schule für 8 Wochen
aus Disgardium ausgeschlossen, sodass er die Quest des Nukleus der
Vernichtenden Seuche nicht erledigen kann. In seiner Abwesenheit sucht die
Vernichtende Seuche sich einen neuen Herold: Big Po. Als Scyth ins Spiel
zurückkehrt, öffnet Big Po das Portal der Vernichtenden Seuche, um Tristad zu
erobern. Zusammen mit seinen Freunden gelingt es Scyth jedoch, die Untoten zu
bezwingen und die „Gefahr” Big Po zu eliminieren.
Das neueste Mitglied
der Erwachten ist Tobias „Crag” Asser. Der glücklose ehemalige Ganker hat hohen
Ansehens bei Nergal dem Leuchtenden. Crags Identität als „Gefahr” ist entdeckt
worden, sodass Tobias gezwungen ist, sich sowohl im Spiel als auch IRL zu
verstecken.
Er bittet Scyth um
Hilfe und wird in den Clan der Erwachten aufgenommen, der es nun mit der ganzen
Welt aufnehmen muss – der virtuellen als auch der realen.
Kapitel
1: Ausbruch aus der Sandbox
„ICH DRÜCKE DIR die
Daumen, Alex”, sagte Tissa beim Abschied. „Wir werden nicht miteinander
sprechen können, weil ich noch in der Sandbox bin.”
„Ich gebe dir Bescheid,
sobald wir durchgekommen sind und ich Dis verlassen habe.”
„Ich werde auf deine
Nachricht warten. Pass auf dich auf. Viel Glück!”
Sie warf mir einen
Luftkuss zu, und ihr Hologramm verschwand.
Meine Eltern waren zu
einem Kunden geflogen, daher mussten der Katzenhund Duda und ich für uns selbst
sorgen. Duda dachte zurzeit jedoch nur an sich selbst. Er war so sehr damit
beschäftigt, sich zu reinigen, dass es schwer war, die Imitation von einer
echten Katze zu unterscheiden.
Die Projektion des
Sonnensystems an der Wand summte leise vor sich hin, und wenn man heranzoomte,
konnte man eine Kolonne von Shuttles sehen, die zum Mars flogen, um ihn zu
kolonisieren. Die Reise würde noch Monate dauern, aber auf der Karte stellten
sie eine gestrichelte Linie dar. Eines Tages werde ich auch dort sein.
Der Weltraum … Mein
Traum, die finanziellen Mittel für ein Universitätsstudium zu beschaffen, hatte
sich fast verwirklicht, doch es gab noch ein paar „Aber”. Die Gewinnsumme vom
Sieg in der Junior-Arena, die Wette, die ich gewonnen hatte, die Belohnungen
für die Erhöhung meines Potenzials auf „L” und die Beseitigung von Big Po – all
das ergab über eineinhalb Millionen Gold. Leider steckte das Geld im Spiel
fest, bis ich volljährig geworden war. Ich würde erst darüber verfügen können,
nachdem ich den Staatsbürgerschaftstest bestanden hatte, und den konnte ich
erst in zwei Monaten ablegen.
Tissa und Infect hatten
ihre Artefakte für die Eliminierung der Gefahr bereits erhalten. Ich wusste
jedoch noch nicht, was ich bekommen hatte. Um es herauszufinden, würde ich mich
in Disgardium einloggen müssen.
Seit die Vernichtende
Seuche in Tristad eingefallen war, hatte ich Disgardium nicht betreten. In der
Zwischenzeit hatten die ehemaligen Dementoren und ich meinen Geburtstag in
einem kleinen Restaurant an der Küste des Pazifischen Ozeans gefeiert. Eve war
auch eingeladen gewesen, doch sie hatte abgesagt.
Am darauffolgenden Tag
hatten wir eine Clan-Besprechung gehabt, an der zum ersten Mal auch unser
neuestes Mitglied teilgenommen hatte: Tobias Asser alias Crag. Crag war einmal
Mitglied der ehemaligen Dementoren gewesen, doch Crawler, Tissa, Bomber und
Infect hatten ihn wegen Gankens nach kurzer Zeit wieder aus ihrem Clan
geworfen. Tobias hatte nicht viel gesagt und nicht einmal auf die Sticheleien
von Hung und Malik reagiert. Die beiden hatten es jedoch nicht zu weit
getrieben, denn sie wussten, wie viel stärker der Clan durch Tobias sein würde.
Am Tag zuvor hatte
Infect mit eigenen Augen die Kampfmaschine gesehen, in die Crag sich verwandeln
konnte, als er seine Hauptattribute versiebzehnfacht hatte. Danach hatten wir
die Überreste des Angriffs der Vernichtenden Seuche so leicht aus dem Weg
räumen können, als ob wir es statt mit starken Mobs auf Level 30 und höher bloß
mit einem Rudel Ratten aus dem Keller des Tempels von Nergal dem Leuchtenden zu
tun gehabt hätten.
Die Besprechung hatte
auf dem Balkon von Eds Wohnung stattgefunden. Nach einigem Überlegen
beschlossen wir, dass wir nur eine Möglichkeit hatten: mit Crag zusammen ins
große Dis zu gehen. Die Verhinderer würden eine einzelne Gefahr erwarten, und
falls etwas schieflaufen würde, könnte die zweite entkommen. Falls sie Crag
gleich nach der Charakter-Registrierung auflauerten, würden wir ihn nur retten
können, indem wir zusammen mit Tiefen-Teleportation teleportieren
würden. Andernfalls würde er das Rathaus von Darant gar nicht erst erreichen.
Wir waren noch einmal
durch unsere kurzfristigen Pläne gegangen. Infect würde bald aus der Sandbox
kommen, während Tissa noch weitere zwei Monate warten müsste. Bis dahin wollten
wir an dem Bau unseres fast fertigen Forts weiterarbeiten, die Insel erkunden
und in Zonen leveln, die unserem Level angemessen waren.
Wir hatten überlegt,
auf die Dunkle Seite zu wechseln, doch den Gedanken verworfen. Unsere
Kobold-Anhänger befanden sich in dem Gebiet und Patrick und seine Trogg-Freunde
warteten in Darant auf uns. Es war zu gefährlich, sich dort zu zeigen, wenn man
auf der Dunklen Seite war.
Ich atmete tief ein und
wieder aus. Dann ergriff ich Duda, gab ihm einen Kuss auf die Nase und setzte
ihn wieder auf den Boden. Der Katzenhund miaute empört, ging an seinen Platz
zurück und fuhr fort, sich zu reinigen.
Es war Zeit, zu gehen.
Zu diesem Zeitpunkt
wartete unser Clan-Noob Crag auf mein Signal, um zur gleichen Zeit wie ich in
die Kapsel zu steigen und das große Dis zu betreten, nachdem er sich als
Erwachsener registriert hatte. Ich schickte die Nachricht mit den Worten „Gehen
wir!” an Tobias, Ed und Hung.
Crawler und Bomber
erwarteten uns im Gasthaus unseres Clan-Forts, um unseren Ausbruch aus der
Sandbox zu feiern. Wir warten. Teleportiere mit dem Noob-Ganker gleich,
nachdem ihr euch registriert habt, antwortete Crawler, und Bomber fügte
hinzu: Verlasst ja nicht den Gästeraum! Draußen wartet eine Horde von
Verhinderern auf euch.
Ich zog mich aus und
ging zur Altera Vita, meiner neuen Kapsel, die ich von Snowstorm, Inc. als
Belohnung dafür erhalten hatte, dass ich Gefahrenklasse L erreicht hatte, mein
ursprüngliches maximales Potenzial.
Sie hatten die Kapsel
als limitierte Auflage herausgebracht. Als sie geliefert wurde, hatte mein
Vater neidvoll den Kopf geschüttelt. Ich konnte mir die Lasterhöhlen
vorstellen, die er besucht hätte, wenn er die Kapsel hätte benutzen können. Sie
benutzte konsumierbare Kartuschen, um den Spieler mit intravenösen Nährstoffen,
Flüssigkeitszufuhr und Erster Hilfe zu versorgen. Zusätzlich konnte sie
Einfluss auf den emotionalen Zustand der Person nehmen, und ein aktives
Intra-Gel stimulierte die Muskeln und massierte den Körper.
Wenn ich wollte, könnte
ich mehrere Tage ins Spiel eintauchen. Falls ich jemanden hätte, der die
Kartuschen wechseln würde, könnte ich sogar noch länger bleiben, doch eine
Immersion über längere Zeiträume hinweg war nicht gesund.
„Immersion einleiten”,
befahl ich.
„Verstanden, Alex.”
In einer Kapsel, die in
Testwelten konfiguriert und geprüft worden war, war der Immersionsort
standardmäßig auf Disgardium eingestellt. Augenblicklich füllte das Intra-Gel
die Kapsel, sie übernahm die Kontrolle über meinen Körper und drei Herzschläge
später hing ich im Vakuum eines Schwebezustands.
Eine riesige Spielwelt
erschien unter mir, und die Umrisse seiner sechs Kontinente brach durch die
Wolken.
Willkommen
in Disgardium, Alex!
Du hast eine
Altersschwelle erreicht, Alex. Dein Charakter wird aus der Sandbox entfernt!
Du musst deinen
Charakter neu generieren.
Achtung! Weil du eine
Gefahr bist, kann der Nickname Scyth nicht geändert werden.
Achtung! Weil du eine
Gefahr bist, kann die Spielklasse Herold nicht geändert werden.
Du kannst deine
Fraktion, dein Volk und dein Aussehen verändern.
Ich beschloss, nur mein Aussehen zu ändern. Dazu
vergrößerte ich das Fenster mit meinem Charakter-Modell. Das System hatte meine
frühere Gestalt eines 14-jährigen Jungen aktualisiert. Mein Gesicht war gröber
mit härteren Zügen und meine Schultern waren breiter.
Ich zog den
Schieberegler für das Alter nach rechts und fügte weitere zehn Jahre hinzu.
Nach kurzem Zögern änderte ich meine Augenfarbe ebenfalls. Meine realen Augen
waren grün, doch im Spiel würden sie blau sein. Dieser Avatar würde permanent
sein und die Leute nahmen Erwachsene ernster – nicht nur in der realen Welt,
sondern auch in Dis.
Alles war erledigt.
Charakter wurde
erfolgreich generiert.
Das System zeigte mir
das Profil des Charakters und ging zur letzten Stufe der Registrierung über.
Möchtest du eine
Belohnung erhalten, weil du online bist, oder ziehst du einen permanenten Bonus
von +5 % Erfahrung vor? Du kannst deine Wahl jederzeit ändern.
Ich wählte die zweite
Option, denn die Bezahlung dafür, online zu sein, brachte einem nicht mehr als
30 Phönix pro Monat ein, und nur, wenn man praktisch Tag und Nacht im Spiel
war. Dagegen waren 5 % Erfahrung auf höheren Leveln ein großer Vorteil.
Ich prüfte das Profil
ein letztes Mal, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung war. Gleichzeitig
änderte ich meine Privatsphäre-Optionen und setzte sie auf die
Standardeinstellungen zurück, sodass nur mein Nickname, meine Klasse und mein
Level sichtbar waren. Nachdem ich die Auswahl bestätigt hatte, verschwand das
Interface.
Mein Fall nach unten
auf den Kontinent Latteria begann. Die Erde kam näher und näher. Ich konnte die
hohen, bunten Häuser und breiten Straßen der Hauptstadt der Allianz erkennen.
Dann wurde für einen Moment alles schwarz, bevor ich von Lärm, Licht und
Gerüchen überwältigt wurde.
Operation Ausbruch
hatte begonnen.
***
Das Zimmer roch nach
Staub und sah alt aus, doch alles sah sauber aus. Die hohen Fenster wurden vom
Blattwerk der Bäume überschattet, sodass nicht genügend Tageslicht einfiel und
die Laternen an den Wänden brannten.
Verglichen mit meinem
ersten Besuch in Tristad, gab es weitaus mehr neue Spieler, die Darant als ihre
Startzone gewählt hatten. Mehrere Hundert Menschen, Elfen, Gnome, Zwerge und
andere Völker der Allianz liefen durch das Gästeraum des Rathauses, standen um
die Registrierungsschalter herum oder sahen sich um und bewunderten sich
ehrfurchtsvoll. Bei den letzteren handelte es sich immer um neue Spieler, die
zum ersten Mal in Disgardium waren.
Als ich mich umschaute,
brach mir der kalte Schweiß aus. Ein riesiger Raum von der Größe einer
Flugzeughalle, gefüllt mit lebhaften Spieler aller möglichen Völker, Alters und
Geschlechts, die sich gegenseitig übertönten. Doch in der Menge stachen einige
hochlevelige Spieler deutlich hervor. Sie gehörten zu den drei Spitzenclans der
Verhinderer: Modus, Azurblaue Drachen und Excommunicado. Was zum Teufel taten
sie hier? Weder Crawler noch Bomber hatten etwas von ihnen erwähnt. Die Spieler
hatten im Gästeraum nur Noobs gesehen, daher ließen sie deren Namen von den Schreibern
in einer Liste eintragen und einen nach dem anderen in den Vorraum treten, wo
die Verhinderer sie mit dem Feuer der Flamme der Wahrheit überprüften.
Ich sah mich suchend
nach Crag um, doch ich konnte ihn nicht finden. Nach seinem aktiven Avatar auf
der Clan-Liste zu urteilen, hatte er sich bereits in Dis eingeloggt. Vielleicht
war er auf dem Bildschirm der Charaktergenerierung steckengeblieben.
Überall in der Halle
flackerten Artefakte der Flamme der Wahrheit. Spitzenspieler ab Level
200 gingen zu zweit herum und ergriffen alle Noobs über Level 1, die aus der
Teenager-Sandbox kamen. Ich hatte keinen Zweifel, dass die Clans auf
Shad‘Erung, dem Kontinent der Dunklen Seite, nach Spielern suchen würden, die
zum Imperium überlaufen wollten. Die verschiedenen Neutralen in den
Hauptstädten würden sicher auch überprüft. Es stand zu viel auf dem Spiel,
selbst für Spitzenspieler, die bereit waren, die Belohnung unter den
Mitgliedern des Bündnisses der Verhinderer aufzuteilen.
Ich musste mich
beruhigen. Nach einem Blick auf das Symbol für Tiefen-Teleportation
atmete ich erleichtert auf: Es war aktiv.
Das Wichtigste war nun,
dass Crag endlich auftauchen würde, damit ich ihn zu unserem Clan-Fort Kharinza
bringen könnte. Gyula und seine Brigade raubeiniger Arbeiter hatten den Bau
erst vor Kurzem abgeschlossen.
„Noob, Level 26!”,
hörte ich von weitem. Ich war gesehen worden. „He, du! Bleib wo du bist und
warte, bist du an die Reihe kommst!”
Eine Gruppe von
Verhinderern in meiner Nähe wurde durch eine Elfe abgelenkt, die mehr Geld für
das Prüfen ihres Handgelenkes verlangte. Ein gigantischer Elefantenmann namens
Banger auf Level 200 löste sich aus einer anderen Gruppe und kam auf mich zu. Wie
der Name schon sagte, war er halb Elefant und halb Mensch, ein seltenes Volk.
Wer wollte schon als so ein Kloß leben, der außerdem noch einen langen Rüssel
hatte? Doch die Leute wählten dieses Volk dennoch für den Volksbonus: hohe Ausdauer.
Ich trat ein paar
Schritte zurück und versteckte mich hinter einer breiten, mit einem Flachrelief
verzierten Doppelsäule. Unsere schlimmsten Befürchtungen schienen sich
bestätigt zu haben: Wegen seines glühenden Verlangens nach Rache hatte Big Po
den Verhinderern seinen Verdacht mitgeteilt, obwohl er nicht wusste, ob ich
meinen Gefahrenstatus behalten hatte. Daraufhin hatten sie sich Zugang zum
Gästeraum des Bürgermeisters von Darant verschafft.
Kein Problem. Für
diesen Fall war ich ebenfalls vorbereitet. Ich blickte zum Ausgang. Der
stämmige, bärtige Level-14-Zwerg Gonzo war bereits durch den Kontrollpunkt
gegangen und war nun auf dem Weg in die Halle.
Imitieren
funktionierte perfekt. Großartig, nun war ich Gonzo der Zwerg, vom Feuer der Flamme
der Wahrheit getestet.
Ich trat an der anderen
Seite der Säule hervor und mischte mich selbstsicher unter die Menge. Aber wo
war Crag?
Banger von
Excommunicado war zu Scyths Versteck unterwegs. Ein Hobbit trippelte hinter ihm
her, über dessen Schulter ein kleiner Elementar schwebte und die Luft mit
seiner Hitze verzerrte. Verflixt!
Geist der Flamme der
Wahrheit, Level 224
Elementarwesen
Tierzes Begleiter
Ich unterdrückte meine
Besorgnis und ging ruhig auf die andere Seite der Halle zu, wo die Tische der
Schreiber in einer langen Reihe standen. Ich würde mich registrieren und danach
weitersehen.
„Gonzo, warte!”, rief
jemand hinter mir.
Zuerst erkannte ich
nicht, dass der Elefantenmann Banger mich meinte. Ich machte noch einen oder
zwei Schritte, bevor ich anhielt und mich umdrehte. Er kam mir entgegen,
während sein Partner, der Hobbit Tierz, hinter einem der vielen Portale
nachsah, um den schwer zu fassenden Scyth zu finden. Die Portale funktionierten
nur in Richtung Darant und nur für neue Spieler, daher hätte ich es unmöglich
benutzen können, um zu verschwinden. Trotzdem überprüfte der Hobbit es, doch
ohne Erfolg.
„Was willst du?”,
fragte ich verärgert. „Ich bin bereits durch den Kontrollpunkt gegangen …”
„Hast du einen
hochgewachsenen Mann gesehen?”, dröhnte Banger und verengte die Augen. Seine
Arme waren so dick wie mein Oberkörper, doch er hatte die Hände eines Menschen.
Sie waren riesig, ja monströs, doch menschlich. „Äh … Nickname Scyth, Level 26.
Hat eine seltene Klasse … Ähm … Ich habe sie vergessen. Er war gerade hier,
hinter den Säulen.”
„Ja, ich habe ihn dort
drüben gesehen.” Ich nickte und deutet auf die andere Seite der Gästehalle. „Er
ist zu den Schreibern gegangen.”
„Ach, verdammt”,
erwiderte Banger. „Na ja, er wird noch mal überprüft, nachdem er sich
registriert hat. Zeig mir dein Handgelenk.”
Der plötzliche Befehl
ließ mein Herz schneller schlagen. Das Blut stieg mir ins Gesicht. Der
Elefant-Mann wandte sich zu seinem Freund um.
„He, Tierz, komm her.
Prüfe diesen Noob.”
Der Halbling
untersuchte das Handgelenk eines Level-6-Waldelfen, der gerade aus dem Portal gekommen
war. Als er fertig war, gab er dem spitzohrigen Spieler eine Goldmünze und kam
zu uns herüber.
Ich sah mich erneut
nach Crag um, doch als ich ihn nirgends erblicken konnte, beschloss ich, die
Halle allein zu verlassen. Etwas musste schiefgelaufen sein. Während Banger mit
seinem Kollegen beschäftigt war, aktivierte ich Tiefen-Teleportation.
Das Gefühl des Fallens
und die Bilder, die an einem vorbeisausten, wenn man die Fähigkeit benutzte,
waren extrem – etwa so, als würde man von einem Wolkenkratzer springen. Der
Mageninhalt stieg einem in die Kehle, das Herz schlug wild und man konnte nur
verschwommen sehen. Kurz gesagt, es war gewöhnungsbedürftig.
Instinktiv schloss ich
die Augen, doch nichts passierte. Den Systemmeldungen war es egal, ob man die Augen
geschlossen hatte.
Tiefen-Teleportation
unterbrochen!
Du kannst das Rathaus
von Darant erst verlassen, nachdem deine Registrierung abgeschlossen ist!
Verdammt! Alles, was hatte schiefgehen können, war schiefgegangen. Das
Schlimmste war, dass das System die Fähigkeit als benutzt ansah, sodass die
halbstündige Abklingzeit einsetzte.
Dann erschien Crag. Ich
hätte ihn nicht erkannt, wenn ich seinen Nicknamen nicht gesehen hätte. Der
frühere große Mann war zu einem kleinen Zwerg geworden. Er trug einen kunstvoll
gewellten Bart, seine Haare waren geflochten und ein Tattoo bedeckte die Hälfte
seines Gesichtes. Crag hatte seinem Charakter ein neues Aussehen gegeben.
Seine Erscheinung
erregte die Aufmerksamkeit der Excos. Der elefantenartige Banger schien schwer
von Begriff zu sein. Er hielt inne, drehte sich um und bellte: „Bleib da,
Gonzo! Wir prüfen dich und du erhältst eine Goldmünze. Musst nichts dafür tun.”
„Ich habe schon eine
erhalten, danke!” Ich holte mit meiner freien Hand eine Münze und drehte sie.
„Oder gibst du mir noch eine?”
„Ähm … Nee, noch eine
bekommst du nicht. Ihr Noobs könnt nie genug kriegen. Aber du wirst trotzdem
geprüft, verstanden?”
„Verstanden”,
antwortete ich friedfertig. „Ich warte.”
Nun war ich in echten
Schwierigkeiten. Wenn sie ein einmal benutzbares Artefakt gehabt hätten, hätten
sie mich vielleicht gehen lassen, aber mit einem Elementarwesen als Begleiter
kosteten sie diese Tests nichts.
Ich schickte Crag eine
Gruppeneinladung, die er umgehend annahm. Dann überlegte ich fieberhaft,
während mein Clankamerad alle möglichen Entschuldigungen erfand und den dummen
Noob spielte, der nicht verstand, was der Hobbit Tierz von ihm wollte. Die
Excos konnten keine Gewalt gegen Crag einsetzen, da Darant eine friedliche Zone
war und ihr Ansehen ins Minus absinken würde, falls sie aggressiv würden.
Andererseits gab es im Ingame-Netzwerk jede Menge widersprüchlicher
Informationen, und wie es wirklich war, wusste niemand so genau.
Spiel auf Zeit,
schrieb ich Crag und tauchte in der Menge unter. Als der Elefantenmann sich das
nächste Mal umdrehte, war ich nicht mehr Gonzo, sondern Rayman, ein Paladin auf
Level 347 von den Azurblauen Drachen. Ja, ich ging ein Risiko ein, doch es
zahlte sich aus. Wenn es mir gelingen würde, einen Schreiber zu erreichen und
mich zu registrieren, könnte niemand mich davon abhalten, Crag zu ergreifen und
nach Kharinza zu teleportieren.
Ich senkte den Kopf und
hatte die halbe Halle durchquert, als ich bemerkte, dass ich mich fast neben
dem echten Rayman befand. Ich konnte mich nicht wieder in Gonzo verwandeln,
denn er war nirgends zu sehen. Stattdessen drehte ich mich um, konzentrierte
mich auf Banger und verwandelte mich in den Elefantenmann. Für die umstehenden
Spieler sah der Trick normal aus – nur jemand, der ein Ausrüstungsset gegen ein
anderes austauschte. Der Name erschien erst, wenn man genau hinsah. Inzwischen
lächelte Crag dümmlich, während der Hobbit Tierz ihm etwas erklärte.
„He, Bang, was machst
du hier drüben?”, sprach ein großer Elf in einem grünen Mantel mich an. Es war
Koba von Modus. Er deutete auf die andere Seite. „Die Kontrollzone von Exco ist
da drüben. Wo ist Tierz?”
Glücklicherweise stand
der echte Banger gerade hinter einer Säule.
„Tierz ist dort
irgendwo.” Ich kopierte Bangers Sprechweise und Intonation, während ich vage in
seine Richtung zeigte. „Ich … Äh … Ich bin auf der Suche nach einem Noob, der
in der Menge verschwunden ist.”
„Was?”, fragte Koba.
„Dir ist ein Noob entwischt?”
„Ja. Kein Problem, ich
werde ihn finden …”
„Alarm!”, rief der Elf
in sein Signalamulett, das er um den Hals trug. „Potenzielle Gefahr! Bewacht
den Ausgang!”
Im nächsten Moment
versammelten sich mehrere Mitglieder von Modus am Ausgang und zogen Spieler,
die den Raum verlassen wollten, wieder hinein. Eine Reihe von Befehlen erfüllten
die Halle, einschließlich denen von Kobas Signalamulett.
„Ausgang gesichert. Wir
riegeln das Gebäude ab. Wiederholt alle Prüfungen!”
Der Elf hielt sein
Amulett in der Hand und fragte: „Wie heißt der Noob? Was ist sein Nickname und
sein Volk?”
„Gonzo, glaube ich. Ein
Level-14-Zwerg.”
„Verstanden.” Koba
nickte und sprach erneut in das Amulett. „Nickname Gonzo. Ein Zwerg.”
Ich schlängelte mich zu
den Schreibern durch und stellte mich an den nächsten freien Tisch, hinter dem
eine ältere Gnomdame saß, die eine Brille trug und sehr langsam sprach. Nachdem
ich mir ihre Begrüßungsrede angehört, sie mehrfach unterbrochen und zur Eile
angetrieben hatte, verstand sie endlich, dass ich mich so schnell wie möglich
registrieren wollte.
Dann traf ich auf ein
Hindernis. Als ob es nicht schon schlimm genug gewesen wäre, dass Crag mich mit
panischen Nachrichten und Drohungen überschwemmte, mich an die Verhinderer
verraten zu wollen, falls ich mein Versprechen nicht halten würde, schüttelte
die Gnomdame vor mir den Kopf und sagte etwas. Es war schwierig, sie bei dem
Lärm zu verstehen, doch ich bemerkte, dass sie es nicht eilig hatte, mir ein
Registrierungsformular zu geben.
„Entschuldigung, was
haben Sie gesagt?”
„Du musst in deine
wahre Gestalt wechseln, um die Registrierung zu beginnen, junger Mensch”,
wiederholte die Gnomfrau streng und erhob die Stimme.
Sie betonte das Wort
„Mensch”. Ein Mädchen, das am nächsten Tisch stand, warf mir einen
interessierten Blick zu. Unterdessen hatte Crag aufgehört, zusammenhängende Sätze
zu schreiben, und spammte meine direkten Nachrichten stattdessen mit
Ausrufezeichen. Crawler und Bomber hatten sich ebenfalls gemeldet, als sie
wegen der Verzögerung erkannt hatten, dass etwas schiefgegangen war. Hung
fluchte so übel, dass selbst das Chatfenster errötete.
„Halte nicht alle auf,
du Elefantenküken”, zischte jemand hinter mir. „Was tust du überhaupt hier?”
Nun hatte ich noch mehr
Aufmerksamkeit erregt. Ich warf einen Blick über die Schulter und sah eine
kleine Level-1-Feenamens Minze, die in der Luft schwebte und mich mit einem
missmutigen Blick durchbohrte.
„Entschuldige, Kleine.”
Ich trat vom Tisch zurück.
„Du bist ein Kleiner,
Elefantenjunge!”, kreischte sie. Schieb dir den Rüssel sonst wohin!”
Schnell verschwand ich
hinter einer anderen Säule und wechselte in meine wahre Gestalt. Das Herz
schlug mir bis zum Hals, als ich den frei gewordenen Tisch von Scheiber Ionescu
erreichte und die Registrierung begann. Ich versuchte, die Schreie am anderen
Ende der Halle zu ignorieren. Der Lärm und das Chaos hinter mir wurden größer.
Mir brach der Schweiß aus.
„Sie haben eine Gefahr
gefangen!”, keuchte ein Gnom, der neben mir stand. Mit großen Augen starrte er
in die Richtung des Tumults und schnalzte mit der Zunge. „Wow!”
Aus allen Richtungen
ertönten Schreie. Die Leute sahen zu, als Crag aus der Halle geschleift wurde.
Tierz hatte es geschafft und Tobias‘ Status enthüllt.
Überall in der Halle
eilten hochlevelige Spieler der ohnehin schon starken Gruppe zur Hilfe. Ich
konnte Crag hinter all den Verhinderern in strahlender Rüstung nicht erkennen.
Crawler und Bomber
hatten ihrer Besorgnis nachgegeben und waren zum Rathaus in Darant
teleportiert. Sie wussten bereits, dass eine Gefahr ergriffen worden war.
Schnell verbreiteten sich die Gerüchte in der gesamten Allianz.
Nachrichten des
Bedauerns erschienen im Clan-Chat. Meine Kameraden hatten bereits nicht nur
Crag, sondern auch mich innerlich beerdigt. Die Stadtwache, hohe Beamte der
Allianz-Armee und alle Spieler versammelten sich vor dem Rathaus.
Schreib etwas, Scyth,
irgendetwas!, verlangte Bomber. Wen haben sie
erwischt, dich oder Crag?
Statt zu antworten,
bestätigte ich, dass die Wahl meines Charakters endgültig war und nicht
geändert werden konnte, bevor ich dem Schreiber Ionescu das ausgefüllte Registrierungsformular
überreichte. Er warf einen Blick darauf und nickte zufrieden.
„Willkommen in Darant,
Scyth!”, sagte er und stempelte das Formular mit einem dumpfen Klonk. „Der
Nächste!”
Modus, die Azurblauen
Drachen und Excommunicado stritten sich lauthals darüber, in welchem
Territorium die Gefahr eliminiert werden sollte. In der benachbarten Halle
ertönten Geräusche von Teleportern, die aktiviert wurden, und Anführer von
Verhinderer-Clans kamen in die Halle gelaufen. Unter ihnen konnte ich Yary
ausmachen, einen Modus-Anführer, der mich nach dem Endkampf in der Junior-Arena
eingeladen hatte, ihn zu besuchen.
Sie beglückwünschten
sich gegenseitig, lachten und scherzten. Als sie erschienen waren, hatten die
Nachwuchs-Anführer mit dem Streiten aufgehört. Es war wahrscheinlich, dass sie
Tobias an einen Ort schaffen würden, an dem er ohne Aufsehen und ohne Zeugen
würde eliminiert werden können. Crag schrieb mir eine Nachricht nach der
anderen, in denen er verlangte, dass ich etwas unternehmen sollte.
Während alle
Aufmerksamkeit und alle Aufzeichnungen vom Geschehen auf die Verhinderer
gerichtet war, konnte ich unbemerkt in die Gestalt der Fee Minze wechseln.
Was? Ich sah nach unten
und bemerkte, dass meine Beine den Boden nicht berührten. Natürlich nicht, denn
ich hatte mich in eine verdammte Fee verwandelt! Darum war auch alles um mich
herum so groß. Ich flog an die Decke – keine Ahnung, wie. Ich wollte
hochfliegen und flog hoch.
Die Abklingzeit von Tiefen-Teleportation
war noch nicht abgelaufen, und ohne sie würde ich Crag nicht aus der Halle
herausbekommen.
„He, Kleine”, hörte ich
von unten. „Komm herunter, wir müssen deinen Status prüfen.”
Der Hobbit Tierz von
Excommunicado gestikulierte, dass ich zu ihm hinunterfliegen sollte, und hielt
mir mit der anderen Hand eine Goldmünze entgegen. Der kleine Geist der
Flamme der Wahrheit glomm neben ihm.
Kapitel
2: Plan B
WÄHREND ICH FIEBERHAFT
nach einem Ausweg suchte, summte das Signalamulett des Hobbits.
„Tierz, wir haben den
Zwerg Gonzo gefunden und ihn überprüft. Er ist sauber. Sag Banger, dass er ein
Elefant ist. Hahaha!”
„Verstanden, danke”,
antwortete der Hobbit, „aber ich werde Banger nichts ausrichten, denn er hat
die Nase voll von euren dummen Witzen.”
„Okay, okay. Hör zu,
die Jungs draußen fragen sich, wen wir geschnappt haben. Ist es wirklich der
Typ mit Potenzial A?”
„Das kann ich euch
nicht sagen ”, erwiderte Tierz stirnrunzelnd. „Die Ältesten haben verboten,
dass …”
Ich hörte nicht weiter
zu, sondern ergriff die Gelegenheit und flog zum Ende der Halle. Von dort aus
beobachtete ich Tierz und versuchte, herauszufinden, was die Verhinderer mit
Crag vorhatten.
Der Hobbit schien mich
nur um der Formalität willen angesprochen zu haben, denn welche Bedrohung
könnte eine Level-1-Fee schon darstellen? Er hatte bereits eine Gefahr gefunden
und war entspannt, daher suchte er nicht weiter nach mir, sondern spuckte auf den
Boden und gesellte sich dann zu seinen Kameraden, um den Erfolg zu feiern. Der
Klang von knallenden Korken erfüllte die Halle. Flaschen mit Elfensekt machten
die Runde.
Trotzdem prüften einige
Verhinderer am Ausgang der Halle weiterhin die Spieler, sogar die
Level-1-Noobs. Alle, die keinen Grund hatten, dort zu sein, wurden
fortgeschickt. Den Stimmen nach zu urteilen, die aus den Signalamuletten
tönten, passierte es nicht nur im Rathaus, sondern auch in der Umgebung des
Gebäudes.
Sie hatten Crag zu
einem Tisch gebracht, um ihn zu registrieren. Vorsichtig flog ich näher und
hielt mich unter einem riesigen Kronleuchter mit zahlreichen angezündeten
Kerzen versteckt. Ich schrieb meinen Kameraden eine Nachricht, um sie wissen zu
lassen, was vor sich ging. Ich versuchte zu verstehen, was Yary sagte.
„Mach keine Dummheiten,
Junge.” Der Modus-Anführer grinste arrogant. „Wir wissen alles über dich:
Tobias Asser, seit gestern 16 Jahre alt. Du lebst, gelinde ausgedrückt, in
ärmlichen Verhältnissen. Deine Eltern sind kurz davor, ihre Staatsbürgerschaft
zu verlieren. Willst du, dass dir das Gleiche passiert?”
„Nein.” Crag schüttelte
den Kopf. „Aber ich bekomme nichts, wenn ihr mich jetzt eliminiert. Ich bin
noch keine große Gefahr, ihr könnt nicht viel aufsteigen.”
„Du wirst aufsteigen,
Toby.” Yary klopfte ihm auf die Schulter. „Doch nicht jetzt. Alles zu seiner
Zeit. Wir werden uns um deine Zukunft kümmern.”
Crag dachte nach – oder
wartete darauf, dass ich etwas unternehmen würde. Er hielt das
Registrierungsformular in der Hand und schien es nicht eilig zu haben, es zu
bestätigen. Der Schreiber wartete geduldig.
Der Level-31-Magier
Crawler und seine Gruppe (Level-31-Krieger Bomber) wollen sich deiner Gruppe
anschließen.
Akzeptieren? Ablehnen?
Ich akzeptierte die
Anfrage und erzählte ihnen, was vor sich ging. Hoffentlich würden wir zusammen
eine Lösung finden. Ihre Antworten ließen nicht lange auf sich warten.
[19:48]
[Gruppe] [Crawler]: Ich
bin auch noch in Abklingzeit, aber Bomb kann uns alle herausholen. Das
Wichtigste ist, dass wir in deiner Nähe sind, sonst wirkt die Teleportation
nicht auf dich.
[19:48]
[Gruppe] [Bomber]: Das
Problem ist, dass diese verdammten Verhinderer alle wegjagen, und die Wachen
helfen ihnen. Wir sind zu weit vom Rathaus entfernt.
[19:48]
[Gruppe] [Crag]: Unternehmt
etwas!
Außer dem Gruppenchat
blinkten auch die Tabs meiner direkten Nachrichten. Ich antwortete sofort.
[19:49]
[Privat] [Crawler]: Verschwinde
von dort, Scyth! Es ist zu spät für Crag. Wir helfen ihm später beim Leveln.
[19:49]
[Privat] [Crag]: Bist du in der Nähe, Scyth? Was soll ich machen??
[19:49]
[Privat] [Scyth – Crawler]: Haltet euch an unseren Plan, solange es noch eine
Chance gibt. Wir müssen ihn herausholen. Außerdem bezweifle ich, dass ich durch
ihre Prüfungen komme. Trotz meines neuen Aussehens bin ich immer noch Scyth.
[19:49]
[Privat] [Scyth – Crag]: Ich bin in der Nähe. Ich höre und sehe alles. Bleib
ruhig und spiele auf Zeit, Toby. Tiefen-Teleportation ist noch in Abklingzeit.
Leise summend bildete
sich eine Stillekuppel über dem Teil der Halle, wo Crag sich befand. Der
Magier hatte nicht an Mana gespart und sie groß genug gemacht, um alle interessierten
Parteien zu bedecken. Zum Glück war ich auch unter der Kuppel. Natürlich hätte
ich dort bleiben können, bis die Verhinderer gegangen wären, doch das gefiel
mir nicht. Crag und ich waren weit von unseren Freunden entfernt, doch ich
hatte versprochen, ihm zu helfen. Selbst seine Drohung, mich zu verraten, wenn
er eliminiert würde, änderte nichts daran. Ich musste mein Wort halten.
Inzwischen versuchte
Yary, Tobias auf seine Seite zu ziehen.
„Überlege es dir. Ich
kann nicht für alle Verhinderer sprechen, aber im Namen von Modus garantiere
ich dir, dass wir deinen nächsten Charakter automatisch in unseren Clan
aufnehmen werden. Das bedeutet Ausrüstung, Boosts, Unterstützung beim Leveln
und einen Gehaltsscheck.”
„Warum verschwendest du
deine Zeit mit ihm?”, fragte der Level-317-Gnom-Magier Niu Lu von den
Azurblauen Drachen. „Du …”
Yary warf ihm einen
drohenden Blick zu, und der Gnom hielt den Mund. Modus wurde respektiert, doch
den Anführern des Clans wurde noch größerer Respekt entgegengebracht – und sie
wurden gefürchtet.
Yaroslav-Yary war zwar
nicht der Hauptanführer, aber er war der Vertreter des Clananführers
Hinterleaf.
„Dieses Angebot ist
noch für 10 Sekunden gültig. Wir beseitigen dich sowieso, und obendrein wirst
du im realen Leben nichts bekommen und kannst eine Karriere bei Modus
vergessen. Ich will ja nicht prahlen, aber du wirst doch wohl wissen, was wir
dir bieten können …”
„Habt ihr die MOSOWs
angeheuert, die versucht haben, mich zu kidnappen?”, unterbrach Crag. Er hob
den Kopf und sah Yary an.
„Wir arbeiten nicht so
stümperhaft, Junge. Das war einer der Verlierer, die nicht hier sind. Jetzt
schließe deine Registrierung ab! Es wird Zeit.”
Ich fasste meinen
Entschluss. Ich schickte Crag eine Nachricht und sagte ihm, dass er allen
Bedingungen zustimmen sollte und dass wir alles unter Kontrolle hätten. Während
ich den Spielentwicklern innerlich für die vielen Säulen dankte, landete ich
auf dem Boden hinter der mir am nächsten stehenden und wechselte in meine wahre
Gestalt zurück.
„He, Yary!”, rief ich
laut, als ich hinter der Säule hervortrat. „Erinnerst du dich an mich?”
Die Verhinderer
reagierten umgehend. Ich hörte das Klingen von Waffen, die in ihren Händen
erschienen, und das Blitzen von Zaubern, die vorbereitet wurden.
„Wer zum Teufel bist
du?”, wollte der Gnom Niu Lu wissen, der sich als Erster gesammelt hatte. „Ein
Noob? Geh dort drüben hin!” Er deutete auf die Tische außerhalb der
Stillekuppel, an denen die Schreiber saßen. Glücklicherweise war Banger nicht
anwesend, der mich hätte erkennen können. Ein Gnom der Azurblauen Drachen kam
auf mich zu, doch Yary legte ihm eine Hand auf die Schulter, um ihn
aufzuhalten.
„Gib mir einen Tipp.
Woher kenne ich dich?”
„Aus der Junior-Arena.
Unsere Gruppe hat den Endkampf gewonnen und du hast gesagt, dass ich mich bei
dir melden soll, nachdem ich die Sandbox verlassen habe.”
„Das habe ich gesagt?”,
fragte Yary überrascht.
Es wunderte mich nicht,
dass er unsere Begegnung vergessen hatte. Für ihn war es nur eine kurze Episode
gewesen, die vor drei Monaten stattgefunden hatte. Seitdem hatte ich aus
naheliegenden Gründen nichts Erinnerungswürdiges getan. Ich kannte sein reales
Alter, er war weit über 40 Jahre alt, doch sein Charakter, ein Mensch der
Klasse Bogatyr, sah 15 Jahre jünger aus. Im Gegensatz zu vielen anderen hatte
Yary sein Aussehen beibehalten.
„Ja. Außer dir waren
Glyph von den Azurblauen Drachen, Yagami von Mizaki und ein weiterer
Spitzenspieler dort.”
„Ein weiterer
Spitzenspieler?”, grollte Rayman, der menschliche Paladin auf Level 347, in den
ich mich auf dem Weg zum Schreiber verwandelt hatte. „Räumt ihn aus dem Weg,
wir brauchen ihn nicht!”
Das gefiel Yary nicht.
Ich wusste nicht, welche Beziehung er zu Rayman oder den Azurblauen Drachen
hatte, dem Spitzenclan des asiatischen Gruppe, doch die rechte Hand von Modus
widersprach ihm.
„Nein, lasst ihn
bleiben.” Er ging einen Schritt auf mich zu und schüttelte mir die Hand. „Tut
mir leid, dass ich dich nicht gleich erkannt habe, Scyth. Meiner Meinung nach
hast du Potenzial, doch Hinterleaf hat das letzte Wort. Ich werde ein Treffen
arrangieren.”
Er drehte sich zu Crag
um, doch bevor er ihn erneut unter Druck setzte, wandte er sich wieder an mich.
„Hast du schon mal
gesehen, wie eine Gefahr eliminiert wird? Jetzt hast du die Gelegenheit.” Yary
warf einen Blick auf Tobias.
„Nicht wahr, Junge?
Komm schon, Junge, zieh es nicht weiter hinaus.”
Ich schloss mich der
Gruppe an, die Crag gegen den Tisch drückte. Er sah mich an und ich blinzelte
schnell. Daraufhin atmete Tobias tief ein und bestätigte sein
Registrierungsformular. Den Schlafenden Göttern sei Dank, dass er nicht
vergessen, seine Zugehörigkeit zu den Erwachten zu verstecken, sonst wäre alles
vorbei gewesen.
„Willkommen in Darant,
Crag!”, bellte der Schreiber, als ob alles in Ordnung wäre. „Der Nächste!”
Wir verließen das
Rathaus in einer langen Prozession. Auf dem Markplatz war das Ploppen
hineinteleportierender Verhinderer erfüllt. Gewöhnliche Spieler kamen ebenfalls
dazu, doch sie wurden vom Marktplatz verwiesen. Darüber beschwerten sie sich
natürlich, doch nachdem sie eine oder zwei Münzen erhalten hatten, sagten sie
nichts mehr. Die Verhinderer scheuten keine Kosten, um die öffentliche Meinung
zu beruhigen, das musste man ihnen lassen. Ich konnte mich noch gut daran
erinnern, was eine Goldmünze für einen Noob bedeutete.
Yary hatte mich
scheinbar völlig vergessen, doch als er sah, wie der Minotaurus Glyph,
Clan-Anführer der Azurblauen Drachen, erschien und sich mit mir unterhielt,
rief er mich zu sich und sagte mir, dass ich in seiner Nähe bleiben sollte.
Nicht lange danach
spitzte sich die Situation zu. Da es nicht möglich war, Crag im Herzen der
Hauptstadt auszuschalten, hatten die Verhinderer geplant, das Ritual zur
Vertreibung der Gefahr auf neutralem Gebiet auszuführen. Schließlich umfasste
ihr Bündnis nicht nur die Clans der Allianz, sondern auch Clans des feindlichen
Dunklen Imperiums. Der genaue Ort, an dem das Ritual stattfinden sollte, war
bis jetzt geheim gehalten worden. Hinterleaf, der Anführer von Modus, wollte
das Portal zu diesem Ort persönlich öffnen.
Die Stadtwache sperrte
den Platz vor dem Rathaus ab. Offensichtlich arbeiteten die Behörden wegen des
Risikos, das die Gefahr darstellte, mit den Verhinderern zusammen, um ihnen
eine möglichst günstige Situation zu schaffen.
Die Spitzenspieler
beschworen fliegende Mutanten, und einer nach dem anderen hob ab.
„Koba, nimm ihn mit”,
sagte ihn mit”, sagte Yary. Dann drehte er sich zu mir. „Scyth, flieg mit ihm.”
„Hast du noch Platz für
zwei weitere Spieler von meinem Team? Sie sind auch hier, aber sie sind
weggeschickt worden.”
Yary überlegte kurz und
nickte gleich darauf.
„In Ordnung. Gib mir
ihre Nicknamen. Ich werde den Befehl geben, sie durchzulassen. Sie müssen sich
aber beeilen.”
Ich saß hinter Koba auf
seinem Goldenen Greif und sah aus 10 Meter Höhe, wie meine Freunde
erschienen. Crawler wurde von einer schönen Elfe auf ihrem Kampf-Hippogryph
mitgenommen, doch Bomb hatte weniger Glück. Er fand sich auf dem Schwanz einer
langen, gewundenen Fliegenden Schlange wieder, die ihn während des
Fluges ständig auf und ab warf. Es sah aus, als ob der Reiter der Schlange sein
Reittier lachend anspornte, während Bomber sich verzweifelt am Sattel
festklammerte und versuchte, um jeden Preis zu überleben.
***
Keinem von uns gelang
es, Crag während des Fluges mit Tiefen-Teleportation zu ergreifen, denn
die Reittiere waren zu weit voneinander entfernt. In der Schlucht, wo das
Vertreibungsritual stattfinden sollte, war er ebenfalls zu weit von uns
entfernt, und hochlevelige Spieler ließen ihn nicht aus den Augen. Er war von
Kontrollzaubern bewegungsunfähig gemacht worden, und drei Kampfgestirne von
Modus, den Azurblauen Drachen und Excommunicado bewachten ihn. Zwei Anführer
der Kinder von Kratos hatte sich ebenfalls dazugesellt.
Nachdem wir angekommen
waren, strömten Krieger der anderen Verbündeten aus Portalen, einschließlich
der Neutralen und des Imperiums. Ich erkannte den mächtigen Ork Horvac,
Anführer des Clans der Wanderer, der der stärkste unter den Dunklen Fraktionen
war. Er selbst war IRL so bekannt für seine Exzentrik, dass man ständig in den
Klatschspalten über ihn lesen konnte. Horvac, Glyph, Colonel von Excommunicado
und Hinterleaf waren vermutlich die stärksten Spieler der Welt. Der
Solo-Abenteurer Dek kam ihnen im Level nahe, doch was Stärke, Chance und
Einfluss anging, war er ihnen nicht gewachsen. Der allerstärkste war immer noch
das ehemalige Modus-Mitglied Mogwai, der Tierverehrer-Druide. Nachdem er die
Obergrenze von Widerstandsfähigkeit erreicht hatte, hatte dieser Spieler
verkündet, dass er keine Lust mehr hätte, Dis zu spielen und ein Jahr aussetzen
würde.
Die Schlucht, zu der
wir geflogen waren, lag nicht weit von Darant entfernt, in der Nähe eines der
Battlegrounds. Es wurde bereits dunkel, doch die enorme Menge von Magie erhellte
die Umgebung, als ob es noch Tag wäre.
Offiziell gehörten
diese Gebiete der Allianz, doch die Vertreter der anderen Fraktionen konnten
hier ungestraft erscheinen. Natürlich waren Fremde in einem Gebiet Angriffen
von NPCs[1] und Spielern ausgesetzt,
sofern es ihr Level erlaubte. Globale PvP-Kämpfe waren erwünscht und wurden
nicht nur mit der Chance auf gedroppte Ausrüstung von besiegten Gegnern belohnt
– selbst Beutel mit 100%igem Schutz gegen Verluste waren keine Garantie –,
sondern auch mit Marken der Tapferen und Ehrenpunkten. Die
Allianz betrachtete selbst Neutrale als Feinde, die weder ihr noch dem Imperium
angehörten – den beiden stärksten Fraktionen in Dis.
Nun wimmelte die
Schlucht vor Spitzenspielern des Bündnisses der Verhinderer, das 10 Clans
einschloss: vier aus der Allianz, vier aus dem Imperium und zwei von den
Neutralen.
Die Besten der Besten
unter Milliarden von Spielern liefen leuchtend vor Auren und Buffs herum. Ihre
Reittiere und Kampf-Tiergefährten brüllten, kreischten, knurrten und
schnatterten. Gigantische Spinnen und Gottesanbeterinnen, Drachen und Echsen,
Bären und laufende Bäume, Phönixe und Schreckliche Wölfe, Höllenhunde,
Elementare, Dämonen, Sukkuben, Golems, rasselnde gnomische Panzer und
Tragschrauber und vieles mehr.
Jemand hatte einen 16
Meter großen Bronzenen Koloss beschworen, woraufhin ein anderer Spieler
einen ebenso großen Baum des Lebens zu sich rief.
Die Menge schauderte
vor den Giganten zurück, sodass Crawler und ich gegen die Wand der Schlucht
gedrückt wurden. Bomber war zur Seite geschoben worden, wo er in chinesischer
Sprache ein lebhaftes Gespräch mit einem Mädchen von den Azurblauen Drachen
führte.
30 Schritte von mir
entfernten stritten die Anführer der Verbündeten sich bitter stritten.
Irgendetwas stimmte nicht. Dank der seltsamen Akustik in der Schlucht konnte
ich jedes Wort verstehen.
„Ich verlange, dass
alle überflüssigen Truppen sich sofort zurückziehen!”, rief Horvac.
”Das von dir, nachdem
du deine eigenen hierher gebracht hast?”, erwiderte der grauhaarige, kleine
Gnom Hinterleaf scharf. Er rollte die Rs, was seine russischen Wurzeln verriet.
„Was für eine Logik ist das? Dafür gibt es bei uns ein Sprichwort: Der
Schuldige verrät sich durch sein Verhalten selbst.”
„Die Dunklen planen
etwas, soviel ist sicher”, erklärte Glyph. „Und die Neutralen auch.”
Der Colonel, ein
mächtiger Goliath[2],
gab leise Befehle an seine Offiziere. Einige Sekunden später öffnete sich ein
weiteres Portal und 10 Kampfgestirne von Excos strömten heraus. Als die anderen
Clans es sahen, aktivierten sie ebenfalls Portale. Innerhalb weniger Minuten
befanden sich mehr hochlevelige Spieler pro Quadratmeter in der Schlucht als je
zuvor in der Geschichte von Disgardium.
„Die Verbündeten haben
recht, Horvac”, sagte Yary leise. Als er schwieg, verfielen die anderen auch in
Schweigen. „Wir haben die Gefahr bewacht, darum haben wir mehr als die
vereinbarte Zahl von Kampfgestirnen mitgebracht. Aber unsere Leute sollten die
Schlucht verlassen, sobald …”
Ich wurde abgelenkt,
bevor ich den Rest hören konnte. Die bekannte Stimme des Elefantenmannes Banger
ließ mich erschrecken.
„Sieh mal, wen ich
gefunden habe, Tierz”, polterte Banger, als er sich durch die Menge zu mir
hindurchschob. „Ich habe mich gefragt, wohin er verschwunden ist.”
Als Hinterleaf
stirnrunzelnd mit den Fingern schnalzte, wurden die Anführer von einem
Schutzschild eingehüllt, den ich nicht erkannte.
„Lenke ihn ab”,
flüsterte ich Crawler zu und deutete mit einem Blick auf Banger. „Sie wollten
mich überprüfen, aber ich habe mich davongemacht.”
Ich würde 30 Schritte
näher gehen müssen, um Crag in meiner Teleportation ergreifen zu können.
Bomber schrieb, dass
die ankommenden Truppen von Verhinderern sich buffen und Kampfgruppen bilden
würden, doch nicht nach Fraktionen, sondern nach Clans. Ein Sturm braute sich
zusammen.
Der Druck unter der
Kuppel wuchs ebenfalls. Yary und Hinterleaf standen Rücken an Rücken. Glyph
sagte ihnen etwas, während die neutralen Clan-Anführer mit Horvac und den
Anführern der Dunklen Clans flüsterten. Das Gleiche passierte um Crag herum:
fünf Modus-Mitglieder rückten mit einigen Drachen, Excos und Kratos zusammen,
um die Gefahr gegen die übrigen zu verteidigen.
Das ist unsere Chance!,
schrieb ich meiner Gruppe. Versucht, nahe genug an Crag heranzukommen. Wer
es als Erster schafft, teleportiert mit ihm.
Das gegenseitige
Misstrauen unter den Clans wuchs, bis es kein Zurück mehr gab. Beschuldigungen
flogen hin und her, bis der Zeitpunkt erreicht war, an dem der winzigste Funke
die Fackel des Kampfes entzünden würde.
„Halt an, Scyth!”, rief
Banger hinter mir.
Ich nahm an, dass sein
Angriff der besagte Funke war. In einer fantastischen Zurschaustellung seines
niedrigem Verstandes warf der Elefantenmann einen magischen Ball nach mir und
entfachte das wahrscheinlich chaotischste Gemetzel in der Geschichte von
Disgardium. Meine Beine waren durch Zauber verwickelt, doch Befreiung
löste sie. Ich lief vorwärts, änderte meine Stimme und brüllte: „Wir sind
betrogen worden!”
Der Trick
funktionierte. Die einfachen Soldaten hinter mir wirkten abwehrende Auren und
magische Schilde um sich herum. Flaschen mit Kampfelixieren wurden geöffnet,
flammende Schwerter zischten, Kampfstäbe knisterten vor Energie. Ein
Feuerschleier entstand um mich herum – Crawlers Feuerschild. In dem Moment
bedauerte ich, dass ich keine Zeit gehabt hatte, meine Quest zu beenden und
Behemoths Belohnungen zu erhalten. Darüber hinaus hatte ich den Kristall noch
nicht aktiviert, den ich von der eliminierten Gefahr Big Po bekommen hatte.
Beides wäre in dieser Situation sehr gelegen gekommen.
Ich beschwor meinen
Tiergefährten, den Sumpfstecher Iggy, und befahl ihm, in meiner Nähe zu
bleiben. Bangers Angriff stellte sich als Vorteil für uns heraus. Die Punkte
der Attribute aller Gruppenmitglieder schossen hoch, da sie mit 17
multipliziert wurden. Mein Tiergefährte war keine Ausnahme. Ich war bereits
während der Ausbruchs der Vernichtenden Seuche durch den Prozess gegangen, als
Crag, Infect, Tissa und ich die Straßen von Tristad von den Untoten befreit
hatten, darum war ich nicht überrascht, als ich wuchs, stärker wurde, breitere
Schultern bekam und die Energie in mir kochte.
Ohne in den Kampf
verwickelt zu werden, lief ich auf Crag zu, bis ich an die undurchdringbare
Barriere der Kuppel erreichte. Ich war immer noch zu weit von meinem
Clankameraden entfernt. Auf der Minikarte sah ich, dass Crawler und Bomber sich
weit hinter mir befanden.
Hinterleaf schrie etwas
unter der Kuppel und beruhigte seine Verbündeten mit Gesten. Yary stand hinter
ihm, Glyph und der Colonel je an einer Seite. Zwei Kinder von Kratos drückten
gegen die Wand der Kuppel. Sie waren ein starker Clan, doch ihre Anführer waren
vor allem für ihre nicht-kampfbezogenen Talente bekannt.
Hinterleafs Bitten
zeigten scheinbar keine Wirkung. Horvac rief etwas, und eine Wolke giftigen,
gelben Rauches erfüllte die Kuppel. Feuer und Blitze leuchteten auf und einige
Sekunden später zerbrach Hinterleafs magische Kuppel mit einem kristallenen
Klirren und einem kaum sichtbaren Hagel von Glassplittern, die die Umstehenden
verletzten. Ich bekam ebenfalls meinen Teil ab. Scharfe Splitter durchbohrten
meine Brust und Schultern. Beim Herausziehen zerriss ich mein Fleisch.
„Plan B!”, schrie Yary
in sein Signalamulett. Seine Stimme dröhnte durch die Schlucht. „Plan B!”
Hinterleaf, ein
Illusionsmagier, erstellte 10 Kopien von sich, die er zur Hilfe zurückließ,
während er selbst zu einer kleinen Klippe über uns teleportierte, den Arm hob
und unheilvoll grinste. Er hielt eine schwarze Rolle in der Hand.
Alle begannen zu
kämpfen und alle hatten das gleiche Ziel: Crag. Alle anwesenden Spieler wollten
die Gefahr eliminieren, doch das Bündnis oder die Clan-Anführer waren ihnen nun
egal. Die Sieger würden die Geschichte schreiben.
Die Nachwirkungen der
vielen Zauber überfluteten jeden Zentimeter der Schlucht. Der Boden unter
meinen Füßen bewegte sich und wurde zu Morast. Räuberische Giftpflanzen wuchsen
aus der steinigen Oberfläche. Die Luft war einmal eiskalt und im nächsten
Moment so heiß, dass sie Rüstung schmelzen ließ. Ultraschallwellen von einem
Turm, der in der Nähe beschworen worden war, riss Ausrüstungsteile und Fleisch
weg und zerriss den Raum selbst. Ein Fuß des monströsen Kolosses krachte nur
einige Meter neben mir zu Boden und zerquetschte mehrere Spieler gleichzeitig.
Die sich schlängelnden Äste des Baum des Lebens erwürgten alle, die sie
erreichen konnten. Verschiedene Arten von Nebel verbrannten meine Nasenlöcher,
Kehle und Lungen. Ich hielt nur dank Crags Talent aus. Die Debuffs stapelten
sich bedrohlich, doch ich musste noch drei Meter zurücklegen.
Wütend über den Verrat
feuerten die Spieler alles, was sie hatten, auf Freund und Feind gleichermaßen.
Teure Rollen und Waffen wurden als letzte Chance zu Hunderten verbraucht.
Niemand sparte mit seine ultimativen Fähigkeit. Spitzenspieler starben und
versuchten, so viele andere Spieler wie möglich mit in den Tod zu nehmen.
Gnomische Panzer
feuerten aus ihren Kanonen in die Menge. Eine Kugel flog in einen Nahkampf in
Crags Nähe, sodass viele Leute dort ausgeschaltet wurden. Jemand hatte eine Unverwundbarkeitsblase
über Toby platziert und rettete ihm so das Leben.
Die Spieler des Lichts
um ihn herum hatten an der Seite von Hinterleafs Illusionen sowohl die Spieler
der Dunklen als auch der Neutralen Fraktion zurückgeschlagen, bevor sie nun
gegeneinander kämpften.
Yary benutzte Attacke,
um gegen den Rücken eines ehemaligen Verbündeten von Kinder von Kratos zu
rammen. Er schwang sein zweihändiges Schwert, um einen anderen Spieler
zweizuteilen und schützte Crag danach mit seinem Körper. Ein Magier, der nahe
dabei stand, öffnete ein Portal. Seine Struktur sprühte mit Adern aus blauem
und grünen Licht, als es Yary, Crag und den einzigen, noch stehenden
Modus-Kämpfer mit einem dumpfen Platschen verschlang. Der Magier, der das Portal
geöffnet hatte, schaffte es nicht hinein, denn er war von einem Schurken von
hinten gelähmt worden und explodierte kurz darauf in einem Schauer von Blut.
Hinterleaf, der
überzeugt war, dass seine Jungs mit der Gefahr entkommen waren, warf einige
tödliche Flächenzauber in die Menge, doch es sollte noch schlimmer kommen.
„Armageddon!”, schrie
der Modus-Anführer.
Die schwarze Rolle in
seiner Hand zerfiel zu Ruß und Asche und er verschwand von der Klippe. Der
Himmel erleuchtete mit blendend hellem Licht. Als der Meteor herunterfiel, ließ
sein immer lauter werdendes Dröhnen Trommelfelle platzen und Gehirne wurden
erschüttert. Ich wirkte Steinhaut und eilte zu dem Portal.
Zuerst wurde Bomber in
den bröckligen, rostigen Fetzen von etwas Giftigem und Riesigen bedeckt, und
weder seine erhöhte Verteidigung noch sein legendärer Ring halfen ihm, denn der
Koloss trampelte ihn kurz darauf nieder. Crags Boost war verschwunden, sobald
sie ihn durch das Portal gebracht hatten.
Ich fiel aufs Gesicht,
als jemand meine Beine mit einer Streitaxt abhackte, mein Leben auf ein paar
Prozent reduzierte und einen Blutungs-Debuff hinterließ. Ich konnte das
schimmernde Portal nicht mehr sehen. Mein Herz schlug angestrengt, als ich
versuchte, den Durchgang kriechend zu erreichen. Nur meine extrem hohe
Widerstandsfähigkeit ermöglichte mir, durchzuhalten. Ich wusste nicht, was ich
mir erhoffte. Ich hatte mich zu sehr an den Fluch der Untoten gewöhnt, um
Heiltränke bei mir zu haben. Außerdem hätte ich sie nirgends aufbewahren
können.
Es waren noch etwa zwei
Meter bis zum Portal. Ich wusste, dass ich sterben würde, hatte aber keine
Ahnung, wo ich respawnen würde. Ich hatte keine Zeit gehabt, mich an Darant zu
binden, und ich bezweifelte, dass sie mich nach Tristad zurücklassen würden.
Säure verbrannte meine
Stimmbänder. Ich konnte keine Zeit damit verschwenden, mit Ed zu chatten, darum
hoffte ich, dass Ed mich nicht enttäuschen würde. Doch vergebens.
Crawler geriet in die
Reichweite eines Zaubers und schaffte es nicht, rechtzeitig herauszukommen.
Dann wurde er mit Angst belegt, und der Effekt ließ ihn in die
entgegengesetzte Richtung des Portals laufen. Einige Augenblicke später
leuchtete sein Avatar im Gruppen-Interface zum letzten Mal rot auf, ein
Totenkopf erschien und er wurde grau.
Als jemand an mir
vorbeiging, streckte ich die Hand aus und ergriff ein Bein. Sein Besitzer
schleifte mich ein paar Schritte seitlich vorwärts, bevor er bemerkte, dass ich
an seinem Bein hing. Die harte Metallkappe eines Stiefels traf mein Kinn und
kostete meine letzte Gesundheit. Einen Sekundenbruchteil vorher hatte ich Grässliches
Geheul aktiviert, doch wegen des Levelunterschieds funktionierte es nicht.
Als letztes Mittel hetzte ich Iggy auf den Angreifer.
Der Meteor von
Hinterleafs Armageddon krachte mitten in die Schlucht. Alle Farben
verblassten. Alle Schatten wurden vom blendend hellen Licht einer nuklearen
Explosion erleuchtet. Ich wurde bei unvorstellbarer Hitze von der Druckwelle
erfasst und mit enormer Geschwindigkeit in das sich schließende Portal geschleudert.
Kapitel
3: Rettung des Rekruten Crag
IM GROSSEN DIS gab es
verschiedene Arten von Portalen.
Alle Spieler erhielten
die Fähigkeit Rückkehrstein, die einmal pro Tag benutzt werden konnte,
um an den Ort zurückzukehren, an den man gebunden war. Die Behörden und die
Frachtgilde hatten in den Städten große stationäre Portale mit festgelegter
Route aufgestellt. Persönliche Portale konnten mit Fertigkeiten oder Rollen
erstellt werden, wie wir es getan hatten. Dimensionsmagier konnten eine andere
Art von Portal nutzen, durch die alle gehen konnten, nicht nur ein Mitglied
seiner Gruppe oder seines Clans. In ein solches Portal war ich gelangt.
Ich flog lebend hinein,
doch ich kam tot heraus.
Der
Spieler Han Ro hat dir kritischen Schaden zugefügt (Blutung): 2.647!
Gesundheitspunkte:
0/6474
Du bist gestorben.
Du respawnst in 10 … 9 …
Der Tod wurde am
Ausgang des Portals bestätigt. Die tickende, kritische Blutung hatte mir
den Rest gegeben. Falls Crag in meiner Nähe gewesen wäre und ich mich im
Wirkungsbereich seines Talentes befunden hätte, hätte ich eine Überlebenschance
gehabt, doch das war scheinbar nicht der Fall gewesen.
Ich hatte großes Pech
beim Sterben, denn ich war auf den Bauch gefallen. Das bedeutete, dass ich mich
in den 10 Sekunden vor dem Respawnen nicht umsehen konnte, um herauszufinden,
was um mich herum vor sich ging. Außerdem wusste ich nicht, wo ich respawnen
würde, da ich an keinen Ort gebunden war. Vielleicht auf dem Friedhof von
Darant? Das wäre unerfreulich und würde bedeuten, dass Crag erledigt wäre. Oder
vielleicht auf dem nächstliegenden Friedhof? Soweit ich wusste, gehörte er
Modus und befand sich auf ihrem Schlossgelände.
Ich hörte, wie Hinterleaf
etwas sagte.
„… keine gute Idee,
Yar! Du musst verstehen …” Er machte eine Pause. „Wer ist das?”
„Eine Leiche”,
antwortete Yary. Er stieß mit der Stiefelspitze gegen meinen Körper und drehte
ihn um. „Es ist Scyth, von dem ich dir erzählt habe. Anführer der diesjährigen
Champions der Junior-Arena.”
„Die Gruppe, die unsere
Jungs im Finale geschlagen hat? Wir werden uns später um ihn kümmern. Lade ihn
ein, wenn diese Sache vorbei ist.”
Ich war so oft an dem
Ort respawnt, an dem ich gestorben war, dass ich überrascht war, mich beim
Überschreiten der Schwelle zwischen den Welten an einem anderen Ort
wiederzufinden. Ich befand mich in einem Hinterhof zwischen einer hohen Wand,
auf der Wachen standen, die mir den Rücken zudrehten, und einem fantastischen
Schloss. Seine Mauern waren scheinbar mit Diamanten besetzt und schimmerten im
Sternenlicht.
Strafe
für Tod: 3.900 Erfahrung
Iggy summte leise, als
er in meiner Nähe respawnte. Fluchend rief ich meinen Tiergefährten zu mir. An
diesem Ort würde er eher ein Hindernis als eine Hilfe sein.
Ich wechselte in den
Tarnmodus und sah mich um. Der Spawnpunkt war von Grabsteinen umgeben. Ein
Teich in der Nähe reflektierte den Sternenhimmel und den lokalen Mond Geala.
Geplätscher und das Quaken von Fröschen tönte vom Teich herüber. In der Ferne,
kaum hörbar, konnte ich Stimmen vernehmen.
Die Gräber auf dem
kleinen Friedhof waren mit Gras und Blumen überwachsen. Vor mir stand eine
wunderschön dekorierte Grabkammer. Es war ein massives, ja uneinnehmbares
Bauwerk aus Stein ohne Fenster und Türen. Warum hatte Modus es gebaut?
Womöglich, um Anführer respawnen zu lassen, während das Schloss angegriffen
wurde. Dort waren vielleicht Ausrüstungssets gelagert oder es gab einen
Geheimgang, der aus dem Schloss in die Grabkammer führte.
Das einzig Wichtige
war, dass sich niemand in der Nähe befand, ausgenommen die Wachen auf den
Mauern. Ich versteckte mich hinter der Grabkammer, falls sie sich umdrehen
würden, und prüfte zuerst, ob Crag in Ordnung war. Sein Symbol in der Gruppe
war aktiv und seine Gesundheit gefüllt. Er beantwortete meine Nachricht nicht,
aber möglicherweise hatte Modus ihn mit einem Schweigesiegel belegt.
Eine Nachricht
leuchtete auf. Crawler hatte gesehen, dass ich wieder aufgetaucht war, und
schrieb, dass er und Bomber in Kharinza gespawnt waren und sich auf den Weg zum
Stadtfriedhof von Darant gemacht hatten, um Crag und mich dort zu treffen,
falls wir gestorben wären. Wie sich herausstellte, hatten die Verhinderer diese
Möglichkeit ebenfalls in Betracht gezogen und eine Absperrung um den Friedhof
eingerichtet, um die Gefahr nicht entkommen zu lassen.
Ich konnte Crag
nirgends entdecken und steckte in einem Dilemma: Sollte ich in meiner eigenen
Gestalt nach ihn suchen oder eine andere wählen? Die erste Option schien risikoreich
zu sein. Falls ich Toby mit Tiefen-Teleportation herausholen würde,
würde ich mich verraten, und die Verhinderer würden mich verfolgen. Bis jetzt
sahen sie mich jedoch nicht als Bedrohung. Big Po hatte mich offensichtlich
nicht betrogen, sonst hätte Yary anders mit mir gesprochen.
Die Entscheidung wurde
für mich getroffen, als die Stimmen aus der Ferne lauter wurden, und eine
zahlreiche Spieler hinter dem Schloss erschien. Ich legte mich flach ins Gras
hinter der Grabkammer und beobachtete sie.
Sie liefen an der Mauer
entlang und teilten sich auf, als sie die Treppe zum Keller erreichten. Eine
Gruppe blieb am Eingang, während die andere Crag hineinbrachte. Aus irgendeinem
Grund war Tobias noch nicht eliminiert worden. Er konnte allein laufen, aber er
trug ein leuchtendes Halsband. Ob es seine Fähigkeit blockierte, konnte ich
nicht sagen.
Mir wurde klar, dass
ich gar nichts über das große Dis wusste, und ich bereute, meine achtwöchige
Sperre und die Zeit bis zum Verlassen der Sandbox nicht mit nützlicheren Dingen
verbracht zu haben, als mich mit Tissa zu treffen und mit ihr im Mondschein
spazieren zu gehen.
Fünf Spieler brachten
Crag in den Keller und drei kamen gleich darauf wieder heraus. Das bedeutete,
dass sie die anderen beiden als Wachen zurückgelassen hatten. Während alle
zurückrannten, nahm ich die Gestalt eines Mitglieds der Gruppe an.
An einer Ecke hielten
sie an und versteckten sich. Es ging etwas vor sich, doch ich konnte nicht
sehen, was es war. Der Himmel über der Seite des Schlosses leuchtete rot auf.
Verdammt. Was immer es
auch war, ich würde es spätestens morgen erfahren. Jetzt musste ich erst einmal
meinem Clankameraden helfen.
Selbstsicher ging ich
zum Eingang des Kellers. Die Tür, zu der ich hinuntergehen musste, war nicht verschlossen,
und die Türangeln waren gut geölt. Ich öffnete sie einen Spalt, schlüpfte
hinein und stand in einem schlecht beleuchteten Gang. Ich stieg eine Treppe
hinunter und blickte vorsichtig um die Ecke. Von einem geraden Korridor führten
Gänge in zwei Richtungen. Im linken Gang konnte ich niemanden entdecken, doch
im rechten sah ich die Schatten zweier intelligenter Kreaturen.
Die Fackeln entlang des
Ganges flackerten schwach und schwelten, sodass die Schatten der Wachen an den
Wänden tanzten und der Raum im Halbdunkel lag. Nur die Fackel, die den Wachen
am nächsten war, leuchtete etwas heller als die anderen. Dadurch und mithilfe
meiner Fertigkeit Nachtsicht konnte ich erkennen, dass Crags Wachen bei einer
geschlossenen Tür standen. Es waren Berstan der Bandit und der Eismagier Kara.
Beide waren über Level 300 und besaßen zweifellos fortgeschrittene
Kontrollfertigkeiten.
Ich hätte auf einen der
beiden Lethargie wirken können, doch höchstwahrscheinlich würde die
Fertigkeit wegen des Levelunterschieds keine Wirkung haben. Oder ich könnte so
tun, als wäre ich ein Verbündeter, auf sie zugehen und Crag mit Tiefen-Teleportation
fortbringen. Das war die einfachste Möglichkeit, und die einfachste Lösung war
oft die beste.
Ich überprüfte meine
Gesundheit: 100 %. Die Abklingzeit für Tiefen-Teleportation nach
Kharinza war abgelaufen. Mein Profil zeigte den Waldelf Isanor, einen
Level-346-Druiden vom Modus-Clan. Ich würde sie durch ein Gespräch ablenken und
dann mit Crag verschwinden. Es würde weniger als eine Minute dauern.
Ich betrat den Korridor
und bog nach rechts. Ich bewegte mich schnell, als ob ich es eilig hätte, ihnen
etwas mitzuteilen. Als ich noch 20 Meter von ihnen entfernt war, rief Kara:
”Hast du etwas vergessen, Isa?”
„Yary will euch sehen”,
antwortete ich. „Sofort! Ich werde die Wache übernehmen.”
„Hat das Bündnis
beschlossen, uns anzugreifen?”, fragte Berstan der Bandit. „Verdammt, ich
wusste es. Komm schon, Kara!”
Ich kam schnell näher.
Noch fünf Meter bis zu Crags Zelle.
„Warte.” Der Magier
hielt seinen Partner auf und grinste. Er streckte seine Hand mit der Handfläche
nach vorn aus. Die Luft kondensierte und ein Froststrahl traf mich, sodass ich
auf der Stelle gefror, doch ich konnte hören, wie Kara in sein Signalamulett
sprach.
„He, Hinterleaf. Jemand
hat gerade versucht, die Gefahr zu kidnappen. Es ist irgendein Noob, aber er
ist merkwürdig. Nickname? Scyth ... Ja, direkt neben der Zelle der ‚Gefahr‘.
Und weißt du was? Er sieht genauso aus wie Isanor! Verstanden. Wir warten.”
Die Stimme des Eismagiers
Kara wurde immer leiser, bis ich nur noch unverständliches Gemurmel hören
konnte. Zuerst dachte ich, es würde am Frost liegen, denn nicht nur mein Gehör,
sondern auch mein Sehvermögen wurde schlechter. Alles um mich herum leuchtete
auf, als ob jemand die Helligkeit und den Kontrast auf die höchste Stufe
gestellt hätte, zerbrach in Stücke und verschwand.
Göttliche
Offenbarung ist spontan aktiviert worden!
Das Herz schlug mir bis
zum Hals. Ich erkannte, dass die Geschehnisse im Korridor auf eine passive Klassenfähigkeit
zurückzuführen waren. Zurück am Eingang, blieb ich auf der Treppe zum Korridor
stehen, wo die Stimmen der Wachen zu mir herübertönten.
Ich fragte mich,
wogegen Göttliche Offenbarung eigentlich schützte. Das erste Mal war die
Fähigkeit aktiviert worden, als ich fälschlicherweise angeklagt worden war, den
von Axioms Mörder Atiyakari umgebrachten Trunkenbold Patrick ermordet zu haben.
Richter Cannon hatte ein Gottesurteil über mich verhängt, das mein Charakter
laut des Meuchelmörders und eines lügenden Zeugen nicht überleben würde.
Göttliche Offenbarung
war zum zweiten Mal aktiviert worden, als Big Po mich infiziert und prophezeit
hatte, dass der Tod meines Charakters endgültig sein würde. Danach hatte
Snowstorm, Inc. vertuscht, was er getan hatte. Mehrere hundert Spieler waren
infiziert und getötet worden und hatten ihre Charaktere verloren. Sie hatten
umgehend eine Nachricht von den Entwicklern erhalten, in der sie beruhigt
worden waren. Ich hatte die Informationen aus erster Hand erhalten: Viele
Schulkameraden waren Opfer gewesen. Sie hatten zwar ihre Charaktere nicht
zurückbekommen, doch sie waren für ihre Ausrüstung und Fortschritte entschädigt
worden. Zauber mussten erneut gelevelt werden, aber die Vorteile, die sie
erhielten, hatten die Nachteile ausgeglichen. Die Spieler erhielten sogar
kurzfristige seelengebundene Artefakte, die ihre verdiente Erfahrung
vervielfachten.
Und nun die dritte
Aktivierung, als es schien, dass ich meinen Charakter verlieren würde. Wer
hätte etwas durch Scyths Tod und die Eliminierung einer Gefahr zu verlieren?
Die Erwachten und ich, natürlich, aber das war unerheblich. Snowstorm? Das
Unternehmen hatte mich bisher immer unterstützt, doch es hatte nichts mit der
Herold-Klasse und seinen Fertigkeiten zu tun. Das ergab sich aus der
Beschreibung der Klasse und der Fähigkeit sowie den anonymen Nachrichten von
jemandem aus dem Unternehmen.
Es blieb nur eine
einzige Möglichkeit: die Schlafenden Götter. Alle außer Behemoth waren
verkümmert und befanden sich in einem Koma. Ich war der Einzige, der ihm aus
dem Alptraum befreien konnte, in dem er sich befand. Doch eine Frage blieb:
Wer, zum Teufel, waren die Schlafenden Götter wirklich?
Diese Gedanken gingen
mir durch den Kopf, doch es war nicht der richtige Zeitpunkt, um näher darüber
nachzudenken. Fest stand, dass ich Crag nicht aus seiner Zelle herausholen
konnte. Die helle Fackel neben den Wachen war ungewöhnlich. Es musste sich um
eine Flamme der Wahrheit oder ein Artefakt mit ähnlicher Wirkung
handeln, sonst hätte Kara meine Tarnung nicht durchschaut.
Ich war ratlos. Sollte
ich die Wachen von der Fackel weglocken, zu Crags Zelle laufen und mit Tiefen-Teleportation
verschwinden? Doch was, wenn die Zellentür verschlossen wäre und meine
Fähigkeit Crag nicht herausziehen könnte? Was, wenn die Zelle mit einem Zauber
belegt worden war, der Magie und Fähigkeiten blockierte?
Die Alarmglocke in
meinem Inneren, die im Gästeraum des Rathauses von Darant leise zu läuten
begonnen hatte, war nun zu einem dröhnenden, misstönenden Warnsignal geworden,
das mich drängte, mich in Sicherheit zu bringen, solange ich die Chance dazu
hatte. Die Stimme des feigen Alex Sheppard, der Konflikten aus dem Weg ging und
seine Freundin aus der Kindheit durch die beliebtesten Hooligans in seiner
Klasse ersetzt hatte, rief selbstsüchtig, dass die Alarmglocke recht hatte. Ich
hatte an diesem Tag schon so oft Glück gehabt, dass es verrückt wäre, mein
Glück noch einmal herauszufordern. Ich bezweifelte, dass Göttliche
Offenbarung mich ein zweites Mal retten würde. Die spontane Fertigkeit
hatte sicher eine lange Abklingzeit, die Tage oder sogar eine Woche andauern
würde.
Verflixt. Die Worte von
Crawler und Bomber unterstützten meine Zweifel. Beide hatten darauf bestanden,
dass ich mich retten sollte, und sowohl Infect als auch Tissa stimmten ihnen
zu. Ed hatte Dis kurz verlassen, um ihnen zu berichten, was passierte. Die
Entwickler hatten die Kommunikation zwischen uns und der Sandbox abgeschnitten,
sodass wir unsere Nachrichten nicht einmal im Clan-Chat sehen konnten.
Es war eine schwierige
Situation. Ich wusste, was auf dem Spiel stand. Ich erinnerte mich, wie Tobias
sich mir gegenüber verhalten hatte. Wie er den hart arbeitenden Nicht-Bürger
Manny beinahe an die Stadtwachen ausgeliefert hatte, als der ein Glas Bier
verschüttet hatte.
Doch es war mir egal.
Ich hatte nichts für Feigheit übrig. Stattdessen setzte ich mich auf die Treppe
und überlegte fieberhaft, wie ich mit dem verdammten Tobias „Crag” Asser
entkommen könnte.
***
Als ich dumpfes Grollen
und Kanonenfeuer von Belagerungswaffen hörte, sprang ich auf. Das gesamte
Schloss wurde erschüttert und Staub fiel von der niedrigen Decke.
Ich lief hinaus auf die
Straße. Der Boden unter meinen Füßen bewegte sich, und ein summendes Geräusch
ertönte. Erst wurde es lauter und die Umgebung begann zu vibrieren. Dann wurde
es leise. Eine durchsichtige Schutzkuppel hatte sich über das Schloss gelegt.
Wie eine gigantische Fontäne schoss sie aus dem Mittelturm nach oben und ergoss
sich in magischen Wasserfällen jenseits der Mauern um das Schloss herum. Durch
die Materie des Portals waren die Sterne kaum zu erkennen, bis sie schließlich
vollkommen verblassten.
So etwas hatte ich noch
nie gesehen. Um die Kuppel herum prallten Kanonenkugeln, Pfeile, Blitze und
Feuerbälle lautlos von ihr ab. Waren die von Modus zurückgelassenen Clans des
Bündnisses gekommen, um sich zu rächen?
Ich nahm kaum wahr,
dass meine Beine mich zum Haupteingang des Schlosses trugen. Dort hatten sich
alle kämpfenden Mitglieder des Clans versammelt. Es waren mehrere Hundert
Spieler und etwa die gleiche Anzahl von Tierbegleitern und Reittieren, von
denen keiner unter Level 200 war.
Sie sahen zu ihrem
Clan-Anführer. Hinterleaf trat aus der Gruppe der führenden Offiziere heraus
und stieg auf ein Katapult. Er war als wohlhabender Erwachsener nach Dis
gekommen, als die Gründer des Spiels noch am Leben gewesen waren und es noch
weniger als eine Million Spieler gegeben hatte. Ein Jahr später war Modus
gegründet worden.
Der schneeweiße Mantel
des Illusionsmagiers schimmerte hell, als er das Wort ergriff. Seine magisch
verstärkte Stimme donnerte aus allen Richtungen.
„Meine Waffenbrüder!
Modus!”
„Modus!”, schrien die
Spieler einstimmig zurück und erhoben ihre Fäuste.
„Die Zeit drängt.
Jenseits der Mauern stehen nicht nur die Streitkräfte des Bündnisses, sondern
auch ihre hinterhältigen Freunde.” Hinterleaf deutete auf die geschlossenen
Tore. „Unsere Feinde teilen die Loot und unseren Besitz bereits unter sich auf.
Euren Besitz!”
„Wir werden sie
vernichten!”, rief ein Spieler aus den vorderen Reihen.
„Vielleicht”,
entgegnete Hinterleaf. „Doch zum ersten Mal in der Geschichte unseres Clans
weiß ich nicht, was wir tun sollen. Die Offiziere sind geteilter Meinung und
ich habe beschlossen, dass ihr das Recht habt, zu wissen, was vor sich geht.
Wie ihr alle wisst, hat das Bündnis gestern in Darant eine Gefahr der Klasse D
ergriffen. Sie sollte wie vorgesehen jenseits der Grenze eliminiert werden. Ich
hatte geplant, ein Portal zu öffnen, durch das ein Mitglied von jedem Clan des
Bündnisses reisen sollte. Doch wir sind betrogen worden. Es ist schwer zu
sagen, wer zuerst angegriffen hat, und es spielt auch keine Rolle mehr.
Tatsache ist, dass wir am Sammelpunkt auf hinterhältige Weise angegriffen
worden sind. Wenn es nur die Clans der Dunklen Seite gewesen wären …” Der
Clan-Anführer lachte bitter. „Unsere Opposition gegen die Wanderer und die
anderen Dunklen Clans hat eine zu lange und blutige Geschichte, um etwas
anderes zu erwarten. Für einen solchen Ausgang hatten wir einen Plan B, doch
dann haben uns unsere eigenen Verbündeten das Messer in den Rücken gestoßen,
die Azurblauen Drachen, Excommunicado, die Kinder von Kratos …”
„Diese dummen reichen
Gören?”, unterbrach ein Zentaur überrascht. Er nahm seinen Helm ab und kratzte
sich am Hinterkopf. Ich fragte mich, warum jemand dieses Volk wählen würde.
Sechs Gliedmaßen zu kontrollieren musste schwierig sein. „Was haben sie gegen
uns?”
Die Mitglieder der
Kinder von Kratos waren hauptsächlich reiche Jugendliche, die das Geld ihrer Eltern
für Boosts und Ausrüstung ausgaben. Es war ein starker Clan mit einer langen
Geschichte, eine Art von Eliteclub für Kinder von Bürgern der Kategorie C und
höher. Sie spielten aus Spaß und nahmen selten an offenen Kämpfen mit
gleichstarken Spielern teil, geschweige denn mit stärkeren.
Während ich nach einer
Lösung suchte, hörte ich Hinterleaf weiter zu. Bald würde ein Kampf beginnen,
und in dem Chaos würde ich eine Chance haben, Crag zu befreien.
„Also gut, ich komme
zur Sache. Wir konnten nicht herausfinden, welches Potenzial die Gefahr hat.
Der Junge gibt nicht auf und weigert sich zu reden. Wir wissen nur, dass er die
jeweilige Gruppe, deren Mitglied er ist, erheblich stärkt. Versteht ihr? Aus
naheliegenden Gründen können wir ihn nicht in unserem Clan aufnehmen, aber mit
ihm als Partner könnten wir viel erreichen. Vielleicht könnten wir endlich ins
Tal des geflügelten Schreckens vorstoßen oder sogar den Kontinent Meaz
erreichen! Der Junge wird sicher einverstanden sein, denn dadurch wird er sein
Potenzial weiter entwickeln. Wir werden ihm einen Anteil an der Loot und einen
festgelegten Betrag für die Zeit anbieten, während der er online ist.”
Der Clan-Anführer von
Modus schien nicht nur mich, sondern auch seine Clankameraden zu überraschen.
Hinterleafs Ruf als verräterischer, grausamer, autoritärer Anführer entsprach
nicht dem Charakter, den ich vor mir sah ... es sei denn, diese
Demokratiespielchen waren Teil eines anderen Plans.
In dem Moment
unterbrach Yary den Clan-Anführer. Der Ritter stellte sich neben Hinterleaf und
nahm seinen seltsam geformten Helm ab, der eine Klinge an der Spitze hatte. Ein
Schatten lief über Hinterleafs Gesicht. Vielleicht machte der alte Mann
wirklich Platz. Das musste der Grund für den Konflikt mit seinen Offizieren
sein, der als „Meinungsverschiedenheit” maskiert war.
„Ich glaube nicht, dass
wir hier herauskommen, wenn die Spitzenclans uns auf den Fersen sind.
Mitglieder von Modus, was unser hoch respektierter Clan-Anführer gesagt hat,
ist eine Utopie. Sie werden uns solch einen Trick nie verzeihen, und die
Eliminierung der Gefahr ebenso wenig. Es gibt einen Grund, warum wir Modus
heißen: Wir schätzen Bündnisse, die die Interessen aller Beteiligten in
Betracht ziehen. Auf diese Weise sind wir zu einem Spitzenclan geworden, indem
wir Probleme nicht mit Waffen, sondern mit Worten gelöst haben. Wer ist dafür,
die Abgesandten des Bündnissen hereinzulassen, um das Missverständnis
aufzuklären und den Konflikt zu entschärfen?”
„Sie können den Schild
der Gerechtigkeit nicht durchbrechen. Er regeneriert sich schneller als sie
ihn beschädigen können. Selbst wenn sie die ganze Armee der Allianz
hierherbringen würden, würden sie sich die Zähne ausbeißen!”, bellte
Hinterleaf. „Wir werden unsere Truppen durch Söldner verstärken …”
„Blackberry, wie ist
der Stand mit den Söldnern?”, unterbrach Yary und wandte sich an die Offiziere.
Die hochgewachsene
Gestalt einer Elfe in Lederrüstung, die eine kurze Armbrust auf dem Rücken
trug, trat aus der Gruppe heraus. Ihre langen Beine endeten in schwarzen,
geflügelten Stiefeln.
„Alle Söldner über
Level 300 waren heute Morgen beschäftigt”, antwortete die Frau mit lauter
Stimme. Sie schwebte einige Meter über dem Boden, sodass alle sie sehen
konnten. „Sie haben den Kunden nicht preisgegeben, doch es handelt sich
wahrscheinlich um die Wanderer.”
„Seht ihr?”, rief
Hinterleaf triumphierend, obwohl die neuen Informationen seinen Worten
widersprachen. Er war offensichtlich mehr daran interessiert, die
Auseinandersetzung mit seinen Offizieren um die Mehrheit der Stimmen zu
gewinnen, als den Konflikt mit dem Bündnis zu lösen. „Die Clans der Dunklen
Seite haben schon vor langer Zeit beschlossen, uns zu hintergehen. Und nun ist
einer von uns bereit, einen Kompromiss einzugehen? Uns zu unterwerfen und ihnen
die Gefahr auf einem silbernen Tablett zu präsentieren?”
„Das ist eine
Übertreibung”, wehrte Yary sich. „Du bist unser Anführer, Hinterleaf. Wir
akzeptieren deine Entscheidung, das weißt du. Aber ich bitte dich, vernünftig
zu sein! Wir können uns nicht in diesem Schloss verschanzen und uns vor der
Welt verstecken. Wir haben bereits Berichte erhalten, dass unsere Minen und
Plantagen angegriffen werden. Unser neues Schloss an der Grenze wird belagert,
und es verfügt nicht über das Artefakt Schild der Gerechtigkeit. Wir
erleiden Verluste, bevor der Kampf begonnen hat! Kein Clan hat je gegen alle
anderen gewonnen, und das ist genau der Kampf, in den du uns führen willst.”
Hinterleaf biss sich
auf die Unterlippe, als ob er überlegen würde, was er sagen sollte. Dann atmete
er tief ein und sprach mit düsterer Stimme: „Du hast keine Ahnung, was du
ablehnt. Zum Teufel damit! Genug der Worte, wir müssen eine Entscheidung
treffen. Wer ist dafür, dass wir die Gefahr für uns behalten, egal, was wir mit
ihr tun?”
Er warf einen finsteren
Blick über die Mitglieder von Modus. Nicht ein Spieler erhob die Hand. Der
Anführer nickte angewidert.
„Zum Nether mit euch,
ihr Schwächlinge. Ruft die Gesandten herein, einer von jedem Clan des
Bündnisses.”
Nachdem die Vertreter
der Clans eingetroffen waren, liefen zwei Kampfgestirne zum Keller, wo Crag
festgehalten wurde. Die Gesandten verlangten, ihn zu sehen, um sicherzustellen,
dass er noch am Leben war.
Ich schickte Tobias
eine Nachricht, in der ich ihn bat, auf niemanden zu hören, und versprach ihm,
dass wir bald von hier verschwinden würden. Damit wollte ich verhindern, dass
er das Gefühl bekam, alles wäre vorbei, und möglicherweise die Seiten wechseln
würde.
Inzwischen gingen die
Soldaten von Modus in Verteidigungsstellung, um bereit zu sein, falls die
Belagerer überraschend angreifen würden. Obwohl sie diszipliniert und
aufmerksam waren, gelang es mir, mich im Schutz der Dunkelheit näher an die
Stelle heranzuschleichen, zu der sie Crag bringen wollten.
Zuerst verschwand die
Schutzkuppel. Dann öffneten sich die Tore, um die Gesandten hereinzulassen. Sie
saßen auf geflügelten Reittieren und hätten über den Schlossgraben und die
Mauern fliegen können, doch sie kamen über die Brücke: Glyph auf einem Geflügelten
Tiger, Horvac auf einem Geisterdrachen, der Colonel auf einem Brennenden
Phönix und die Vertreter der übrigen Clans des Bündnisses. Die legendären
Ausrüstungsteile der Spieler strahlten im Dunkeln. Sie mussten zusammen
mindestens eine Milliarde Gold wert sein.
Crags Markierung erschien
auf der Minikarte. Mir blieben nur noch Sekunden.
Zwar würden sie ihn
nicht weit von mir vorbeibringen, doch ich bewegte mich weiter vorwärts, um
möglichst nahe an ihn heranzukommen. Zehn Meter … sieben Meter … fünf Meter …
Verdammt! Sie hatten die Richtung geändert und bewegten sich nun von mir weg.
Ich schob mich durch die Menge der Spieler, um den Abstand aufzuholen. Als ich
eine Lücke entdeckte, zwängte ich mich hindurch, ohne auf die ärgerlichen Rufe
und stoßenden Ellbogen zu achten.
Ein Spieler wurde
besonders ärgerlich und stellte mir ein Bein. Ich fiel aufs Gesicht und meine
Sicht verschwamm. Fluchend kroch ich auf allen vieren weiter. Um mich herum war
eine Palisade aus Beinen. Ich stieß mit dem Kopf gegen Knie und Waden und
verlor die Orientierung.
Das Symbol von Tiefen-Teleportation
leuchtete auf, die Fertigkeit wurde aktiv, doch ich hatte keine Zeit, sie zu
aktivieren, denn die Menge der Spieler bewegte sich erneut. Doch Crag hielt an,
als ob er etwas wahrgenommen hätte. Ich senkte den Kopf und nahm Horvacs
Gestalt an, der gerade ins Schloss ritt. Die Spieler wichen vor den Gesandten
zurück.
Ich sprang auf, machte
einen Schritt vorwärts, noch einen … und aktivierte Tiefen-Teleportation.
Drei Herzschläge später erschienen wir am Eingang des Tempels der Schlafenden
Götter auf Kharinza.
Im Inneren
materialisierte die Gestalt von Behemoth. Ich nickte der Gottheit zu und sah zu
Crag hinüber. Er hatte sich auf den Boden gesetzt und die Hände auf die Knie
fallen lassen. Er hatte ein breites Grinsen auf dem Gesicht. Ich hockte mich
neben ihn.
Wir haben es geschafft!
Wir sind am Tempel!, schrieb ich den anderen. Gleich
darauf teleportierten Crawler und Bomber einige Meter von uns entfernt. Trixie,
Manny und Gyula rannten auf uns zu und winkten zur Begrüßung. Der kleine Mann
hatte Mühe, Schritt zu halten, während er mir etwas zurief.
„Wo zum Teufel sind
wir?”, fragte Crag.
„Willkommen im
zukünftigen Fort des Clans der Erwachten”, erklärte Crawler triumphierend.
„Wir sind zu Hause,
Toby”, flüsterte ich und ließ mich auf den Rücken fallen. Unzählige Sterne
funkelten am Himmel und feierten das Ende einer wichtigen Quest. „Wir sind zu
Hause.”
[1] Ein NPC oder
Nicht-Spieler-Charakter wird nicht von einem Spieler, sondern von einem Programm
oder künstlicher Intelligenz gesteuert.
[2] Die Goliathe sind ein
Volk gigantischer, intelligenter, menschenähnlicher Kreaturen, die in Stämmen
in der Natur leben (hauptsächlich in Gebirgen). Der Name des Volkes leitet sich
vom biblischen Mythos von David und Goliath ab.
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