Die Triumphale ElektrizitätDie Illustrenvon Pavel Kornev
Release 29. April 2021
Pre-order on Amazon - https://www.amazon.de/dp/B08MQH5XNY
1
IST ES WAHR,
dass alle Lebewesen, denen es bestimmt ist zu kriechen, nicht fliegen können?
In der Tat!
Menschen sind nun einmal nicht dazu geschaffen, zu
fliegen, weshalb jeder Versuch dazu verdammt war, in einem Absturz zu enden.
Man nehme nur das Beispiel der Gefallenen…
Ich
öffnete die Augen. Ich kniff sie sofort wieder zu, aber es war zu spät. Als ich
sie erneut öffnete, erhaschte ich einen Blick auf den grauen, rauchverhangenen
Himmel, der sich wirbelnd über mir drehte und die Illusion erzeugte, ich läge
auf einem Rettungsfloß inmitten eines riesigen Strudels. Der bloße Gedanke,
aufstehen zu müssen, war schon schmerzhaft, also blieb ich, wo ich war, feige
ausgestreckt auf dem Müllhaufen, der meinen Sturz abgefangen hatte.
Ich holte
vorsichtig Luft und meine Rippen wurden sofort von einem scharfen Schmerz
durchbohrt. Aber als ich ein zweites Mal einatmete, ließen die unangenehmen Empfindungen
bereits nach und bestätigten mir, dass ich Glück gehabt hatte und mit einer
Prellung am Rücken davongekommen war. In dem Müllhaufen, der mich so liebevoll
umarmt hatte, befanden sich weder Ziegelsteine noch zerbrochenen Flaschen.
Das hob
meine Stimmung. Ich fühlte mich immer noch nicht allzu gut, wenn man die
Umstände meines Absturzes in Betracht zog, aber ich hatte immerhin etwas,
worüber ich froh sein konnte.
Wieder
öffnete ich die Augen.
Um
mich herum ragten düstere Gebäudewände auf, die den Eindruck erweckten, ich
befände mich auf dem Grund eines tiefen Brunnens. Über ihnen brauten sich graue
Wolken zusammen, feindselig und hässlich wie alles andere um mich herum.
Plötzlich wurde die Dunkelheit noch dichter und kündigte die Ankunft eines
Militärluftschiffs an. Seine Kabine war mit abwärts gerichteten, viereckigen
Waffenluken gesäumt. Dann sah ich die Heckstabilisatoren, den Kiel und die
Gatling-Geschützrohre, die einen Sonnenstrahl reflektierten. Doch im nächsten
Augenblick war das Luftschiff spurlos verschwunden, als wäre es nie da gewesen.
Das
spielte keine Rolle. Es war ja nicht so, als wäre ich aus der Kabine dieses
fliegenden Monsters gestürzt. Ganz und gar nicht: Ich war durch das knurrende
Maul eines zerbrochenen Fensters im zweiten Stock auf einen kurzen Flug
geschickt worden.
Wobei es
ehrlich gesagt ein wenig übertrieben war, zu behaupten, ich sei ‚geschickt‘
worden.
„Leopold!“
Das Echo eines fernen Schreis hallte über den Hof. Ich hörte ein dröhnendes
Poltern und einen Moment später war die Stimme näher. „Leo! Verflucht, wo
steckst du?“
Der
Strahl einer elektrischen Taschenlampe tastete das Gelände ab, sein helles
Licht lief über die Wände, schlängelte sich in meine Richtung und erlosch. Erst
als sich meine Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich einen
kleinen Wachtmeister in den Hof treten. Er trug einen Polizeiumhang und eine
Dienstkappe. Seine großkalibrige Lupara gab mit dem Mündungsende ihrer vier
Läufe ein hässliches Knurren in meine Richtung ab.
„Richte
das Ding gefälligst nicht auf mich!“, forderte ich und runzelte verärgert die
Stirn.
Ramon
Miro zögerte einen Moment, dann klemmte er seine Waffe in seine linke Armbeuge.
„Bist du
in Ordnung?“, fragte er und sah sich besorgt um.
„Das wird
wieder“, antwortete ich knapp, aber nachdrücklich.
„Bist du
sicher?“, fragte mein schwerfälliger schwarzhaariger Partner und streckte seine
freie Hand aus.
Irritiert
schlug ich sie weg. Ich nahm meine Kräfte zusammen, rollte ich mich auf die
Seite und schaffte es sogar, mich auf einen Ellbogen zu stützen, bevor ich das
Klirren von Glasscherben über mir hörte.
Ein
rundlicher Herr mittleren Alters in einem dezenten grauen Dreiteiler, der eine
ebenso unauffällige Melone trug, erschien hinter dem glaszahnigen Lächeln im
Fenster. Mit dem Griff seines Gehstocks schlug er eine weitere Glasscherbe aus
dem Rahmen und sah dann mich an, wobei sein Gesicht einen Ausdruck extremer
Missbilligung annahm.
„Was ist
mit diesem verdammten Sukkubus passiert, Leo?“, fragte Inspektor White.
Ich
drehte meinen Kopf erst in die eine, dann in die andere Richtung, überblickte
den ganzen Müllhaufen, auf dem ich ausgestreckt lag, und lächelte verzagt.
„Nun... ich
kann mit Sicherheit sagen, dass ich sie hier nicht sehe, Inspektor.“
„Detective
Constable Orso!“, donnerte Robert White und ließ mich wissen, dass Scherze
gänzlich unerwünscht waren. „Das ist keine Antwort. Wo zum Teufel ist sie?“
„Ich weiß
es nicht“, musste ich gestehen. „Ich erinnere mich nicht mehr an viel, nachdem
ich aus dem Fenster geworfen wurde.“
„Eine
überaus bedauerliche Wendung der Ereignisse.“ Der Inspektor zog sich vom
Fenster zurück.
Ich legte
mich wieder hin und seufzte hilflos, dann sah ich zu Ramon auf und fragte: „Was
starrst du mich so an?“
Der
Wachtmeister gab ein zweideutiges Schnauben von sich und wandte sich ab. Auf
seinem unerschütterlichen, rötlichen Gesicht war nicht eine Spur von Emotion zu
sehen, aber seine ostentative Gleichgültigkeit konnte mich nicht täuschen – die
Enttäuschung meines Kollegen war geradezu körperlich zu spüren.
Aber
darum konnte ich mich nicht kümmern. Es galt immer noch den Chef zu
besänftigen...
Ich
setzte mich zwischen dem Unrat auf und drehte ruckartig den Kopf. Ich hatte es
noch nicht so ganz geschafft, zur Besinnung zu kommen. Trotzdem schwang die
Hintertür auf und Inspektor White erschien auf einer hohen Treppe.
„Leo“,
sagte er untypisch sanft und sah sich mit einer Grimasse in dem dunklen Hof um.
„Leo, was zum Teufel ist hier passiert?“
Ich
beeilte mich nicht, ihm zu antworten. Ich rappelte mich erst einmal hoch, zog
meinen ausziehbaren zweipoligen Betäubungsstab an der gummibeschichteten Schnur
zu mir heran und zuckte dann vage mit den Schultern.
„Eine
echte Katastrophe“, verkündete ich, als die ausgedehnte Pause bereits eine
ungebührliche Länge annahm.
„Ja,
nicht wahr?“, schnaubte der Inspektor und seine grauen Augen verloren die
letzte Spur ihrer bereits verblassten Farbe.
Der Illustre Robert White verfügte über ein Talent, das in unserer Branche äußerst
wertvoll war: Er konnte Lügen riechen. Er konnte nicht immer erkennen, wann er
angelogen wurde, aber wie ein trainierter Bluthund konnte er leicht die
bewusste Absicht schnuppern, ihn in die Irre zu führen, wenn man mit ihm
sprach. Dieses sehr, sehr nützliche Talent
wurde ihm von seinen Eltern vererbt, die sich mit dem Blut der Gefallenen markiert hatten...
Genau aus
diesem Grund versuchte ich gar nicht erst herumzureden und hob einfach meinen
Betäubungsstab.
„Der
Schock ist zu schwach“, erklärte ich dem Inspektor.
„Was Sie
nicht sagen“, erwiderte Robert White verblüfft.
Ausgerechnet in diesem Moment kamen zwei Polizisten in
Dienstmänteln auf uns zu, die ihre neumodischen halbautomatischen Karabiner
bereithielten. Die Stangenmagazine der Gewehre ragten auf eine Weise hervor,
die ihnen ein albernes Aussehen verlieh, aber Leute, die sich wirklich mit
Schusswaffen auskannten, störte das nicht im Geringsten. In kleinen Gefechten
sprach das kurzläufige Madsen-Biarnoff-Gewehr recht beredt für sich selbst.
„Ich glaube,
mit dem Elektroschocker stimmt etwas nicht", postulierte ich, ohne auf die
skeptischen Blicke meiner Kollegen zu achten.
„Mit deinem
Kopf stimmt etwas nicht, Leo!“, rief der rothaarige Wachtmeister.
„Nein, nein,
Jimmy!“, mischte sich der andere junge Mann ein, dessen Zähne vom Tabakkauen
braun waren, und präzisierte seine Beobachtung sofort. „Sein Problem ist, dass
er verkorkste Arme hat.“
Der Rotschopf
lachte mit einem zufriedenen Blick. „Billy, alter Junge! Ich sehe keinen Grund,
warum nicht beides gleichzeitig wahr sein könnte!“
„Ich glaube,
da hast du den Nagel auf den Kopf getroffen, Jimmy! In seinem Fall scheint sich
das gegenseitig zu verstärken!“
Ich war nicht beleidigt; Jimmy und Billy waren
notorische Witzbolde. Man musste ihnen nur etwas geben, worüber sie sich lustig
machen konnten, und schon waren sie Feuer und Flamme. Aber der Inspektor wollte
Erklärungen und so schien meine Idee, Billy mit meinem Betäubungsstab einen
Schlag zu verpassen und ihm dabei das Maul zu stopfen, wie eine Chance, zwei
Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Also tat ich genau das.
Gleißende Funken flogen durch die Gegend. Der
Constable sprang ruckartig zurück und rieb sich die Brust.
„Bist du
total verrückt geworden?“ Er fletschte er die Zähne.
„Vergiss es.“
Ich winkte ab und wandte mich dem Inspektor zu. „Wie ich schon sagte, der
Stromschlag ist schwach!“
Teuflische Kreaturen reagierten besonders empfindlich
auf Elektrizität, aber ein so schwacher Stromschlag, wie ich ihn verpasste, würde
einen Sukkubus oder eine andere Ausgeburt der Hölle nicht betäuben.
Robert White kam mit seinem Gehstock über dem Arm die
Treppe herunter und begann in aller Ruhe, seine Pfeife mit starkem persischem
Tabak zu stopfen.
„Sie hätten
den Schocker heute Morgen überprüfen sollen, anstatt Ihr gelbes Schundblatt zu
lesen“, sagte er vorwurfsvoll.
„Aber ich
habe ihn dreimal überprüft! Er funktionierte einwandfrei!“
„Dann geben
Sie mal her“, forderte der Inspektor und nahm die Hülle, die ich aus der Tasche
gezogen hatte. Er betrachtete das kleine Etikett an der Unterseite.
„Des Prez
Electric?“, las er vor. „Leo, wo haben Sie diesen Mist ausgegraben?“, fragte er
wütend.
Ich antwortete mit der reinen Wahrheit. „Ich habe
ihn aus unserem Lagerraum.“
„Verflucht!“
schrie der Inspektor, riss in einem Anfall von Wut das Kabel heraus und warf
den elektrischen Stab auf den Müllhaufen. „Leo, wir hatten dieses Biest zwei
Wochen lang verfolgt! Zwei Wochen! Und alles war umsonst, wegen diesem Stück
Schrott!"
„Aber …“
„Ruhe!“,
forderte Robert White und zog wütend ein paar Mal an seiner Pfeife. „Ramon!“,
rief er nach ein paar tiefen Zügen. „Wer hat den Elektroschocker in Ihrer
Lupara hergestellt?“
Das Gewehr
mit vier kurzen zehn Kaliber-Läufen war ein Fabrikat der Firma Heim und
verwendete elektrisch gezündete Patronen als Munition. Nach einem flüchtigen
Blick auf seinen Klappschaft meldete der Constable zurück: „Edison Electric
Lights, Inspektor!“
„Sehen Sie,
Leo?“, schimpfte mein Vorgesetzter. „Merken Sie sich das für die Zukunft. Nur
Edison Electric Lights kommt in Frage, Tesla möge mir verzeihen. Haben Sie das
verstanden?“
„Ja, Sir.“
„Und
übrigens, warum sind Sie hineingegangen, ohne auf die anderen zu warten?“
„Die Tür war
offen. Ich wollte mich ein wenig umsehen.“
„Ach, wollten
Sie das? Und wohin hat das geführt?" Der Inspektor runzelte die Stirn,
zuckte verärgert mit den Schultern und machte sich auf den Weg aus dem
Innenhof. „Wir gehen!“, rief er, blieb aber sofort stehen und tastete seine
Taschen ab. „Jimmy, wo sind meine Handschuhe?“
„Ich weiß es
nicht, Inspektor“, antwortete der Constable und stieß seinen Partner in die
Seite. „Billy, wo sind die Handschuhe des Inspektors?“
„Was fragst
du mich?", knurrte er und sah sich um.
„Vergessen
Sie es!“, rief Robert White und duckte sich unter dem Torbogen durch.
Jimmy und Billy musterten mich mit unfreundlichen
Blicken und eilten unserem Boss hinterher. Ich wischte mir den Schmutz vom
Rücken und schlurfte hinter ihnen her. Ramon Miro ging schweigend neben mir und
versuchte sich an meinen ungleichmäßigen Gang anzupassen.
Ich muss
dazusagen, dass der katalanische Wachtmeister ein überraschend wortkarger Mann
war. Nebenbei bemerkt war er nur väterlicherseits Katalane. Seine Mutter
stammte von den Ureinwohnern der Neuen Welt ab. Tatsächlich hatte Ramon vom
Temperament her mehr mit dem Volk seiner Mutter gemeinsam als mit dem seines
südländischen Vaters.
In diesem
Moment sprang eine verängstigte Ratte unter unseren Füßen hoch. Ramon kickte
sie einfach mit der Spitze seines Stiefels weg und ging in aller Ruhe weiter.
Ich ging über den Müllhaufen, der im Eingang lag, und zog den Kopf ein, um der
rußverschmierten Unterseite des Bogens auszuweichen.
Groß zu sein, ist nicht annähernd so glamourös, wie
manche Neider vermuten. Es ist einfach, was es ist.
Dem stillen
Hof folgte ein weiterer, der genauso schmutzig und unansehnlich war wie der
vorige. Von dort gelangten wir in eine unbewohnte Gasse und blieben stehen, um
auf weitere Anweisungen des Inspektors zu warten. Er klopfte in aller Ruhe
seine Pfeife an der Hauswand aus, fischte eine silberne Taschenuhr aus seiner
Weste und spitzte die Lippen, tief in Gedanken versunken.
Ich nutzte
den Moment der Ruhe, schüttelte den Rest des Mülls von meinem gummierten Umhang,
klappte den Teleskopschocker wieder zusammen und nahm meine runde, getönte
Brille aus der Brusttasche. Ich klemmte sie auf meine Nase und fühlte mich
endlich wieder wohl.
Anders als
der Inspektor genoss ich es nicht, mit meinen unnatürlich farblosen Augen die Aufmerksamkeit
der Anwohner zu erregen. Deshalb konnte ich es nicht ertragen, jemanden beim
Reden direkt anzuschauen. Natürlich war da auch die Tatsache, dass ich die
Menschen im Allgemeinen nicht besonders mochte. Sie waren gewöhnlich so
beschränkt.
„Lassen Sie
uns zur Box zurückkehren“, beschloss Robert White in diesem Moment und begann,
unruhig und sogar nervös mit seinem Stock wedelnd, in Richtung der
nächstgelegenen Metrostation zu laufen.
New Babylon
war eine überraschende Stadt! Sie war immer wach und lebendig, Tag und Nacht.
Hier lagen das Wundervolle und das Schreckliche so eng beieinander, dass es
nicht zu unterscheiden war. Und es gab auch keine Winkel oder scharfen Kanten.
Es waren alles nur Schattierungen und verschwommene Halbtöne, die nahtlos
ineinander übergingen.
Alte Paläste,
deren marmorierte Verkleidungen längst rußgeschwärzt waren, stießen an neue
Gebäude, die zwar noch sauber waren, deren Schlichtheit ihnen aber jede
Schönheit nahm. Alleen, die in der Innenstadt breit waren, verloren sich in den
Außenbezirken in einem Rattennest von kleinen, gewundenen Straßen, obwohl nicht
genau klar war, wie. Die uralten Bäume im Emperor’s Park waren dicht mit
raschelndem Laub bedeckt, aber ihre Blätter waren meistens gelb und starben vom
ständigen Smog ab. Das azurblaue Wasser des Hafens brach sich in geschmeidigen
Wellen am Ufer und der endlose Himmel war ständig dicht bewölkt von Rauchwolken
aus Fabrikschornsteinen.
So war alles
in New Babylon. Selbst die Pflastersteine aus Granit waren rötlich, nicht wegen
der natürlichen Färbung des Steins, sondern weil sie nun dauerhaft mit dem Blut
der Gefallenen befleckt waren...
New Babylon
war die Hauptstadt des Zweiten Reiches, zugleich das Herz der Regierung, aber
auch ein Geschwür, das sie von innen auffraß.
Die kleine
Straße mit rußverschmierten Wänden, durchsetzt mit vereinzelten angelaufenen,
rechteckigen Fenstern, führte uns hinaus zu einer Kreuzung. Dort konnte ich
Schornsteine sehen, hoch wie ein Gebirge und von langen Rauchwolken gekrönt.
Zum Glück trug der Wind die Abgase heute von den Vororten weg, sodass es
weniger dunstig war als sonst.
Bald hatten
wir die Baracken hinter uns gelassen. Die Straße wurde breiter, und der Gestank
der fauligen Fabrikabwässer stieg aus den Kanalgittern auf. Wir gingen nun
bergab und ein paar Blocks weiter erstreckte sich der Yarden Uferdamm. Die
silbrige Wasserfläche wurde von einer Eisenbahnbrücke umklammert, die sich von
einem Ufer zum anderen erstreckte. Klobige Schlepper und Lastkähne sahen vor
dem Hintergrund ihrer Pfeiler wie Spielzeugboote aus, wodurch alle in den Hafen
treibenden Fracht-Luftschiffe ebenfalls weniger eindrucksvoll aussahen, als sie
waren.
„Beeilt
euch!“, hetzte der Inspektor uns weiter.
Ich legte
meine Hand an die Stirn, bemerkte eine Rauchfahne, die langsam in unsere
Richtung kroch, erhöhte mein Tempo und eilte den anderen hinterher.
Mit auf den
Pflastersteinen des Damms klappernden Absätzen marschierten wir zum Bahnhof,
vorbei am Zaun und den Fahrkartenschaltern. Zum Glück mussten wir nicht in den
endlosen Schlangen warten. Auf dem Bahnsteig angekommen, war es zu voll, um
sich zwischen den Arbeitern aus den umliegenden Fabriken hindurch zu drängen.
Glücklicherweise machten die schmuddeligen Proleten einen weiten Bogen um
unsere gut bewaffnete Abteilung, ohne dass sie geschubst werden mussten.
Ein kräftiger
Pfiff ertönte, und ein riesiger Zug rollte unter dem Vordach hindurch,
eingehüllt in weiße Dampfwolken. Der Raum füllte sich sofort mit dem Rauch, der
aus seinen Schornsteinen quoll. Mit einem metallischen Klirren kreischten die
Bremsen und der Zug kam zum Stehen. Die Fahrgäste strömten auf den Bahnsteig,
drängten sich gegen den arbeitenden Pöbel, der nach der Nachtschicht nach Hause
wollte.
Der Inspektor
hatte keine Lust, sich mit gewöhnlichen Menschen abzugeben, und machte einen
entschlossenen Schritt in einen Erste-Klasse-Wagen. Wir alle folgten unserem
Chef. Am Eingang verscheuchte Robert White mit seinem Stock den Schaffner, der
über seinen Mangel an Manieren verblüfft war. Er nahm neben dem Fenster Platz
und wirkte ganz gesammelt. Für den Rest von uns gab es nicht genug Sitzplätze,
aber das hielt den Zugbegleiter nicht davon ab, praktisch einen Anfall zu
bekommen, während das distinguierte Publikum uns unverhohlen indigniert
musterte.
Ein
zweimaliges kurzes Hupen ertönte. Der Zug setzte sich ruckelnd in Bewegung und
Säulen und Zäune begannen mit zunehmendem Tempo an den Fenstern vorbeizuziehen.
Bald tauchten die Gleise in einen Tunnel ein, und der Zug schoss unter die Erde
und ließ das geschäftige Treiben der Straßen mit all ihren rasenden Taxifahrern
und tagträumenden Fußgängern irgendwo weit, weit über uns zurück. Nun sauste
der Zug mit Volldampf dahin und rüttelte uns gnadenlos durch. Wir mussten uns
an den Griffstangen festhalten und die Rückenlehne des nächstgelegenen Sitzes
umklammern, um überhaupt stehen zu können.
Wenige
Minuten später verlangsamte die Dampflok ihr Tempo und rollte mit
ohrenbetäubendem Hupen aus dem Tunnel auf den Bahnsteig eines unterirdischen
Bahnhofs, der nur von den ungleichmäßigen Flammen der Gaslampen beleuchtet
wurde. Einige stiegen aus, einige stiegen ein, und der Zug rollte weiter.
Die Metro war
großartig! Nichts war damit zu vergleichen. Weder die Dampfstraßenbahnen noch
die neumodischen selbstfahrenden Waggons. Sie produzierte allerdings eine Menge
Rauch. Es war fast unmöglich zu atmen.
Drei
Stationen später stiegen wir aus dem Zug und traten auf die Straße. Auf der
gegenüberliegenden Seite des Platzes ragte der kolossale Newton Markt auf. Der
Inspektor blickte nur mürrisch auf die Marmorsäulen seines Portals blicken, ehe
er in die entgegengesetzte Richtung lief.
„Ich muss mal
meine Kehle befeuchten“, brummte er, nachdem er unsere neugierigen Blicken
hinter seinem Rücken mitbekommen hatte.
Niemand erhob
Einwände. Was hätte wir auch dagegen haben sollen? Keiner von uns hatte es
eilig, nach einem so großen Fiasko in die Box, wie alle das Polizeipräsidium
nannten, zurückzukehren. Ich am allerwenigsten.
Wir tranken
normalerweise in der Schraube des
Archimedes, einer kleinen Kneipe, die für ihre riesige Auswahl an
flämischen Bieren und ihre Klientel, die vorwiegend aus Gesetzeshütern bestand,
bekannt war.
„Die Morgenausgabe
ist da!“, rief ein heiserer Junge neben der Tür, der ein dickes Paket mit
Zeitungen in der Hand hielt. „Die Spannungen im Meer von Judäa nehmen zu!
Weitere Truppenbewegungen in Alexandria! Holen Sie sich Ihr Exemplar hier! Nur
in der Samstagsausgabe! Spaltung in den Reihen der ‚Triumphalen Elektrizität‘!
Tesla gegen Edison! Ganzseitiger Artikel!“
Robert White
warf dem Jungen eine Zehn-Cent-Münze zu, schnappte sich eine Ausgabe des Atlantic Telegraph und betrat die Bar.
„Hallo,
Almer!“, begrüßte er den korpulenten Besitzer der Bar und setzte sich an seinen
Stammplatz am Fenster. „Das Übliche.“
Der dicke
Flame holte eine kleine Karaffe mit rotem Portwein hervor und stellte sie vor
dem Inspektor ab. Danach schenkte er ein Glas Weißwein für Jimmy und Billy ein,
die sich mit ihren Getränken, einem Teller Brot und ein paar Scheiben pikanter
Schweineterrine in eine entfernte Ecke zurückzogen.
Als Ramon Miro sich mit einem Glas Weißwein entfernte,
den er ziemlich stark mit Sodawasser verdünnt trank, nahm ich auf einem der
hohen Hocker Platz und stützte mich mit den Ellbogen auf die Bar.
„Limonade?“, fragte
der Barkeeper seufzend.
„Limonade“,
bestätigte ich und blickte ohne besonderes Interesse auf die Reihe der
Bierflaschen, von denen jede ein buntes, an dickem Garn um den Hals gebundenes
Etikett trug und mit einem wachsversiegelten Deckel versehen war.
„Ich kann
diesen neuen Trend nicht ausstehen!“ Almer schüttelte den Kopf. „Bald werden
die Leute Bier gemischt mit Limonade trinken!“
„Igitt! Nein
danke“, entgegnete ich kichernd.
„Das werden
sie aber. Sie werden noch an meine Worte denken!“, verkündete der Wirt
selbstbewusst und machte sich auf den Weg zum Eiskeller. Bald war er mit einem
beschlagenen Krug mit Limonade zurück. Er stellte ihn vor mir ab, und die
Eisstücke begannen fröhlich darin zu klirren.
Ich füllte
mein hohes Glas, nahm ein paar Schlucke und nickte. „Großartig!“
Almer nahm das Lob als Selbstverständlichkeit und
machte sich daran, einen der Bierkrüge mit einem Geschirrtuch abzutrocknen.
„Ich kann
mich nicht erinnern, dass Sie jemals ein richtiges Getränk bestellt hätten“,
sagte er, ohne seine Arbeit zu unterbrechen.
„Das ist
richtig. Ich habe das Zeug nie angerührt“, bestätigte ich.
„Erstaunlich.“
„Wieso das
denn? Ich dachte, das wäre alltäglich.“
„Für einen
moralverliebten Reduktionisten sicher“, sagte der Flame grinsend. „Aber Sie
hätten weniger Mühe, eine Nutte zu finden, die zur Kirche geht, als einen
Constable, der nicht trinkt.“
„Von Alkohol
bekomme ich Schlafprobleme“, erklärte ich meine Weigerung, ohne die Wahrheit
besonders zu verbiegen.
Der Besitzer
des Etablissements brach in schallendes Gelächter aus. „Glauben Sie, dass sich
viele Ihrer Kollegen um solche Nebensächlichkeiten sorgen?“
Ich zuckte
nur mit den Schultern und hatte nicht vor, seine Behauptung zu bestreiten. Um
ganz ehrlich zu sein, kannte ich persönlich Leute, die man nur durch einen
Schuss in den Kopf, vorzugsweise aus einem großkalibrigen Gewehr, vom Trinken
abhalten konnte.
Wenn ich
nüchtern mit meinen betrunkenen Kollegen sprach, fühlte ich mich ihnen
allerdings nicht weniger nahe. Schließlich sind Menschen nach ein paar Drinks
normalerweise ziemlich offen und ehrlich. Alkohol erlaubt es den Menschen, ihre
Ängste zu vergessen, zumindest für eine gewisse Zeit. Wer war ich schon, darüber
zu urteilen?
Ich nahm den
Krug mit der Limonade und rutschte vom Barhocker, um mich zu Ramon zu gesellen,
doch plötzlich rief mich der Inspektor, der in der Zeitung blätterte, zu sich.
„Leopold!“, sagte
er ohne sich von seiner Lektüre loszureißen. „Wollen Sie mir nicht Gesellschaft
leisten?“
Verdammt! Das
war das Letzte, was ich brauchte!
Ich fluchte
innerlich, ging ohne besondere Eile zum Tisch und nahm meinem Chef gegenüber
Platz. Nachdem ich mein Glas mit Limonade gefüllt hatte, verschränkte Robert
White die Finger vor seinem Gesicht und sagte: „Würden Sie bitte Ihre Brille
abnehmen?“
Nachdem ich
seinem Wunsch nachgekommen war, hauchte ich auf die runden schwarzen Gläser, wischte
sie am Tischtuch ab und legte sie auf die Tischkante. Danach trank ich die
Limonade aus und lenkte meinen Blick auf eine Blaupause für eine archimedische
Schraube, die an die Wand gepinnt war, eine von vielen.
„Sie sehen
den Leuten nie in die Augen, nicht wahr, Leo?“, fragte der Inspektor
unerwartet. „Ist das richtig?“
„In der Regel
nicht“, bestätigte ich und wandte meinen Blick von der vergilbten Zeichnung zu
meinem Vorgesetzten. Ich begutachtete den Schnitt seines Maßanzugs, sein perfekt
getrimmtes Haar und das fantasievolle Muster auf seinem seidenen Einstecktuch.
Ich blickte ihm jedoch nicht in die Augen.
Zwischen den
Augen des Inspektors war eine tiefe Falte. Er trank seinen schweren Rotwein
aus, wischte sich mit einer Serviette über die dünnen, blassen Lippen und sagte,
nachdem er diese Prozedur beendet hatte: „Ich weiß von Ihrem illustren Talent. Es ist sicher nicht
leicht, den Leuten in die Augen zu schauen, wenn alles, was man dort sieht,
Angst ist.“
„Es ist wenig
Vergnügliches daran“, antwortete ich. „Jemandem in die Augen zu schauen, heißt
schließlich immer noch, in die Seele des anderen zu steigen. Ich ziehe es vor
... Abstand zu halten.“
„Das wird bei
mir nicht funktionieren.“
„Abstand
halten?“, scherzte ich.
„In die Seele zu gelangen“, antwortete Robert
White völlig ernst. Dann fuhr er sich über das Kinn und bemerkte nachdenklich:
„Ich hatte angenommen, dass Ihr Talent
hier etwas nützlicher wäre ...“
Nützlicher?
Seine Worte hinterließen ein unangenehmes Gefühl.
Sicher, mein Talent hätte ich bei der Arbeit
hilfreicher sein können, aber ich konnte es einfach nicht ertragen, in den
Ängsten anderer herumzuwühlen, sie in meinen eigenen Kopf zu lassen und sie zum
Leben zu erwecken. Obwohl ich es ohne besondere Anstrengung tun konnte, fühlte
ich mich, als hätte ich mich gerade in einer Schlammpfütze gesuhlt, wann immer ich
mein Talent tatsächlich einsetzte.
Andererseits
ging es bei diesem Gespräch nicht um meine empfindliche Psyche...
„Inspektor …“
Ich schauderte. „Mit dem Sukkubus ...“
„Hören Sie
mir zu, Leopold!“ Robert trommelte mit den Fingern auf die Tischkante und bat
um Ruhe. „Hier geht es nicht um den Sukkubus! Sie verstehen es einfach nicht!
Sie leben sich in dem Job nicht ein! Sie können nicht mit Menschen arbeiten und
Sie wollen es auch gar nicht. In unserem Beruf ist das die halbe Miete. Warum
wollten Sie eigentlich Polizist werden? Sie hätten Bibliothekar werden sollen!“
„Ich muss
irgendwie meine Rechnungen bezahlen“, antwortete ich, wie immer mit einer
Halbwahrheit.
Wenn der
Inspektor mein Understatement bemerkte, ließ er es sich nicht anmerken.
„Na schön.“
Er runzelte die Stirn und kam zum Kern der Sache. „Diese Stadt ist so voll von
Dieben, dass sie wie Sardinen in einer Dose sind. Die Verhaftung von
Einbrechern, Räubern und Mördern ist schon seit langem an der Tagesordnung.
Separatisten und Anarcho-Christen? Dieses ganze Gesindel interessiert kaum jemanden.
Und der Generalinspektor würde Ihnen nicht mal die Hand geben, wenn Sie einen
ägyptischen Agenten fangen. Aber höllische Kreaturen, das ist eine ernste
Sache! So kommt man auf die Titelseite der Zeitungen. Wir hatten diesen
Sukkubus zwei Wochen lang verfolgt, Leo. Zwei Wochen lang haben wir alle
anderen Aufträge ignoriert! Und jetzt ist das alles den Bach runtergegangen.
Alles nur Ihretwegen.“
Der Versuch,
mich zu rechtfertigen, wäre zumindest dumm gewesen, weshalb ich meinen Blick
auf mein Glas konzentrierte und mit den verbliebenen Eisstückchen herum klimperte.
„Ich dachte,
es wäre ein Zufall“, fuhr der Inspektor fort. „Ein simpler Zufall! Aber ich
habe die Zeitungen gelesen und mir wurde klar: Nein, es ist kein Zufall. Klipp
und klar, Leo, Sie haben bisher nichts als Ärger gemacht.“
„Wie meinen
Sie das?“ Ich war von der unerwarteten Wendung verwirrt.
Robert White
schob mir die Morgenausgabe des Atlantic
Telegraph zu und gab mir einen Hinweis. „Die Gesellschaftsseite.“
Ich warf
einen Blick auf die Schlagzeile, auf die er zeigte, und zuckte bedauernd
zusammen, las den Artikel aber trotzdem ganz durch und seufzte erst danach.
„Was für eine Plage ...“
Robert White
nahm die Zeitung, schauderte, setzte sich aufrecht hin und las laut: „Der
berühmte neubabylonische Dichter Albert Brandt hat im Gespräch mit unserem
Korrespondenten angedeutet, dass er kürzlich ein Gedicht für seinen guten
Freund, den Viscount Cruce, geschrieben hat, das er seiner Geliebten, der Illustren Elisabeth Maria N., gewidmet
hat.“ Der Inspektor drückte die Zeitung mit der Handfläche auf den Tisch und
verbrannte mich mit seinem hasserfüllten Blick. „Nun, Viscount Cruce, was
glauben Sie, was der Vater der Illustren
Elisabeth Maria N. mit Ihnen machen wird, nachdem er diese kleine Pikanterie
gelesen hat?“
„Moment mal“,
fuhr ich dazwischen. „Sie verstehen das ganz und gar falsch!“
„Ist das so?“,
der Inspektor verzog skeptisch das Gesicht. „Man muss nicht die Weisheit
Salomons besitzen, um zu erraten, worum es sich handelt. Ein blauäugiges, rothaariges
Mädchen mit dem Namen ‚Elisabeth Maria N‘. Kennen Sie viele Menschen, auf die
diese Beschreibung passt? Ich kenne nur eine! Und das ist die Tochter von
Generalinspektor von Nalz! Verflucht! Der Kerl hat viele der Gefallenen selbst gefangen! Man munkelt,
dass er sich von Kopf bis Fuß mit ihrem Blut eingeschmiert hat! Und jetzt
versucht er mit allen Mitteln, sein Töchterchen mit dem Neffen des
Justizministers zu verheiraten. Wenn die ganze Sache wegen eines kleinen
Artikels schiefgeht ...“
„Sie haben
das ganz falsch verstanden ...“
„Nein, das
habe ich nicht!“ Robert White runzelte die Stirn. „Wenn das aus dem Ruder läuft,
wird der Alte Sie zum Duell herausfordern und Sie umbringen. Es wäre nicht das
erste Mal für ihn. Und, Leo, ob Sie es nun wissen oder nicht, er hätte jedes
Recht dazu.“ Der Inspektor trank seinen Portwein aus und lehnte sich in seinen
Stuhl zurück. „Ich persönlich würde gerne meine Hände in Unschuld waschen, und
zwar mit größtem Vergnügen. Das Problem ist, dass der Vorfall ein schlechtes
Licht auf meine Karriere werfen wird.“
„Es ist nur
ein Zufall“, wiederholte ich hartnäckig. „Es besteht kein Zusammenhang zwischen
...“
„Hören Sie doch
auf!“, fauchte mein Chef. „Ihre Ausreden werden nichts ändern. Bis zu Mittag
werden sogar die Putzfrauen im Hauptquartier von Ihrer Affäre mit der Tochter
des Generalinspektors wissen. Der alte Mann wird nicht einmal zuhören!“
„Ich könnte
...“
„Sie können
gar nichts“, fiel mir der Inspektor ins Wort, schnippte aber sofort mit den
Fingern. „Doch, etwas können Sie! Verschwinden Sie für eine Woche. Zwei wären
besser. Geben Sie Ihre Waffen ab und kommen Sie nicht zum Dienst. Danach können
wir entscheiden, wie wir weiter vorgehen.“
Ich war
kategorisch dagegen, was auch immer er mit ‚weiter vorgehen‘ meinte, aber jeder
Versuch, meinen Chef davon zu überzeugen, einen anderen Weg zu wählen, war
sicher zum Scheitern verurteilt. Er hatte sich bereits entschieden. Ich hatte
plötzlich einen unangenehm sauren Geschmack im Mund. Die Ungerechtigkeit des
Seins ließ meine Augen brennen.
Albert! Was
für ein Mistkerl du doch bist! Wer war es denn, der deine Zunge zum Schwingen
gebracht hat?
„Jetzt machen
Sie sich rar“, befahl der Inspektor und hielt seine Zeitung hoch, um mich auszusperren.
Ich machte
keine Anstalten, diesen Befehl schnell auszuführen. Ich fühlte mich wie ein
geprügelter Hund, was äußerst unangenehm war. In einem kläglichen Versuch,
einen letzten Rest meiner Würde zu bewahren, trank ich zuerst meine Limonade
aus und stand erst danach vom Tisch auf. Dann nahm ich meinen gummierten Umhang
vom Haken und wandte mich an den Barkeeper. „Almer, setzen Sie es auf meine
Rechnung.“
„So früh
schon?“, erkundigte sich der schrullige Flame, der die Termine der Auszahlung
unserer Mitarbeiter mindestens so gut kannte wie unser eigentlicher Buchhalter.
Ich winkte
allen zum Abschied, ging hinaus auf die Straße und schaute zum Himmel hinauf.
Darin befanden sich spärliche Wolken, vermischt mit Rauchfahnen aus Fabrikschornsteinen.
Ich fing an hilflos Schimpfwörter zu schreien. Dann klemmte ich mir mit einer
gewohnten Bewegung meine dunkle Brille auf die Nase und machte mich auf den Weg
zum Newton Markt.
Ich würde
meine Waffen abgeben und mich bei der Gelegenheit gleich umziehen.
Obwohl ich als Detective Constable nicht verpflichtet
war, in Polizeiuniform zur Arbeit zu kommen, wie die meisten anderen, nutzte
ich dieses Privileg normalerweise nicht aus. Sie bezahlten nicht dafür, dass
ich meine eigene Kleidung reinigen oder flicken ließ, und der Viscount Cruce
hatte in letzter Zeit nicht viel Geld herumliegen.
In den
Taschen des Viscount Cruce herrschte gähnende Leere, um genau zu sein. Die
Hypothek auf meinem Haus entsprach dem Dreifachen seines Wertes und das
Einzige, was mir erlaubte, auch nur vorsichtig optimistisch in die Zukunft zu
blicken, war der Fonds, den ich von meinem Großvater mütterlicherseits geerbt
hatte.
Warum so
vorsichtig? Weil der derzeitige Verwalter des Fonds, mein Onkel, der Graf
Kósice, nicht gerade darauf brannte, sich von den zwanzigtausend Franken
Jahreseinkommen zu trennen, die ihm dieser Fonds bescherte, und das Verfahren
auf verschiedene Weise in die Länge zog, um mich so lange wie möglich von
meinem rechtmäßigen Erbe fernzuhalten. Ich war vor einem Monat einundzwanzig
geworden, aber die Treuhänder hatten es noch nicht einmal geschafft, das
Vermögensverzeichnis zu erstellen, von den materiellen Überweisungen ganz zu
schweigen. Und es war völlig unklar, wie lange es noch dauern würde, bis diese
verwirrende Prozedur abgeschlossen war. Ich bezweifelte, dass mein Onkel es auf
einen Rechtsstreit ankommen lassen würde, aber ich war mir sicher, dass ich um
die restlichen ‚Annehmlichkeiten‘ der Nachlassaufteilung nicht herumkommen
würde.
Andererseits, wozu brauchte ich das Geld jetzt? Ich
konnte von Glück reden, dass ich nicht gerade meinen Kopf verloren hatte...
Release 29. April 2021
Pre-order on Amazon - https://www.amazon.de/dp/B08MQH5XNY
No comments :
Post a Comment