Tuesday, December 22, 2020

Phantom-Server: Jenseits der Realität von Andrei Livadny


Phantom-Server, Buch 1:
Jenseits der Realität 
von Andrei Livadny




Release - 19. April 2021
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Kapitel 1

 

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Ich saß krumm in einem Stuhl, der alles andere als ergonomisch war.

Giftige Industrienebel verstärkten die Reflexionen in meinem Atelierfenster. Die grüne Anzeige der Luftschleuse leuchtete beruhigend: alles dicht.

Willkommen in der Technosphäre. Anders als im Cyberraum könnte hier jedes Versagen zu einer mittleren bis großen Katastrophe führen. Zauber und Vorteile? Fehlanzeige!

Ich brauchte ein paar Minuten, um wieder in die echte Welt zurückzufinden. Seit sechs Monaten diente der VR-Pod mit seinen Massagerollen und den Lebenserhaltungsmodulen nur noch als Wäschekorb. Das hatte seinen Grund.

Damals hatte ich mich entschlossen, die relative Sicherheit des Pods gegen eine unbekannte Erfahrung einzutauschen. Was für eine Veränderung! Keine mittelmäßigen Hologrammdarstellungen des Cyberspace mehr! Keine Stoßmembranen, die mir in die Rippen pikten. Jetzt hatte ich die virtuelle Welt immer dabei. Das Geheimnis war ein kleines Implantat, das wie ein altmodisches Hörgerät hinter meinem Ohr befestigt war. Millionen von Nanonadeln stachen an der Schläfe und Wange in meine Haut.




Unter der fleischfarbenen Oberfläche verbargen sich unzählige Chips, die zu einem komplexen neuronalen System zusammengeschaltet und mit meinem persönlichen Nanocomp-Armreif verbunden waren. Ich trug die Zukunft des Gaming an meinem Ohr.

Allerneueste, hochentwickelte Technologie, die Spielszenen mittels künstlicher Intelligenz in eine Reihe von Impulsen umwandelte und direkt in mein Gehirn sandte. Das neuronale Netz lernte ständig dazu und erzeugte so neue Empfindungen – auch solche, die es in der Realität gar nicht gab.

Riskant?

Bestimmt. Aber es war mir egal. Wer wie ich in den Tiefen des Cyberspace versunken war, hatte größere Sorgen. Und jede davon trug das Potenzial für einen langsamen und qualvollen Tod in sich.

Welche das sind? Langeweile, zum Beispiel.

Man kann sie nicht bekämpfen. Das Leben in der Realität ist mir ein Graus. Es ist grau und trostlos. Nichts und niemand kann mich vom Gegenteil überzeugen. Ich habe meine Entscheidung getroffen und die Brücken hinter mir abgebrochen. Der VR-Pod war eine großartige Sache gewesen, bis ich irgendwann mühelos in der Lage war, Wahrheit und Fiktion voneinander zu unterscheiden. Ich wollte in diesen Welten der endlosen Möglichkeiten leben, aber jeden Tag wurde das schwieriger. Mein 3-D-Raum verlor an Tiefe. Ich durchschaute alle Illusionen. Dahinter schimmerte die Wand meines Hightech-Gefängnisses. Als ich begriff, dass die virtuelle Welt niemals die reale Welt ersetzen kann, war ich deprimiert und verlor fast den Verstand. Darum hatte ich mich auf dieses Experiment eingelassen. Endlich wieder Spannung und neue Gelegenheiten, die es zu ergreifen galt.

Ich wuchtete mich aus dem Stuhl und schleppte mich in die Küche. Meine kostbare sterbliche Hülle musste ernährt werden.

Die kleinen Symbole vor meinen Augen waren weiterhin sichtbar. Dieses KI-Netz hatte keinen Ausschalter. Lediglich die Anzeige änderte sich situationsabhängig. Nach einem kurzen Blick auf die Uhr bestellte ich mir mein spätes Abendessen. Kurz darauf hörte ich den hydraulischen Aufzug. Ein großer Zylinder rollte in die Auffangschale. Ab auf den Tisch damit. Ich riss die Verpackung auf und zog dann an der Naht in der Mitte. Die Außenhülle wurde zu einer Unterlage, auf der Speisen und Getränke in luftdichten Behältern standen. Gesund und nahrhaft, aber vor allem praktisch. Kein Grund, das Haus zu verlassen.

Ich aß zwei Mahlzeiten täglich und schlief im VR-Pod. Ganz bequem und so vertraut. Und sicher.

Ob ich eine psychische Störung habe? Auf jeden Fall. Ehrlich, ich weiß das. Ändern will ich es trotzdem nicht.

An meinem zwölften Geburtstag bekam ich meinen ersten holografischen Nanocomputer. Seitdem hat die Realität für mich zunehmend an Bedeutung verloren. Ich blieb immer länger im Spiel. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich die virtuelle Welt gar nicht mehr verlassen. Aber so weit war die Technik noch nicht. Mein neues Neuroimplantat war der erste Vorbote der Zukunft.

Ich war neununddreißig Jahre alt, Single, hatte genug Geld und keine Verpflichtungen. Wie ich meinen Lebensunterhalt bestritt? Das erzähle ich später.

Ich aß langsam und überflog dabei meine Post und E-Mails. Das meiste davon löschte ich mit einer kurzen Augenbewegung.

Zeit für die wichtigen Dinge: Ich gab Phantom-Server in eine Suchmaschine ein.

Ich war wirklich neugierig. Mit ein wenig Hartnäckigkeit würde ich alles finden – dachte ich.

 

Keine Ergebnisse für diese Suchanfrage.

 

Das blinkende Anrufsymbol riss mich aus meinen Gedanken. Die Entwickler meiner Wetware. Echte Geier. Jeden Tag zur selben Zeit bestanden sie auf einem Bericht.

Nun gut. Versprochen ist versprochen. Ich begann, unscharf zu sehen, während das KI-Netz mein Gedächtnis scannte und einige der bemerkenswerteren Neurogramme hochlud.

Tja, eben noch ein Testmodell. Der Entwickler sagte für die Serienproduktion zu, dass alle Datenschutzgesetze mustergültig eingehalten würden. So recht wollte ich das nicht glauben.

Nachdem der Bericht übermittelt worden war, stand ich auf und ging zum Fenster. Nebenbei warf ich die Reste des Abendessens in den Müllschlucker. Ich hatte einfach keinen Hunger.

Keine Ergebnisse. Echt jetzt? Ich starrte auf die halb in den Abgasen versunkene Skyline hinaus. Sie wirkte wie ein abstrakter Hintergrund für die unzähligen leeren Ergebnislisten, die vor meinen Augen erschienen und verschwanden. Keine Ergebnisse gefunden.

Hatte mir meine Einbildung einen Streich gespielt?

Unmöglich. Einfach unmöglich. Die täglichen Berichtsuploads dienten einem Zweck. Wäre etwas mit dem Implantat nicht in Ordnung, dann hätte ich schon die Aufforderung erhalten, auf den speziellen Kommunikationskanal zu wechseln und mich einfach zurückzulehnen und an nichts zu denken.

Aber wieso kam keine Nachricht von den Entwicklern? Die plötzlichen Gefühlsregungen mussten im Protokoll doch klar zu erkennen sein.

Langsam wuchs meine Unruhe. Hier war etwas faul.

Oder sollte ich das Geschehene einfach ignorieren? Zeit für eine Dusche und dann, hopphopp, ins Bett. So etwa? Am nächsten Morgen wäre dann Zeit, nach einer neuen Spielwelt zu suchen, die mich wieder ein paar Jahre beschäftigen kann.

Aber die erwachte Neugier nagte weiter in mir, brannte förmlich und fütterte meine Unruhe. Konnte ein Plan der Neuro- und Cybertechniker dahinter stecken?

Ich fühlte mich wie eine halb tote Maus, die von einer fetten Grinsekatze herumgeschubst wird. Ich konnte doch nicht einfach nur herumsitzen.

Der Phantom-Server.

Der Name hatte sich fest in mein Neuronen eingebrannt.

Aber egal. Ich trug das Implantat jetzt schon ein Jahr und hatte mir einen guten Eindruck von seiner Funktion verschaffen können. Für den Fall, dass jemand mich als Laborratte missbrauchen wollte, gab es einige Notfallpläne.

Ich bin ganz entspannt. Ich bin rundum glücklich. Mein Kopf bietet störenden Gedanken keinen Raum. Jetzt war es wirklich Zeit zum Duschen.

Das neuronale Netz war in der Kunststoffhülle vor dem herabprasselnden Wasser geschützt. Eigentlich war das nicht nötig, aber die Entwickler wollten wohl wirklich auf Nummer Sicher gehen. Kein Wunder bei dem Preis für das Implantat! Mir war schon vor einer Weile aufgefallen, dass das mnemonische Interface unter der Dusche automatisch abschaltete. Auch der Kartensteckplatz war mir nicht verborgen geblieben. Er war zwar leer, aber ich hatte herausgefunden, dass eine Speicherkarte mit einem Terabyte perfekt passte. Als Vorsichtsmaßnahme hielt ich immer einige davon bereit; darauf Aufzeichnungen von Neurogrammen während des Tiefschlafs.

Nachdem ich die Abdeckung geöffnet hatte, drehte ich das Wasser ab und rieb mich trocken. Ich stieg in den Pod, ließ aber die Tür geöffnet. Dann aktivierte ich den Erholungsmodus und machte es mir bequem. Es wirkte, als würde ich fest schlafen.

Nach ein paar Minuten drückte ich die Karte in den Steckplatz wie schon viele Male davor. Es klickte und die Symbole auf dem Status-Interface verblassten.

Ich wartete zur Sicherheit noch einen Moment und ging dann online. Die Wirklichkeit verschwand. Ich schloss die Augen und meldete mich an. Diesen Login verwendete ich so gut wie nie.

Der Chatraum war leer und so was von gestern. Ich gab einen Codesatz ein. Das Fenster für private Nachrichten blitzte auf und der Cursor wartete auf die nächste Eingabe.

Kristallsphäre. Agrion. Die Taverne.

OK.

Meine Nachricht war angenommen worden.

 

* * *

 

In der Taverne ging es hoch her. Fast alle Tische waren von Spielern besetzt. Hier konnte mich niemand von einem Newbie unterscheiden. Ich drängte mich vorsichtig durch die Menge und steuerte einen leeren Tisch ganz hinten an.

„Hallo.“ Ein ungepflegter Goblin ließ sich auf den Stuhl neben mir fallen. Mit seinen Händen bildete er dabei rasch das Erkennungszeichen. Ich antwortete auf dieselbe Weise.

Wir unterhielten uns leise, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.

„Du willst dir also wieder ein paar Kröten verdienen? Lange nicht gesehen. Wie läuft’s?“

„Alles bestens.“

Bei dem schmuddeligen Kerl handelte es sich um meinen ersten Onlineauftraggeber. Wir hatten schon manches Geschäft abgeschlossen. Ob es uns genützt hat? Wer weiß …

Mit fünfzehn Jahren hatte ich viel Zeit im Cyberspace verbracht und jede Menge Spielewelten besucht. Aber ich hatte auch festgestellt, dass die besten und interessantesten Orte für normale Teenager nicht zugänglich waren, sei es aus Alters- oder Geldgründen.

Zum Glück stellten Jugendschutzchips selbst für ungeübte Hacker meines Alters kein Problem dar. Die eigentliche Hürde lag in der Beschaffung der finanziellen Mittel. Mein Studium hatte ich längst vernachlässigt. Mit dem Bildungsdarlehen war ich auf Shoppingtour gegangen und die Zinseszinsen drohten, mich aufzufressen. Ich lebte einen Drahtseilakt ohne Netz und doppelten Boden.

Spiele waren meine Leidenschaft und dort kannte ich kein Erbarmen. Fürs Aufleveln meiner Charaktere hatte ich keine Zeit. Mein Ziel war eine Karriere als PK oder Player Killer. Ich war der naiven Ansicht, die Beute der von mir aus dem Weg geräumten Spieler würde mir genug In-Game-Währung verschaffen, um mich in der Welt durchzuschlagen.

Bei diesem Versuch lernte ich Arbido kennen. Das ist natürlich nicht sein echter Name. Er dagegen wusste alles über mich, auch im echten Leben.

Das erste Zusammentreffen war kurz und (zumindest für mich) kaum erfreulich, aber – wie ich noch feststellen sollte – überaus produktiv.

Er versprach, das Darlehen zurückzuzahlen und meine schulischen Kapriolen auszubügeln. Natürlich konnte Arbido kein Wissen in mein Gehirn laden, aber er war in der Lage, meine Noten zu „optimieren“ und mich vor weiteren Belästigungen zu schützen.

Im Gegenzug musste ich meine spielerischen Fertigkeiten für ihn einsetzen, dieses bisher verschwendete und unterentwickelte Talent, das ich hatte. Doch mein Können interessierte ihn anfangs nicht wirklich. Stattdessen teilte er mir simple Hilfsarbeiten zu. Schon mal was von einem Goldfarmer gehört? Nein? Das ist eine interessante Arbeit: Man erhält Zugang zum Konto und Charakter des Kunden und erledigt alle möglichen Aufgaben für ihn: Missionen, zu denen er keine Lust oder Zeit hat, zum Beispiel. Oder man levelt den Charakter hoch. Einige dieser Missionen sind extrem eintönig: Erz abbauen oder das Sammeln von Zutaten gehören dazu. Aber wenn man sich erst einmal in einer bestimmten Welt auskennt und ihre Geheimnisse und Abkürzungen ergründet hat, wird man immer schneller dabei.

So habe ich mein erstes Geld online verdient. Diese Laufburschentätigkeit war erst der Anfang. Schon bald wurde ich mit anspruchsvolleren und nicht immer legalen Aufgaben betraut.

Ich lernte immer mehr über die Möglichkeiten. Schließlich legte ich neue Spielcharaktere in beliebten Welten an, brachte sie auf ein gewisses Level und verkaufte sie über Arbido. Einige habe ich auch selbst behalten. Ich nahm Bestellungen für Artefakte oder besondere Rüstungen an, die man nicht kaufen kann. Manche Gegenstände können schließlich nur von ganz bestimmten Gegnern erbeutet werden.

Farmen ist an der Tagesordnung. Eine kurze Internetsuche fördert eine lange Liste solcher und ähnlicher Dienstleistungen zutage.

Arbido hatte ein recht erfolgreiches Geschäft darauf aufgebaut. Mehrere Tausend Spieler waren für ihn in den angesagtesten Spielen aktiv. Er war auch absolut zuverlässig, den ein guter Ruf bedeutet in diesem Metier alles. Vor einer Weile hatte ich für ihn ein paar VIP-Aufträge ausgeführt, obwohl ich das Geld nicht mehr brauchte und finanziell unabhängig war.

Der Goblin blickte mich an. „Ich habe deinen Fortschritt beobachtet“, sagte er. „Diese Welt ist noch neu. Praktisch eine Jungfrau. Sollen wir auf Beutezug gehen?“

Ich schüttelte den Kopf.

Arbido hob fragend eine Augenbraue. „Bist du nicht zu sehr mit deinem Charakter verwachsen? Du kannst doch nicht immer der Paladin sein.“ In seiner Stimme schwang väterliche Sorge mit. „Komm schon, raus damit. Zeit ist Geld – besonders bei mir. Wie viele Easter Eggs hast du gefunden?“

Small Talk interessierte ihn nicht. Für ihn waren Goldminen und Mithril-Felder wichtig. Da kannte ich durchaus einige. Und dazu noch ein paar Orte, die für normale Spieler nicht zugänglich waren, weil der Weg dorthin erst nach mehreren Jahren geöffnet wurde. Ich wusste allerdings auch, wie ich vorzeitig ein globales Event anzetteln konnte, bei dem Heerscharen von Spielern die unerforschten Lande stürmen würden. Denn ich hatte die Schlüssel zu den Portalen.

„Ich suche keine Arbeit, ich habe einen Auftrag“, sagte ich.

Er runzelte die Stirn. Ich als Kunde? „Spuck es schon aus.“

„Ich brauche ein Konto für den Phantom-Server.“ Ganz trocken kam die Forderung über meine Lippen, wie ein alltäglicher Wunsch.

Er wusste sofort, worum es ging. Wo Suchmaschinen versagten, war er der Hüter der Geheimnisse. Er starrte mich pikiert an.

„Ist der Bissen nicht zu groß für dich? Diese Welt ist doch toll.“

„Sie ist langweilig!“

„Dann bau dir einen neuen Charakter. Suche nach neuen Möglichkeiten, ihn hochzuleveln. Die Welt hat wirklich Potenzial. Langeweile, wenn ich nicht lache. Du bist einfach nur faul.“

Die Überraschung in meinem Gesicht war offensichtlich. Er hatte noch nie einen Kunden abgewiesen.

Ich reizte ihn: „Wenn du nicht helfen kannst, sag es einfach.“

„Die Sache ist nicht koscher“, antwortete er kopfschüttelnd. „Eine geschlossene Welt im Alphatest.“

Hoppla, da hatte er wohl mehr verraten, als er wollte. „Willst du mich hinhängen?“ Seine Augen suchten meine Schläfen ab. Natürlich trug mein Avatar kein Neuroimplantat am Kopf, aber nichts bleibt lange ein Geheimnis. Ich hatte Stillschweigen bewahrt. Irgendwer musste ihm etwas verraten haben. Unglaublich.

Ich schluckte einen Kloß herunter. „Nein, alles in Ordnung. Ich will da wirklich rein. Ich bezahle auch dafür.“

„Du bist ein Idiot.“ Die Gedanken in seinem Kopf mussten rasen. „Hast du nicht verstanden? Da läuft ein Alphatest. Verrammelt und verriegelt. Keine zahlenden Kunden. Ohne Einladung kommst du da nicht rein. Und wenn du keine hast, bist du wohl nicht gut genug. Worin auch immer. Klopfen kannst du. Vielleicht darfst du auch mitmachen. Aber dann wird es gruselig.“

„Wie meinst du das?“

„Erst das Geschäft. Wenn du so clever bist, kostet dich die Info etwas.“

„Wie viel?“

In meinem Status-Interface erschein eine sechsstellige Summe in harter Währung. Arbido wollte es wirklich wissen. Später kam mir der Gedanke, dass er mich einfach nur schützen wollte.

Gieriger Mistkerl. So viel Geld besitze ich nicht und das weiß er.

„Wie wäre es mit einem Tausch?“ Ich bot eine Lösung an.

„Was hast du?“, starrte er mich aus kalten Augen an.

Mein Gegenvorschlag war eine Liste aller bisher unentdeckten und auf keiner Karte verzeichneten einzigartigen Orte und einige Artefakte aus meinem persönlichen Lager.

„Das reicht nicht.“

„Du bist ja vollkommen verrückt geworden.“

Was war falsch mit mir? Ich hatte mich nicht mehr im Griff. Irgendwann war der kleine Funken Neugier zu einem Leuchtfeuer geworden, genährt von unbestimmtem, aber drängendem Begehren. Ich fühlte mich wie ein Junkie, konnte aber nichts dagegen tun.

„Na gut.“ Arbido stand auf.

„Halt“, flehte ich ihn an und bot noch ein paar weitere geheime Orte und die Portalschlüssel.

Er setzte sich wieder, Tadel im Blick. „Wirst du das nicht bereuen?“

„Was gibt es da zu bereuen?“ Ich quälte ein trotziges, furchtloses Lächeln auf meine Lippen, um meine wachsende Besorgnis zu verbergen. „Bist du jetzt zufrieden mit der Bezahlung?“

„Ja. Pass auf. Die Sache läuft so“, kam er direkt auf den Punkt. „Wir reden hier über eine neue Spielegeneration, das Spielerlebnis der Zukunft.“ Währenddessen war er schon dabei, meine Informationen weiterzuverkaufen. „Seit wann hast du das Implantat?“

„Etwa ein Jahr.“

„Die Testphase beim Phantom-Server dauert jetzt schon fünf Jahre. Aber das Team lässt nur erfahrene Spieler rein. Am liebsten einsame Stubenhocker ohne Freunde und Familie in der echten Welt.“

„Und?“

„Die meisten kommen nicht mehr zurück. Sie melden sich an und das wars. Kein Lebenszeichen mehr. Ich weiß aber, dass alle davon dasselbe neuronale Implantat hatten wie du. Es gibt natürlich Gerüchte. Angeblich werden Breschen in andere Welten geschlagen. Praktisch in allen Spielen gab es schon Vorfälle. Seltsame Kreaturen, die aus dem Unterholz kriechen. Man sagt, die kommen alle vom Phantom-Server. Aber Beweise gibt es keine. Die Admins verwischen alle Spuren.“

Ich lauschte aufmerksam und machte mir mein eigenes Bild.

Das erste Spiel, bei dem sich wirklich alles um Neurosensorik drehte? Wahnsinn! Man Abenteuergeist brannte darauf. Ich hatte bereits die Gelegenheit gehabt, eine Seite dieser neuen Technologie zu erleben. Ich war wirklich beeindruckt. Wie würde es sich anfühlen, wenn jedes Ding in dieser Welt mit dem neuronalen Netz interagierte?

Arbido konnte das wohl kaum begreifen. Aber ich, ich sah klar: Die ganzen Spieler wollten einfach nicht zurück! So dringend suchte ich einen Adrenalinkick, dass jeder Rest von gesundem Menschenverstand davon verdrängt wurde. Dieser egoistische Trieb ließ keinerlei Verdachtsmomente oder Warnungen zu; egal, was Arbido vorbrachte.

„Sie könnten auch gestorben sein. Hast du schon einmal daran gedacht?“, riss er meinem Traum die Flügel aus.

„Warum?“

„Die Sache ist gefährlich.“ Wieder blickte er auf meine Schläfe. „Gehirne sollen einfach abstürzen. Finito.“

„Kennst du so jemanden?“

„Nein. Aber ich habe keinen Zweifel, dass es stimmt. Vertrau mir.“

„Du kannst dir deine Zweifel sonst wo hinstecken.“

Ein bitteres Lachen: „Nichts kann dich abbringen?“

„Gar nichts. Ich habe meine Entscheidung getroffen.“

„Es ist dein Leben. Geh nach Hause. Und warte.“

„Ich bleibe noch etwas. Ich will eine Rüstung vertickern.“

„Überlass das mir. Du musst auch alle anderen Konten verkaufen oder an mich vermieten.“

„Das kommt ganz auf den Preis an.“

„Habe ich dich je über den Tisch gezogen?“

„OK. Hand drauf. Behalt das Geld fürs Erste.“

„Warum?“

„Man weiß nie. Vielleicht brauche ich eine Finanzspritze oder so.“

Er schwieg. Grimmig und trübsinnig saß er da, als wäre er tot.

„Haben wir einen Deal?“

Arbido nickte. Dann verschwand sein Avatar.

 

* * *

 

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Die Realität war von der Dunkelheit der Nacht verschluckt worden. Ich lief schon stundenlang wie ein Tiger im Käfig durchs Zimmer. Immer wieder schweifte mein Blick aus dem Fenster.

Ich, ein Junkie? Ein Fall für die Klapse? Wie sieht es denn da draußen wirklich aus?

Die Spitzen der Wolkenkratzer sind im Smog verborgen. Wind pfeift durch die Straßen der Megacity, die sich über den halben Kontinent erstreckt. Mauern, versteckt hinter unheimlichen Hologrammen. Dazwischen Ströme von Licht, die in den allgegenwärtigen Abgasen verschwinden. Die Stadt keucht, kämpft um Atem. Lebendig und voller Energie, aber eigentlich weiß jeder, dass sie schon lange tot ist.

Nur die Dienerbots können außerhalb der abgekapselten Wohnungen und Gebäude überleben. Ihnen gehört jetzt der Planet. Ich und die Milliarden Menschen mit mir finden nur noch im Cyberspace so etwas wie Normalität.

Früher dachte ich, das wäre das virtuelle Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Irgendwann war mir klar, dass die meisten dieser Welten auch nur Kopien anderer Welten waren. Abbilder eines Spiegelbilds, wenn man so will. Atemberaubende Welten und faszinierendes Gameplay gab es schon lange nicht mehr. Vorbei der Zauber. Mein Verstand suchte neue Erfahrungen. Aber was gab es für mich zu tun, was ich nicht schon Hunderte von Malen auf Hunderte Weise getan hatte?

Doch die Rückkehr aus dem Cyberspace in die bedauernswerte Realität war noch viel schlimmer. Viele können es mir nachfühlen: Man wird verrückt dabei. Das Versprechen neuer, unbekannter Erfahrungen wirkt wie eine Offenbarung.

Das Spiel der Zukunft! Alphatest? Na und! Mein Drang, in diese neue, aus neuronalen Netzen erschaffene Welt einzutauschen, wuchs beständig.

Noch immer keine Nachricht.

Grausame Warterei. Und süße, quälende Vorfreude! Heftiges Verlangen und Adrenalin als Cocktail für Egoisten.

Drei Uhr in der Früh. Ein Blinken im Status-Interface.

Eine Nachricht.

Darin ein Link, ein Benutzername und ein Passwort.

Ich zitterte vor Aufregung, als der Pod hochfuhr. Was dauert da bloß so lange?

Ich stieg hinein. Die Sensoren des Lebenserhaltungssystems dockten an meiner Haut an.

 

Warnung! Sie betreten ein Sperrgebiet.

 

Ich gab die Anmeldedaten ein.

 

Neuronetzverbindung aktiviert. Neuroimplantat verbunden.

 

Ich schloss die Augen und ließ mich fallen.

 

* * *

 

Phantom-Server

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Ich zitterte am ganzen Körper.

Klares Denken? Fehlanzeige! Noch nie hatte es sich so merkwürdig und auch schmerzhaft angefühlt, in ein neues Spiel einzutauchen.

Ich konnte nichts sehen. Ich versuchte, mich zu bewegen – aber ich spürte meinen Körper nicht. Langsam ebbte der Schmerz hinter meinen Schläfen ab.

Alle Statussymbole waren grau.

Dafür pulsierte der Schmerz in meinen Muskeln. Watte im Kopf. Vage Schemen schoben sich an mir vorbei. Ein kindliches Wimmern füllte meinen Geist aus.

Ich keuchte. Durften Lungen so wehtun?

Ich lag auf einem harten, von Frost bedeckten Untergrund. Mehr wusste ich in dem Moment nicht über meine Umgebung. Doch: Die Luft war kalt. Und es gab wenig Sauerstoff.

Nachrichten blitzten vor meinem geistigen Auge auf:

 

Mind-Expander: nicht vorhanden

Metabolismuskorrektor: nicht vorhanden

Reflexverbesserer: nicht vorhanden

Semantikprozessor: nicht vorhanden

Alternative Startbedingungen erfüllt.

Alternativer Start initialisiert.

 

Ich war einigermaßen zu Atem gekommen und wartete auf das bombastische Intro. Wo war die umwerfende Grafik dieser Welt?

Schmerz durchzuckte mich wie ein Blitz. Ich konnte meinen Aufschrei nicht unterdrücken. Heißer Odem verbrannte meine Wange und zwang mich, die Augen zu öffnen. Dieser visuelle Effekt war wirklich erstaunlich. Ein hässliches Wesen, etwa so groß wie ein Affe, versuchte, sich durch meine Kleidung zu beißen. Nur der dicke Halsring verhinderte, dass das Monster mir die Kehle herausriss.

Mit dem Bisschen Kraft, das ich noch hatte, schlug ich nach ihm. Die Kreatur sprang von mir weg und verschwand in der Dunkelheit, schreiend wie ein Kleinkind.

Unheimlich!

Und extrem glaubwürdig. Ich spürte den gierigen Atem noch immer auf der Haut. Das Adrenalin färbte meine Sicht scharlachrot. Ich erschauerte. Schüttelfrost? Fieber?

Nach und nach leuchteten die Statussymbole auf.

Ich rief das Log auf, um mir den letzten Eintrag anzusehen:

 

Ein Kicker, Xenomorph der Stufe 15, hat versucht, dir die Kehle durchzubeißen.

Deine aggressive Reaktion hat ihn erschreckt und vertrieben.

 

Klar, dachte ich beim Aufsetzen. Ich musste an einem eher harmlosen Ort angekommen sein. Aber warum dann ein 15er-NPC? Wozu der alternative Start? Wo war denn hier die Funktion zur Charaktererstellung? Wo waren die Talentbäume und wo die zu verteilenden Fertigkeitspunkte? Und noch viel wichtiger: Wo war ich hier eigentlich?

Es war kalt. Ich fror mir in der winterlichen Leere einen ab. Der Boden war glatt – weder Erde noch Stein. War das eine künstliche Umgebung?

Erneut blitzten Nachrichten vor meinem geistigen Auge auf:

 

Neue Aufgabe! Allein.

Erkunde die Umgebung. Versuche, mindestens ein menschliches Wesen zu finden.

 

Neue Aufgabe! Schlaf der Vernunft.

Bevor du deinen Charakter entwickeln kannst, musst du einen Mind-Expander finden und installieren.

 

Neue Aufgabe! Deine Probleme möchte ich haben.

Du musst einen Metabolismuskorrektor finden und installieren, wenn du hier überleben willst.

 

Neue Aufgabe! Preis der Freiheit.

Du musst einen Reflexverbesserer finden und installieren, damit du andere Orte aufsuchen kannst.

 

Neue Aufgabe! Ich kann sie hören.

Du musst einen Semantikprozessor finden und installieren, damit du die Sprache der Xenomorphs verstehen kannst.

 

Epische Quest entsperrt: Phantom-Server.

Neue Zweige des Fertigkeitenbaums und die globale Story werden freigeschaltet, wenn du herausgefunden hast, wer diese Welt erschaffen hat.

 

Ich öffnete das Menü zur Charaktererstellung.

 

Zander. Stufe 1. Mensch

 

Der Umriss eines menschlichen Körpers, daneben graue Ausrüstungsplätze. Seltsame Rüstung.

Ich las die Beschreibung.

 

Eine leicht gepanzerte Rüstung. Keine integrierten Waffen. Mit fünf Ausrüstungsplätzen für spezielle Cyber-Module. Nur mit Helm luftdicht. Umgebungssensor meldet einen Sauerstoffgehalt von 10 %. Toxische Schadstoffe: 20 %.

Auswirkung: Das Atmen fällt dir schwer. Mit jeder Minute ohne Schutz sinken Gesundheit und Lebenspunkte. Du benötigst einen Metabolismuskorrektor oder Helm, wenn du hier überleben willst.

 

Ich hörte mehr Wimmern und Heulen, fast schon ein hysterisches Kichern. Es schien aus allen Richtungen zu kommen.

Ich hustete heftig. Das Atmen war wirklich eine echte Kraftanstrengung. Die Dinge verschwammen vor meinen Augen. Ich sah doppelt.

 

Du hast Giftstoffe aufgenommen.

 

Was zur Hölle? Ich hievte mich auf die Beine und versuchte, scharf zu sehen.

Den Echos nach zu urteilen, musste dieser Ort riesig sein. Keine Wände oder Mauern zu sehen. Der Boden bedeckt mit Eis. Wohin jetzt? Die gesamte Umgebung war feindlich, arktisch und giftig.

So verloren hatte ich mich schon viele Jahre nicht mehr gefühlt. Diese Welt war absolut andersartig. Einerseits wurde ich mit jedem Herzschlag neugieriger: Eine Art Rausch erfüllte mich, wie ein Kranker, der nach langer Zeit sein Bett verlassen kann. Ich sog all die lang verlorenen Empfindungen gierig in mich auf.

Andererseits flüsterte die Erfahrung in den Tiefen meines Verstands und beriet sich mit der Vorsicht: Diese Welt war gefährlich, wenn nicht die Hölle selbst. Ein alternativer Start? Fast hätte der Kicker mir die Kehle zerfetzt!

Ich musste mich entscheiden, und zwar schnell. Mit jedem Atemzug verlor ich Lebenskraft. Ich brauchte einen Helm.

Aber woher? Ich rief die Quest auf und dann die Karte. Keine Markierungen oder Richtungsangaben. Praktisch die gesamte Karte war von Nebelschleiern bedeckt. Sah so aus, als ob der Schwierigkeitsgrad beim alternativen Start auf am oberen Anschlag stand. Ein Hoch auf uns Hardcore-Gamer.

Ich konnte jetzt schon sagen, dass ich eine ganze Weile beschäftigt sein würde. OK. Wo war der Respawn-Punkt? Normalerweise war das ein sicherer Ort, an dem die große Menge neutraler Charaktere Newbies vor einem plötzlichen Tod bewahrten.

Aber hier? Und dann war da noch die Quest, Preis der Freiheit. Ohne den geheimnisvollen Reflexverbesserer würde ich vielleicht an dieser Stelle wieder aufwachen. Vermutlich könnte ich den Eintrittspunkt in die Welt nicht ändern. Es gab bestimmt einen Grund für diesen alternativen Start.

Ich blickte mich um, darauf bedacht, möglichst flach zu atmen. Die Spieledesigner hatten wahrscheinlich Urlaub gehabt, als dieser Level geschaffen wurde. Die Emo-Sphäre ließ das Blut gerinnen. Das ferne Wimmern und Heulen zerrte an meinen Nerven, die Kälte sorgte für Frustration. Es gab nicht einmal klare Hinweise.

Hin und wieder drangen Erschütterungen aus dem Boden – jemand oder etwas Schweres lief.

Aber egal. Ich hatte schon Schlimmeres erlebt. Ich orientierte mich an den Geräuschen und beschloss, in die andere Richtung zu gehen.

Wie eisige Blätter hing der Nebel an meinem zitternden Körper. Das Kichern und Wimmern schien sich zu entfernen. Mein Herz rumorte in meiner Brust, mein Atem gehorchte mir nicht. Ich hatte noch nicht eine Aufgabe erfüllt und mein Lebenspunktebalken schwand schon dahin!

Nach einigen Minuten entdeckte ich einen großen Haufen, der aus kleinen, scharfkantigen Teilen bestand. Ein Felssturz? Ich näherte mich. Der toxische Nebel wurde dichter und flimmerte grün. Jeder Atemzug wurde zur Qual. Die Neuroimplantate lernten wirklich schnell! Glaubwürdigkeit? Bitte schön, und noch eine Portion obendrauf!

In einem Hustenanfall beugte ich mich vornüber. Alles verschwamm vor meinen Augen.

Ein Rascheln hinter mir! Ich fuhr herum. Da! Gedrungene Schattenbilder im Nebel. Ich griff automatisch nach einem der spitzen Steine. Den Schnitt in meiner Hand bemerkte ich nicht. Keine Handschuhe. Die unbekannten Gestalten verschwanden aus meinem Blickfeld. Eine Systemmeldung:

 

Du hast kritischen Schaden erlitten!

 

Bitte was? Mir war doch niemand nahe gekommen. Ich starrte den Klumpen in meiner Hand an. Er glühte schwach und flackernd. Es war kaum zu sehen. Ich guckte genauer hin:

 

Radioaktives Erz. Auswirkung: Strahlenkrankheit. Aktuell ist keine Intervention möglich. Die tödliche Dosis lässt sich nur mit einem Metabolismuskorrektor neutralisieren.

 

Ernüchterung machte sich breit. Ein grausames Spiel. Ein grausames Szenario. Meine Lebenskraft sank rasant. Meine Beine zitterten. Ich übergab mich und brach zuckend auf dem Boden zusammen.

Der stechende Schmerz ging in eine Lähmung über. Die Krämpfe endeten. Dunkelheit umfing mich und verschlang meinen Geist.

Im letzten Augenblick konnte ich klar sehen und entdeckte eine zerborstene Kuppel über mir. Mein Blick durchdrang den Schleier: ein futuristisches Raumschiff. Es war mit der Kuppel kollidiert und hing nun dort fest. Der Felssturz – mein Untergang – war die Ladung, die es mit sich geführt hatte.

 

* * *

 

Respawn

 

Schwere Schritte erschütterten den Untergrund.

Giftnebel, eine dicke Eisschicht, Heulen in der Finsternis. Zurück auf Anfang. Ich ballte die Fäuste. Ärger, Verlust und das Gefühl, getäuscht worden zu sein, rangen in mir um die Vorherrschaft. Wo war das Biest, das mich angreifen würde? Was für ein unnötiger Tod! Peinlich, nach fünfundzwanzig Jahren Erfahrung.

Was war hier los? Entwickler sollen neue Spieler doch behutsam mit der Welt vertraut machen! Was bringt es, sie ins kalte Wasser zu schmeißen? Der durchschnittliche Newbie würde auf diesen alternativen Start wohl mit einem direkten Abmelden reagieren. Fertig.

 Die Eiseskälte aus dem Boden drang in mich. Ich stand auf.

Was für ein Mist. Noch war ich interessiert, aber so langsam verlor ich die Lust. Wie wäre es mit einer Gelegenheit, eine Stufe aufzusteigen? Ich hatte schließlich viel Geld hierfür bezahlt.

Ich wurde immer wütender.

Nur meine Prinzipien hielten mich noch davon ab, mich abzumelden. Das alles war so planlos. Was hatte ich auch erwartet von einer Welt im Alphatest? OK, wie wäre es mit einem Ticket für den Support? Ausführlich schilderte ich alle Probleme.

Keine Antwort. Das Wimmern und Kichern näherte sich meiner Position aus drei Richtungen.

Langsam schälte sich eine gedrungene, hässliche Gestalt aus dem Dunst. Die Kreatur war kaum zu erkennen, aber galoppierte auf allen Vieren heran.

 

Ein Kicker. Xenomorph. Stufe 15.

 

Wo war denn jetzt der Respawn-Punkt? Und wie kam ich hin? Ich hatte weder die nötigen Fertigkeiten noch passende Artefakte. Das Status-Interface war mir auch keine Hilfe.

Ich kochte fast über vor Zorn. Beruhige dich. Ich musste raus aus dem Spiel und mich dann wieder anmelden. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Gegen drei Stufe-15-Gegner war ich chancenlos. Vielleicht war dieser alternative Start ja nur ein Bug und nach dem Anmelden ginge es am richtigen Startpunkt los.

 

* * *

 

Abmelden

 

Ich kam langsam zu mir. Trotz der warmen Wohnung zitterte ich noch vor der Kälte, die mir aus der Spielwelt in den Knochen saß.

Mein Hals tat weh von den giftigen Dämpfen, die ich eingeatmet hatte. Fast so, als wäre alles echt gewesen! So ein elendes Implantat. Ein hohes Glaubwürdigkeitslevel schön und gut. Aber irgendwo gibt es Grenzen!

Ich trank Wasser, ohne dafür den Pod zu verlassen.

Okay. Nächster Versuch.

Ich gab die Adresse ein. Die bekannte Meldung erschien:

 

Warnung! Sie betreten ein Sperrgebiet. Vermutlich haben Sie eine falsche Adresse eingegeben.

 

* * *

 

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Der Giftnebel waberte.

Ich hielt den Atem an. Hinter mir waren huschende Schritte zu hören. Ich fuhr herum. Zu spät. Eines der Monster war bereits im Sprung. Es landete auf meiner Brust. Die Kralle schlug zu. Schmerz explodierte in meinem Kopf.

Aus der klaffenden Wunde strömte das Blut. Ich brach zusammen. Die Kreatur sprang zurück.

Grrrgrrr. Geduckt umschlichen mich die Gestalten in der Finsternis. Langsam zogen sie den Kreis enger.

Ich kroch rückwärts. Faszinierend, wie realistisch sich das alles anfühlte! Verglichen damit waren die bisherigen Spiele Kinderkram. Mein Blut lief mir in die Augen. Ich konnte es schmecken. Mein hektischer Atem zerriss mir fast die Lungen. Das war doch kein Spiel mehr!

Das war erschreckend real. Ich schnappte nach Luft. Instinkte aus meinem Unterbewusstsein durchbrachen den Eispanzer der Langeweile. Hie ging es nur noch um das nackte Überleben.

Grrrgrrr. Ein Schatten stürmte auf mich zu.

Ich riss den linken Arm zum Schutz hoch. Scharfe Zähne drangen durch die Rüstung in mein Fleisch und rissen am Muskel. Von der Schulter bis zum Steißbein durchzuckte mich der Schmerz. Finsternis. Ein heiserer Schrei aus meiner Kehle. Zwei weitere Xenomorphs waren zu erkennen. Mein irrer Blick hielt sie wohl von einem Angriff ab. Wie von einem elektrischen Schlag getroffen ließen sie von mir ab. Sie umkreisten mich, hysterisch winselnd.

Keuchend griff ich das Monster mit meiner Rechten am Hals und zog es von meinem linken Arm. Seine Fratze war hassverzerrt. Die Augen funkelten gierig, während seine Kiefer Stück von meinem Fleisch zermahlten.

Meine Sinne begannen zu schwinden. Wie ein Berserker schlug ich den Kopf der Kreatur auf den Boden. Wieder und wieder und wieder. Gurgelndes Schnappen, brechende Knochen. Meine Wut forderte ihren Tribut und ich machte immer weiter.

 

Du hast eine neue Stufe erreicht!

 

Die Meldung wirkte wie ein Eimer Eiswasser. Auf einen Schlag war ich nüchtern.

Mein Griff erschlaffte. Ich sah mich um, aber die anderen beiden Xenomorphs waren verschwunden. Ihr haarsträubendes, irres Kichern war nicht mehr zu hören. Um mich herum Stille. Die Meldung veränderte sich:

 

Du hast eine neue Stufe erreicht!

Glückwunsch! Du hast eine einzigartige menschliche Fertigkeit erhalten: Berserker. Sobald deine Gesundheit unter 5 % fällt, durchbrichst du im unbewaffneten Kampf jede Verteidigung des Gegners und verursachst ausschließlich kritischen Schaden.

Dein Anblick versetzt deine Feinde in Schrecken. Sie fliehen und können dich nicht angreifen.

 

Ich klappte auf dem blutbesudelten Boden zusammen. Das Eis war teilweise zu kleinen, roten Pfützen geschmolzen. Ich zitterte noch immer. Dann übergab ich mich. Was für ein Albtraum. Ich ekelte mich, wie nie zuvor. Ein Summen durchbrach die durchdringende Stille.

Mein linker Arm hing nutzlos hinab. Ich spürte ihn nicht mehr.

Meine Lebenskraft war nahezu erloschen. Der Schmerz ließ nicht nach. Blut troff aus meinen Wunden. Das sollte die Zukunft der Spiele sein?

 

* * *

 

Die Berserker-Fähigkeit schien noch zu wirken. Vor lauter Qual konnte ich weder klar denken noch sehen.

Ich hatte nichts, um die Blutung zu stillen. Keinen Stofffetzen, um einen Verband anzulegen.

Mein Blick fiel auf den erschlagenen Xenomorph.

Beute war Beute. Auch wenn mein Magen rebellierte. Das ganze Gameplay verstieß gegen alle Konventionen. Dieser Kicker zum Beispiel. Was für ein Monster soll das denn sein? Einfach nur ein Affe mit gefährlichen Zähnen und Klauen. Und die Gegend? Furchteinflößend? Pah! Ich war schon in Welten, in denen meine Zähne buchstäblich klapperten, weil es so unheimlich war oder die Gegner so grauenhaft waren! Und hier? Eine Einöde mit Gift und Affen. Kinderspiel. Vielleicht ein Hauch von Ungewissheit.

Keine echte Herausforderung, oder? Allerdings konnte ich meine Hand nicht mehr bewegen. Das Blut tropfte heiß und klebrig von meinen Fingern. Mit jedem Atemzug verlor ich Lebenspunkte und fühlte mich kränker. Na, selbst probieren?

Meine inneren Schweinehunde zogen sich zurück.

Ich kniete mich neben den Xenomorph und dreht ihn auf den Rücken. Hast du gut gefrühstückt, du Mistkerl?

Sein Gesicht war eine blutige Masse. Der Schädel geborsten. Die Zähne herausgebrochen.

Gab es noch was zu durchsuchen? Das war doch nur noch ein Haufen Müll. Für wen hielten sich die Entwickler eigentlich? Er hatte nichts bei sich. Verdammt! Nur Haut und Haar. Muss ich ihn aufschneiden?

Zimperlich (und ich hatte mich nie für zart besaitet gehalten) berührte ich seinen Bauch. Ah! Clever! Ein Beutel wie bei einem Känguru.

Als erstes kam ein Brocken Schleim heraus. Ich hielt ihn in der Hand und untersuchte ihn.

 

Ein Symbiont. Entzieht normalerweise 100 Lebenspunkte. Stellt bei Verwundung einmalig 1000 Lebenspunkte wieder her. Metabolismus kompatibel mit Kickern, Dargianern und den Haash. Auswirkungen auf den menschlichen Metabolismus: unbekannt. Bisher wurden keine Versuche an Menschen durchgeführt.

 

Meine Neugier war geweckt. Aber dieser Klumpen war zu eklig, um ihn zu verzehren. Aber wie könnte ich das Ding sonst nutzen?

Eine Art Tentakel bildete sich. Es hatte wohl Blut gerochen.

Vorsicht ist besser als Nachsicht. Ich verstaute meine Beute in einer meiner Taschen und suchte und lauschte weiter. Wie sagt man doch: Zu viel Vorsicht gibt es nicht? Ich stimmte voll und ganz zu!

Es sah nicht so aus, als würde hier demnächst jemand wieder zum Leben erwachen. Das Blut war bereits geronnen. Mein Schmerz ließ nach. Ich rang noch immer nach Luft, aber der Lebenspunktebalken füllte sich langsam. In meinem Zustand sollte ich besser jedem Kampf aus dem Weg gehen. Umsicht und schnelles Handeln waren gefragt, bevor die Xenomorphs zurückkehrten.

Plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Was wusste ich überhaupt über den Phantom-Server?

Offensichtlich nichts, bis auf das soeben Erlebte. Von den Aufgaben war klar, dass es wohl eine technogene Welt sein musste. Darauf deutete auch das Raumschiff hin. Und die Bezeichnung Xenomorph passte auch dazu.

Wo war ich also?

Nun, das galt es herauszufinden. Der eindeutig ebene, künstlich geschaffene Untergrund bot keine Anhaltspunkte. Für die Toxine galt das Gleiche. Ich musste die Gegend erkunden. Ein paar Fingerzeige hatte ich bereits erhalten: Je dichter der Nebel, desto giftiger war er. Auch das grüne Leuchten musste ich um jeden Preis vermeiden. Zumindest, bis ich besser ausgerüstet war …

Ich hatte noch nicht einmal bemerkt, dass meine Berserker-Fähigkeit abgeklungen war.

Tatsächlich, meine Lebenskraft war leicht gestiegen. Etwa fünf Prozent, würde ich denken. Ich versuchte, wütend zu schauen, um imaginäre NPCs zu vertreiben. Autsch! Die klaffende Wunde, die von meinem Kinn bis zu meinem Scheitel verlief, tat sofort weh.

Aber egal. Ich sah auch so abstoßend genug aus. Zum Glück gab es hier keinen Spiegel!

Ich beschloss, in die Richtung zu gehen, in der dieser Nebel weniger dicht erschien.

 

* * *

 

Dieses Mal stimmte die Richtung. Schnell wurde der Nebel dünner. Das Atmen fiel mir leichter und ich sah einige seltsame Objekte.

Leider sprachen sie nicht für einen begnadeten Grafiker. Hier mussten extrem hohe Temperaturen geherrscht haben.

Ich untersuchte den Schauplatz. Eine Oberfläche wie geschmolzenes Glas, durchdrungen von Luftblasen. Zwecklos. Das Status-Interface zeigte nichts an. Wussten die Entwickler überhaupt, was sie hier geschaffen hatten? Oder waren das alles plan- und ziellose Fingerübungen?

Absurd?

Wer schon einmal den ersten Prototyp von irgendwas getestet hat, weiß, dass das nicht so ist. Das Setting erinnerte mich genau daran: Viele leere Orte mit Platzhaltern für Dinge, die später noch kämen. Schrecklich langweilig. Gewaltige Einöden, in denen auch nach Meilen nichts zu finden war.

Moment! Endlich erwachte das Status-Interface zum Leben.

Wenn ich mich konzentrierte, konnte ich in den Ausschmelzungen die verschwommenen Umrisse von Dingen sehen. Leider keine Details.

Aber bestimmt wertvoll.

Die glasartig gewordene Oberfläche wies einige Risse auf. Ich untersuchte ein paar dieser Stellen mit der Faust. Bloß nicht zu fest zuschlagen. Oh, diese Schmerzen! Nach und nach füllte sich mein Lebenspunktebalken. Das hatte ich schon schneller gesehen! Es waren bestimmt zehn Minuten seit dem Kampf gegen den Xenomorph vergangen, aber noch immer tat mir alles weh.

Was war hier verborgen? Ich musste es herausfinden. Jahrzehntelange Erfahrung verriet mir, dass schon lange niemand mehr hier gewesen war. Vielleicht war ich überhaupt der erste Abenteurer an diesem Ort! Ob unbezahlbare Schätze auf mich warteten? Dinge, die es nur ein einziges Mal gab?

So. Schon sabberte ich vor Eifer. Die Beute zurückzulassen wäre echt lässig –aber auch ein großes Verbrechen. Das galt besonders für jemanden wie mich, der praktisch nichts besaß.

Was steckte hier drin?

Ein Schauer rann mir den Rücken hinab. Wurde ich beobachtet? War ich nur ein lästiges Insekt, das im nächsten Augenblick zerquetscht werden würde?

Ich hielt inne und spähte um mich. Nichts. Dunkelheit, dazwischen die gläsernen Hügel.

Die Umrisse darin waren etwas klarer. Da, eine Systemmeldung:

 

Verborgene Objekte können nur mit einem Mind-Expander genauer untersucht werden.

Du benötigst ein entsprechendes Implantat oder einen tragbaren Scanner. Du kannst das Hindernis auch mit einem geeigneten Werkzeug deiner Wahl zerstören. Chance, das Objekt zu zerstören: 90 %.

 

War ja klar. Ich seufzte. Implantat hier, Implantat da. Wo fand ich die Dinger?

Aber egal. Ich könnte später zurückkehren. Ich rief die Karte auf. Aha! Da hatte ich das radioaktive Erz gefunden. Und hier war ich jetzt. Ich markierte den Ort. Ich musste unbedingt bei nächster Gelegenheit eine Ausgrabung organisieren.

Gut, mein Lebenspunktebalken stand jetzt bei dreißig Prozent. Weitere Meldungen blinkten auf. Ich hatte Fertigkeitenpunkte, aber nichts, wofür ich sie ausgeben konnte. Alle Zweige des Talentbaums waren gesperrt.

Und noch immer keine Antwort auf mein Supportticket …

 

* * *

 

Langsam schleppte ich mich auf ein gelbliches Leuchten in der Ferne zu. Ich war jetzt schon eine ganze Stunde hier. Meine ersten Eindrücke waren durchwachsen.

Die Gegend änderte sich. Kein Giftnebel. Gut so. Die Kuppel neigte sich in diesem Bereich dem Boden zu. Es gab auch mehr geschmolzene Objekte. Letztere waren größer und erinnerten an mir nicht vertraute Apparate, seltsame Chimären, Säulen und Bögen, die Räume miteinander verbanden. Mehrere Lichter sorgten für gute Sicht. Einige der Formen glommen schwach. Die Schäden waren zuerst nur noch oberflächlich, dann gar nicht vorhanden.

Hinter mir musste das Epizentrum einer lang vergangenen Katastrophe liegen. Unterbewusst erwartete ich, dass jeden Augenblick ein normales Spiel starten würde: NPCs mit niedriger Stufe, beschäftigt mit Aufräumarbeiten.

Ich sah mir einige der großen Apparate genauer an. Von den meisten waren nur Gerippe übrig. Jemand hatte sie vollkommen ausgeschlachtet. Damit wurden die Artefakte in den Ausschmelzungen noch wertvoller.

Ich brauchte unbedingt ein geeignetes Werkzeug, um sie aufzubrechen.

In Gedanken versunken bemerkte ich die neue Gefahr nicht. Der Untergrund wurde steiler und bildete einen riesigen Einschlagkrater, aus dem mich zerborstene Beton- und Stahlträger wie ein schlechtes Gebiss höhnisch anlachten. Verschlungene Kabelbündel überall. Ich rutschte aus und verlor das Gleichgewicht. Während ich den Hang hinabschlitterte, fügten mir die Kanten des Metallschrotts immer wieder Schnittwunden zu.

Irgendwann konnte ich ein verrostetes Rohrstück greifen und mich festhalten. Ich wagte einen Blick nach unten.

Es ging mindestens fünfzehn Meter in die Tiefe. Der gelbe Schein drang aus einem hässlichen Schlund, umrahmt mit glänzendem Metall, hervor. Der Krater war wirklich tief. In der Mitte fielen die Wände fast senkrecht ab. Ich suchte festeren Halt an den alten Rohrleitungen. Sie knarzten bedrohlich. Vor mir erstreckte sich ein schauerliches Panorama: Mumifizierte Überreste bedeckten die steilen Hänge. Überall steckten Körperteile von unbekannten Kreaturen zwischen den verbogenen Leitungen und Kabeln fest. Mehrere Stahlseile verschwanden in einem Loch am Grund. Daneben eine Art notdürftiges geschweißtes Tragwerk, das erst nachträglich entstanden sein konnte.

Nachdem meine Augen sich an das dämmrige Gelb gewöhnt hatten, konnte ich weitere Details erspähen. Das schien ein regelmäßig genutzter Weg und gleichzeitig Schauplatz vieler verzweifelter Kämpfe zu sein. Nur wenige der auf den Stahlträgern aufgespießten Körper sahen so aus, als wären sie zufällig hinabgefallen.

Mir wurde ganz schwindelig und ich umfasste die langsam zerbröselnden Rohre fester.

 

Sauerstoffmangel! ‒2 Punkte auf Stärke, Ausdauer, Beweglichkeit und Wahrnehmung. Wenn du dir nicht bald ein Metabolismusimplantat besorgst, stirbst du.

 

Ich weiß, ich weiß.

Ganz ruhig jetzt. Ich wartete ab, bis der Schwindelanfall vorüber war. Zum Glück!

Unter mir hetzten lange Schatten durch den Krater. Gedämpftes Kreischen war in der dünnen Luft zu hören, als etwa ein Dutzend drahtige Kreaturen unter mir ins Blickfeld traten und die Behelfsbrücke hinauf huschten. Sie waren – bis auf Sklavenhalsbänder – nackt.

Ich nahm einen davon ins Visier. Sofort tat das Status-Interface seine Arbeit:

 

Ein Haash. Fühlender Xenomorph. Stufe 17. Pilot. Gegenwärtiger Status: Gefangener.

 

Fühlend vielleicht. Aber die Statur gab mir sehr zu denken. Der Haash war knapp zwei Meter fünfzig groß, dünn, aber extrem kräftig. Sein Kopf glich einem Reptil. Die langen Arme endeten in vier mehrgliedrigen Fingern.

Ich versuchte, mit der Umgebung zu verschmelzen. Immer mehr Schatten kamen hervor und kraxelten nach oben. Dieses Mal waren es untersetzte Krieger in Rüstung.

Wieder wollte ich mehr wissen:

 

Ohne Mind-Expander kannst du Gegner in Druckanzügen nicht erkennen. Suche und installiere das Implantat, um die Rüstungs- und Waffenwerte deiner Gegner zu ermitteln.

 

Das wird sich noch zeigen! Die untersetzten Gnome wirkten vertraut.

Ich sah weiter zu. Die Haash waren hinter dem oberen Kraterrand verschwunden.

Die Gnome kletterten ebenso gewandt hinterher, wenn auch mit deutlich mehr Lärm. Das Summen ihrer Mikromotoren und das Klirren ihres Stahls wurden selbst in der dünnen Luft weit getragen.

Ein Raubzug! Das war ein Raubzug!

Ich zählte etwa fünfzig der gedrungenen Gestalten. Ihnen folgten ein paar noch seltsamere Kreaturen, die wie Quallen durch die Luft schwebten.

 

Die Führer, informierte mich das Interface.

 

Mir rann es kalt den Rücken herunter. Rein metaphorisch gesprochen, natürlich, denn tatsächlich schwitzte ich vor lauter Angst, entdeckt zu werden.

Die Führer waren wohl die treibende Kraft hinter dem Raubzug. Ich folgte der Gruppe mit zusammengekniffenen Augen. Die gelartigen Körper waren von einer knorpeligen Substanz durchzogen und vollgestopft mit Cyber-Modulen. Plötzlich streifte einer der Führer ein scharf aussehendes Schrottteil. Ha, das war sein Ende! Pustekuchen. Ein Kraftfeld blitzte auf und das Metall schmolz. Der durchscheinende Körper wurde von einem sichtbaren Netz durchzogen. Es wirkte wie glühende Drähte. Das mussten die Leitungen sein, die die Implantate miteinander verbanden.

Gefährlich!

Etwa ein Dutzend schwer beladene Haash bildeten die Nachhut. Trotz ihrer Stärke und Ausdauer brachen sie unter der schieren Last der riesigen Kisten fast zusammen, während sie sich den Anstieg hochquälten.

Ich widmete mich den zuvor empfangenen Daten, indem ich den Blick fest auf den letzten Haash richtete:

 

Ein Haash. Fühlender Xenomorph. Stufe 21. Pilot. Gegenwärtiger Status: Gefangener.

 

Gefangene können durch Zerstören des Controllers im Kragen befreit werden. Diese Aktion wirkt sich auf deinen Ruf aus. Nicht alle Menschen sind mit der Befreiung von Xenomorphs einverstanden. Je nach Xenophobie fällt dein Standing bei den entsprechenden Menschengruppen.

 

Endlich gute Nachrichten! Ich hatte schon befürchtet, das hier wäre ein Spiel für richtig komische Käuze. Andererseits: Es gab Spieler, die gerne als Goblin, Ork oder andere mythische Kreatur auf die Reise gingen. Warum nicht auch als Xenomorph?

Während ich diesen Gedanken nachhing, waren die letzten Haash aus dem Krater geklettert und aus meinem Blickfeld verschwunden.

Erleichtert seufzte ich auf. Wohin zog der Trupp wohl? Hoffentlich waren sie nicht hinter meinen Schätzen her.

Beruhige dich, ermahnte ich mich. Kein Grund, gierig zu werden. Für Stufe 2 war ich schon weit gekommen. Ich sah mir die fast senkrecht abfallenden Kraterwände und aufgespießten, mumifizierten Gestalten noch einmal an. Das war die Gelegenheit, meine Ausrüstung zu ergänzen. Ohne Waffen und andere Extras wäre der Abstieg einfach zu riskant.

 

* * *

 

Ich wandte dem Tragwerk den Rücken zu und entschloss, auf der anderen Seite zu beginnen.

Dabei stellte ich fest, dass mein erster Eindruck mich getäuscht hatte. Das hier war gar kein Krater. Es war ein gewaltiges Loch. Wie es entstanden war und warum die Wände so steil abfielen, war noch unklar.

Ich kämpfte mich durch das Chaos verbogener Teile. Das Ganze ähnelte einer Schichttorte. Leider wusste der Bäcker offensichtlich nicht, was er tat.

Dicke Metallplatten zwischen kompakten, technogenen Füllungen aus unterschiedlich starken Rohrleitungen, Kabelkanälen (die ich anfänglich für Baustahlträger gehalten hatte), mir unbekannten Apparaturen und schmalen Servicetunneln.

Insgesamt zählte ich fünf dieser Schichten. Aus dem teilweise gefledderten, zerborstenen und geschmolzenen Sammelsurium standen mechanische Skelette heraus, die miteinander verwoben einen instabilen, trügerischen Halt boten.

Vorsichtig und langsam kletterte ich daran entlang. Immer wieder gaben einzelne dieser Haltepunkte unter meinem Fuß oder meiner Hand nach. Häufig rissen sie dabei andere Objekte mit und rasten in einer lauten Lawine in die Tiefe. Ein Absturz wäre mein sicherer Tod. Dazu kam noch, dass mein Respawn-Punkt ungünstig gelegen war: Ich wollte nicht riskieren, dem Überfallkommando über den Weg zu laufen, das gerade aufgebrochen war.

Bei jedem Geräusch hielt ich inne und wartete erst ab, ob jemand nach dem Ursprung des Getöses suchen würde. Doch mit jedem zurückgelegten Meter gewann ich an Sicherheit, bis ich schließlich jede Vorsicht fahren ließ. Ich kam nun viel schneller voran.

Alles fühlte sich so unglaublich realistisch an, dass ich jede der vielen Blasen in meinen Handflächen spürte. Jeder Muskel tat mir weh. Jede unbedachte Bewegung ließ mein Herz pochen.

Ich konnte nichts dagegen tun. Mein Neuroimplantat hatte eindeutig die Oberhand. All meine Instinkte und Reflexe waren der Technik ausgeliefert. Ich sollte spüren, wie es sich anfühlte, in fünfzehn Metern Höhe akrobatische Kletterübungen zu machen.

Puh! Ich hatte es geschafft. Ein etwa einen Meter fünfzig großes Rohr führte in die geheimnisumwitterte Tiefe. Ich kroch hinein und langsam beruhigte sich mein Atmen und das Zittern in meinen Armen hörte auf. Das würde einen ordentlichen Muskelkater geben!

Ich drehte mich auf die Seite – ein Totenschädel starrte mich aus leeren Augenhöhlen an, einige Fleischfetzen hingen am Knochen. Ein „Gnom“. Lass mal sehen, was du für mich hast, Kumpel.

Sein Druckhelm war ein Stück weit weggerollt. Ich griff danach.

Leider nicht meine Größe. Und zu meinem Anzug passte er auch nicht. Das Status-Interface kam mir gerade recht:

 

Cargonit-Helm. Teil der Cargonit-Panzerrüstung. Mit einem integrierten Gefechtsscanner ausgestattet. In der dargianischen Zivilisation weit verbreitet. Gehört zur Standardausrüstung von dargianischen Piloten, Raidern und Spähern. Wirkung: +1 auf Rüstung. Das Gerät im Steckplatz ist ein Controller für ein Sklavenhalsband. Es ist beschädigt und nicht einsatzbereit.

Du kannst den Helm verbessern und an deine Größe anpassen. Dazu benötigst du einen Molekularwandler und die Baupläne für die gewünschten Änderungen. Du kannst auch einen Meisterhandwerker damit betrauen. Er benötigt die Fähigkeit „Experte für außerirdische Technologie“ und die Fertigkeiten „Reparaturen“ und „Wissenschaft“. Erforderliche Fertigkeitspunkte: 70.

 

Zum Glück war hier niemand anspruchsvoll. Ich drehte den Helm in den Händen herum und entdeckte den Steckplatz. Ich fasste den Controller und zog daran:

 

Module können nur mit der entsprechenden Fertigkeit entfernt werden: Reparaturen. Erforderliche Punkte: 25.

 

Echt jetzt? Ich legte den Helm in meinem großzügigen, einhundert Plätze umfassenden Inventar ab. Allerdings stellte das Gewicht ein Problem dar. Bei der geringen Schwerkraft konnte ich hundertfünfzig Pfund tragen. Keine Ahnung, ob sich das auf meine Geschwindigkeit und Beweglichkeit auswirken würde. Würden diese Gitter mein auf diese Weise verdoppeltes Gewicht aushalten?

Ein Dargianer also. Der mumifizierte Körper klebte am Rohr. Ich schaffte es, ihn – begleitet von einem widerlichen Knirschen – umzudrehen. Ein Arm fiel ab. Ein paar Minuten später war ich eher enttäuscht als glücklich. Seine Cargonit-Rüstung passte mir nicht und er hatte nur ein paar Implantate, die ich ihm abnahm. Das Interface zeigte dafür drei Fragezeichen an und empfahl, meinen Wissenschaftswert zu erhöhen.

Toller Tipp. Die Implantate – Module zur Cyborgisierung – wogen fast nichts. Rein ins Inventar damit.

Besser war da schon die Waffe.

Eine Art Maschinenpistole, der Lauf umgeben von elektromagnetischen Beschleunigern. Im Schaft steckten Batterien. Fein, fein. Aber wie funktionierte das Ding?

Diese Information war wohl auch für Neulinge wie mich verfügbar:

 

IMP34. Kann von allen menschenähnlichen Wesen genutzt werden. Waffenklasse: Impuls. Projektile werden mithilfe batteriebetriebener Beschleuniger herausgeschleudert.

 

Die beiden Anzeigen an den atomaren Mikrobatterien glommen gelb. Alle mechanischen Bestandteile schienen intakt zu sein. Der Kadenzregler und der Abzug waren praktisch selbsterklärend.

 Es juckte mir in den Fingern. Ich musste die Wumme ausprobieren. Schließlich musste ich doch wissen, ob sie funktionierte, oder?

Das Ergebnis war beeindruckend. Zum Glück hatte ich auf eine alte Kiste in knapp zwanzig Meter Entfernung gefeuert. Ein einzelner Schuss ploppte. Der Aufprall hinterließ eine Stichflamme und eine gut faustgroße Eintrittsöffnung.

Die Detonationswelle breitete sich grollend aus. Ich duckte mich schnell wieder in das Rohr und lauschte. Aber nicht ein NPC kam gerannt, um mich zu erledigen. Ich wechselte das Magazin und wartete.

Und wartete. Der Pulsschlag in meiner Schläfe pochte im Sekundentakt.

Vielleicht war ich doch ein Glückskind? Alles blieb ruhig.

Ich konnte mich bei Bedarf verteidigen. Endlich ein Silberstreif am Horizont.

 

* * *

 

Ich kraxelte weiter. Der Menge an toten Haash und Dargianern nach zu urteilen, musste hier ein erbitterter Kampf getobt haben. Überall geschmolzenes Metall, Einschlagkrater von Energiewaffen und manchmal auch sauber durchtrennte Versorgungsleitungen.

Die Haash waren leider viel größer als ich. Alles viel zu schwer und praktisch wirkungslos. Ich rief die Karte auf, zoomte herein und notierte meine neu gewonnenen Erkenntnisse und Fundorte. Wo war bloß der nächste Händler für Rüstungen und Hightech? Zwei weitere Impulswaffen wanderten in mein Inventar: eine Art Pistole und etwas, was an ein 12-Millimeter-Scharfschützengewehr erinnerte. Dieser Haash hatte sich bis zum letzten Atemzug verteidigt. Knapp zwanzig tote Dargianer lagen in seiner Nähe. Das Großkaliber hatte ihre Rüstung völlig zerfetzt.

Mittlerweile war ich echt geschafft. Zeit, mich abzumelden und Pause zu machen. Aber es war zu gefährlich, meinen Charakter an einem solchen Ort auch nur kurze Zeit allein zu lassen. Schon ein paar Mal waren mir Xenomorphs am Rand meines Blickfelds aufgefallen. Das war mir Warnung genug:

Vorsicht ist besser als Nachsicht. Ich musste ein gutes Versteck finden, in dem ich ausruhen konnte.

Auf meiner Sammeltour war ich dem Tragwerk näher gekommen. Sollte ich nach unten oder nach oben klettern?

Die Tiefe war riskant, aber auch vielversprechend. Oben lauerte vermutlich die größere Gefahr: Mehr Xenomorphs, Giftstoffe und Strahlung. Und natürlich die Kampftruppe von vorhin. Ich könnte mir auch ein gemütliches Rohr oder einen Servicetunnel suchen und mich darin verbarrikadieren.

Mal überlegen: Waren die anderen hier alles Dummköpfe?

Ich sah mich um und checkte die Umgebung ab. Aus den beschädigten Leitungen quollen immer wieder giftige Wolken, die sich in der Luft auflösten. Damit war wohl auch klar, warum die ganzen Rohrleitungen nicht als Rückzugsorte für die Xenomorphs dienten.

Der niedrige Sauerstoffgehalt, die häufigen Schwindelgefühle und der Brechreiz machten mir die Entscheidung noch leichter.

Ab nach unten, und zwar flott.

 

* * *

 

Vorsichtig näherte ich mich den Gitterrosten der Behelfsbrücke, als ein Blinken meine Aufmerksamkeit erregte.

Was war das? Oh happy day! Inmitten des ganzen Schrotts war ein lilafarbener Tupfer zu sehen – wie meine Rüstung.

Sofort kletterte ich ein Stück den Hang hinauf. Fast hätten mich meine Kräfte verlassen, aber ich konnte ein paar Kabelstränge greifen.

Ein schmaler Tunnel führte in das Gerümpel hinein. Davor eine kleine, aus irgendwelchen Resten zusammengezimmerte Plattform. Ein Ausguck! Das Blinken wurde durch einen Handschuh verursacht.

Ein Mensch? Ich hievte ein rostiges Blech zur Seite. Dahinter verbarg sich ein Versteck.

Ich ging in die Hocke. Das musste ein Hardcore-Gamer gebaut haben, der auf große Beute aus war: großkalibriges Scharfschützengewehr, hochwertige Rüstung, vorbereitete Fluchtrouten. Nichts davon hatte ihn gerettet. Die Rüstung war von Laserstrahlen durchsiebt. Entsprechend sah der Körper aus. Ich musste unweigerlich an die quallenartigen Führer denken. Das ganze Szenario trug ihren Stempel. Und die Laser hatten ihn direkt von oben getroffen.

Was mich zu ein paar wichtigen Fragen brachte: Ich war an einer tödlichen Strahlendosis und giftigen Gasen gestorben, aber mit all meiner Ausrüstung wieder aufgetaucht. Warum rotteten diese Körper hier in voller Rüstung und mit ihren Waffen dahin? Oder war das ein NPC?

Leider fand ich hier keine Antworten.

Seine Rüstung sah aus wie meine. Ich sammelte die Trophäen ein. Nach etwa einer Minute hatte ich den Helm gelöst. Ein Ruck und – oh Gott!

Was für kranke Bastarde. Ich biss die Zähne zusammen. Noch nie hatte es sich so sehr nach Grabräuberei angefühlt, wenn ich die Beute einsteckte.

Ein menschlicher Kopf blickte mich aus eingesunkenen Augenhöhlen an. Langes, blondes Haar.

Ein Mädchen?

Vorsichtig legte ich den Schädel neben den Körper. Nichts wie weg hier! Aber halt.

Arbido hatte Recht gehabt. Drei Jahre als Paladin hatten meine Reaktionen geformt. Das hier war nicht die Kristallsphäre. Und ich war weit von Stufe 430 entfernt.

Ich versuchte, nicht auf den Schädel zu blicken, und nahm den Helm an mich.

Drinnen alles sauber. Das war gut. Es waren wohl doch keine toten Spieler, die hier lagen. Vielleicht ein morbides Detail der Grafiker?

Ich setzte den Helm auf. Die Verriegelung griff. Der Halsring schloss sich. Das milchig-trübe Visier wurde klar. Eine Reihe unverständlicher Systemmeldungen blitzte auf. Mit einem Zischen flackerten Lichter am Helmrand, bevor sie wieder erloschen.

 

Du leidest nicht mehr an Sauerstoffmangel, informierte mich das Status-Interface, nur um mir sofort darauf einen Schrecken zu versetzen: Warnung! Die Batterie des Lebenserhaltungssystems ist schwach. Gefahr!

 

Dafür hatte ich hoffentlich eine Lösung parat. Ich griff nach einem beschädigten Gewehr und sah mir den Schaft an. Wie vermutet steckten darin zwei atomare Mikrobatterien. Wer sagts denn!

Einen Batteriewechsel später leuchtete die Stromversorgungsanzeige in schwachem Grün.

Ausgezeichnet.

Handschuhe wären jetzt auch gut. Die Blasen in meinen Handflächen waren aufgeplatzt und wässerten. Dazu musste ich nicht genauer hinsehen; der Schmerz war Erinnerung genug.

Kaum hatte ich die Handschuhe angezogen, erschien eine neue Meldung:

 

Du hast jetzt einen vollständigen leichten Druckanzug.

 

Das bot offensichtlich ein paar Vorteile. Ich war nun resistent gegen den Giftnebel und einen niedrigen Sauerstoffgehalt. Ich konnte damit sogar zwei Stunden im Vakuum verbringen. Die maximale Dauer war durch die Restkapazität der Batterien beschränkt, in diesem Fall zwei Stunden. Der Anzug enthielt auch zehn leere Ausrüstungsplätze.

Für den Helm gab es nur ein – vermutlich recht teures – Extra: ein elektronisches Visier mit einem selbstlernenden System zur Schwachstellenanalyse bei Feinden und einem Ballistikrechner, der alle möglichen Faktoren wie Schwerkraft, Luftdichte, Windrichtung und Windstärke einbezog. Unabdingbar für den erfolgreichen Scharfschützen.

Das ist bestimmt auch für andere Missionen nützlich. Ich könnte zum Beispiel ein paar Xenomorphs jagen. Wenn noch genug Munition und Batterieladung übrig war, könnte ich so eine höhere Stufe erreichen.

Leider waren die Talentbäume noch nicht verfügbar. Bliebe also nur, aufzuleveln und dabei Fähigkeits- und Fertigkeitspunkte zu sammeln. Spezialisierungen dagegen mussten gut durchdacht werden, damit man später nicht dumm aus der Wäsche guckte. Noch hatte ich nicht genug Informationen über den Phantom-Server gesammelt, um eine solch weitreichende Entscheidung zu treffen.

Aber höhere Level brachten auf nur wenig, denn in jedem Spiel stieg dabei auch der Schwierigkeitsgrad der Gegner. Rohe Gewalt war im Kampf nur selten von Vorteil.

Was für ein Dilemma! Jagen oder Informationen beschaffen und dabei die unverzichtbaren Implantate suchen?

Während ich überlegte, spürte ich ein Prickeln in den Händen. Die Umrisszeichnung meines Charakters im winzigen Statusfenster war jetzt grün.

Aha. Klappte in dieser Welt alles nur mit Technologie?

Ich zog den Handschuh aus. Wie ich es mir gedacht hatte: Alle Verletzungen waren verschwunden. Was für eine Regenerationsrate! Allerdings war auch der Balken für das Lebenserhaltungssystem deutlich gesunken. Es gibt eben nichts umsonst auf dieser Welt. Geschenke durfte ich nicht erwarten.

Also keine Jagd. Batterien und andere Vorräte hatten Vorrang.

Mein Blick fiel auf die verkrüppelte Hand der Mumie. Bestimmt ein Quest-NPC. Ich bemerkte ein metallenes Glänzen.

Ein Ring?

Tatsächlich. Vorsichtig zog ich ihn der Leiche vom Finger. Keine Informationen, nur noch mehr Fragezeichen.

Okay. Irgendwann musste das Spiel ja beginnen.

Ich steckte mir den Ring auf den Finger und schrie fast auf vor Schmerz.

Das Metall schmolz! Ich zog daran, aber umsonst: Ich hätte mir schon den Finger abhacken müssen. Mein Blick verschwamm, mein Hinterkopf wurde taub. Meine Beine klappten unter mir zusammen. Ich konnte gerade noch verhindern, in Ohnmacht zu fallen, und hob die linke Hand.

Das flüssige Metall sah nun aus wie ein Siegelring aus Quecksilber. Die Oberfläche verwandelte sich in eine Art Raute, aus der viele kleine Beinchen wuchsen – wie die Kontakte meines Neuroimplantats. Kalter Schweiß brach mir aus. Die Beinchen wurden länger und durchstießen schließlich meine Haut.

Ich unterdrückte erneut einen Aufschrei, knirschte mit den Zähnen und wand mich in Schmerz und Pein. Zur Hölle mit der Realität!

Ich keuchte, Schweiß troff von mir hinab. Tränen rannen mir aus den Augen.

Meine linke Hand pochte vom Gelenk bis in die Fingerspitzen. Rote Blutbahnen zeichneten sich unter der fahlen Haut feurig ab. Es fühlte sich an, als ob Plasma hindurchfloss.

Nur mit Mühe blieb ich bei Bewusstsein. Warum nur? Dieser Schmerz war nicht auszuhalten! Wie schön wäre es gewesen, sich einfach in die Schwärze fallen zu lassen, aber ich durchlebte die Qual bis zum bitteren Ende.

Eine starke Aura umhüllte meine Hand und leuchtete grell und Funken sprühend auf. Dann verlosch sie.

Meine Ohren klingelten. Durch einen scharlachfarbenen Schleier nahm ich die Meldung kaum wahr:

 

Neue Aufgabe! Fremder Verstand.

Verfügbarkeit: nur Menschen

Du hast ein technisches Artefakt der Gründer entdeckt und absorbiert. Ein vollständiges Modul besteht aus fünf Stück. Du benötigst noch vier.

Belohnung: unbekannt.

 

In meinem Hirn machte es Klick.

Ich wandte mich langsam den Überresten des blonden Mädchens zu. Ihr Schädel grinste mich gequält in stillem Mitleid an, als könne sie mein Schicksal sehen.

Arbido hatte mich gewarnt.

Nein! Sie konnte doch keine tote Spielerin sein?

Ich wollte mich jetzt nicht damit befassen. Dafür wäre später noch Zeit genug.

 

* * *

 

Der weitere Abstieg verlief ohne besondere Vorkommnisse.

Die Rüstung war bequem und bot genügend Spielraum. Mit meinem neuen Scharfschützengewehr konnte ich den vor mir liegenden Weg erkunden. Aber auch dort keine Überraschungen, Fallen oder Feinde.

Mit dem Gewehr auf dem Rücken rutschte ich am Kabel hinab. Gut, dass ich Handschuhe trug. Sonst hätte ich bestimmt tiefe Wunden davongetragen.

Der kleine Raum am anderen Ende des Kabels war in trübes, gelbes Licht getaucht. Abgesehen von ein paar klaffenden Löchern, in denen wohl mal irgendwelche Halterungen befestigt gewesen waren, war der Raum leer. Eine Tür – von Höhe und Breite wie von Menschenhand gemacht – führte in einen gekrümmten Korridor.

Andere Wege gab es nicht.

Eigentlich sprachen mich diese technogenen, postapokalyptischen Welten nicht an, aber mir blieb keine Wahl. Außerdem hatten die Entwickler es tatsächlich geschafft, mein Interesse immer wieder anzufachen.

Dumpf tönte die Stille. Mechanisch blickte ich auf meine linke Hand. Der Schmerz und die Taubheit waren wie weggeblasen. Gerne hätte ich den Handschuh ausgezogen. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür.

Der kurze, im Bogen verlaufende Gang führt in einen Saal mit niedriger Decke. Der Klang meiner Schritte wurde von dem geräuschabsorbierenden Bodenbelag quasi aufgesogen. Weich und federnd, so angenehm.

Ich blickte mich um. Es sah aus, wie in einer riesigen, geplünderten Lagerhalle. Überall aufgebrochene Kisten und Boxen, länglich mit runden Kanten und Ecken. Jede Menge Trennwände schränkten die Sicht ein. Die schlammgrünen Behälter hätten perfekt in die vielen Regale gepasst.

Langsam und vorsichtig tastete ich mich voran, ein Auge immer auf der Karte. Die Waffe in meiner Hand bot kein Gefühl der Sicherheit. Bevor ich ihr wirklich vertraute, müssten wir den ein oder anderen Kampf gemeinsam ausfechten.

Die Spannung war zum Schneiden dick, meine Nerven zum Zerreißen gespannt. Ich schauderte voller Vorahnung.

Eine weitere Biegung. Noch mehr Trennwände. Hier lagen intakte Kisten auf einem großen Haufen. Ich versuchte, eine davon zu öffnen. Unmöglich. Ich fand weder ein Schloss noch einen Öffnungsmechanismus.

Und noch eine Biegung. Die Umrisse des Raums wurden deutlich auf meiner Karte angezeigt. Danach: Dunkelheit. Eine Sackgasse?

Ich musste es herausfinden.

Ich nahm meinen Mut zusammen und trat hinein, auf alles vorbereitet. Was ich erwartet hatte?

Keine Ahnung.

Aber das hier bestimmt nicht.

Ich blieb stehen. So baff war ich, dass ich nichts von dem wahrnahm, was um mich herum geschah. Das statische Glühen der Kisten hinter mir, zum Beispiel. Die Deckel öffneten sich wie mechanische Blütenkelche.

Ich bemerkte es nicht. Später würde ich verstehen. Doch jetzt war mein Blick gefesselt von der Leere vor mir.

Eine ganze Wand des großen Raums war ein Beobachtungsfenster. Dahinter funkelten Milliarden heller Sterne im gewaltigen All.

Das Panorama zog mich magisch an. Langsam näherte ich mich dem Fenster. Wie klar es war! Nur eine dünne Schicht schützte mich vor dem Vakuum und der ewigen Kälte. Energie pulste über die Oberfläche.

Ein Kraftfeld?

All meine bisherigen Fragen waren unwichtig geworden. Hier gab es so viel zu entdecken. Etwa ein Stockwerk unter mir streckte sich ein großes Sims den Sternen entgegen. Es war in viele kleine Startplattformen unterteilt – einige davon leer, andere von Raumschiffen besetzt, die bereit für ihre Reise waren. Dem Aussehen nach waren es vermutlich alltaugliche Flugzeuge.

In der Ferne sah ich zwei Planeten. Der eine war von gelblichem Braun und wies mehrere Ringe auf, der andere von hellem Blaugrau und mit Wolkenwirbeln bedeckt.

Ich zitterte. Vor dem beeindruckenden Gemälde bewegte ich eine Vielzahl winziger Funken. Im Nu fokussierte das Helmvisier und vergrößerte die einzelnen Ziele.

Riesige Raumstationen schwebten in der Finsternis. Unmengen von Fracht- und Kriegsschiffen huschten zwischen ihnen hin und her.

Bevor ich sie genauer betrachten konnte, zeigte das Visier andere Objekte an. Mehrere Gruppen technogener Leviathane pflügten durch das Weltall, als wäre es ein Meer. Ihre Umrisse wirkten bedrohlich, die pockennarbigen Hüllen erzählten von überstandenen Schlachten. Das hier war der Schauplatz eines Kampfes der Titanen!

Ehrfurcht ergriff mich. Die schiere Größe allein gab mir das Gefühl, nur ein Staubkorn zu sein. Was gab es hier alles zu entdecken! Welches Wissen wartete hier auf mich? Würde ein Leben überhaupt ausreichen, um dieses Sternensystem bis in den letzten Winkel zu erkunden? Gab es noch mehr dieser Systeme? Ich konzentrierte mich auf eines der Raumschiffe, die im Orbit um den graublauen Planeten ihre Bahn zogen. In dem Moment sank es tiefer und drang in die Atmosphäre ein.

Was? Konnte man auf den Planeten landen?

Das wäre eine Welt, die unendlich zum Quadrat ist! Wie viele Wunderdinge waren meinen Augen noch verborgen? Die Sterne bewegten sich nicht. Vermutlich rotierte also auch die Raumstation, auf der ich mich befand, nicht. Auf den anderen Seiten gab es bestimmt noch weitere Planeten. Eine Spielwelt, die im wahrsten Sinne des Wortes unfassbar war.

Langsam gab mich die Faszination wieder frei. Ich beschäftigte mich weniger mit dem Gesehenen, sondern feierte vielmehr all die Möglichkeiten, die sich in einer so glaubwürdigen Welt bieten würden.

Ein verdächtiges Geräusch riss mich aus meinen Tagträumen. Ich drehte mich schnell um und hob meine Waffe – aber zu spät. Mehrere Lichtblitze trafen mich von allen Seiten.

Kurz bot meine Rüstung Schutz, aber dann hörten meine Muskeln auf, mir zu gehorchen.

 

Du bist gelähmt.

 

Mehrere mechanische Wesen näherten sich mir. Sie sahen aus wie große Bälle mit vielen Sensoren. Greiftentakel ragten überall heraus.

Dargianische Kampfdrohnen, informierte mich mein Status-Interface.

Ein weiterer Lichtblitz fand sein Ziel. Finsternis.

 

* * *

 

In einem dunkeln, engen und schmutzigen Transportmodul wachte ich auf. Es war provisorisch in kleine Zellen unterteilt.

Meine Rüstung und meine Waffen waren verschwunden. Ich steckte in viel zu großen, grauen Klamotten. Und ich trug ein Sklavenhalsband.

Ich erkannte kaum die Hand vor Augen. Die Gedanken wirbelten nur so durch meinen Kopf.

Schemenhaft erkannte ich einige Haash. Einer hockte in der Zelle neben mir auf dem Boden, ein anderer hatte die Gitterstäbe mir gegenüber umfasst und blickte mich stechend an. Der Dritte wimmerte vor sich hin und wiegte sich dabei vor und zurück.

Genug ist genug. Für heute reicht es. Ich war so erschöpft, dass mir praktisch alles egal war – körperlich wie geistig.

Sollte ich mich hier selbst dafür bemitleiden, dass ich in eine so offensichtliche Falle getappt war? Wozu wäre das gut? Ich war bestimmt nicht der erste, der fasziniert die Aussicht genoss, während sich von hinten die Drohnen anschlichen.

Eine Falle für Anfänger.

Tja. Gewehr und Ausrüstung waren futsch. Aber ich lebte. Also war ich für irgendwas gut. Mein Avatar war hier relativ sicher. Schlimmer konnte es kaum kommen.

OK. Zeit, sich abzumelden. Ich brauchte eine Pause, musste was essen, schlafen und überlegen, wie es weitergehen sollte.

Ich drückte die virtuelle Schaltfläche. Nichts geschah. Eine Meldung erschien:

 

Gegenwärtiger Status: Gefangener. Gemäß den von dir angenommenen Nutzungsbedingungen kannst du den Testmodus nicht verlassen, während du dich in Gefangenschaft befindest. Wir empfehlen dir, den In-Modus deines Pods per Remote-Befehl zu aktivieren. Wenn du das nicht tun kannst, informiere unseren technischen Support, der dann einen Standort in der echten Welt aufsucht.

 

Bitte waaaas? Meine Lustlosigkeit war im Nu verschwunden.

Ich hatte keine Nutzungsbedingungen akzeptiert! Ich hatte noch nicht mal welche gelesen!

Moment mal.

Arbido. Der Schweinehund! Er hatte elektronisch für mich unterschrieben, oder? Wie sonst hätte er ein Konto auf dem Phantom-Server für mich anlegen können …

Ich hämmerte auf die virtuelle Schaltfläche ein.

 

Neue Aufgabe! Gefängnisausbruch.

Finde einen Weg, aus der Gefangenschaft zu fliehen. Wir empfehlen dir, zuvor den In-Modus zu aktivieren. Wenn du das nicht tun kannst, …

 

Ich wischte die Meldung mit den Augen beiseite und hockte mich hin.

Der Haash gegenüber starrte noch immer. Hmmm.

Ich dachte nach. Es sah nicht gut aus. Sobald ich hier raus war, wäre Arbido seinen guten Ruf los. Aber wieso sollte er so ein Risiko eingehen, nur um mir eins auszuwischen? Das war Quatsch. Er hätte diese Bedingungen niemals nicht gelesen. Dazu war er zu clever. Hier war was oberfaul.

Ein Abmeldeverbot? Was war da los? Er hatte mich natürlich gewarnt, zumindest ein bisschen. Was war sein Ziel? Wollte er, dass ich nur noch von Maschinen am Leben gehalten werde? Was hatte ich jetzt für Aussichten? Lebenslanges Koma, betreut von einer Plethora von Lebenserhaltungssystemen?

Nach einer Weile wurde die Tür aufgestoßen. Einer der Gnome kam in Begleitung von zwei Drohnen herein. Das Licht ging an. Die Haash entfernen sich so weit wie möglich von den Gitterstäben.

Missmutig blickte ich den Gnom an. Abscheulich. Da war nichts Menschliches an ihm. Eine platte Nase, bösartige Knopfaugen, langes Gesicht und ein riesiges Krötenmaul. Anstelle von Haaren bedeckten Warzen seinen Kopf. Was für eine abstoßende Gestalt.

Ich fokussierte meinen Blick:

 

Ein Dargianer. Fühlender Xenomorph. Stufe 22. Sklaventreiber.

 

Er verfügte über mindestens fünfhundert Trefferpunkte, zwei lilafarbene Balken und einen orangefarbenen. Mal sehen. Die beiden ersten stehen bestimmt für die beiden Drohnen. Und der orangefarbene? Eine bestimmte Fertigkeit? Einen Energievorrat?

Ich würde es nicht erraten, aber bestimmt irgendwann erfahren.

Was hatte die Entwickler nur geritten, eine solche Gefangenschaft zu implementieren?

Es gab bestimmt einen Haken. Und auch der Sache mit dem Abmeldeverbot würde ich auf den Grund gehen. Viel Arbeit lag vor mir. Aber ich hatte Zeit.

Der Dargianer blieb vor meiner Zelle stehen.

Ich wich seinem Blick nicht aus. Schließlich hatte ich nichts zu verlieren. Bestimmt war der Respawn-Punkt immer noch an derselben Stelle. Aber ich wollte es auch nicht unbedingt herausfinden.

Er grinste, als könne er meine Gedanken lesen. Dann deutete er auf den Haash. Auf dieses Signal hin feuerten die Drohnen mehrere Impulssalven auf den armen Kerl.

Blut und Fleischklumpen flogen durch die Zelle. Die Luft rechts neben mir schimmerte grün.

Ein Respawn!

Der Haash keuchte vor Schmerz und knurrte. In Ordnung. Das war deutlich. Wenn ich mich wehrte, würde ich auf ebenso schmerzhafte und schmähliche Weise sterben und dann direkt als Sklave wieder hier erscheinen.

Lektion gelernt. Ich setzte diesen fühlenden Xenomorph auf meiner persönlichen KoS-Liste. KoS? Das steht für Kill on Sight, einen Erzfeind, der sofort angegriffen und ausgeschaltet wird.

Er grinste hämisch. Das Magnetschloss klickte und meine Zellentür glitt auf.

Ich stürzte vorwärts. Mein Ziel war seine Kehle. Im Bruchteil einer Sekunde schnürte mir mein Halsband die Luft ab. Die Wächterdrohnen feuerten zwei lähmende Ladungen hinterher.

Ich blieb bei Bewusstsein. Alles tat mir weh. Meine Wut war schlimmer als der Druck des Halsbandes. Alles nutzlos.

Der Dargianer betrat die Zelle und hob mich hoch. Er legte mich auf den Boden und legte meine Brust frei.

Ich konnte mich nicht wehren. Meine Muskeln waren schlaff und rührten sich nicht. Ein paar Augenblicke lang sah er mich an. Nachdem er sich von meiner Hilflosigkeit überzeugt hatte, zog er ein Kästchen aus schwarzem Kunststoff heraus und drückte eine Sensortaste daran.

Ein Servomotor zischte leise. Ein blauer Schein leuchtete aus dem Kästchen. Fünf identische Apparaturen darin gaben ein intensives Licht ab, das als Energiestrahl nach einem Opfer tastete.

Der Dargianer schaute mich fies an. Mit seinen dicken Finger griff er meinen rechten Oberarm und drückte zu. Schmerz durchflutete mich.

Anatomie gehörte noch nie zu meinen Stärken. Aber er wusste ganz genau, was er tat, als er nach einem Nervenzentrum suchte. Jetzt griff er nach dem Kästchen, aber hielt nochmals inne. Er musterte mich genau. Seine Hand legte sich um meinen Hals.

Kalter Schweiß troff mir von der Stirn. Ich konnte mich nicht bewegen und war hilflos, als er die Wirbel in meinem Nacken berührte.

Wieder war er nicht zufrieden. Seine kleinen Augen starrten mich an. Er wurde nervös, fand offensichtlich nicht, was er suchte. Ich war gewiss nicht der erste Mensch, den die Schufte gefangen hatten. Aber irgendwas lief aus dem Ruder. Was stimmte nicht?

Langsam ließ die Lähmung nach. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, aber der aufmerksame Gnom hatte ein Zucken meiner Wange wahrgenommen.

Zack, legten mich weitere Schüsse in einen kurzen und willkommenen Schlaf. Dann kehrte die Realität mit Wucht, Pein und Furcht zurück. Das Neuroimplantat füllte meinen Kopf mit einer Vielzahl schmerzhafter Gefühle. Es war jeden einzelnen der Milliarden Credits wert, den man in seine Entwicklung gesteckt hatte.

Langsam nahmen die Gegenstände um mich herum wieder Form an.

Der Dargianer lehnte heftig atmend über mir. In der geöffneten Hand hielt ein leuchtendes Energieknäuel. Mit der anderen umklammerte er ein medizinisches Werkzeug. Die Haash reckten die Hälse, um in stiller Spannung zuzusehen. Der Blick des einen wirkte fast mitleidig. Da wurde es mir klar.

Mein Gott! Arbido hatte Recht gehabt. Dies war ein Ort ohne Rückkehr. Zuerst verwandelte das Neuroimplantat das Spiel in die Wirklichkeit, dann ließen diese verdammten Entwickler ihrer kranken Fantasie freien Lauf und probierten aus, was der menschliche Geist ertragen konnte. Sie zeichneten Neurogramme auf, um herauszufinden, ab welchem Glaubwürdigkeitslevel die Spielwelt zu einem virtuellen Grab wird.

Es ist wirklich schrecklich, wenn man plötzlich feststellt, dass das Monster, das hinter einem her ist, real ist. Dass der rostige Eisenhaken, mit dem es Funken an Mauern schlägt, schon bald das eigene Fleisch zerfetzen könnte. Das ist kein Spiel mehr. Ab einem bestimmten Grad kann das Gehirn nicht mehr zwischen Spiel und Wirklichkeit unterscheiden. Ein Hieb und der Schockzustand nach dem erlittenen Schmerz bedeutet nicht mehr einen Respawn, sondern den endgültigen Tod. Da hilft auch kein In-Modus mehr.

All das zog vor meinem geistigen Auge wie eine Erleuchtung vorbei.

Konnten wirklich all die reglosen Körper in ihrer Ausrüstung mehr sein als Teil der Szenerie? Waren es wirklich tote Spieler?

Nein, das war nicht möglich. Ich weigerte mich, das zu glauben.

Das schwarze Kästchen in seiner Hand zuckte.

Eine Wunde klaffte in meinem Oberarm und es roch nach verkohltem Fleisch. Zum Glück, denn der Laserstrahl hatte auf diese Weise auch meine Blutgefäße verschlossen. Grinsend bückte sich der Dargianer zu mir herunter. Das elektrisch knisternde Energieknäuel rutschte aus seiner Hand in die Wunde.

Es tut gar nicht weh!

Meine Augen quollen hervor.

Es tut gar nicht weh! Es ist ein Spiel. Es kann gar nicht wehtun!

Mein Geist versank in barmherziger Finsternis.

 

* * *

 

Irgendwann kam ich wieder zu mir.

Keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Die Wunde hatte sich geschlossen. Zurück blieb ein unangenehmes Kribbeln unter der Haut, als ob ein winziger Käfer sich dort seinen Weg suchte.

Das Symbol für eine neue Systemmeldung blinkte. Ich öffnete sie.

 

Ich kann sie hören: Aufgabe abgeschlossen!

Dir wurde ein Semantikprozessor implantiert. Du kannst jetzt die Sprache der Xenomorphs verstehen.

+1 Bonus auf Verstand

+2 Bonus auf Wahrnehmung

Du hast die nächste Stufe erreicht! Es sind neue Talent- und Charakterpunkte verfügbar.

 

Außerdem gab es eine Nachricht von den Administratoren. Hatten sie endlich auf mein Supportticket geantwortet?

Ach wo. Das hier war mal so richtig schlimm:

 

Folgende Maßnahmen wurden durchgeführt:

1. Wir haben ein Team an die angegebene Adresse geschickt.

2. Der VR-Pod wurde gewartet, der In-Modus aktiviert und die Lebenserhaltungskartuschen ausgetauscht.

3. Wir haben die vorhandenen Neurogramme untersucht, um die Funktion des Neuroimplantats zu optimieren. Die Feedbacklevel wurden um sieben Prozent verringert. Vielen Dank für die Zusammenarbeit.

 

Drecksäcke.

Aber was nützte es mir, zu schäumen? Ich war schließlich freiwillig hier.

Also kein Hadern mit mir selbst. Ich rief das Inventar auf. All meine Besitztümer waren noch da: dargianischer Cargonit-Helm, kompletter menschlicher Druckanzug und drei Waffen.

Die Steckplätze in der Ausrüstung funktionierten auch. Aber alle Batterien waren leer. Ohne Energie war das hier nur ein Haufen Elektroschrott.

Ich aktivierte die Aufgabe Gefängnisausbruch. Leider keine Tipps. Wenn ich nicht ertrinken wollte, musste ich wohl oder übel schwimmen.

Na gut. Sehen wir mal, was die neuen Fähigkeiten mir bringen.

Ich blickte mich um. Tatsächlich, meine Wahrnehmung war gestiegen. Ich konnte viel besser in der Dunkelheit sehen.

Was ist mit dem Semantikdingens? Ich suchte nach dem Haash, der mich mitleidig angesehen hatte, und sprach ihn freundlich an:

„Hallo. Wie bist du hier gelandet?“ Was man halt so fragt im Knast.

Seine Augen wichen mir kurz aus. Er stimmte sich wohl mit seinen Leuten ab. Dann nickte er.

Das Symbol für den mnemonischen Posteingang blinkte. Hoppla! Telepathische Kommunikation? Mein Interface besaß keine virtuelle Tastatur. Mit der Erfindung der Neuroimplantate waren diese Krücken nicht mehr nötig.

Bist du ein Mensch?

Ich lehnte mich in der Hocke an die kalte Wand und schloss die Augen. Hallo.

Das fühlte sich komisch an. Immerhin mein erster mnemonischer Chat. Eine Unterhaltung in Gedanken zu führen, war nicht einfach. Ich heiße Zander.

Mir war bereits aufgefallen, dass die Charaktere hier keine Spitznamen hatten. Vermutlich, weil ich bisher nur NPCs getroffen hatte.

Falsch vermutet.

Ich sprach mit einem anderen Spieler.

Ich … heiße … Charon.

Ich öffnete die Augen und blickte ihn an. Tatsächlich. Jetzt konnte ich die Spitznamen sehen. Ließen sich Spieler hier ohne dieses Semantikmodul nicht identifizieren?

Schnell öffnete ich meine KoS-Liste.

Tatsächlich. Jetzt standen hier mehr Charakterinfos. Der dargianische Sklaventreiber hieß Rash.

Charon? Bist du schon lange hier?

Zwei volle Umläufe, antwortete er.

Zwei was?

Zwei volle Umläufe der Raumstation um die Sonne.

Zwei Jahre? Wirklich? Das war grausam und erschreckend. Waren die Entwickler allesamt verrückt? Zwei Jahre? Meine Kopfhaut kribbelte unangenehm. Ich schluckte und versuchte, mich zu beruhigen. Hast du versucht zu fliehen?

Unmöglich, antwortete der Haash betrübt.

Das wird sich noch zeigen!

Wieso? Ich tat mich schwer, klare Fragen zu stellen. Aber ich brauchte Informationen. Ich hatte nämlich nicht vor, übermäßig lange zu bleiben.

Rash ist stark. Das Halsband lässt sich nicht abnehmen. Es erwürgt dich. Die Drohnen lähmen dich. Charon zählte die Probleme nacheinander auf. Dann ergänzte er: Es gibt keinen Ort, an den man fliehen kann. Die Station ist schwer beschädigt. Hier zu überleben ist nicht einfach.

Wie sieht es mit den anderen Raumstationen aus? Und was ist mit dem Planeten?

Sie verweigern uns den Zugang. Und der Planet gehört den Dargianern. Sie stammen von dort.

Ich war neugierig. Woher kommst du?

Aus einem anderen Sternensystem, antwortet er ruhig.

Ich dachte kurz nach. Ich wollte auf keinen Fall den Beichtvater spielen, um zu erfahren, warum sich mein Gesprächspartner für einen Xenomorph als Charakter entschieden hatte. In der Spielwelt gilt eine eigene Etikette. Er würde es mir sagen, wenn er bereit dazu wäre. Wenn nicht, dann nicht. Dann bliebe er in meinen Augen eben ein Xenomorph.

OK. Ich öffnete mein Inventar und sah mir die Werte des Helms an. Das defekte Gerät war noch da. Dieses Versehen würde Rash noch bereuen.

Bist du ein Pilot, fragte ich Rash.

Ja.

Ausgezeichnet. Mal sehen, ob ich auch komplexere Nachrichten übermitteln konnte. Eigentlich dürfte es nicht schwieriger sein, als eine MMS zu versenden, oder?

Ich schloss die Augen und versuchte, ein Bild des Beobachtungsfensters zu erschaffen, vor dem mich die Drohnen übertölpelt hatten. Das war die Dockingeinrichtung der Station.

Der Haash konnte mein Bild wohl sehen, denn er nickte interessiert. Sich so zu unterhalten war irgendwie unheimlich. Aber man gewöhnt sich an alles.

Weißt du, was das ist?

Das ist Yrob! Seine mentale Stimme verlor an Verzweiflung.

Und?

Es ist eines unserer Schiffe. Wir kamen in einem großen Schiff in dieses System, um die Stationen der Gründer zu erforschen. Die Dargianer haben uns angegriffen. Sie haben das Mutterschiff zerstört. Mein Trupp konnte sich hierher retten. Dann haben sie uns gefangen.

Aha. Was wollen sie von euch? Was müsst ihr für sie tun?

Sie wollen unser Wissen. Es geht ihnen um unsere Schiffe.

Und keine von euch hat etwas verraten? Selbst nach zwei Jahren nicht?

Doch. Wir haben es ihnen gezeigt. Nachdem sie uns gefoltert hatten. Aber sie können sie nicht steuern. Sie wissen nicht, wie es funktioniert. Es sind unsere Schiffe. Er suchte nach den passenden Worten: Sie sind nicht einfach anzupassen. Sie müssten vieles ändern.

Sind sie denn flugtauglich?

Es gibt keinen Ort, an den man fliegen könnte.

Was ist mit der Raumstation neben dieser? Wer hat dort das Sagen?

Menschen. Deine Rasse.

Ist das ein Problem? Ich erinnerte mich an die Warnung, dass es Probleme nach sich ziehen könnte, mit Xenomorphs zu arbeiten.

Sie werden uns töten.

Woher weißt du das?

Wir haben uns nach dem Angriff aufgeteilt. Mein Trupp ist hier gelandet. Die anderen sind zur Menschenstation geflogen. Dort wurden sie gefangen genommen und dann umgebracht.

Das war vor zwei Jahren. Seitdem hat sich bestimmtes vieles geändert, versuchte ich ihn zu beruhigen. Ein Problem nach dem anderen. Gerade jetzt war der Haash meine einzige Chance, zu entkommen. Ich wollte Charon nicht über den Tisch ziehen. Aber eines war klar: Jede Spielwelt benötigte ein Wirtschaftssystem. Ohne Handel war kein Überleben möglich. Wenn also der Planet den Dargianern gehörte und die Raumstation den Menschen, mussten sie Geschäfte miteinander machen. Ergo konnte auch die Xenophobie nicht absolut sein. Das war zumindest meine Erfahrung als Spieler.

Wir können nicht fliehen.

Sie hatten Charon wirklich gebrochen.

Wir können es versuchen. Ich dagegen wollte unbedingt aktiv werden. Ich spielte unzählige Varianten meines tollkühnen Plans durch.

Es geht nicht.

Warum nicht? Du kennst meine Idee ja nicht einmal!

Wir haben nicht genug Schiffe. Nur drei davon sind noch einsatzbereit. Und wir sind viele. Er übermittelte mir ein geistiges Bild. Das waren mindestens fünfzig gefangene Haash!

Wir beide können es schaffen.

Er dachte eine ganze Weile über meine Worte nach und flüsterte mit den anderen Gefangenen.

Wenn ich ausbreche, töten die Dargianer die anderen.

Nicht unbedingt. Ich hatte mit dieser Antwort gerechnet und schon eine Lösung parat. Sie müssen nur dir die Schuld in die Schuhe schieben. Sie müssen sagen, dass sie ihren Herren treu sind. Vertrau mir, das wird funktionieren. Weißt du was: Ich nehme die ganze Schuld auf mich!

Wirst du uns helfen? Die Haash kamen näher an die Gitterstäbe, Hoffnung und Misstrauen im Blick.

Oh Mann! Was konnte ich auf Stufe 3 schon versprechen? Aber hierzubleiben stand außer Frage! Ich antwortete also selbstbewusst:

Auf jeden Fall. Ihr habt schon zwei Jahre lang gelitten. Haltet ihr es noch ein Weilchen aus?

Sie nickten.

Kaum hatte ich mein fragwürdiges Versprechen gegeben, ging eine neue Meldung ein:

 

Neue Aufgabe! Verpflichtende Verbindungen.

Hilf den Haash, von der Station zu entkommen. Frist: 50 Tage.

Belohnung: ungewiss, unbekannt. Dein Ansehen bei Menschen könnte deutlich leiden.

 

Ich dachte kurz nach. Ohne Pilot und Schiff hatte ich keine Chance.

Hmmm. Wenn das Abmelden erst wieder funktionierte, hätte ich alle Zeit der Welt zum Nachdenken.

Ich wählte Annehmen aus.

 



Kapitel 2

 

Phantom-Server. Anmelden

 

Charon und ich begannen sofort damit, einen Fluchtplan zu schmieden. Zwar kannte ich solche Situationen nur aus Spielen, aber so etwas sollte man nicht auf die lange Bank schieben.

Zum Glück waren die Gitterstäbe so weit auseinander, dass ich den dargianischen Helm durchreichen konnte. Ich entfernte ihn aus meinem Inventar. Es klappte. Charon nahm ihn an sich.

„Warum?“ Er sah den Helm an. Seine knappe Ausdrucksweise war manchmal verwirrend.

„Hat einer von euch maximale Tech-Fertigkeiten?“, fragte ich.

Wo war das Problem? Hatte er mich nicht verstanden? Einfache Frage, einfach Antwort – oder? Andererseits waren zwei Jahre Gefangenschaft auch kein Zuckerschlecken. Bestimmt leiden auch die geistigen Fähigkeiten darunter.

„Ich brauche einen guten Techniker.“

Jetzt hellte seine Miene sich auf. Der Helm wanderte von Zelle zu Zelle bis zu einem Haash namens Danezerath. Was für ein Name! Bestimmt waren alle guten Namen schon vergeben, als er ins Spiel eingestiegen ist. Dann nimmt man halt, was der Namensgenerator vorgibt. Es gibt Schlimmeres.

„Danny“, machte ich mir seinen Namen leichter. Die Kurzform passte zwar überhaupt nicht zu seinem Aussehen, aber er beschwerte sich nicht. „Sieh dir das Gerät im Steckplatz an. Kannst du es herausnehmen?“

Problemlos zog er aus heraus und studierte es.

„Kannst du es auch reparieren?“, bohrte ich nach. Manchmal waren die Haash schwer von Kapee. Aber ich wollte auch nicht drängeln. Bestimmt jeder würde er am Rad drehen, wenn er sich nicht abmelden kann. Ja klar. Wir alle wollen der Realität entfliehen. Aber nur, wenn wir jederzeit aus dem Spiel aussteigen und in die echte Welt zurückkehren können. Keine Ahnung, wie es mir nach zwei Jahren in dieser Vorhölle ergehen würde.

Danezerath setzte sich auf den Boden und nahm das Gerät geschickt auseinander.

Charon warf mir einen zugleich hoffnungsvollen und zweifelnden Blick zu. Ich stellte ihm weitere Fragen. „Warum hat er mir den Semantikprozessor eingesetzt?“

Die Antwort kam prompt: „Jeder bekommt so ein Ding. Die Dargianer geben gerne Befehle. Und sie hassen es, wenn man sie nicht versteht. Auf den oberen Decks ist es außerdem sehr gefährlich. Verständnisprobleme können da tödlich sein.“

„Was gibt es auf den oberen Decks zu tun?“

„Sie suchen nach Geräten der Gründer, nach Erzen, Energiequellen und uralten Apparaten.“

„Warum?“

„Die Dargianer reparieren ein großes, altes Raumschiff. Wenn sie damit fertig sind, ziehen sie in den Krieg.“

„Gegen die Menschen?“

„Nein. Die Dargianer werden sie einfach auslöschen. Sie wollen den Planeten übernehmen.“

„Das heißt, die Sklaventreiber sind Gesetzlose?“

Er nickte. „Ihre eigene Welt behandelt sie wie Kriminelle.“

„Und die Menschen? Was halten die Menschen von ihnen?“

Charon schauderte. Sein Gesichtsausdruck gefiel mir gar nicht.

„Menschen sind böse“, zischte er wütend. „Sie sind selbstsüchtig. Alle anderen sind Gegner für sie.“

Vermutlich wurde die Station, zu der ich fliehen wollte, von Gamer-Clans kontrolliert. Warum diese Aggressivität gegenüber den Xenomorphs? Ich musste aufpassen, nicht zwischen die Räder der Kriegsparteien zu geraten.

Meine Lösung behielt ich vorerst für mich. Sie würde Charon gar nicht gefallen.

Mittlerweile hatte Danezerath das Modul montiert. Er trat von einem Bein aufs andere und blickte immer wieder herüber.

„Und? Komm zur Sache.“ Mein rüder Ton schien ihn nicht zu stören. „Sag an!“

„Ich habe es repariert.“

Prima. Sogar beeindruckend. „Dann lass es uns testen. Kannst du mein Halsband deaktivieren?“

„Nein.“ Er sah mich schuldbewusst an. „Ich benötige eine Energiequelle.“

„Schade. Pack es in dein Inventar.“

Ich wandte mich Charon zu: „Wir brauchen atomare Mikrobatterien. Sieben bis acht Stück sollten reichen. Schaffst du das?“

Er dachte nach. „Wenn halb geladen ausreicht. Gleich werden wir zum Arbeitseinsatz geholt. Ich kümmere mich um die Batterien. Was ist dein Fluchtplan?“

„Ich arbeite daran.“ Noch war ich nicht bereit, meine Trümpfe zu offenbaren. Wenn ich mir das Verhalten der Haash so ansah, waren die meisten von ihnen gebrochen. Sie hatten sich ihrem Schicksal ergeben und fürchteten die Dargianer. Solchen Leuten vertraut man besser keine Geheimnisse an. Das wäre dämlich.

Zum Glück musste ich keine weiteren Fragen beantworten, denn der Sklaventreiber kam. Er trug einen Raumanzug. Ohne etwas zu sagen, schloss er die Zellen auf und ging wieder.

Die Haash schnappten sich ihre Ausrüstung. Ich folgte ihrem Beispiel und reihte mich ein. Im einem Gang wurden unter Aufsicht von etwa einem Dutzend Drohnen Mikrobatterien vom Dargianer ausgegeben: eine pro Nase. Ich schob meine in den Batterieschacht. Dreißig Prozent Restladung. Nicht viel.

Das Kommunikationssystem schaltete sich ein.

„Los jetzt“, kam der Befehl.

Ich fühlte mich seltsam energiegeladen. Meine Wahrnehmung verschärfte sich. Mein Hass auf die Dargianer war zwar weiterhin vorhanden, aber ich unterdrückte ihn. Es war jetzt wichtig, vernünftig zu sein und keine Dummheiten zu machen. Also folgte ich gehorsam und mit gesenktem Kopf. Währenddessen suchte ich nach einem ganz bestimmten Statussymbol. Da! Die Karte war noch verfügbar. Ausgezeichnet. Ich hatte die Umgebung noch nicht erkunden können. Abseits unseres Weges war alles vom Kartennebel bedeckt.

Unser Ziel war das Deck unter uns. Ich markierte einen vertikalen Schacht, der wie ein stillgelegter Schwerkraftlift aussah. Wir kletterten an Steigeisen hinunter. Auf halbem Wege flirrte ein Kraftfeld. Mist. Jetzt war es kaum sichtbar. Wenn einer der Haash hindurchstieg, gab es nur ein paar kleine Funken. Aber bei einem stationsweiten Alarm wäre sicher kein Durchkommen. Wir mussten mit dem Schlimmsten rechnen.

Ich blickte mich verstohlen um. Die Wände des Schachts wiesen einige halbkugelförmige Ausbuchtungen auf. Wahrscheinlich Emitter. Ich würde die Haash später danach fragen.

Das Kraftfeld lag jetzt über uns. Die Sensoren am Rand meines Visiers veränderten die Farbe. Wir schwebten im luftleeren Raum!

Die Erfahrung war surreal. Ich versuchte, mich zu bewegen. Übelkeit folgte auf dem Fuß. So fühlte sich Schwerelosigkeit an?

Mein Gleichgewichtssinn war gestört. Widerwillig ließ ich das Steigeisen los. Ich schwebte wirklich! Ich suchte mit den Händen nach einem Halt, stieß gegen eine Wand und prallte davon ab. Die Haash bewegten sich mit dem Geschick der Gewohnheit weiter. Der Blick des Sklaventreibers ruhte auf mir. Er war bereits unten angekommen. War bestimmt ein Spaß, einem ungeschickten Trottel wie mir zuzusehen.

Ich lieferte ihm die gewünschte Vorstellung. Soll er doch glauben, ich habe nichts drauf. Die Übelkeit war zum Glück schnell Geschichte, als ich zu meiner alten Geschicklichkeit fand. Vor zehn Jahren hatte ich viel Zeit in einem Simulator verbracht. Dort musste ich alle möglichen technischen Probleme auf einer Raumstation lösen. Der damalige Kampf mit der Schwerelosigkeit hatte mich einiges gelehrt.

Ich kämpfte mich mehr schlecht als recht den Liftschacht hinab. Die Arme breit ausgestreckt schwebte ich heraus und unterdrückte die Furcht. Eine „ungeschickte“ Bewegung später katapultierte ich mich von einem Sims nach oben in die Leere.

Natürlich hatte ich Angst, aber die Belohnung war es wert: Von hier oben konnte ich die Startplattform sehen und viele Bilder für den Fluchtplan schießen.

Der Dargianer wurde panisch. Bestimmt würde man ihn nicht für den Verlust eines Gefangenen zur Rechenschaft ziehen. Ich würde ja in meiner Zelle respawnen. Aber all das kostete wertvolle Zeit. Die Haash standen ebenfalls still und blickten mir nach. Die Sohlen ihrer Stiefel waren mit einer speziellen Beschichtung versehen, die einen festen Stand ermöglichte.

Einige Drohnen schossen mir nach. Kurze Zeit später ergriffen ihre Tentakel mich und zogen mich zur Station zurück.

Der Dargianer war wild vor Wut, aber es war ja nicht meine Schuld. Das Kommunikationssystem knackte:

„Denk dran: Du darfst nur ebene Bereiche betreten. Spürst du, wie du daran haftest?“

Ich nickte. Meine Füße klebten praktisch am Boden. „Aber wie komme ich voran?“

„Schlurfen und gleiten“, antwortete er knapp. „Wenn du uns noch mal aufhältst, stirbst du drei Mal.“

Okay. Ich hatte es verstanden. Ich hob meinen Fuß ein Stück an, schob mich vor und setzte den Fuß dann abrupt wieder auf, um anzuhalten. Es klappte. Jetzt der andere Fuß …

Die Haash waren sehr viel schneller unterwegs als ich. Sie hatten ja auch schon einige Weltraumspaziergänge hinter sich. Der Abstand vergrößerte sich, aber dann hatte ich den Dreh raus. Eine der Drohnen folgte mir die ganze Zeit.

Bloß nicht trödeln! Nur während einiger kurzer Pausen konnte ich die Schönheit der Leere genießen und in unbeobachteten Momenten ein paar Bilder machen.

Die Haash waren noch immer weit vor mir. Wie geschickt und koordiniert sie sich bewegten! Vor uns bildete ein Schutthaufen eine Art Mauer. Mit gezielten Hüpfern überwanden die Haash das Hindernis. Hoffentlich schaffte ich das auch. Die Flucht durfte nicht an so etwas scheitern! Es wäre gar nicht gut, wenn mir Verfolger auf den Fersen wären, und ich mich nur im Schneckentempo bewegen könnte.

Plötzlich schnürte mir das Sklavenhalsband die Luft ab. Rash trat hinter der nächsten Biegung hervor, Wut im Blick.

Ich hob die Arme, um ihm zu zeigen, dass ich nicht schneller konnte.

Sein Gesicht war vom Helmvisier verborgen. Keine Ahnung, ob er dadurch überhaupt etwas sehen konnte. Vielleicht steckte ein Bildschirm im Helm. Oder er hatte eine besondere Fähigkeit.

Ich konnte nicht atmen. Ich japste nach Luft.

Er kam näher und murmelte unwirsch vor sich hin. Plötzlich erschien ein neues Modul im Steckplatz meiner Rüstung.

Der Druck am Hals ließ ein wenig nach.

„Sieh hin, wenn du läufst!“

Was sollte das bedeuten? Ich gehorchte trotzdem. Etwa auf halbem Wege erhob sich eine kleine Plattform aus dem Geröll. Plötzlich tauchte eine dünne Strichlinie in meinem Visier auf. Mein Gehirn verarbeitete die Daten mechanisch und gab meinen Beinen Befehle, die mich in einer Serie von Sprüngen ans Ziel brachten.

Wow.

Das war atemberaubend. Drohne und Sklaventreiber näherten sich. Ich nutzte den kurzen Moment, um einen Blick auf das neue Spielzeug zu werfen:

 

Der Bewegungskoordinator. Eine Technologie der Haash. Kann von allen menschenähnlichen Wesen genutzt werden. Anwendung: Ziel anvisieren, Pfad und Kraftanstrengung berechnen lassen.

 

Faszinierend!

Hoffentlich wollte der Dargianer das Modul später nicht zurückhaben. Das Ding könnte noch nützlich sein. Ohne seine Hilfe wäre es glatter Selbstmord, sich auf der zernarbten Hülle zu bewegen.

Ich eilte dem Rest der Gruppe hinterher. Heute würde ich ein gehorsamer und eifriger Gefangener sein, der jede Anweisung unverzüglich befolgte.

Das Gewirr aus Schrott endete abrupt. Dahinter ein riesiger, leerer Bereich.

Ich erstarrte. Hier war die Außenhülle der Station unbeschädigt. Aber das war es nicht, was mich stocken ließ. In der Mitte einer gewaltigen Plattform klammerte sich ein gigantisches Raumschiff an die Starttürme.

Es war stark beschädigt. Mehrere klaffende Löcher und andere Schäden verunstalteten die schlanke Form. Die Haash arbeiteten bereits daran. Einige entfernten verbogene, rautenförmige Teile der Panzerung, andere widmeten sich den Versorgungsleitungen und eine weitere Gruppe brachte neue Panzerplatten und montierte sie.

Ein greller Lichtschein lenkte mich ab. Auch Dargianer arbeiteten hier – ihre gedrungenen Gestalten waren unverkennbar. Mit Plasmaschneidern fertigten sie neue Panzerplatten an.

Ich stieg hinab und machte unauffällig weitere Aufnahmen.

Wahnsinn! Das Schiff musste etwa einhundert Meter Durchmesser haben. Aber verglichen mit den mächtigen Leviathanen im All war es winzig.

Wie sollten die Dargianer damit den Planeten erobern?

Ich war gespannt auf die Antwort.

 

* * *

 

Ein langer Tag mit viel Arbeit erwartete mich.

Auf der Raumstation gab es künstlich erzeugte Schwerkraft. Meine Sprünge mit dem Bewegungskoordinator hatten gezeigt, dass die Bewegung in einer bestimmten Bahn verlief. Aber jetzt musste ich Teile für die Panzerung schleppen, und dabei machte sich die Schwerkraft sofort bemerkbar. Der Generator steckte, so die Haash, irgendwo in den Tiefen der Station.

Es war harte Arbeit, die mehrere Tonnen schweren Teile zu bewegen. Irgendwann war ich völlig fertig. Die Haash waren mir an Körperkraft deutlich überlegen und den Knochenjob gewöhnt.

Ich wurde auf Schritt und Tritt von einer Drohne begleitet. Das gab mir die Gelegenheit, sie unauffällig zu analysieren. Warum ließen die Dargianer Gefangene schuften, wenn sie doch über Maschinen verfügten? Bestimmt wären die Drohnen schneller und genauer.

Leider kam ich nicht näher an das Schiff heran.

Abends brannten mir viele Fragen unter den Nägeln. Doch ich war zu erschöpft, als wir wieder in der Zelle waren.

Meine Augen fielen mir zu. Ich hatte weder Hunger noch Durst, denn das Lebenserhaltungssystem des Pods versorgte meinen Körper mit allem, was nötig war. Nur um den Schlaf musste ich mich selbst kümmern.

 

* * *

 

Ein ruhiger und langer Schlaf war mir nicht vergönnt. Mein mnemonisches Interface piepste aufdringlich. Jemand versuchte, meine Filter zu umgehen. Ich schlug erschrocken die Augen auf.

Was ist los?

Ich habe zehn atomare Mikrobatterien für dich, sage Charon. Jede davon hat dreißig Prozent Restladung. Reicht das?

Haash schienen nicht zu schlafen. Waren sie Maschinen?

Ich schüttelte die Müdigkeit ab. Zeit, loszulegen. Ich sah mir die Screenshots an und leitete einige an Charon weiter. Die Jäger in den Dockingstationen waren klar zu erkennen: sieben Stück insgesamt. Dort teilte sich der Behelfspfad, der mit grob geschweißten Metallplatten über dem Schutt errichtet worden war.

Warum waren wir nicht direkt durch die Station zum Einsatzort gegangen? Warum die gefährliche Route? Hätten wir nicht über interne Gänge oder Tunnel zur Startplattform mit dem alten Schiff kommen können?

Charon antwortete mir bereitwillig. Die Dargianer hatten nur gut zehn Bereiche der Station sichern können. Der Rest war noch Teil der Technosphäre der Gründer. Die meisten benachbarten Korridore wurden von Sicherheitseinrichtungen geschützt, die nach einer Zerstörung binnen acht Seggs wieder auftauchten. Ich kannte die Zeit- und Streckeneinheiten nicht, die Charon benutzte. Das machte es schwerer. Er war wirklich voll in seiner Xenomorph-Rolle aufgegangen!

Was für eine Schande. Bestimmt war er ein normaler Teen, der sich mit dem Alphatest sein Taschengeld aufbessern wollte. Hatte sein Verstand bleibenden Schaden erlitten?

Eine kalte Leere machte sich in mir breit. Ich hatte – im Gegensatz zu ihm – Glück gehabt. Mein Neuroimplantat war brandneu und ich hatte mich schon in normaleren Spielwelten an die neurosensorischen Effekte gewöhnt.

Der arme Teufel. Ich war absolut davon überzeugt, dass dieser geschlossene Alphatest nur ein Vorwand für den Testlauf des neuen Geräts war. Mich würde brennend interessieren, wie viele Spieler zur ersten Welle gehörten und ob noch jemand davon lebte.

Vielleicht war das der Grund für den alternativen Start? Natürlich wollten die Entwickler genau wissen, was die Testsubjekte empfinden. Dabei waren vor allem Extremsituationen hilfreich. Normales Leveln brachte keine neuen Erkenntnisse.

Ich erkläre das mal: Es ging hier um die Zukunft der Computerspiele. Es wäre schlecht, wenn bei der Veröffentlichung viele Spieler tot umfallen oder verrückt werden würden. Das musste verhindert oder zumindest auf ein akzeptables Maß beschränkt werden. Dazu werden Unmengen an statistischen Daten, riesige Neurogramm-Datenbanken und so weiter benötigt, um die Feedbackschleifen zu optimieren.

Das ließ nur einen Schluss zu: Das hier war ein buchstäblicher Kampf ums Überleben. Ich musste nach den Regeln des Spiels spielen – rücksichtslos, aber umsichtig. Sonst wäre ich bald nur noch ein Körper, den Neuankömmlinge für einen Teil der Szenerie halten. Nehmen wir zum Beispiel Charon. Was, wenn er entkommt? Könnte er in der Realität noch funktionieren oder war es schon zu spät?

Vermutlich wäre es für ihn unerträglich. Sein Körper seit Jahren im In-Modus gefangen. Aber es war noch schlimmer: Er glaubte ja wirklich, er sei ein Haash! Sein Handeln und Denken war mittlerweile das eines Xenomorphs. Huh! Ich hatte es schon immer seltsam gefunden, wenn jemand mit den exotischen Fähigkeiten fremder Völker liebäugelte. Diese Spieler trugen bestimmt spezielle Versionen des Neuroimplantats, die nach und nach ihren Verstand umkrempelten.

Wieso ich das denke? Die Beweise lagen doch offen vor mir: Man musste sich nur mal die Dargianer anschauen. Wie viel Menschlichkeit steckte denn noch in ihnen?

Vielleicht irrte ich mich auch. Vielleicht waren all diese fühlenden Xenomorphs nur KI-Module mit eigenen Ideen und Identitäten.

Noch konnte ich kein endgültiges Urteil fällen. Soweit ich wusste, gab es noch keinen wirklich funktionsfähigen künstlichen Intellekt.

Ja, in meinem Kopf steckt mehr als Gaming. Wir leben schließlich im Zeitalter der Technik und lernen jeden Tag etwas Neues. Das gilt auch für den Beruf. Ich habe ja schon von dem Job im Raumstationssimulator berichtet. Als Spiel schrecklich langweilig. Aber man benötigt echtes Wissen, um die Aufgaben zu erledigen. Solche Educational Games sind natürlich Nischentitel, aber können sich auch als Sprungbrett für die eigene Karriere erweisen.

Headhunter sind regelmäßig in diesen Welten unterwegs und suchen nach Talenten, die aus dem Mittelmaß herausstechen.

Ich selbst hatte dort gearbeitet. Ich hatte anstelle von reichen Nichtsnutzen den Buckel krumm gemacht, damit sie sich mit meinen Federn schmücken konnten.

Genug davon.

Jetzt ging es um dieses Spiel. Der Einsatz konnte höher nicht sein. Ich nahm die Herausforderung an.

Das wars. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Mir war klar, dass irgendwo irgendjemand meine gesammelten Neurogramme speicherte und analysierte.

 

* * *

 

Die Haash warteten geduldig.

Ich sah mir die Aufnahmen an und plante die Flucht. Einige davon schickte ich mit Fragen an Charon:

„Dieses Kraftfeld – wie kommen wir da dran vorbei?“

Er dachte scharf nach. „Wir müssen auf die Emitter schießen. Die Explosion löst eine Dekompression aus.“

„Gibt es dort Notschotten?“

Er nickte und markierte sie für mich. Mehr Fragen und Antworten zwischen uns hin und her.

Halten die Schotten die Verfolger auf?

Nur kurz. Nicht lang genug. Wir müssen schnell sein. Die Dargianer schicken bestimmt Drohnen.

Passen zwei Personen in das Cockpit des Jägers?

Du wirst stehen müssen und dich festhalten. Ich fliege. Das wird nicht schön. Hohe G-Kräfte. Und nicht genug Energie für die Kraftabsorber.

Ich werde es schon schaffen.

Hunderte von Fragen schwirrten durch meinen Kopf. Es gab so viel zu bedenken. Wer waren die Gründer? Später. Zurück zur Sache. Konzentrier dich!

„Danny? Hast du dir den Controller angesehen?“

Eine Bewegung in der Finsternis. Danezerath stand gebeugt auf. Die niedrige Decke zwang ihn dazu. Er versuchte, den Kopf durch die Gitterstäbe zu stecken. Es klappte nicht und so streckte er die langen, sehnigen Arme aus. In seiner geöffneten Hand erkannte ich ein kleines Gerät. Seinen feingliedrigen Finger zitterten. Warum war er so nervös? Hatte er Angst?

Dann begriff ich. Dekompression! Ich kannte die Folgen nur aus Büchern. Aber die Gefangenen hatten sie vermutlich schon am eigenen Leib erlebt.

„Wie wahrscheinlich ist es, dass die Schotten nicht schließen?“, fragte ich.

„Sie sind alt“, antwortete Charon knapp.

Natürlich. Der Tod erwartete sie. Danach ein Respawn in der luftleeren Umgebung und sofort wieder der Tod. Ad infinitum. Ich erkannte Angst in den Augen der Haash ob dieser endlosen Pein. Sie würden sterben und in den zerstörten Zellen wieder auftauchen, bis irgendwann die Dargianer wieder für Atmosphäre sorgten.

Die hässlichen Gnome hätten es damit vermutlich nicht besonders eilig.

Während ich darüber nachdachte, gaben die Haash das Modul und den Helm weiter. Clever. Wir sollten besser keine Beweise zurücklassen. Die Gefangenen litten schon genug. Wir hatten uns eine Geschichte zurechtgelegt: Ich allein war verantwortlich. Ich hatte Charon unter Waffengewalt gezwungen, mitzukommen. Schließlich brauchte ich einen Piloten.

Ob sie mir glaubten, dass ich sie retten würde? Glaubte ich daran?

Ich verscheuchte den Gedanken schnell. Hier kämpfte jeder für sich. Aber allein hatte niemand eine Chance.

Ich legte Helm und Gerät in mein Inventar. Dann versuchte ich, das Gerät in einen Steckplatz zu schieben. Es passte.

Wieder wurde etwas von Hand zu Hand gereicht. Atomare Mikrobatterien, zehn an der Zahl. Drei behielt Charon. Genug für vielleicht eine Stunde Autonomie. Zwei Batterien für die Maschinenpistole, eine für die Pistole. Auf das Scharfschützengewehr musste ich verzichten, denn die anderen vier brauchte ich für den Raumanzug.

Fertig.

Ich zog mich aus. Die Haash starrten mich überrascht an.

„Wann geht es los?“, fragte Charon gespannt. Er verstand nicht, was ich da tat. Bestimmte wirkte es verdächtig.

„Nur noch kurz.“

„Rash ist stark. Du solltest den Anzug tragen.“

„Nein.“ Ich trat an das Gitter heran. „Kannst du mich berühren?“

Charon zog die Schultern hoch. Er neigte den gewaltigen Schädel zur Seite. Mir fiel auf, dass zwischen der rauen Haut vereinzelt rudimentäre Schuppen zu sehen waren. „Warum?“, frage er.

Ich deaktivierte sein Halsband und reichte ihm die Handfeuerwaffe. „Los, schlag mich. Aber halt meinen Lebenspunktebalken bei zwanzig Prozent.“

„Ich verstehe nicht, Mensch …“

„Mach schon. Vertrau mir. Ihr anderen: Schreit und trampelt herum.“

Charon starrte mich verständnislos an.

„Vertrau mir!“

Verzweiflung blitzte in seinen Augen auf. Was er wohl in diesem Moment gefühlt hat?

Die Haash begannen, mit den Füßen zu stampfen. Der ganze Boden vibrierte in einem leidenschaftlichen Rhythmus. Sie ließen ihrer aufgestauten Wut freien Lauf; die Schotten erzitterten.

Eine Sekunde verstrich, dann eine weitere.

Schließlich knurrte Charon auf und schlug mich. Seine scharfen Krallen verletzten meine Haut und Blut tropfte aus meiner Brust.

Wieder, wieder und wieder schlug er zu.

Die anderen verstärkten ihre Anstrengungen. Die Tür flog auf. Zuerst kamen die Drohnen herein. Verwirrt drehten sie sich um die eigene Achse. Die Zielsuchsysteme fanden in dem herrschenden Chaos keinen Anhaltspunkt. Dann erkannten sie Charon als Aggressor, denn er war mit meinem Blut befleckt.

Einer der Haash warf sich in den Weg und fing den für Charon bestimmten Lähmungsimpuls ab. Zwei gedrungene Gestalten kamen durch die Tür.

Ich nahm ihre Namensmarkierungen ins Visier.

„Rash, du Drecksack. Hier rüber.“ Ich war ziemlich entkräftet, aber er hörte mich. Selbstsicher stapfte er in meine Richtung. Er hatte hier alles unter Kontrolle. Er schickte die Drohnen fort und ergötzte sich an den Haash, die von ihren Halsbändern gewürgt wurden. Auch Charon ließ sich fallen und griff sich an die Kehle.

Meine Zellentür glitt auf.

Rash trat ein, Blutlust im Blick. Mein bedauernswerter Zustand erregte ihn.

Ein kurzer, zielgenauer Boxhieb. Mein Herz setzte kurz aus, nur noch vier Prozent Lebenskraft.

Berserker!

Ich sah buchstäblich rot. Ich sprang vor und versetzte ihm einen Schlag. Ein Knochen brach. Noch mal. Die Drohnen griffen nicht ein, denn Rash hatte sie ja deaktiviert. Wut und Verwirrung zeichneten sich in seinen Augen ab. Er war noch auf den Beinen. Fünfzig Prozent weniger Lebenspunkte. Ich wartete nicht auf eine Reaktion, sondern schlug immer wieder zu. Ich musste die Oberhand behalten.

 

Du hast eine neue Stufe erreicht!

 

Der andere Dargianer wich zurück. Er wollte fliehen. Einer der Haash brachte ihn zu Fall. Es war Danezerath. Seine Nackenmuskulatur schwoll an, als das Halsband zudrückte. Ich bin gleich da, Danny!

Mit einem gezielten Tritt erleichterte ich den Sklaventreiber um die Hälfte seiner Trefferpunkte. Wie ein Besessener trat ich auf ihn ein. Er war nur ein Stufe-10-Charakter und daher schnell ausgeschaltet.

Jetzt musste ich mich am Riemen reißen. Die Berserker-Fähigkeit wirkte nach wie vor. Ich konnte nicht klar denken und meine Reflexe wollten, dass ich auch mit den Drohnen kurzen Prozess machte.

Ich öffnete das Inventar und legte meine Ausrüstung an.

Sofort sprang das Lebenserhaltungssystem an. Es hatte keinen Alarm gegeben. Dazu reichte ein kleiner Gefangenentumult wohl nicht aus.

Der mörderische Rausch ließ nach und mein Lebenspunktebalken wuchs beträchtlich. Eine fiese Fähigkeit.

Schnell durchsuchte ich Rashs Taschen. Aha! Noch ein Controller für die Halsbänder. Leider war es fester Bestandteil der Rüstung. Wo waren die Zellenschlüssel?

Keine da. Logisch: Die wurden wahrscheinlich auch mnemonisch kontrolliert. Ich fledderte seinen bewusstlosen Körper und schnappte mir diverse Geräte und Module. Später war Zeit, sie genauer zu untersuchen.

Die Drohnen rührte ich bewusst nicht an. Bestimmt hatten sie alles gefilmt. Die Aufnahmen würden klar zeigen, dass ich der Schuldige war.

Ich hob die Maschinenpistole und schoss auf das Schloss an Charons Zelle. Und los.

Mit zwei Salven streckte ich die Drohnen nieder. Sie stürzten funkensprühend zu Boden.

Charon war bereits an meiner Seite, voll gerüstet und bewaffnet.

„Lauf!“

Dutzende Augen verfolgten uns. Ich sah Hoffnung darin schimmern, aber auch ein wenig Misstrauen: Würde der Mensch sie hintergehen?

Wer weiß das schon …

 

* * *

 

Der Gang war leer. Die meisten Dargianer waren auf einem Raubzug. Außerdem war Lärm hier nicht ungewöhnlich. Rash hatte wohl Gefallen daran gefunden, die Gefangenen zu foltern. Nächtliche Besuche im Zellenblock waren ganz normal, ebenso Schreie und Schüsse.

Wir liefen ohne ein Wort.

Die Systeme meines Anzugs hatten meine Gesundheit nahezu vollständig wiederhergestellt; dafür waren die Batterien stark entladen.

Hinter der nächsten Biegung trafen wir auf eine Wächterdrohne. Ein schneller Schuss machte ihr den Garaus, bevor sie Alarm schlagen konnte. Aber die Explosion hallte durch den Korridor. Das musste jemand gehört haben.

Zum Glück waren wir fast am Ziel. Ein kleines Tormodul mit einem Wachtposten lag vor uns. Dahinter der Schacht des Schwerkraftlifts mit dem Kraftfeld.

Charon und ich stürmten den Posten gleichzeitig. Die beiden Dargianer hatten gewiss nicht mit einem Ausbruch gerechnet. Trotzdem war wohl Alarm geschlagen worden, denn auf den holografischen Monitoren wechselten die Bilder in schneller Folge. Auf einem davon sah ich, wie einige Dutzend gedrungene Gestalten in einen Gang stürmten.

Bis jetzt war alles glatt gelaufen. Vor uns der Schacht.

Mit viel Glück würde der Plan funktionieren. Die Kraftfeld-Emitter befanden sich auf unserer Seite. Das war nur logisch, denn Angriffe kamen meist von außen. Vielleicht würden sie heute lernen, dass doppelt besser hält.

Hinter uns war das Geräusch rennender Stiefel zu hören.

Charon drängte sich vor. „Halt dich fest.“ Er hob seine Waffe. Sich an die Steigeisen klammernd, feuerte er mehrmals in den Schacht hinab.

Ich ließ mich fallen, stützte meine Füße an der Wand ab und griff nach einem dicken Leitungsbündel.

Eine Stichflamme schoss aus dem Schacht und wurde in Millisekunden von einem gewaltigen Luftstoß gelöscht.

Eine explosive Dekompression ist kein Spaß. Die Luft raste wie ein Tornado in den leeren Raum. Diverse Gegenstände und Körper flogen an mir vorbei.

Die ganze Katastrophe dauerte höchstens zehn oder fünfzehn Sekunden. Das Brüllen der entweichenden Luft verebbte.

Die Lichter flackerten und erloschen. Die Notschotten hatten versagt. Wer nicht gerade einen Raumanzug getragen hatte, würde in wenigen Augenblicken respawnen. Hoffentlich galt das nicht auch für die Drohnen. Es waren ja unbelebte Objekte.

Charon tippte mir auf die Schulter, damit ich aufstand. „Wir können weiter.“

Düstere Entschlossenheit färbte seine Stimme.

 

* * *

 

Unsere abenteuerliche Flucht und die Dekompression mussten die Dargianer komplett überrascht haben. Sie waren nachlässig geworden.

Schnell kletterten wir mit der gebotenen Vorsicht den Schacht hinab. Viele Steigeisen waren von dem Luftsturm aus den Verankerungen gerissen worden. Kurz darauf erblickten wir eine umherwirbelnde Wolke aus winzigen Eiskristallen, Sauerstoffflocken, Gasen und Trümmerteilen.

Ich aktivierte den Bewegungskoordinator und wählte einen Punkt auf der Außenhülle der Station. Ein kurzer Sprung und die untere Plattform des zerstörten Liftschachts blieb hinter mir zurück.

Das war wohl der riskanteste Teil. Jeden Augenblick konnte ich mit einem der unzähligen Trümmerteile kollidieren. Dann würde die Luft auf einen Schlag aus meinem Anzug entweichen und mich so aus der Bahn werfen.

Der schlaksige Haash bewegte sich parallel zu mir. Gemeinsam durchquerten wir den schummrigen Bereich, in dem die Dekompression gewütet hatte. Blass schimmerten die Sterne durch den Gasschleier. Absolute Stille umgab uns.

Plötzlich eine Explosion.

Ich landete, die Füße fest auf die glatte Hülle gepresst. Da rutschte ich aus und verlor den Halt. Ich durfte nicht in Panik geraten. Schnell griff ich nach einem der Rumpfaufbauten.

Der Haash blickte besorgt zurück. Von unserem Standort konnte wir die schon vor langer Zeit gewaltsam geschaffene Öffnung in den Liftschacht sehen. Es sah aus, wie ein geborstenes Rohr, umgeben von verformten Panzerplatten. Was da wohl geschehen war?

„Hast du etwas gesehen?“, flüsterte ich.

Mahnend hob Charon seine Hand. Ich folgte dem Fingerzeig.

Rechts kamen fünf Drohnen aus einem Einschlagkrater heraus. Sie hatten wohl einen anderen Weg genommen und scannten jetzt die Umgebung. Wie dumm von mir, darauf zu hoffen, dass unsere Flucht nicht bemerkt würde. Ich hatte damit gerechnet, dass alle nach der Ursache des Druckabfalls suchen und mit Reparaturarbeiten beschäftigt sein würden.

Zwei Dargianer kletterten hinter den Drohnen aus der Öffnung.

Mein Visiersystem reagierte sofort. Ein neues Fenster vergrößerte die in verschlissene Raumanzüge gekleideten Wesen. Die Visierscheiben waren transparent, sodass ich ihre wutverzerrten Fratzen sehen konnte:

Rash und sein Helfer. Ich hatte ihn doch entkleidet. Warum lag er nicht da und starb nach jedem Respawn erneut?

So ein Mist. Entweder war er aus dem Zellenblock entkommen oder es gab einen anderen Respawn-Punkt.

Das musste ich mir merken.

Noch schlimmer: Er hatte unseren Plan durchschaut.

Er dirigierte die Drohnen so, dass sie die technogenen Ruinen gut im Blick hatten. Er und sein Begleiter waren bewaffnet. Charon und ich hielten Funkstille. Bestimmt wurden die Frequenzen überwacht. Eine mnemonische Unterhaltung erforderte zu viel Konzentration. Die brauchte ich im Moment für andere Dinge.

Wir gestikulierten. Charon war besorgt. Das konnte ich nachvollziehen. Die Dargianer versuchten nicht, uns zu folgen. Warum nicht?

Rash war ein cleverer Bastard. Seine Waffe sah recht groß aus. Konnte das ein portabler Raketenwerfer sein? Leider konnte ich es nicht genauer überprüfen, aber ich hatte ein ungutes Gefühl. Er hob die seltsame Waffe an und zielte damit. Ich folgte der Visierrichtung. Gemeinsam kontrollierten die Dargianer und die Drohnen alle Zugänge zur Startplattform.

Wollten sie uns abfangen? Oder würden sie den Haash-Jäger opfern, um uns aufzuhalten?

Während wir noch überlegten, trat eine neue Verfolgergruppe aus dem Liftschacht. Wir saßen in der Zwickmühle. Auf beiden Seiten Gegner, ein unsicheres Versteck und noch dazu unterhalb der Sklaventreiber.

Wir mussten schnell etwas tun – aber was? Sollten wir das Feuer eröffnen? Sie würden uns entdecken und sofort niedermetzeln. Sollten wir hoffen, Haken schlagend das Schiff zu erreichen? Sie könnten uns in aller Ruhe abknallen.

Ich tippte Charon an und zeigte auf die Trümmerwolke, die langsam in Richtung Startplattform wirbelte.

Er verstand mich sofort und nickte zustimmend.

„Jetzt!“ Ich wies den Weg.

Er verlor keine Zeit, sondern nutzte die Gaswolke als Deckung aus. Es gab keine andere Möglichkeit.

Die Dargianer trödelten nicht. Die insgesamt neun Verfolger teilten sich auf. Vier blieben am Schacht zurück, der Rest lief in einem Suchmuster über die Außenhülle.

Ich musste sie ablenken und das Feuer auf mich ziehen. Also kletterte ich weiter nach oben. Die niedrige Schwerkraft kam mir bei dem nächsten Manöver entgegen. Mithilfe des Bewegungskoordinators wagte ich einen Sprung und schwebte an der halb geschmolzenen Panzerung vorbei. Ich zitterte am ganzen Körper. Adrenalin durchströmte mich wie nie zuvor. Alles geschah in völliger Stille. Nur eine falsche Bewegung und ich würde wegdriften und das perfekte Ziel abgeben. Aber wahrscheinlich würden die Dargianer kann nicht feuern, sondern genüsslich zusehen, wie ich erstickte und dann in der Zelle wieder auftauchte.

Noch wusste ich nicht, worum es sich bei dem hohen Turm handelte, der mein Ziel war. Doch an der obersten Plattform angelangt, konnte ich große, längliche Öffnungen in der Spitze erkennen. Ich hielt mich am Rand einer davon fest und kletterte hinein.

Puh! Niemand hatte mich bemerkt!

Ich blickte mich rasch um. Jede Menge kaputte Geräte – wohl eine Folge hoher Temperaturen und einer Dekompression.

In die von einer kuppelförmigen Decke getragenen Wände waren große Panoramafenster eingelassen. Ich war hier recht gut durch die starken Mauern geschützt. Prima. Jetzt brauchte ich noch eine Möglichkeit, mich zu sichern, ohne meine Beweglichkeit zu verlieren. Da! Ein paar durchtrennte Leitungen. Ich zog daran, bis ich eine Art Sicherungsseil von etwa fünf Metern Länge hatte. Ein Ende um meine Hüfte geschlungen band ich das andere Ende an einer stabilen Stütze fest.

Vorsichtig näherte ich mich einer der Öffnungen. Welchem Zweck das Gebäude wohl einmal diente? Vielleicht ein Kontrollturm?

Ich spähte hinaus.

Hier hatte ich die Oberhand. Deutlich konnte ich Rash, seinen Gehilfen und die fünf Drohnen in ihrem Versteck sehen. Ich holte das Scharfschützengewehr aus dem Inventar und steckte zwei der Batterien aus meinem Raumanzug hinein. Sofort fiel die Anzeige für das Lebenserhaltungssystem in den roten Bereich. Da musste ich durch. Schnell die Maschinenpistole weggesteckt. Charon hatte noch meine Pistole.

Hoffentlich war er noch am Leben. Seine schlanke Form war nirgends zu sehen. Er war in der Dunkelheit verschwunden.

Würde er mich übers Ohr hauen? Wirkliches Vertrauen herrschte noch nicht zwischen uns. Ich wusste einfach zu wenig über die Xenomorphs und ihre Sprache. Was bedeutete Aufrichtigkeit für sie? Kannten sie das Wort überhaupt?

Ich war nervös. Wo waren eigentlich die anderen Verfolger? Ich verfluchte das Zwielicht. Die Sonne war zu weit weg, nur ein helles Funkeln zwischen den Milliarden anderer Sterne im Weltall. Die Hülle der Station reflektierte das bräunliche Schimmern des Gasriesen. Überall scharf begrenzte Schatten. Die ganze Umgebung war praktisch ein einziges Tarnnetz, in dem sich überall Gegner verbergen konnten. Was gäbe ich für einen Scanner!

Rash deckte alle Wege ab. Hier konnte man wirklich einen Meter am Feind vorbeilaufen, ohne ihn vorher zu entdecken. Genau das war das Problem mit der anderen Verfolgergruppe: Irgendwann würde sie urplötzlich auftauchen.

Mir blieb nicht viel Zeit. Wo war Charon?

Die ganze Szenerie war bedrückend: metallene Trümmerteile, Stille und eine Art Zeitlosigkeit. Hin und wieder warnten meine Subsysteme mit rotem Blinken. Mein Atemgeräusch durchschnitt die Stille. Schweißperlen standen mir auf der Stirn – dank Helm unerreichbar.

Willkommen bei den Freuden des Weltalls.

Ich hielt Ausschau nach Rash. Er war hier die größte Gefahr. Die Zielerkennung in meinem Helm funktionierte ganz wunderbar und vergrößerte einen Bereich der zerstörten Oberfläche. Vor den Trümmern wurde die Silhouette von Rash markiert.

Ich drückte den Abzug.

Der erwartete Rückstoß blieb aus. Die Waffe war kompensiert; meine Sicherung wäre nicht nötig gewesen. Dafür explodierte weiter unten ein Feuerball. Wo vor einem Augenblick noch der Dargianer stand, schwebte jetzt eine kleine Plasmawolke über einem weiß glühenden Einschlagskrater.

Natürlich war meine Stellung aufgeflogen. Fünf Drohnen eröffneten das Feuer. Alles war still, aber Boden, Wände und Kuppeldecke erbebten bei den Treffern. Lichtstrahlen erhellten den Raum. Die Kampfdrohnen konnten mich nicht direkt anzielen, aber sie kamen schnell näher und feuerten dabei durch die Fensteröffnungen.

Ich schmiss mich auf den Boden. Zum Glück bot meine Rüstung Schutz. Um mich herum tanzten Überreste der zerstörten Geräte durch die Leere. Mehr Schüsse. Rotes Glühgas füllte die Kuppel.

Ich tauschte das Gewehr gegen die Maschinenpistole aus. Hoffentlich taten die Drohnen das, was ich von ihnen erwartete. Ist die Wand zu stark, bleibt nur der Weg durch die Tür – oder die Fenster.

Das Sperrfeuer erstarb. Auch das Gas zog langsam ab, umhüllte aber nach wie vor den Turm. Gut, das behindert die Kameras der Drohnen. Sie wüssten nicht genau, wo ich bin.

Ich wartete.

Auf keinen Fall dürfte ich jetzt nachsehen. Hier galten die Regeln der Physik. Ohne Schwerkraft war es unmöglich, von Deckung zu Deckung zu hechten und dabei auf die Blecheimer zu schießen.

Verdammt! Sie machten keine Anstalten, näherzukommen. Stattdessen zogen sie draußen ihre Kreise und scannten die Umgebung. Geduld, nur Geduld! Rötliche Lichter in der Gaswolke tanzten über die runden Drohnen. Mein Abzugsfinger juckte.

Zu früh, sagte ich mir. Warte, bis sie kommen.

 

* * *

 

Leider bekamen die Drohnen vorher Verstärkung durch einen Sturmtrupp.

Statt der Maschinen drängten Dargianer durch die Maueröffnungen herein.

Ich streckte zwei von ihnen nieder. Als die Rüstung eines der Angreifer versagte, hörte ich einen kurzen, abrupt endenden Schrei. Keine Ahnung, ob er vor Angst oder Schmerz schrie. Die anderen suchten Deckung.

Da wurde es mir klar: das wars. Ich würde hier sterben. Ich stand mit dem Rücken an einer Sichtschutzwand, neben mir ein großer Apparat. Wie originell: Ich war in meine eigene Falle getappt. Jetzt blieb nur noch ein letztes Gefecht, bis mir entweder die Kraft oder die Munition ausging.

Der ganze Turm erbebte plötzlich, obwohl niemand einen Schuss abgab. Die Dargianer schmissen sich auf den Boden. Was war da los?

Charon?

Etwas explodierte. Laser schnitten durch das Halbdunkel. Noch ein Lichtblitz. Ein gewaltiger Schatten legte sich über den Turm – ein Jäger.

Charon war ein Spitzenpilot! Das Schiff wirkte wie eine Balletttänzerin, als er mit schnellen und grazilen Flugmanövern kurzen Prozess mit den Drohnen machte. Bevor ich mir ein Bild der Lage verschaffen konnte, hatte der Haash auch den Großteil der anderen Feinde erledigt und flog auf Höhe der Turmspitze enge Kreise um mein Versteck. Die schlanke Raubvogelsilhouette des Jägers wurde immer wieder von kurzen Laserimpulsen erhellt.

Die letzten Dargianer gaben auf und flohen. Wir kannten kein Erbarmen: Mindestens drei von ihnen fielen unter meinen Schüssen, der Rest wurde von Charon aufs Korn genommen.

Das Kommunikationssystem schaltete sich ein. „Schnell, spring an Bord.“

Das Raumschiff drehte sich und hing nahezu regungslos vor dem Fenster. Eine Luke wurde geöffnet; das schillernde Leuchten eines Kraftfelds hinderte die Luft am Entweichen.

„Einen Moment!“ Ich sammelte meine Beute von den Dargianern ein und stopfte mir alle Implantate, die ich finden konnte, in die Taschen.

Dann schwebte ich in Richtung Luke. Zum Glück herrschte hier Schwerelosigkeit, denn ansonsten wäre ich hoffnungslos überladen gewesen.

Der Jäger wurde von den blinkenden Anzeigen unzähliger Maschinen und Hologrammdarstellungen erleuchtet. Ein gewaltiger Sitz mit hoher Lehne nahm fast das gesamte Zentrum des Cockpits ein. Um ihn und die Schwerkraftabsorber, auf denen er thronte, herum war praktisch jeder Millimeter mit Steuerkonsolen bedeckt.

Charons lange Hände umfassten zwei komplexe Bedienhebel. Überall Servoantriebe und etwas, das wie Feuertasten aussah.

Die Luke hinter mir schloss sich.

Charon blickte sich kurz zu mir um – ich hätte mir dabei bestimmt den Hals verrenkt. „Haaram utaashgort!

Ich hatte kein Wort verstanden, aber klammerte mich an die Sitzlehne. Während der Semantikprozessor noch versuchte, die an mich gerichtete Anforderungen zu interpretieren, schwang das Schiff herum und nahm dann langsam Fahrt in Richtung des Schimmers auf, der von der anderen Raumstation reflektiert wurde.

 

Allein: Aufgabe fehlgeschlagen.

Gefängnisausbruch: Aufgabe abgeschlossen.

Du hast eine neue Stufe erreicht!

 

* * *

 

Wir schwiegen.

Charon war in seinem Element. Mühelos steuerte er das Schiff. Unmengen von Daten huschten über die Bildschirme.

Ich lugte ihm über die Schulter. Praktisch alle Anzeigen waren mir fremd. Aber das da musste ein Radardisplay sein. Es zeigte alle Objekte in unserer Umgebung. Das Schiff befand sich in der Mitte des Erfassungsbereichs. Neben jeder Objektmarkierung vermittelten unbekannte Zeichen wohl Informationen zu den Zielen.

Plötzlich nahm der Semantikprozessor wieder seine Arbeit auf: Ein unfassbar langer Text erschien vor meinem inneren Auge.

Charon hatte doch nur zwei Worte gesagt! Wie könnte das so viel bedeuten? Hoffentlich war das Mistding nicht kaputt.

Ich begann, zu lesen.

Eine schlichte Aufzählung meiner Verdienste. Wenn es nach den Haash ging, war ich eine Art Tugendmonster. Das klang beschämend, lustig und traurig zugleich. Laut ihrer Philosophie wurden gute Taten stets mit den Fäusten vollbracht. Je mehr Wumms, desto besser.

Ich hatte mein Blut für andere gegeben.

Ich hatte zwei schwer bewaffnete Feinde besiegt. Dieses Wort, so der Semantikprozessor, spielte eine wichtige Rolle in der Sprache der Haash: Sie unterschieden zwischen Gegnern und Feinden. Mit einem Gegner konnte man Frieden schließen und anschließend in Eintracht leben. Mit einem Feind war das nicht möglich.

Ich hatte die Fesseln gesprengt.

Ich hatte ihnen den Weg in die Freiheit gewiesen.

Ich hatte uneigennützig das Feuer der Feinde auf mich gezogen, damit Charon fliehen konnte.

Und ich hatte (erneut) den Großen Feind getötet. Der Große Feind, das war in unserem Fall Rash.

Ich hatte das Gefühl, dass der Semantikprozessor die Aussage sehr frei interpretierte. Hätte Charon gewusst, dass es mir einzig und allein um die Flucht aus der Gefangenschaft ging, wäre er wohl mindestens verschnupft gewesen.

Aber ich würde ihn nicht enttäuschen. Dazu trug auch die folgende Meldung bei, die nach dem Lesen der langen Erklärung angezeigt wurde:

 

Du hast eine einzigartige Fähigkeit erhalten: Freund der Haash.

Bonus: Wenn du mit einem Haash gemeinsam kämpfst, erhältst du +1 auf alle Eigenschaften.

 

Das waren tolle Neuigkeiten. Aber ich fragte mich auch, ob ich diese Auszeichnung wohl verbergen könnte. Wir waren schließlich unterwegs zu einem Ort, an dem man Xenomorphs nicht gerade freundschaftlich begegnete.

Zum Glück konnte ich die Fähigkeit tatsächlich ausblenden. Charon dagegen würde ein Problem darstellen. Man würde uns gewiss keinen herzlichen Empfang bereiten.

Ich hatte mir dafür zwar schon eine Lösung zurechtgelegt, aber sie würde Charon bestimmt nicht schmecken. Ich konnte nur hoffen, dass er diese bittere Pille schlucken würde.

Mittlerweile war die Station schon erbsengroß.

Raumschiffe umschwirrten sie. Zu welcher Klasse sie gehörten oder wie sie aussahen? Schon der Versuch einer Beschreibung würde jeden Rahmen sprengen! Ein Satz muss genügen: Sie wirkten, wie von Hand aus unterschiedlichen Modulen zusammengeschustert, eben einzigartig und besonders kreativ.

Wir hatten freie Bahn, denn niemand wollte einem Haash-Jäger begegnen.

Schon bald füllte das Bild der Raumstation das Beobachtungsfenster ganz aus. Die kürbisförmige, monolithische Hülle war ein wahres Technikparadies voller Aufbauten. Der Großteil waren Verteidigungssystem gegen Angriffe aus dem Weltraum und Raumdocks. Ich bemerkte zwei große Schiff in den Hangars und eine Reihe von wabenartigen Startplattformen.

Wie eine Art Gürtel legten sich in regelmäßigen Abständen runde Öffnungen um die Station. Sie erinnerten an Tunnelausgänge, die aber momentan mit Druckschotten verschlossen waren.

Das Kommunikationssystem riss mich aus meinen Gedanken:

„Unidentifiziertes Schiff von Argus. Sie nähern sich dem Gebiet der unabhängigen Station Argus. Identifizieren Sie sich oder ändern Sie den Kurs. Bei Zuwiderhandlung eröffnen wir das Feuer. Kommen.“

Charon machte keine Anstalten, zu reagieren. Ich übernahm die Leitung. „Argus von Haash-Schiff. Bitte um Informationen zum Anmeldeprotokoll. Kommen.“

„Übermitteln Sie Anmeldedaten über geschützten Kanal.“

„Charon? Halt sie an, bitte.“

Ohne große Verzögerung setzte der die Bitte um. Sanft wäre das falsche Wort, aber zumindest musste ich mich nicht selbst von der Wand kratzen.

Ich suchte in der Hilfe nach einer Anleitung für die geschützte Kommunikation. Dann fragte ich Charon. Er dachte kurz nach und betätigte ein paar Schalter an einer der Konsolen.

Ich schickte meine Anmeldedaten ab.

Leider reichte das nicht:

„Ihr Name steht nicht im Pilotenverzeichnis“, stellte die Stimme höflich fest. „Sie können kein Schiff navigieren. Ist ein Pilot an Bord? Wie lautet sein Rufzeichen?“

Wo ist die Hilfe? Ups. Irgendwann musste es ja so kommen.

Ich reichte Charon das Sklavenhalsband. Er schaute mich mit – verständlicher – Abscheu an. „Warum, Mensch?“

„Ich bin dein Freund. Vertrau mir. Du musst es nur kurz tragen.“

Wut trat in seinen Blick, gefolgt von schmerzhaftem Erstaunen.

„Charon, es geht nicht anders“, versuchte ich, die Situation zu erklären. „Ich nehme es dir so schnell wie möglich wieder ab, versprochen!“

Ich habe keine Ahnung, ob er mir wirklich glaubte. Aber er nahm das Halsband und legte es sich mit zitternden Fingern an.

Ich aktivierte den Relax-Modus, in dem er sich bis zu zwanzig Meter von mir entfernen konnte.

„Es ist nur ein Trick“, versuchte ich ihn zu beruhigen, bevor ich neue Daten übertrug: Der Pilot ist mein Eigentum. Ich beabsichtige, ihn als ‚persönlichen Besitz‘ einzuführen.

Überraschenderweise war das akzeptabel. Die Antwort enthielt die Koordinaten der Andockstation und die Aufforderung, den Liegeplatz innerhalb von zwei Stunden zu bezahlen.

 

* * *

 

Das Schiff schepperte und vibrierte. Servomotoren heulten auf, erstarben und ein Zischen war zu hören, als wir an der äußeren Andockstation festmachten. Unser Vehikel wurde von den Servicemechanismen erfasst, die es drehten und so arretierten, dass der Bug nach außen wies.

„Entfachen wir beim Start so kein Feuer auf der Hülle“, fragte ich in die unangenehme Stille. Ich verscheuchte den Gedanken schnell. Charon hockte gequält auf dem Pilotensitz.

Nowr“, antwortete er kurz in seiner Sprache und zeigte auf zwei symmetrische, v-förmige Rippen. Das waren bestimmt Starthilfen. Ich wusste viel zu wenig über diese Welt und erkannte viele Dinge einfach nicht.

Die Druckschotten an der Seite der Andockstation öffneten sich. Diverse Kabel- und Leitungsbündel näherten sich dem Schiff und stellten die Verbindung zu den Bordsystemen her. War das die Energieversorgung?

Charon hatte noch immer nichts gesagt. Ich wurde unruhig. In Kürze würde sich die Schleuse öffnen und wir würden ein mir unbekanntes Land betreten. Eine Welt unendlicher Möglichkeiten. Das hoffte ich zumindest.

Weitere Systemmeldungen holten mich in die Realität zurück: Die Stationssysteme versuchten, mit meinem Neuroimplantat zu sprechen, aber dafür benötigte ich einen Mind-Expander.

Wenigstens war jetzt wieder eine Atmosphäre vorhanden. Das Kraftfeld zwischen Andockstation und Weltraum hatte sich geschlossen. Durch die Bullaugen verfolgte ich Hunderte von Düsen, die unser Schiff mit einer milchigen Flüssigkeit besprühten. Was das war? Keine Ahnung. Aber ich konnte mir die Frage sparen.

„Also los“, forderte ich Charon auf.

Langsam legte er den Gurt ab und stand auf. Ihm war anzusehen, dass er das Schiff nicht verlassen wollte. Hier drin war er in relativer Sicherheit. Aber es ging nicht. Er war – wenn auch nur zum Schein – mein Eigentum. Wenn ich ihn nicht mitnahm, würde das bestimmt zu unangenehmen Fragen führen.

Die Luke öffnete sich. Dahinter verband ein Tunnel Schiff und Station miteinander. Wir gelangten in eine winzige Kammer, in der wir ebenfalls mit der weißlichen Substanz besprüht wurden. Ein Desinfektionsmittel vielleicht?

Wieder war ein Scheppern zu hören und Vibrationen zu spüren, als das massive Schott vor uns den Weg langsam freigab.

Ich trat zuerst hindurch. Mein erster Eindruck war zwiespältig. Wo waren der enorm große Hangar und das Gewusel aus meiner Vorstellung? Das hier war ein leerer Gang mit spitz zulaufenden Wänden, schlecht beleuchtet und dreckig. In regelmäßigen Abständen sorgten Streben für mehr Stabilität. In den Nischen dazwischen war es finster. Überall Kabel und Leitungen. Vermutlich waren die Wände vor langer Zeit mit Kunststoff verkleidet gewesen. Aber jetzt waren sie roh.

Plötzlich traten uns zwei dubiose Gestalten in den Weg. Beide waren kräftig gebaut. Sie trugen identische dunkelgraue Uniformen, die Westen mit vielen Taschen versehen, in denen Werkzeuge steckten.

Der Mechaniker-Clan, informierte mich eine hilfreiche Nachricht.

Bestimmt waren sie wegen mir hier.

Mein Bauchgefühl behielt recht. Schäbig grinsend und selbstsicher kamen sie auf mich zu. Kein Wunder. Stufe 50 und hier daheim.

„He, Shnoob. Du musst deinen Liegeplatz bezahlen.“

Das klang wie ein Schimpfwort, aber war nicht die Zeit für Recherchen. Das Duo war ein eingespieltes Team. Wir waren allein hier. Es gab weder Überwachungskameras noch Verteidigungsanlagen, die im Zweifel für Recht und Ordnung sorgen würden.

„Dafür habe ich aber zwei Stunden Zeit.“ Mit fester Stimme versuchte ich, zu zeigen, dass ich die Regeln kannte.

„Du kannst auch mit Beute zahlen“, grinste einer. „Ganz unbürokratisch bei uns.“

„Danke, aber nein danke“, antwortete ich neutral. „Ich kümmre mich später drum.“

Mir stand der Sinn nicht nach einer Schlägerei. Aber diese Typen würden bestimmt nicht klein beigeben.

Der andere Mechaniker verstärkte die Drohung. „Wäre doch zu schade, wenn ich bei der Wartung deiner Rostschüssel die Anschlüsse vertausche, oder? Was so eine Reparatur kosten würde …“

„Ich brauche keine Wartung.“

„Oh, die ist Pflicht“, kicherte der erste Schläger.

Zuerst zu schießen würde nichts bringen. Sie mussten mich angreifen. Dann hätte ich nur mein Recht auf Selbstverteidigung genutzt.

„Versuchs doch.“ Meine freche Antwort sorgte für Verwirrung. „Oder ihr schaltet das Gehirn ein. Wie kommt jemand wie ich wohl an so ein Schiff?“ Ich spielte mit dem Aktivierungsschlüssel, den Charon mir gegeben hatte. Er sah aus, wie ein nobler Schlüsselanhänger. „Denkt nach.“

In diesem Augenblick trat Charon aus der Desinfektionskammer. Er sah traurig aus. Zum Glück wirkte das für Menschen eher wie unbändige Wut. Ein dumpfes Grollen war aus seinem halb geöffneten Mund zu hören. Seine scharfen Zähne und das Sklavenhalsband zeigend, erhob er sich zu voller Größe und blieb dann lauernd wie ein ausgebildeter Bodyguard stehen.

Die beiden Kerle wichen zurück. Charon war wohl nicht der erste Haash auf der Station.

Und meine Frage war damit auch beantwortet: Ein Neuling auf Stufe 5, der einen eigenen Jäger und einen persönlichen Xenomorph-Piloten besaß, musste einen einflussreichen – und auch reichen – Papa haben. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.

Das erste Mal auf einer Raumstation in einer fremden Welt und dann so was. Die Mechaniker überlegten fieberhaft, wie sie noch das Gesicht wahren könnten. Ich entschloss, ihnen die Sache leicht zu machen.

„Wo ist der nächste Schwerkraftlift?“

„Wohin solls denn gehen?“

„Ich will meine Beute verkaufen und Spaß haben. Wenn es auf der Station so was gibt, könnte ich noch ein paar echte Implantate brauchen. Aber kein Fake-Zeugs.“

„Schacht sieben, dann hundert Meter den Gang entlang.“

„Danke.“ Ich drehte ihnen den Rücken zu. Jetzt würden sie es nicht mehr wagen, etwas Dummes zu tun. Einerseits diente Charon als Puffer, andererseits gab es wohl auch hier mächtig Ärger, wenn man sich mit Bonzen anlegte. Eines war klar: Ich musste auf der Hut sein.

Niemand durfte wissen, dass ich aus dem letzten Loch pfiff. Aber noch war keine Zeit für eine Pause. Eigentlich wollte ich mich direkt nach der Ankunft abmelden, aber mittlerweile hatte sich diese Entschlossenheit gelegt. Ich musste mich umsehen, Beute gegen Geld tauschen, den Liegeplatz bezahlen und eine Übernachtungsmöglichkeit finden. Also los.

Ich kam am Lift an.

 

* * *

 

Die Fahrt von Ebene zu Ebene verlief schnell – und unangenehm. Sobald wir in den schimmernden Energiefluss traten, hob uns die unsichtbare Kraft an und wirbelte mit uns hinfort. Ich fühlte mich wie ein Zweig in den Stromschnellen. Die Schachtwände wurden zu flirrenden Lichtern. Mehrmals rasten wir um Biegungen herum, bis wir schließlich an einer kleinen Plattform herausgestoßen wurden.

Mir war schwindelig. Ich machte ein paar Schritte und hielt mich dann an dem niedrigen Geländer fest, von dem die Plattform begrenzt war.

Bald ließ das Gefühl nach. Immer wieder war ein Ploppen, begleitet von kühler Luft, zu hören: Neuankömmlinge wurden vom Lift ausgespuckt und gingen zu einer breiten Treppe, die nach unten führte.

Charon und ich machten Platz.

Argus. Das Handelsdeck, informierte mich das Status-Interface.

Eine riesige Halle erstreckte sich vor uns, die gegenüberliegenden Wände außerhalb meiner Sichtweite. Die Plattform war von etwa zwanzig Liften umgeben. Darunter eine ganze Stadt mit geduckten, einstöckigen Häusern und breiten Straßen im Schachbrettmuster.

Ich blickte mich aufmerksam um. So hatte ich mir das Wohnviertel einer Raumstation nicht vorgestellt. Was für ein seltsamer Anblick! Mein Zielvisier reagierte sofort und zeigte anhand einiger Gebäude, wie die Stadt aufgebaut war. Die Überreste der ursprünglichen Mauern waren rot markiert. Offenbar waren nur Ruinen übrig, als die ersten Siedler ankamen. Sie hatten den Schutt beiseite geräumt, weitere Überreste demontiert und so die Tunnel in Straßen verwandelt. Anstelle der zerstörten Personenmodule waren die niedrigen Häuser getreten.

Licht war allerdings Mangelware an diesem Ort. Die enorme Kuppel verbarg sich hinter einem Dunstschleier, der in etwa zwanzig Meter Höhe waberte und sich gelegentlich als feuchter Nebel niederschlug. Hin und wieder erhoben sich einige Reste der alten Stützkonstruktion.

Es gab so viel zu entdecken! Dienerbots wuselten auf den Dächern und an den Stützen entlang, warteten die Lebenserhaltungssysteme und reparierten dies und das; immer wieder war das grelle Licht ihrer Schweißbrenner zu sehen.

Das Handelsdeck war ein geschäftiger Ort. Hier war vermutlich rund um die Uhr etwas los. Der Haash und ich fingen uns viele böse, misstrauische und auch feindliche Blicke ein.

Auch Androiden waren hier unterwegs. Sie schienen als eine Art Polizei zu dienen. Bewaffnet bewachten sie Ladeneingänge oder patrouillierten durch die Straßen.

Während ich fasziniert auf die Szenerie starrte, wurden wir von Drohnen umschwärmt, die mit Hologrammanzeigen für alle Arten von Dienstleistungen warben.

 

Wir verlegen deine Respawn-Punkt auf den Platz der Gründer. Ein sicherer Neustart für nur 1000 Credits.

 

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Der Piloten-Clan lädt alle Schiffseigner ein, sich den Angriffen auf die verlassenen Stationen anzuschließen. Chancen auf hervorragende Beute und schnelles Hochleveln.

 

Myrus&Myrus kauft Cargonit-Schrott in jeder Menge an.

 

Der Techniker-Clan kauft Geräte und Originalbaupläne der Gründer.

 

Go Exo! Entdecke unser Angebot an außerirdischen Metaboliten!

 

Normalerweise konnte ich derart aufdringliche Werbung nicht ausstehen. Aber nach all den neuen Eindrücken wirkte sie erfrischend vertraut.

Ich studierte die Wegweiser über uns. Der Platz der Gründer befand sich genau in der Mitte der riesigen Halle. Aber es gab Wichtigeres zu tun. Ich musste zu einem Schrottplatz von Myrus&Myrus.

Da! Das große Doppel-M war nicht zu übersehen. Ich gab Charon ein Zeichen, mir zu folgen.

Wir gingen unter vielen unfreundlichen Blicken die Treppe hinab.

Cargonit stand wohl hoch im Kurs. Die meisten Spieler trugen leichte Rüstungen anstelle von Alltagskleidung. Das gesamte Handelsdeck erinnerte an einen orientalischen Basar. Überall wurden interessante Waren und Gelegenheiten feilgeboten. Aber mein Ziel stand fest. Ich brauchte unbedingt Geld, um meinen Respawn-Punkt versetzen zu lassen und die Liegegebühr zu zahlen.

 

* * *

 

Zwei nur entfernt menschenähnliche Androiden bewachten den Eingang zu Myrus&Myrus. Ihre Rüstung glänzte pinkfarben. Die Waffen waren Teil der Körper. Ich war zwar nicht in der Lage, einen Scan durchzuführen, aber schon der bloße Anblick machte klar, dass diese Dinger im Kampf eine echte Gefahr darstellten. Sie waren einen Kopf größer als menschliche Spieler. Hinter getönten Visieren flackerten Scanner.

Die gesichtslosen Gestalten würdigten uns keines Blickes.

„Charon, kannst du Module aus den dargianischen Rüstungen ausbauen?“, fragte ich.

„Das kommt drauf an“, antwortete er. Er hielt innen, um die neun Beutestücke zu untersuchen, die ich in sein Inventar verfrachtet hatte.

Kurz darauf gab er mir fünf extrahierte Module. Nicht viel. Schade, aber das ließ sich nicht ändern. Die Zeit war gegen uns. Mit Rashs Rüstung würde ich mich später noch genauer befassen.

Jetzt musste es schnell gehen. In einer Stunde war die Liegegebühr fällig – und ich wusste noch nicht einmal, wie hoch sie war. Ohne einen Mind-Expander hatte ich keinen Zugriff auf das Stationsnetz. Beunruhigend! Die anderen Spieler waren weder offen aggressiv noch freundlich. Charon erntete feindselige Blicke, ich rief eher Neugier hervor. Schnell wurde aus Interesse jedoch Verwirrung.

Wahrscheinlich hatten Gerüchte über unser Schiff bereits die Runde gemacht. Die Begegnung mit den beiden Mechanikern hatten mir einen gehörigen Schrecken versetzt. Zweifellos war der Jäger einiges wert. Bestimmt leckte sich der ein oder andere bereits die Finger danach. Wenn ich ihn nicht verkaufen wollte, müsste ich mir schnell viel Geld besorgen, um die Story vom reichen Papa zu unterfüttern. Außerdem fehlten mir noch ein paar Stufen. Ein ernstes Gespräch mit Arbido war überfällig.

Wir betraten Myrus&Myrus.

Hinter der beeindruckenden Fassade erwartete mich eine Art gewöhnlicher Hangar. Etwa ein Dutzend Drohnen schwebten unter der hohen Decke.

Ich ging auf eine Verkaufstheke zu. Sie wirkte vor den riesigen Schrotthaufen wie ein Spielzeug.

Der Händler dahinter sah abscheulich aus. Er wirkte deprimierend auf mich. Wer sich so einen fetten, hässlichen und aufgedunsenen Avatar auswählte, war doch nicht ganz richtig im Oberstübchen!

Ich fokussierte meinen Blick:

 

Ingmud. Mensch. Stufe 37. Händler.

 

 Ohne Verkäufer kam keine Spielwelt aus. Aber normalerweise übernahmen NPCs diese Rolle. Oft hielten sie auch Aufgaben für den Spieler parat.

„Entschuldigung“, versuchte ich seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Mir fiel ein, dass ich meinen Charakter nicht selbst erstellt hatte. Was würde mir der Spiegel wohl zeigen?

Ich fühlte mich ein wenig unwohl. Im Interface gab es nur einen menschlichen Umriss. Welche Gestalt hatte Arbido mir verliehen? Oder hatte er alles dem Zufallsgenerator überlassen?

„Jaaaa?“, fragte der Händler herablassend. „Die Waage steht da drüben. Leg den Schrott einfach drauf.“

Das gefiel mir gar nicht. „Du solltest dir besser ansehen, was ich hier habe.“ Ich blieb ruhig und höflich.

„Wieso? Was hast du denn?“

„Integrierte Geräte habe ich.“ Hoffentlich klang das so, als wüsste ich um ihren Wert.

„Kein Interesse“, winkte er ab. „Wir kaufen nur Cargonit-Schrott. Für Module sind die Technologen und Techniker zuständig.“

„Schau es dir wenigstens an“, bestand ich.

„Na gut“, seufzte er. Trotz des gespielten Desinteresses sah ich das Glitzern in seinen Augen.

Wortlos zeigte ich ihm die Cargonit-Rüstungen.

Er hob eine Augenbraue. Die Laserscharten und Dellen der Kugeln waren nicht zu übersehen. „Wo hast du die geklaut?“, fragte er skeptisch.

„Keine Hehlerware. Im ehrlichen Kampf gewonnen.“

„Ich gebe dir zehn Prozent mehr als den Schrottpreis.“ Sein Blick verriet nichts. „Aber es gibt eine Bedingung.“

„Welche?“

„Ich will die Kampfprotokolle sehen.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Dann zehn Prozent unter Schrottpreis“, kam die gehässige Antwort.

„Warum?“

„Könnte ja doch Diebesgut sein.“

Ich war ein schlechter Verhandler. Warum hatte ich überhaupt den Mund aufgemacht und war nicht einfach zur Waage gegangen?

Natürlich hatte ich die Protokolle. Aber ich wäre nicht so dumm, sie mit jemandem zu teilen. Noch sollte niemand von meinem Kampf mit den Sklaventreibern wissen. Die Daten über die Basis und das Schiff, das sie reparierten, waren vermutlich sehr viel wertvoller als das Cargonit.

„Na gut.“ Ich gab Charon einen Wink, damit er alles auf die Waage legte. Mir fehlte die Zeit, nach einem anderen Händler zu suchen.

„Verkaufst du mir deinen Haash?“, fragte der Kerl plötzlich.

„Nein.“

„Hör dir erst mein Angebot an: Ich zahle dir fünfzigtausend.“

„Er steht nicht zum Verkauf.“

Charon hatte in der Zwischenzeit die etwa einen Meter hohe Waage beladen. Der Zeiger schlug kaum aus. Der Händler überschlug die Zahlen im Kopf:

„Fünfhundert Credits.“

Mnemonisch fragte ich Charon, ob er das Gewicht erkennen könne.

„Sechshundert …“, kam die Antwort. Vermutlich kannte er das Wort für Pfund nicht.

Auf einer holografischen Anzeige war ein Preis von elf Credits pro Pfund ausgeschrieben.

„Charon, nimm den Krempel. Wir gehen.“

Der Händler sprang auf: „Warte bitte kurz, mein Freund. Wahrscheinlich wiegt das dumme Ding wieder falsch. Das passiert schon mal.“

Gier stand in seinem Blick geschrieben. Mich hätte es nicht überrascht, wenn integrierte Module den zehnfachen Schrottpreis brächten. Und das hier war ja noch nicht einmal Schrott. „Ich glaube kaum.“

Wir verließen den Laden. Draußen atmete ich tief durch und hielt dann sorgfältig Ausschau.

Die Waffenkammer.

Das klang gut. Da mussten wir hin.

Schnell traten wir ein.

Der kleine Laden war vollgestopft mit Hologrammen der Waren. Das Angebot war enorm.

Der Händler selbst fiel unter den ganzen Waffen und Rüstungen kaum auf. Ein junger, blonder Mann reichte mir die Hand.

„Serge“, stellt er sich mit vorsichtigem Blick auf den Haash vor.

„Zander“, begrüßte ich ihn. „Keine Sorge, Charon greift niemanden an.“

„Was suchst du, Zander? Eher eine Waffe oder andere Ausrüstung? Wir haben einen guten Draht zu den Technologen. Entsprechend tolle Angebote haben wir hier.“

„Ich komme drauf zurück. Aber im Moment möchte ich meine Beute verkaufen. Rüstungen, Impulskanonen usw. Ich kann die Module aber nicht selbst ausbauen. Ich bin erst kurz dabei.“

„Wo hast du das her?“

Musste jeder hier mir nervige Fragen stellen? In anderen Spielen ist es den Händlern egal, woher die Beute stammt. Andererseits kannte ich die lokalen Gebräuche noch nicht. Also blieb ich bei meiner Cover-Story.

„Ich habe den Account von jemandem gekauft“, antwortete ich. „Vor einer Stunde bin ich mit meinem Schiff hier angekommen. Das Zeug war bereits im Inventar.“

Serge war kein so harter Knochen wie der andere Händler. Er machte zumindest den Eindruck, als ob mir glauben schenkte. „Dann lass mal sehen“, gluckste er.

Auf mein Nicken hin legte Charon alles auf die Theke.

Nach einer sorgfältigen Überprüfung rechnete Serge und bot dann an: „Alles für dreitausend?“

„Cash.“

Er schüttelte den Kopf. „Bares kommt mir nicht in die Tüte. Zu viel Aufwand.“

„Ich kann noch nicht auf das Stationsnetz zugreifen. Mir fehlen die Implantate.“

„Kein Problem.“ Er zeigte auf ein Zahlungsterminal. „Melde dich einfach an und ich transferiere die Summe.“

„Womit wird denn hier gezahlt?“, fragte ich.

„Mikrochips“, antwortete er bereitwillig.

„Was ist so wertvoll daran?“

„Hast du die FAQ noch nicht gelesen?“

„Nein.“

„Mikrochips sind überall. Sie bilden die Grundlage aller Cybersysteme. Es sind auch Fälschungen im Umlauf, aber mit einem speziellen Steckplatz kannst du die leicht erkennen.“

„Und wenn mir jemand tausend davon gibt? Wie lange dauert es, die zu überprüfen?“

Er kicherte leise. Meine Frage entlarvte mich wohl als echten Newbie. „Tausend Chips sind eine Menge. Ich glaube kaum, dass du schon bald so viele zu Gesicht bekommst. Erfahrene Piloten kriegen maximal zehn oder fünfzehn Chips für besonders gefährliche Missionen. Damit lässt sich ein Schiffssystem aufrüsten. Es gibt allerdings auch Neurochips – einer davon ist hundert Mikrochips wert. Die musst du dann natürlich unbedingt mit einem speziellen Gerät auf Echtheit prüfen.“

„Was kostet ein Neurochip?“

„Wenn er leer ist, fünfhundert Credits. Wenn sie beschrieben sind, kommt es auf die Daten an. Ein Chip mit einem Gründer-Programm kann schon mal mehrere zehntausend Credits wert sein.“

„Oha. Ach, ich muss noch meinen Liegeplatz bezahlen. Kann ich das auch hier erledigen?“

Er nickte. „Ich an deiner Stelle würde mir rasch ein paar Implantate einsetzen lassen. Ohne bist du aufgeschmissen. Einsteigerqualität würde reichen, sonst bleibst du ewig ein Shnoob. Keiner wird mit dir handeln. Du bezahlst mehr und bekommst weniger für Beute. Hier zählt vor allem der äußere Eindruck.“ Er rief eine Liste auf. „Hast du drinnen oder draußen angedockt?“

„Keine Ahnung. Woher weiß ich das?“ Ich erkannte immer mehr, wie wenig ich wusste.

„Die äußeren Andockstationen sind am günstigsten.“ Tatsächlich teilte er sein Wissen gern mit mir. „Das ist auch ganz logisch: Etwa ein Drittel der Verteidigungssysteme funktionieren immer noch nicht. Wer steht bei einem Angriff dem Feind zuerst gegenüber? Piloten, die draußen angedockt haben. Sie erreichen die Schiffe und das Kampfgebiet als Erste. Sie haben keine Wahl. Aber wer einen sicheren Innenplatz hat, kann selbst entscheiden, ob oder wann er mitmacht. Da stehen die Chancen nicht schlecht, ein Angebot für die Verteidigung zu erhalten.“

„Klar. Mein Schiff ist auf jeden Fall draußen. Was kostet das für vierundzwanzig Stunden?“

„Hundert Credits. Das ist praktisch geschenkt. Ich zahle die Gebühr gleich von deinem Konto. Wie lange willst du bleiben?“

„Erst mal drei Tage. Dann sehen wir weiter.“

„Mach eine Woche draus. Da gibt es einen Nachlass. Und wenn du Implantate bekommst, dann musst du mit fünf Tagen im Krankenhaus rechnen.“

„OK. Wird die Station oft angegriffen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Eigentlich täglich. Aber meist sind es nur kleine Scharmützel. Schließlich gibt es genug Parteien, die sich gegenseitig das Leben schwer machen: Dargianer, Wearong, Kamresh und die Gesetzlosen. Normalerweise hat der Piloten-Clan die Sache im Griff. Aber wenn dein Liegeplatz im Angriffsbereich liegt, ist alles möglich. Wenn du nicht schnell genug vor Ort bist, nicht startest oder dem Kampf ausweichst, wird dein Schiff eventuell beschlagnahmt oder übernommen. Die Gesetzlosen sind besonders geschickte Hacker. Bevor du es überhaupt gemerkt hast, haben sie dir das Schiff unter dem Hintern weggeklaut.“

Das klang gar nicht gut. „Ui. Was kostet denn ein Innenplatz?“

„Fünfhundert Credits.“

„Ganz schön teuer.“

„Aber sicher.“

„Wer sind diese Gesetzlosen?“

Er schauderte. „Menschen. Abschaum. Einige sind mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Anderen haben defekte Implantate. Viele sind auf Exo.“ Die Furcht in seiner Stimme war unverkennbar. „Sie leben auf Basen im Asteroidengürtel.“

„Gibt es viele heftige Angriffe?“ Das hier war eine Chance, viele Informationen zu erhalten.

„Kommt drauf an. Letzte Woche war ziemlich mies für ein paar Leute. Und vor einem Monat sind Dargianer und Wearong in einem der verlassenen Sektoren gelandet, um an unser Öl zu kommen. Und dann“, senkte er die Stimme, „wurden angeblich ein paar Phantom-Raider gesichtet.“

„Wer ist das?“

„Phantome“, antwortete Serge bedeutungsvoll. „Das Wort sagt alles. Sie erscheinen aus dem Nichts. Einige behaupten, sie kommen aus einem anderen Sternensystem. Aber die Technologen und Techniker schwören Stein und Bein, dass ein Warp-Antrieb nicht gebaut werden kann.“

„Woher kommen sie dann?“

Er hob die Arme. „Das weiß niemand. Wir haben noch keinen von ihnen gefangen. Wenn sie kritischen Schaden erleiden, verschwinden die Schiffe oder die Selbstzerstörung wird gestartet. Im ersten Fall hast du Glück.“

„Warum?“

„Oh, die Sache ist einfach: Wenn ein Raider verschwindet, zählt das für dich als Sieg und du bekommst deine Belohnung. Deine Logs sind der Beweis. Aber wenn sich das Schiff zerstört, dann ist das völlige Vernichtung. Du kannst nur noch hoffen, dass deine Schilde halten. Mit ganz viel Glück erbeutest du ein Fitzelchen des Schiffs. Jedes Teil ist den Clans ein kleines Vermögen wert.“

„Was bekomme ich für einen intakten Phantom-Raider?“

Er blickte mich mit einem verwirrten Lächeln an. „Das ist Science-Fiction.“ Er griff sich meine dargianische Ausrüstung. „Niemand hat jemals ein Phantom geschnappt. Merk dir einfach nur eins: Wenn Großalarm gegeben wird, renn zu deinem Schiff. Wenn du nicht kommst, wirst du enteignet und aus der Station geworfen. Durch die Luftschleuse und ohne Raumanzug, wohlgemerkt. In ein Respawn-Purgatorium im luftleeren Raum!“

„So schlimm?“

„Ja, wenn es um die Phantome geht, verstehen die hier keinen Spaß. Es geht ums nackte Überleben.“ Er drückte ein paar Tasten. „Fertig. Dein Liegeplatz ist für eine Woche bezahlt und du hast noch zweitausenddreihundert Credits auf dem Konto. Du weißt, wo du mich findest, wenn du neue Ausrüstung brauchst.“

„Auf jeden Fall.“

 

* * *

 

Charon und ich verließen den Laden.

Als Nächstes würde ich meinen Respawn-Punkt versetzen lassen.

Noch immer folgten uns feindselige Blicke. Ich hatte bisher keinen weiteren Xenomorph gesehen. So langsam kam mir das komisch vor. Die Passanten starrten Charon mit unverhohlenem Hass an, gefolgt von überraschtem Abscheu mir gegenüber. Den Grund dafür kannte ich nicht. Aber es wäre wohl besser, die Besorgungen schnell zu erledigen und dann eine Unterkunft zu finden. Ich musste das Wiki lesen, eine Sammlung aller Informationen zu diesem Spiel.

Der Platz der Gründer war eher enttäuschend: groß und leer. Ein Kordon aus Androiden wachte über die Respawns. Hin und wieder erklang ein ploppendes Geräusch und ein grüner Lichtblitz spuckte einen wieder aufgetauchten Spieler aus. Sie sahen alle angepisst und verwirrt aus. Kein Wunder, denn sie hatten ja gerade einen virtuellen Tod erlitten.

Die meisten von ihnen waren der Kleidung nach zu urteilen Piloten. Wir sahen uns das Geschehen eine Weile an. In einer Reihe grüner Lichteffekte erschienen einige Mechaniker. Ihrer Unterhaltung war zu entnehmen, dass ein Reparatureinsatz ziemlich aus dem Ruder gelaufen war. Einige schäbigere Gestalten waren wohl das Opfer von Bandenkriegen gewesen. Plötzlich tauchte eine Gruppe von Spielern in voller Rüstung auf. Sie regten sich über ein paar Idioten auf, die ihnen die Beute in einem verlassenen Sektor weggeschnappt hatten.

Aha! Da hatte die Gier nach schnellem Reichtum wohl zu einem Tritt in den Allerwertesten geführt. Kann passieren. Mich beunruhigte ein wenig, dass sie trotz schwerer Rüstung und guter Bewaffnung hier auftauchten. Was wohl in den Untiefen der Station lauerte?

Ich hatte viel gelernt. Zeit, weiterzugehen. Ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten vor Erschöpfung.

Wohin mussten wir denn jetzt? Da entdeckte ich vor dem nächsten Laden eine Gruppe von Werbedrohnen.

Ohne weitere Fragen oder technische Probleme half mir der Händler – offensichtlich ein NPC. Nein, er musste nicht wissen, wo mein alter Respawn-Punkt war. Er konnte ihn auf den Platz der Gründer verlegen, solange ich ihm nur eintausend Credits zahlte. Auch Charon war kein Problem. Er war ein Spieler und technisch stand jedem Spieler dieser Service offen.

Die zweitausend Credits rissen ein gewaltiges Loch in meine Geldbörse, aber das war es wert.

Ich fragte nach einer Unterkunft und erhielt die gewünschte Auskunft umgehend. Das gesamte Handelsdeck war von Wohnmodulen umgeben. Wir konnten also in jede beliebige Richtung gehen.

Trotzdem wirkte die Sache mit dem Respawn-Punkt wie Voodoo auf mich. Der Händler schmierte uns ein silbriges Gel auf den Unterarm und das wars.

„Was ist das?“, fragte ich, auf einen länglichen, silberfarbenen Punkt oberhalb meines Handgelenks deutend.

„Das ist die Markierung. Sie ist in einem Radius von maximal zehn Lichtsekunden rund um die Station aktiv. Alles jenseits davon ist euer Problem.“

Ich stellte mir vor, wie ich mit dem Schiff Millionen von Kilometern weit weg war. Im Falle eines Falles würde ich hier wieder auftauchen. Aber was geschah mit dem Schiff?

Ich fragte den Händler. Er zuckte die Achseln. „Die meisten Piloten sind in Gruppen oder zu zweit unterwegs. So kann einer das Schiff des anderen abschleppen oder darauf aufpassen.“

„Und wenn nicht?“

„Raumfahrzeuge sind nicht unser Ding. Du könntest die Technologen um Rat fragen. Vielleicht haben sie eine Lösung. Oder“, flüsterte er mit zu, „du suchst nach den Gesetzlosen im Asteroidengürtel. Angeblich haben sie das Geheimnis der Phantom-Raider entschlüsselt. Gut möglich, denn wir finden nur wenige ihrer Schiffe verlassen.“

„Ach?“

„Was?“, fragte er nonchalant. „Hab ich was gesagt?“ Er zwinkerte mir verhohlen zu. „Ich bin übrigens immer an seltenen Gegenständen interessiert. Wenn du etwas findest, dann komm einfach vorbei. Du wirst es bestimmt nicht bereuen.“

 

Neue Aufgabe! Ewige Hardware!

Suche nach den Basen der Gesetzlosen und finde mehr über die von ihnen entdeckte uralte Technologie heraus.

 

* * *

 

„Auf jetzt, Charon. Wir müssen los.“

Das war genug Abenteuer für einen Tag. Ich war hundemüde. Hunger oder Durst hatte ich nicht. Anders als Charon, der die ganze Zeit einen Snackautomaten anstarrte. Der Inhalt sah widerlich aus. Wie konnte er darauf Hunger haben?

„Willst du?“

Er nickte, als ob es ein Festmahl gäbe.

Haash – ein Buch mit sieben Siegeln. Ich kaufte ein paar der Nahrungsbeutel.

Er schlang sie samt der Verpackung an Ort und Stelle herunter. Das Mahlen seiner Zähne ließ einige der Androiden herumfahren. Sobald sie sein Sklavenhalsband sahen, verloren sie zum Glück das Interesse an uns.

Er müsste es noch eine Weile tragen. So viel zu meinen Versprechungen. Charon protestierte allerdings nicht. Er folgte mir gehorsam und sanftmütig.

Mir fiel sein Verhalten gegenüber den Mechanikern wieder ein. Er hatte völlig anders gewirkt.

Im Cockpit des Jägers war er ein stolzer, freier und selbstbewusster Pilot. An ihm war wohl ein talentierter Schauspieler verloren gegangen.

Oder er nahm meinen cleveren Plan für bare Münze. Vielleicht dachte er, ich hätte ihn verraten, und ergab sich jetzt in sein Schicksal?

Egal. Wir konnten uns im Hotel aussprechen.

„Also los.“ Ich nahm seine Hand, damit er mir folgte. Die nächste Straße führte vom zentralen Platz zum Rand der Halle.

Eine endlose Aneinanderreihung von Luken mit holografischen Schildern begrüßte uns. Ich warf einen Blick darauf. Nein, ein Kapselhotel wäre nichts für uns.

Wir brauchten etwas, das besser passte. Schließlich fanden wir eine Hologrammanzeige für Gardeans Wohnquartiere.

Die Luke quietschte beim Öffnen. Charon konnte nur gebückt eintreten.

Dahinter ein langer Gang mit identischen, rechteckigen Türen. Am anderen Ende erhellte eine Lampe die Rezeption. Sobald der Mann dort den Haash entdeckte, zog er seine Waffe.

Charons heißer Atem strich über meinen Kopf hinweg. „Halt dich zurück“, warnte ich ihn.

Dann ging ich zur Theke. An Charons kurzen Atemzügen erkannte ich, dass er kampfbereit war.

Erneut ermahnte ich ihn. Dann wandte ich mich lächelnd dem Rezeptionisten zu. „Was kostet die Übernachtung hier?“

„Zwanzig Credits.“

„Steht am Eingang nicht zehn?“

„Du kannst von Glück sagen, wenn ich dich überhaupt beherberge.“ Seine Wange zuckte, während er den Haash beäugte. „Bist du im Exo-Teilegeschäft?“

Ich zuckte die Achseln. Das ging ihn nichts an. „OK. Hier sind hundert“, erledigte ich die Überweisung an einem Zahlungsterminal. Mit einem Grinsen reichte er mir eine Schlüsselkarte.

Die Unterkunft war warm und sauber. Ein weicher Teppich bedeckte den Boden. Der fünfseitige Raum war klein und ähnelte einer Honigwabe. In einer Ecke gab es eine einfache Waschgelegenheit. Jeweils eine Wand boten Platz für ein Klappbett und das Terminal für den Zugriff auf das Stationsnetz.

Die massive Tür schloss sich. Zwei neue Symbole erschienen vor meinem geistigen Auge: Öffnen und Von innen verriegeln.

Ich wählte die zweite Option.

Dann beschäftigte ich mich mit dem Halsband-Controller. Schließlich hatte ich herausgefunden, wie er funktionierte, und nahm Charon das deaktivierte Halsband ab. Endlich!

Er streckte seinen Hals und sah mich misstrauisch an.

„Ich habe doch gesagt, dass es nur ein Trick ist.“

Er starrte mir lange in die Augen. Dann sah ich Verständnis in seinem Blick.

„Es war bestimmt nicht leicht für dich. Und leider wirst du noch ein wenig länger gute Miene zum bösen Spiel machen müssen. Ich muss erst herausfinden, wie ich dich zum normalen Besucher erklären lassen kann. Aber jetzt kannst du dich abmelden. Hast du verstanden? Du hast doch ein Zuhause in der echten Welt, oder?“

Er antwortete nicht.

Na gut. Er würde schon wissen, was ich meinte. Ich konnte ihm seine Entscheidung nicht abnehmen. Aber für mich war es Zeit, mich abzumelden. Ich brauchte eine Mütze Schlaf, was zu essen und eine Dusche. Danach würde ich Arbido ins Gebet nehmen.

„Erledigt.“ Ich klappte das Bett herunter, legte mich hin und schloss die Augen. „Was auch immer du tust, Charon: Verlass den Raum nicht.“

Grün leuchtend lockte die Abmelde-Schaltfläche.

Ich klickte darauf.


Release - 19. April 2021

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