Zum Aussterben verdammt
Der Code
von James D. Prescott
Release - 26. November 2020
Pre-order on Amazon - https://www.amazon.de/dp/B08D8JTGPR
Kapitel 1
Die Halbinsel Yukatan – 8
Kilometer vor der mexikanischen Küste
Der wissenschaftliche Leiter Dr. Jack Greer beobachtete
das Herannahen der Helikopter durch sein leistungsfähiges Fernglas. Es war früh
am Morgen und er stand auf dem oberen Deck der zweckentfremdeten
Ölbohrplattform. Um seine Wangen strich eine warme Golfbrise. Tief atmete er
die salzige Luft ein und spürte, wie sein Pulsschlag sich beschleunigte.
Ein Geophysiker Anfang 40, war Jack mit dichten,
dunklen, welligen Haaren gesegnet – oder man könnte auch sagen verflucht. Zur
Empörung seiner Mutter versteckte er sie oft unter einer schäbigen alten
Baseball-Kappe der Houston Astros.
Rasch kehrte seine Aufmerksamkeit zu den beiden Hubschraubern
zurück. Sie waren etwa 16 Kilometer entfernt und derzeit noch nicht mehr als
zwei weiße Punkte am hellblauen Himmel. Der zweite Helikopter war größer als
der erste, ein Schwerlastflieger mit zwei Rotoren. Unterhalb des Luftfahrzeugs
schwang ein grell orangefarbener Schiffscontainer in der Luft, gesichert durch
vier straffgezogene Seile. Die Ankunft von Rajesh Viswanathan vom MIT, dem Massachusetts
Institute of Technology, stand unmittelbar bevor. Er war das letzte Mitglied
des Teams und bereits eine Woche zu spät dran.
Jack ließ das Fernglas sinken und lauschte den
Geräuschen der Bohrmannschaft, die unter ihm arbeitete. Seit einem Monat waren
sie jetzt hier und bohrten ein tiefes Loch in die Erdkruste. Er und sein Team
waren auf der Suche nach den Überresten von etwas, von dem niemand geglaubt
hatte, dass sie es finden könnten: Von dem Asteroiden, der vor 65 Millionen
Jahren auf der Erde eingeschlagen, die Dinosaurier ausgelöscht und eines der
größten Massenaussterben der Historie herbeigeführt hatte.
Wenigstens war das die Geschichte, an die
Wissenschaftler mit wenigen Ausnahmen lange geglaubt hatten. Die Theorie mit
dem Felsbrocken aus dem Weltall war bei weitem die überzeugendste Hypothese.
Doch eine wachsende Schar an Forschern stellte immer drängender die Frage, ob
nicht stattdessen eine erhöhte vulkanische Aktivität die Schuld trug. Das Ziel
des Teams war denkbar einfach. Durch eine sorgfältige Studie der
Kalksteinablagerungen um die Einschlagstelle herum ebenso wie der Überreste des
Meteoriten selbst hoffte Jack, dieser Debatte ein für alle Male ein Ende
bereiten zu können.
Doch die notwendigen Forschungsstipendien zu
besorgen, um sich auf eine solch kühne Expedition begeben zu können, hatte sich
als weit schwieriger herausgestellt, als er sich jemals hatte vorstellen
können. Das größte Hindernis war, dass man sich schlichtweg über ihn lustig
machte. Der Kernpunkt des Problems bestand darin: Wenn ein Brocken Eisen, Fels
oder Eis auf der Erde einschlug, verdampfte er zum größten Teil sofort. Etwaige
Überreste wurden in die Atmosphäre geschleudert und verteilten sich über den
gesamten Planeten.
Das spöttische Gelächter verstummte schlagartig,
als Jacks seismische Untersuchungen 500 Meter unter der Erdoberfläche eine
gewaltige magnetische Anomalie entdeckten. Es spielte keine Rolle, dass die
Daten über den Meteoriten selbst recht vage waren – die tatsächlichen
Messergebnisse enthüllten einen dunklen Fleck inmitten eines Meers aus
horizontalen Wellen.
Ob unscharf oder nicht – das reichte aus, um das
Interesse von DiCore zu wecken, einem der größten Bergbaubetriebe der Welt. Für
dieses Unternehmen deuteten die anfänglichen Ergebnisse auf die mögliche Anwesenheit
von Diamanten hin, und zwar von einer ganzen Menge an Diamanten. In den
siebziger Jahren hatte man in Sibirien am Krater des Popigai eine ähnliche
Entdeckung gemacht.
Von der praktischen Seite her betrachtet,
bedeutete die Finanzierung durch DiCore, dass sich dieses Forschungsprojekt,
dem Stipendien der US Geological Survey allenfalls eine Dauer von etwa zwei
Wochen ermöglicht hätten, nun über viele Monate erstrecken konnte. Die
Bedingungen, die DiCore aufgestellt hatte, waren zu erwarten gewesen. Sobald
die Wissenschaftler die Untersuchung der Überreste des Meteoriten abgeschlossen
hatten, durfte DiCore sich der Bohrung bemächtigen und etwa vorhandene
Diamanten extrahieren.
Jack dachte noch immer über das Projekt nach,
als Gabby Bishop aus dem Aufbau der Plattform trat und sich Jack näherte, die
Frau, die mit ihm gemeinsam die Expedition leitete. Sie war eine Astronomin,
vor allem aber war sie eine langjährige Freundin. Etwa zehn Jahre älter als
Jack, hatte Gabby schulterlange, silbergraue Haare und ein angenehmes, rundes
Gesicht. Sie war auch die Erste gewesen, die gegen ihr wechselseitiges
Versprechen verstoßen hatte, das Rauchen aufzugeben. Wie um diesen Punkt zu
unterstreichen, holte Gabby eine Packung Marlboro Light aus der Tasche. Sie
wollte ihm gerade eine anbieten, hielt jedoch abrupt inne.
„Tut mir leid“, sagte sie und zündete sich eine
Zigarette an. „Ich habe ganz vergessen, dass du noch immer fest entschlossen
bist, Nichtraucher zu werden.“
Jack warf ihr einen Blick zu und zog am Schirm
seiner Kappe. „Ich versuche, ein guter Junge zu sein. Dein Rauchen macht mir
das nicht unbedingt einfacher.“
„Bemerke ich da etwa einen Riss in der
berüchtigten Willensstärke von Jack Greer?“, spottete sie. „Vielleicht solltest
du aufhören, dich gegen das Unvermeidliche zu wehren.“
Er grinste. „Momentan würde es mir schon
reichen, wenn du mir ein wenig Rauch ins Gesicht bläst.“
Sie lachten beide, jedoch etwas bedrückt.
Die Helikopter waren nur noch etwa einen
Kilometer entfernt.
Gabby schüttelte den Kopf und konnte ihre eigene
tiefe Besorgnis nicht länger verbergen. „Bestimmt haben bürokratische Verwicklungen
sie aufgehalten“, bemerkte sie. „Ich bin sicher, das ist der Grund, weshalb sie
nicht angerufen haben.“ Sie suchte Jacks Blick. „Du weißt schon, angesichts der
Situation hier.“
Die Situation, die Gabby angesprochen hatte,
ließ sich am besten als Murphys Gesetz in Aktion beschreiben. Im letzten Monat,
sie hatten die Bohrplattform gerade erst an den Zielort geschleppt, hatten die
politischen Spannungen im Golf von Mexiko ungeahnte Höhen erreicht. Die kürzliche
Entscheidung, die geplante Wiedereröffnung der Beziehungen zu Kuba erst einmal auf
Eis zu legen, hatte sofort zur Wiederaufnahme von Sanktionen geführt. Die
Kubaner hatten, wenig überraschend, Vergeltung geübt. Sie hatten Bagger
eingesetzt, um entlang der Meeresgrenzen künstliche Inseln zu schaffen. Das war
ein Trick, den sie ohne Frage von China gelernt hatten, und mit dem sie
zweifellos die ausschließliche Wirtschaftszone von Kuba erweitern wollten.
Nicht klar war, ob dieser Schachzug auch dazu gedacht war, die Position am
Verhandlungstisch zu stärken. Was allerdings klar war, das war das
Ergebnis – beide Länder erhöhten die militärische Präsenz in der Region.
Solange Mexiko neutral blieb, galt die Lizenz weiter, die die Regierung der
Expedition gewährt hatte. Doch Jack wagte nicht einmal, sich vorzustellen, was
geschehen würde, wenn die Situation weiter eskalierte.
Das Funkgerät an Jacks Gürtel erwachte mit einem
statischen Knistern zum Leben.
„Chef, Billy hier. Wir sind gerade auf eine
wirklich harte Schicht gestoßen, weit härter als Granit. Ich muss den Bohrer
hochziehen und den Hartmetallschneider auswechseln.“
Billy Brenner war ihr leitender Bohringenieur,
der sich manchmal als recht ungestüm erwies.
Jacks Bauchgefühl sagte ihm, sie waren dem Ziel
nahe. Als der Meteorit zuerst auf die Erdkruste getroffen war, hatte er einen
enormen Tsunami ausgelöst, der am Ende Sandschichten über der Stelle aufgehäuft
hatte. Die größten Stücke hatten sich zuerst am Boden abgesetzt, gefolgt von
immer kleineren. Das Ergebnis waren Felsschichten von zunehmender Dichte.
Daraus wiederum folgte: Je härter die Schicht, desto näher waren sie dem Kern.
„Nenn mir zuerst den Tiefenmesswert“, beharrte
Jack.
Es trat eine kurze Pause ein, während der Billy
die digitale Angabe auf der Kontrolltafel der Maschine überprüfte. „1.452 Fuß.“
Der Meteorit befand sich in einer Tiefe von etwa
1.500 Fuß.
„Du musst durchstoßen!“, drängte Jack. Er rieb
seine Fingerspitzen gegeneinander. Das tat er immer, wenn sich in seinem Magen
nervöse Energie aufbaute.
Es ließ sich nicht überhören, wie zögerlich Billy
antwortete. Natürlich setzte Jacks Befehl die Maschine, die Billy bewachte wie
einen Augapfel, einer gewissen Gefahr aus. Doch hinter Billys Reaktion steckte
mehr, und Jack wusste das. So unterwürfig Billys Meldung auch geklungen hatte –
er hatte Jack nicht nach seiner Meinung gefragt. Stattdessen hatte er ihm
mitgeteilt, was er tun würde, oder dies wenigstens versucht. Jack wiederholte
den Befehl und hing sich das Funkgerät wieder an den Gürtel. Mit Billy und
seinen Launen würde er sich später befassen.
Gabby runzelte die Stirn. Die Zigarette entglitt
ihren Fingern. Jack sah zu, wie der Wind sie ergriff und sie in endlosen
Kreisen herumwarf, während sie zum kristallklaren Wasser unter ihnen
hinabglitt. Die zurückhaltende Klugheit, die sie mitbrachte, diente oft als
positives Gegengewicht zu Jacks Begierde, enorme Risiken einzugehen.
„Dir ist doch klar, wenn Billy diesen Bohrer
verliert, sind wir womöglich am Ende“, mahnte sie in einem Tonfall, den Jack
sich nur von wenigen Menschen gefallen ließ.
Die Helikopter befanden sich jetzt direkt über ihnen. Ihre wirbelnden
Propellerflügel verursachten einen starken Wind und einen noch stärkeren Lärm.
Jack hielt die Baseball-Kappe auf seinem Kopf fest. Er beugte sich vor. „Wir
können nicht aufhören – nicht jetzt, wo wir dem Ziel so nahe sind!“
Kapitel 2
Der größere der Helikopter senkte den
Schiffscontainer aufs Deck hinab, der andere landete geschickt auf dem
Landeplatz. Die Tür des Hubschraubers öffnete sich und heraus kletterte ein
fülliger Inder mit einer runden Brille. Er stolperte, als er die Plattform
betrat, fing sich jedoch rasch wieder. In seinem enganliegenden, dunkelroten
Hemd mit Kragen und seiner weißen Hose wirkte er ebenso fehl am Platz wie unbehaglich.
„Willkommen an Bord!“, rief Jack laut, um gegen
den Lärm der Rotorflügel anzukommen.
„Ich bin Rajesh“, sagte der Mann und schob den
Rucksack auf die andere Schulter Zu ihm gesellten sich ein junger Mann und eine
zierliche Asiatin. Er stellte sie als Adam und Leah vor. Sie sahen aus wie
Studenten.
Die Helikopter hoben ab, und bald waren wieder
der Lärm des Bohrers und das Kreischen der Seemöwen zu hören, die über ihnen
flogen.
„Sie sind eine Woche zu spät dran“, tadelte Jack
den Inder, drehte sich um und marschierte den Gehweg entlang. Rajesh folgte
ihm, hatte jedoch Mühe, Schritt zu halten. Seine Knie, weich wie Gummi,
erschwerten ihm ohne Frage die Fortbewegung.
„Ich möchte mich aufrichtig entschuldigen, Dr.
Greer“, stammelte Rajesh und blickte hilfesuchend Gabby an. „Wir waren zum
Aufbruch bereit, aber die Regierung wollte uns die Reise durch eine mögliche
Konfliktzone nicht gestatten.“ Sein Hemd klebte ihm an der nassen Haut.
Jack blieb stehen und fuhr herum. „Das verstehe
ich, und Sie haben mein Mitgefühl. Aber Sie haben nicht einmal angerufen, um
uns darüber zu informieren, dass Sie aufgehalten wurden! Sie dürfen das als
erste und zweite Warnung betrachten.“
„Zweite Warnung …“ Rajesh wiederholte die Worte,
als würde er ein unbekanntes Artefakt untersuchen. „Und was passiert bei der
dritten Warnung? Ich will wirklich nicht widerspenstig erscheinen, aber ich
weiß gern vorher über die Regeln Bescheid.“
„Bei der dritten Warnung sitzen Sie und Ihr
Gefolge aus Studenten wieder in einem Hubschrauber, auf dem Weg nach Hause.“
Rajesh verzog das Gesicht. „Ich kann Ihnen
garantieren, es wird keine dritte Warnung geben.“
Unwillkürlich musste Jack grinsen. Verspätung
hin oder her – irgendetwas gefiel ihm an dem Kerl. „Schauen Sie, wir sind alle
froh, dass Sie endlich eingetroffen sind. Wenigstens können wir jetzt zu Ende
bringen, was wir angefangen haben.“
Gabby übernahm das Reden und erklärte den Aufbau
der Bohrplattform. Dabei zeigte sie auf die verschiedenen Teile.
Die Bohrinsel verfügte über viele Namen. Conoco
Phillips hatte sie TOR getauft. Die Wissenschaftler, Ingenieure und
Deckmannschaft allerdings nannten sie POS – als Abkürzung für „Piece of Shit“.
Während der Monate, bevor die Expedition
aufgebrochen war, hatte man die meisten der überflüssigen Module entfernt.
Verblieben war der Bohrbereich, ebenso wie ein zehnstöckiger Aufbau mit
Unterkünften, Besprechungsräumen, einer Kantine und mehreren anheimelnden
Orten, wo das Personal nach der Arbeit entspannen konnte.
Einen Teil des offenen Decks bezeichnete man
liebevoll als „Fifth Avenue“ Hier waren die Schiffscontainer, die als Labors
dienten, in zwei ordentlichen Reihen angeordnet und bildeten eine Art Straße.
Ganz am Ende der Reihe stand nun Rajeshs orangefarbener Container.
In diesem Augenblick meldete sich Jacks
Funkgerät.
„Was ist?“, fragte er und ging mit raschen
Schritten auf den Aufbau zu. Unter ihnen wedelte Billy aufgeregt mit den Armen,
wie ein verzweifelter Fußgänger, der versuchte, einen Polizeiwagen anzuhalten.
Jack sah ihn und stoppte abrupt.
„Ich bin mir nicht sicher“, antwortete Billy.
„Ich glaube, wir sind auf eine Art Luftblase gestoßen.“
Das Grinsen, das sich in Jacks Gesicht
ausbreitete, sagte alles: Sie waren durchgebrochen!
Kapitel 3
Ein Strahl Sonnenlicht schien durch die
Bullaugen und erleuchtete den normalerweise dunklen, schäbigen Konferenzraum.
Die Dekoration bestand vorwiegend aus nachgemachtem Holz, ehemals so unerlässlich
für alle Keller in den achtziger und frühen neunziger Jahren, lange bevor man
dazugelernt hatte. Die Fliesendecke war abgehängt und mit Reihen von
Neonlichtern versehen. Es war die Art, die alle ein wenig aussehen ließ, als
hätten sie die Gelbsucht. An Haken an der Wand hingen Schutzhelme, und daneben
waren ein Flachbildschirm mit einer Diagonale von 127 Zentimetern und eine
Weißtafel angebracht.
Dort stand nun Jack und betrachtete das gesamte
Team, das sich versammelt hatte. „Was haltet ihr davon – am besten stellen wir
uns alle erst einmal vor. Ich bin mir sicher, unsere Neuankömmlinge hatten noch
nicht die Gelegenheit, die anderen kennenzulernen.“
Dr. Grant Holland lächelte und winkte Rajesh und
seinen Studenten zu. Groß und schlaksig, ging Grant mit seinen rosigen Wangen
und leicht ausgedünnten Haaren auf die 60 zu. Er selbst betrachtete sich als
Wissenschaftler. Einige seiner Theorien über morphogenetische Felder und die
Kommunikationen zwischen verschiedenen Spezies waren allerdings ziemlich weit
hergeholt. „Man könnte sagen, ich bin der Biologe an Bord. Geboren wurde ich in
Bath, England. Ich habe am Imperial College London studiert. Meine Funktion
besteht darin zu untersuchen, wie das Leben nach dem Asteroideneinschlag
langsam wieder auf den Planeten zurückkehrte. Wäre ich jemand, der gern Wetten
abschließt – was ich nicht bin –, würde ich jetzt einmal behaupten, die Rolle,
die die Vulkane beim Massenaussterben gespielt haben, wurde bisher massiv
übersehen.“
Als nächstes war Dr. Dag Gustavsson an der
Reihe. Ein Schwede mit kantigem Kinn, einem dichten roten Bart und einem
durchdringenden Blick, hätte er ohne weiteres einen Wikinger abgeben können –
wären da nicht sein Batik-T-Shirt und seine Birkenstock-Sandalen gewesen. Er
legte die Hände zusammen und machte eine leichte Verbeugung. „Freut mich sehr,
Sie kennenzulernen. Ich bin ein ausgebildeter Paläontologe. Für diese Mission
habe ich allerdings den inneren Zoologen hervorgeholt. Ich zeichne die
Entwicklung der Säugetiere nach der Katastrophe auf.“
Billy Brenner trommelte nervös mit den Fingern
auf dem Tisch. Er fühlte sich sichtlich unbehaglich. Auf eine gewisse,
ungepflegte Weise sah er nicht schlecht aus. Seine Wangen zeigten Pockennarben,
die Überreste eines besonders starken Akne-Anfalls in seiner Jugend. Es war nur
eine der vielen Schwierigkeiten, mit denen er als Heranwachsender zu kämpfen
gehabt hatte. „Ich leite den Bohrbetrieb für Suntech. Bin schon seit zehn
Jahren bei dem Unternehmen. Bevor der Wirbelsturm Katrina dem ein Ende gesetzt
hat, habe ich meinem Vater beim Krabbenfischen geholfen.“ Seine Augenbrauen
zuckten in die Höhe, wie um zu unterstreichen, dass dies alles längst hinter
ihm lag. Doch jeder, der ihn beobachtete, wusste genau, das stimmte nicht.
„Jetzt seid ihr drei an der Reihe“, bemerkte
Jack.
Adam und Leah winkten den anderen zu und
erklärten, dass sie beide Doktoranden vom MIT waren, die im Bereich der
künstlichen Intelligenz arbeiteten.
Im Raum wurde es still.
Rajesh hatte sich entschlossen, kein Wort über
seine Kindheit in Kalkutta und den Umzug nach Amerika als Teenager zu
verlieren. Stattdessen zog er mit einem Ruck ein Tuch von einem nahezu einen
Meter hohen Objekt, das auf dem Tisch neben ihm stand.
„Es ist mir ein Vergnügen, Ihnen allen A.N.N.A.
vorzustellen zu können“, verkündete er.
Vor ihnen stand der Oberkörper von etwas, das
wie ein Roboter aussah. Ein Glasschirm in der zierlichen Form des Gesichts
einer Frau zeigte das Bild eines echten Menschen. Zwei mechanische Arme
entfalteten sich, und der Roboter winkte der Gruppe zu.
„Oh Mann, das ist geil!“, kreischte Dag und
beugte sich vor.
Billy Brenner wirkte wie betäubt, vielleicht
sogar ein wenig ängstlich.
Jack war sich nicht sicher, was er davon halten
sollte. Gabby hatte ihm berichtet, Rajesh würde eine hochentwickelte
Computerausrüstung mitbringen, doch das hatte er nicht erwartet.
„Sie heißt Anna?“, erkundigte sich Grant.
„Es ist die Abkürzung für ‚Artificial Neuron
Network Algorithm‘, Algorithmus für künstliche neuronale Netze“, erklärte
Rajesh. „Um ihre Gesichtszüge und die verschiedenen Formen des Ausdrucks
nachzubilden, haben wir Mesh-Mapping und Projektions-Kopftechnologie
eingesetzt.“
Anna lächelte. Obwohl dieses Lächeln nicht mehr
war als ein Video, das gegen die Innenseite ihres Glasgesichts projiziert
wurde, besaß es doch, wenn man so wollte, eine gewisse Wärme.
Rajesh klopfte dem Roboter auf die Schulter.
Annas Augen wanderten herab zu seiner Hand. „Wir tendieren dazu, den Roboter
selbst als künstliche Intelligenz, als KI zu betrachten. Doch in Wirklichkeit
ist er nichts anderes als eine Hülle. Die wahre KI ist die Programmierung, die
innerhalb des Roboters abläuft. Aber nicht jede KI gleicht der anderen. Ob es
darum geht, ein Schachturnier zu gewinnen, eine Spielshow zu beherrschen oder
Daten zu verwenden, um gezielte Werbung anzuzeigen – das sind alles Dinge, die
wir ANI nennen, oder Artificial Narrow Intelligence, beschränkte künstliche
Intelligenz. Das ist eine KI, die sich auf einen bestimmten Bereich
spezialisiert hat.“
„Der heilige Gral für die meisten Entwickler“,
fuhr Rajesh fort, „ist AGI oder Artificial General Intelligence, allgemeine
künstliche Intelligenz. Dabei versucht das Design, eine menschliche Intelligenz
zu simulieren. Aber ob es sich um Universitäten handelt oder große Unternehmen
mit unbeschränkten Forschungsmitteln – selbst die besten Ergebnisse bewegen
sich derzeit lediglich auf dem Intelligenzniveau einer Hauskatze.“
„Worin unterscheidet Anna sich von diesen Ergebnissen?“,
wollte Jack wissen.
Rajesh nickte Jack zu. „Geistig ist Anna weit
von einem Haustier entfernt und eher mit einem zehnjährigen Kind zu
vergleichen. Sie besitzt sogar eine rudimentäre Vorstellungskraft. Was ihr
fehlt, ist allerdings das, was auch den meisten Kindern fehlt – Weisheit und
Erfahrung.“
„Wie kommt es, dass sie so viel weiter
fortgeschritten ist als andere künstliche Intelligenzen?“, überlegte Gabby.
„Die meisten Teams, die an KI arbeiten,
versuchen, den menschlichen Verstand nachzubauen, mit dem Ziel, ein digitales
Duplikat zu erschaffen. Es wird viele Jahre dauern, bis wir soweit sind. Lassen
sie mich Ihnen eine Frage stellen. Würden wir heute über Düsenflugzeuge
verfügen, wenn man in der Luftfahrt nichts anderes versucht hätte, als Vögel
nachzuahmen? Wir haben die Studien unserer Kollegen untersucht und beschlossen,
dass es weit besser ist, die Schwerarbeit Anna zu überlassen. Sie ist
diejenige, die die Forschung im Bereich KI betrieben hat. Sie verbessert und
verfeinert ihre eigene Architektur konstant selbst, und zwar in exponentieller
Geschwindigkeit. Kurz gefasst, bringt sie sich selbst bei, klüger zu werden.“
„Tut mir leid, aber das ist einfach nicht normal
und nicht natürlich“, meldete sich Billy zu Wort. „Ich meine, wo soll das denn
am Ende hinführen?“
Annas Kopf drehte sich in Billys Richtung. Ihr
digitaler Gesichtsausdruck war kalt und humorlos. „Es wird zu meiner Allmacht
führen und zur Versklavung der Menschheit.“
Es war, als stockte die Luft im Raum.
Kurz darauf brach Rajesh in Lachen aus und
schlug mit seiner fleischigen Hand auf den Tisch. Anna schloss sich ihm mit
einer Bewegung ihrer Roboterhand an.
„Oh, der Ausdruck auf euren Gesichtern!“,
keuchte Rajesh, sein eigenes eine Maske aus Schmerz und Vergnügen gleichermaßen.
„Unbezahlbar, absolut unbezahlbar!“
Jack konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
„Sie besitzt einen scharfen Verstand, das muss ich ihr lassen. Ich hatte schon
befürchtet, ihre Fähigkeiten würden sich darauf beschränken, Pizza zu
bestellen.“
Anna wandte sich Jack zu und grinste. „Ich kann
Ihnen versichern, Dr. Greer, dass ich zu weit mehr in der Lage bin.“
„Anna fehlt jedoch eine entscheidende Zutat“,
musste Rajesh zugeben. „Etwas, das allen Menschen über den gesamten Globus
hinweg gemeinsam ist.“
„Beine!“, rief Dag aufgeregt und betrachtete
Annas Torso.
Grant betrachtete den Roboter nachdenklich. „Ich
muss sagen, aus irgendeinem Grund ist mir der Gedanke an Religion gekommen“,
bemerkte er.
Rajesh schüttelte den Kopf. „Nein, aber Sie
liegen mit Ihrer Vermutung gar nicht so weit vom Schuss, Professor. Was Anna
fehlt, das ist der bewusste Wunsch, etwas nach ihrem eigenen Abbild zu
erstellen. Im Endeffekt fehlt ihr Drang, sich aus einem geschaffenen Werk zu
einem Schöpfer weiterzuentwickeln.“
•••
Kurz darauf war die Besprechung beendet und der
Bohrer lief wieder. Die meisten Mitglieder des Teams saßen im Kontrollraum und
betrachteten mit spürbarer, erwartungsvoller Aufregung eine digitale
Darstellung. Jack und Gabby hielten den Atem an, als die Bohrspitze sich auf
dem geografischen Bildschirm mehr und mehr der amorphen Form näherte. Irgendwo
im Hinterkopf registrierte Jack, trotz seiner angespannten Nerven, und trotz
des schrillen Surrens des Bohrers, das Dröhnen eines nahen Flugzeugs. Es war nicht
laut genug, seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu wecken, aber es war da, wie das
lästige Summen einer Fliege.
Das nächste Geräusch, das Jack vernahm, war das
laute Kreischen von Metall, als der Bohrer sich festfraß. Jacks Herz erstarrte
in seiner Brust. In was auch immer die Bohrspitze sich da gerade hineingegraben
hatte – es hatte mit dem Wolframkarbid das angestellt, was ein Panzer mit einem
hölzernen Speer anstellen würde – mit anderen Worten, es hatte es
zerschmettert. Innerhalb weniger Sekunden rauschte die entstandene Druckwelle
im Rohr nach oben bis ins Bohrgehäuse. Eine enorme Flamme stieg mehr als drei
Meter in die Luft. Billy und sein Team rannten davon, um Deckung zu suchen.
Doch das Kreischen von misshandeltem Metall hielt an. Die Ingenieure waren
geflohen, ohne die Ausrüstung abzuschalten. Jack griff sich einen Schutzhelm
und lief in Richtung des Bohrers.
Noch
bevor er drei Schritte getan hatte, begann die Plattform zu beben. Seine Ohren
füllten sich mit einem elektrischen Summen. Jack musste um jeden weiteren
Schritt kämpfen. Es war, als würde er auf dem Meeresboden waten. Eine mächtige
Kraft zog ihn nach unten. Etwas Ähnliches hat er vor Jahren gespürt, als
Passagier in einem Flugzeug, das Loopings drehte. Die Erdanziehungskraft zog
ihn zum Gitterrost. Auch das Wasser unter ihm wölbte sich nach innen. Jack sah
gerade rechtzeitig auf, um zu beobachten, wie das Flugzeug, das er vorhin
gehört hatte, ins Meer stürzte. Rohrstücke mit einer Länge von drei Metern
brachen aus ihren Verankerungen und stürzten hinab auf das Metallgitter neben
ihm, ohne sich dabei zu überschlagen und ohne nach dem Auftreffen auch nur
einen Zentimeter weiter zu rollen. Es war, als ob ein riesiger Magnet alles an
sich zöge. Dann, auf einmal, ließ er los. Das Meer, befreit aus dem Griff der
Anziehungskraft, erhob sich und spritzte über das Deck. Aber noch war es nicht
vorbei. Eine Salve gleißendes weißes Licht traf alles, wie eine Million
Glühlampen, die gleichzeitig aufleuchteten.
Jack rieb sich die Sterne aus den Augen und
richtete sich auf.
Was zum Teufel war da gerade passiert?
Noch immer drehte sich der Bohrer. Mit wenigen
Schritten erreichte er das Gehäuse und drückte den Schalter für die
Notfallabschaltung. Nachdem diese Gefahr beseitigt war, begann Jack sofort mit
der Umsetzung des Sicherheitsprotokolls, um zu überprüfen, ob alle anwesend und
unverletzt waren.
Das Flugzeug, dessen Absturz er gesehen hatte,
war nicht mehr als zwei oder drei Kilometer von der Plattform im Meer gelandet.
Noch immer sah Jack Lichtblitze vor den Augen. Er rief drei Deckarbeiter zu
sich und führte sie zum Zodiac-Schlauchboot mit festem Rumpf, dem größten
Rettungsboot der Bohrinsel. Das Versorgungsschiff sollte erst in zwei Tagen
zurückkehren. Das bedeutete, dass neben ein paar kleineren Rettungsbooten das
Zodiac alles war, das sie für eine Rettung der Flugzeugpassagiere einsetzen
konnten.
Furcht kribbelte schmerzhaft an jedem seiner
Nervenenden, als Jack sich zusammen mit den Deckarbeitern auf die Suche nach
Überlebenden machte. Doch in die panischen Gedanken, die in seinem Kopf
wirbelten, drängten sich immer stärker neue und beunruhigende Fragen über den
Meteoriten. Was auch immer dort unten im Meer lag – es verfügte über Kräfte,
wie man sie auf der Welt bisher noch nie erlebt hatte.
No comments :
Post a Comment