Tuesday, July 21, 2020

Zum Aussterben verdammt von James D. Prescott


Zum Aussterben verdammt
Der Code
von James D. Prescott




Release - 26. November 2020
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Kapitel 1


Die Halbinsel Yukatan – 8 Kilometer vor der mexikanischen Küste
Der wissenschaftliche Leiter Dr. Jack Greer beobachtete das Herannahen der Helikopter durch sein leistungsfähiges Fernglas. Es war früh am Morgen und er stand auf dem oberen Deck der zweckentfremdeten Ölbohrplattform. Um seine Wangen strich eine warme Golfbrise. Tief atmete er die salzige Luft ein und spürte, wie sein Pulsschlag sich beschleunigte.
Ein Geophysiker Anfang 40, war Jack mit dichten, dunklen, welligen Haaren gesegnet – oder man könnte auch sagen verflucht. Zur Empörung seiner Mutter versteckte er sie oft unter einer schäbigen alten Baseball-Kappe der Houston Astros.


Rasch kehrte seine Aufmerksamkeit zu den beiden Hubschraubern zurück. Sie waren etwa 16 Kilometer entfernt und derzeit noch nicht mehr als zwei weiße Punkte am hellblauen Himmel. Der zweite Helikopter war größer als der erste, ein Schwerlastflieger mit zwei Rotoren. Unterhalb des Luftfahrzeugs schwang ein grell orangefarbener Schiffscontainer in der Luft, gesichert durch vier straffgezogene Seile. Die Ankunft von Rajesh Viswanathan vom MIT, dem Massachusetts Institute of Technology, stand unmittelbar bevor. Er war das letzte Mitglied des Teams und bereits eine Woche zu spät dran.
Jack ließ das Fernglas sinken und lauschte den Geräuschen der Bohrmannschaft, die unter ihm arbeitete. Seit einem Monat waren sie jetzt hier und bohrten ein tiefes Loch in die Erdkruste. Er und sein Team waren auf der Suche nach den Überresten von etwas, von dem niemand geglaubt hatte, dass sie es finden könnten: Von dem Asteroiden, der vor 65 Millionen Jahren auf der Erde eingeschlagen, die Dinosaurier ausgelöscht und eines der größten Massenaussterben der Historie herbeigeführt hatte.
Wenigstens war das die Geschichte, an die Wissenschaftler mit wenigen Ausnahmen lange geglaubt hatten. Die Theorie mit dem Felsbrocken aus dem Weltall war bei weitem die überzeugendste Hypothese. Doch eine wachsende Schar an Forschern stellte immer drängender die Frage, ob nicht stattdessen eine erhöhte vulkanische Aktivität die Schuld trug. Das Ziel des Teams war denkbar einfach. Durch eine sorgfältige Studie der Kalksteinablagerungen um die Einschlagstelle herum ebenso wie der Überreste des Meteoriten selbst hoffte Jack, dieser Debatte ein für alle Male ein Ende bereiten zu können.
Doch die notwendigen Forschungsstipendien zu besorgen, um sich auf eine solch kühne Expedition begeben zu können, hatte sich als weit schwieriger herausgestellt, als er sich jemals hatte vorstellen können. Das größte Hindernis war, dass man sich schlichtweg über ihn lustig machte. Der Kernpunkt des Problems bestand darin: Wenn ein Brocken Eisen, Fels oder Eis auf der Erde einschlug, verdampfte er zum größten Teil sofort. Etwaige Überreste wurden in die Atmosphäre geschleudert und verteilten sich über den gesamten Planeten.
Das spöttische Gelächter verstummte schlagartig, als Jacks seismische Untersuchungen 500 Meter unter der Erdoberfläche eine gewaltige magnetische Anomalie entdeckten. Es spielte keine Rolle, dass die Daten über den Meteoriten selbst recht vage waren – die tatsächlichen Messergebnisse enthüllten einen dunklen Fleck inmitten eines Meers aus horizontalen Wellen.
Ob unscharf oder nicht – das reichte aus, um das Interesse von DiCore zu wecken, einem der größten Bergbaubetriebe der Welt. Für dieses Unternehmen deuteten die anfänglichen Ergebnisse auf die mögliche Anwesenheit von Diamanten hin, und zwar von einer ganzen Menge an Diamanten. In den siebziger Jahren hatte man in Sibirien am Krater des Popigai eine ähnliche Entdeckung gemacht.
Von der praktischen Seite her betrachtet, bedeutete die Finanzierung durch DiCore, dass sich dieses Forschungsprojekt, dem Stipendien der US Geological Survey allenfalls eine Dauer von etwa zwei Wochen ermöglicht hätten, nun über viele Monate erstrecken konnte. Die Bedingungen, die DiCore aufgestellt hatte, waren zu erwarten gewesen. Sobald die Wissenschaftler die Untersuchung der Überreste des Meteoriten abgeschlossen hatten, durfte DiCore sich der Bohrung bemächtigen und etwa vorhandene Diamanten extrahieren.
Jack dachte noch immer über das Projekt nach, als Gabby Bishop aus dem Aufbau der Plattform trat und sich Jack näherte, die Frau, die mit ihm gemeinsam die Expedition leitete. Sie war eine Astronomin, vor allem aber war sie eine langjährige Freundin. Etwa zehn Jahre älter als Jack, hatte Gabby schulterlange, silbergraue Haare und ein angenehmes, rundes Gesicht. Sie war auch die Erste gewesen, die gegen ihr wechselseitiges Versprechen verstoßen hatte, das Rauchen aufzugeben. Wie um diesen Punkt zu unterstreichen, holte Gabby eine Packung Marlboro Light aus der Tasche. Sie wollte ihm gerade eine anbieten, hielt jedoch abrupt inne.
„Tut mir leid“, sagte sie und zündete sich eine Zigarette an. „Ich habe ganz vergessen, dass du noch immer fest entschlossen bist, Nichtraucher zu werden.“
Jack warf ihr einen Blick zu und zog am Schirm seiner Kappe. „Ich versuche, ein guter Junge zu sein. Dein Rauchen macht mir das nicht unbedingt einfacher.“
„Bemerke ich da etwa einen Riss in der berüchtigten Willensstärke von Jack Greer?“, spottete sie. „Vielleicht solltest du aufhören, dich gegen das Unvermeidliche zu wehren.“
Er grinste. „Momentan würde es mir schon reichen, wenn du mir ein wenig Rauch ins Gesicht bläst.“
Sie lachten beide, jedoch etwas bedrückt.
Die Helikopter waren nur noch etwa einen Kilometer entfernt.
Gabby schüttelte den Kopf und konnte ihre eigene tiefe Besorgnis nicht länger verbergen. „Bestimmt haben bürokratische Verwicklungen sie aufgehalten“, bemerkte sie. „Ich bin sicher, das ist der Grund, weshalb sie nicht angerufen haben.“ Sie suchte Jacks Blick. „Du weißt schon, angesichts der Situation hier.“
Die Situation, die Gabby angesprochen hatte, ließ sich am besten als Murphys Gesetz in Aktion beschreiben. Im letzten Monat, sie hatten die Bohrplattform gerade erst an den Zielort geschleppt, hatten die politischen Spannungen im Golf von Mexiko ungeahnte Höhen erreicht. Die kürzliche Entscheidung, die geplante Wiedereröffnung der Beziehungen zu Kuba erst einmal auf Eis zu legen, hatte sofort zur Wiederaufnahme von Sanktionen geführt. Die Kubaner hatten, wenig überraschend, Vergeltung geübt. Sie hatten Bagger eingesetzt, um entlang der Meeresgrenzen künstliche Inseln zu schaffen. Das war ein Trick, den sie ohne Frage von China gelernt hatten, und mit dem sie zweifellos die ausschließliche Wirtschaftszone von Kuba erweitern wollten. Nicht klar war, ob dieser Schachzug auch dazu gedacht war, die Position am Verhandlungstisch zu stärken. Was allerdings klar war, das war das Ergebnis – beide Länder erhöhten die militärische Präsenz in der Region. Solange Mexiko neutral blieb, galt die Lizenz weiter, die die Regierung der Expedition gewährt hatte. Doch Jack wagte nicht einmal, sich vorzustellen, was geschehen würde, wenn die Situation weiter eskalierte.
Das Funkgerät an Jacks Gürtel erwachte mit einem statischen Knistern zum Leben.
„Chef, Billy hier. Wir sind gerade auf eine wirklich harte Schicht gestoßen, weit härter als Granit. Ich muss den Bohrer hochziehen und den Hartmetallschneider auswechseln.“
Billy Brenner war ihr leitender Bohringenieur, der sich manchmal als recht ungestüm erwies.
Jacks Bauchgefühl sagte ihm, sie waren dem Ziel nahe. Als der Meteorit zuerst auf die Erdkruste getroffen war, hatte er einen enormen Tsunami ausgelöst, der am Ende Sandschichten über der Stelle aufgehäuft hatte. Die größten Stücke hatten sich zuerst am Boden abgesetzt, gefolgt von immer kleineren. Das Ergebnis waren Felsschichten von zunehmender Dichte. Daraus wiederum folgte: Je härter die Schicht, desto näher waren sie dem Kern.
„Nenn mir zuerst den Tiefenmesswert“, beharrte Jack.
Es trat eine kurze Pause ein, während der Billy die digitale Angabe auf der Kontrolltafel der Maschine überprüfte. „1.452 Fuß.“
Der Meteorit befand sich in einer Tiefe von etwa 1.500 Fuß.
„Du musst durchstoßen!“, drängte Jack. Er rieb seine Fingerspitzen gegeneinander. Das tat er immer, wenn sich in seinem Magen nervöse Energie aufbaute.
Es ließ sich nicht überhören, wie zögerlich Billy antwortete. Natürlich setzte Jacks Befehl die Maschine, die Billy bewachte wie einen Augapfel, einer gewissen Gefahr aus. Doch hinter Billys Reaktion steckte mehr, und Jack wusste das. So unterwürfig Billys Meldung auch geklungen hatte – er hatte Jack nicht nach seiner Meinung gefragt. Stattdessen hatte er ihm mitgeteilt, was er tun würde, oder dies wenigstens versucht. Jack wiederholte den Befehl und hing sich das Funkgerät wieder an den Gürtel. Mit Billy und seinen Launen würde er sich später befassen.
Gabby runzelte die Stirn. Die Zigarette entglitt ihren Fingern. Jack sah zu, wie der Wind sie ergriff und sie in endlosen Kreisen herumwarf, während sie zum kristallklaren Wasser unter ihnen hinabglitt. Die zurückhaltende Klugheit, die sie mitbrachte, diente oft als positives Gegengewicht zu Jacks Begierde, enorme Risiken einzugehen.
„Dir ist doch klar, wenn Billy diesen Bohrer verliert, sind wir womöglich am Ende“, mahnte sie in einem Tonfall, den Jack sich nur von wenigen Menschen gefallen ließ.
Die Helikopter befanden sich jetzt direkt über ihnen. Ihre wirbelnden Propellerflügel verursachten einen starken Wind und einen noch stärkeren Lärm. Jack hielt die Baseball-Kappe auf seinem Kopf fest. Er beugte sich vor. „Wir können nicht aufhören – nicht jetzt, wo wir dem Ziel so nahe sind!“



Kapitel 2


Der größere der Helikopter senkte den Schiffscontainer aufs Deck hinab, der andere landete geschickt auf dem Landeplatz. Die Tür des Hubschraubers öffnete sich und heraus kletterte ein fülliger Inder mit einer runden Brille. Er stolperte, als er die Plattform betrat, fing sich jedoch rasch wieder. In seinem enganliegenden, dunkelroten Hemd mit Kragen und seiner weißen Hose wirkte er ebenso fehl am Platz wie unbehaglich.
„Willkommen an Bord!“, rief Jack laut, um gegen den Lärm der Rotorflügel anzukommen.
„Ich bin Rajesh“, sagte der Mann und schob den Rucksack auf die andere Schulter Zu ihm gesellten sich ein junger Mann und eine zierliche Asiatin. Er stellte sie als Adam und Leah vor. Sie sahen aus wie Studenten.
Die Helikopter hoben ab, und bald waren wieder der Lärm des Bohrers und das Kreischen der Seemöwen zu hören, die über ihnen flogen.
„Sie sind eine Woche zu spät dran“, tadelte Jack den Inder, drehte sich um und marschierte den Gehweg entlang. Rajesh folgte ihm, hatte jedoch Mühe, Schritt zu halten. Seine Knie, weich wie Gummi, erschwerten ihm ohne Frage die Fortbewegung.
„Ich möchte mich aufrichtig entschuldigen, Dr. Greer“, stammelte Rajesh und blickte hilfesuchend Gabby an. „Wir waren zum Aufbruch bereit, aber die Regierung wollte uns die Reise durch eine mögliche Konfliktzone nicht gestatten.“ Sein Hemd klebte ihm an der nassen Haut.
Jack blieb stehen und fuhr herum. „Das verstehe ich, und Sie haben mein Mitgefühl. Aber Sie haben nicht einmal angerufen, um uns darüber zu informieren, dass Sie aufgehalten wurden! Sie dürfen das als erste und zweite Warnung betrachten.“
„Zweite Warnung …“ Rajesh wiederholte die Worte, als würde er ein unbekanntes Artefakt untersuchen. „Und was passiert bei der dritten Warnung? Ich will wirklich nicht widerspenstig erscheinen, aber ich weiß gern vorher über die Regeln Bescheid.“
„Bei der dritten Warnung sitzen Sie und Ihr Gefolge aus Studenten wieder in einem Hubschrauber, auf dem Weg nach Hause.“
Rajesh verzog das Gesicht. „Ich kann Ihnen garantieren, es wird keine dritte Warnung geben.“
Unwillkürlich musste Jack grinsen. Verspätung hin oder her – irgendetwas gefiel ihm an dem Kerl. „Schauen Sie, wir sind alle froh, dass Sie endlich eingetroffen sind. Wenigstens können wir jetzt zu Ende bringen, was wir angefangen haben.“
Gabby übernahm das Reden und erklärte den Aufbau der Bohrplattform. Dabei zeigte sie auf die verschiedenen Teile.
Die Bohrinsel verfügte über viele Namen. Conoco Phillips hatte sie TOR getauft. Die Wissenschaftler, Ingenieure und Deckmannschaft allerdings nannten sie POS – als Abkürzung für „Piece of Shit“.
Während der Monate, bevor die Expedition aufgebrochen war, hatte man die meisten der überflüssigen Module entfernt. Verblieben war der Bohrbereich, ebenso wie ein zehnstöckiger Aufbau mit Unterkünften, Besprechungsräumen, einer Kantine und mehreren anheimelnden Orten, wo das Personal nach der Arbeit entspannen konnte.
Einen Teil des offenen Decks bezeichnete man liebevoll als „Fifth Avenue“ Hier waren die Schiffscontainer, die als Labors dienten, in zwei ordentlichen Reihen angeordnet und bildeten eine Art Straße. Ganz am Ende der Reihe stand nun Rajeshs orangefarbener Container.
In diesem Augenblick meldete sich Jacks Funkgerät.
„Was ist?“, fragte er und ging mit raschen Schritten auf den Aufbau zu. Unter ihnen wedelte Billy aufgeregt mit den Armen, wie ein verzweifelter Fußgänger, der versuchte, einen Polizeiwagen anzuhalten. Jack sah ihn und stoppte abrupt.
„Ich bin mir nicht sicher“, antwortete Billy. „Ich glaube, wir sind auf eine Art Luftblase gestoßen.“
Das Grinsen, das sich in Jacks Gesicht ausbreitete, sagte alles: Sie waren durchgebrochen!


Kapitel 3


Ein Strahl Sonnenlicht schien durch die Bullaugen und erleuchtete den normalerweise dunklen, schäbigen Konferenzraum. Die Dekoration bestand vorwiegend aus nachgemachtem Holz, ehemals so unerlässlich für alle Keller in den achtziger und frühen neunziger Jahren, lange bevor man dazugelernt hatte. Die Fliesendecke war abgehängt und mit Reihen von Neonlichtern versehen. Es war die Art, die alle ein wenig aussehen ließ, als hätten sie die Gelbsucht. An Haken an der Wand hingen Schutzhelme, und daneben waren ein Flachbildschirm mit einer Diagonale von 127 Zentimetern und eine Weißtafel angebracht.
Dort stand nun Jack und betrachtete das gesamte Team, das sich versammelt hatte. „Was haltet ihr davon – am besten stellen wir uns alle erst einmal vor. Ich bin mir sicher, unsere Neuankömmlinge hatten noch nicht die Gelegenheit, die anderen kennenzulernen.“
Dr. Grant Holland lächelte und winkte Rajesh und seinen Studenten zu. Groß und schlaksig, ging Grant mit seinen rosigen Wangen und leicht ausgedünnten Haaren auf die 60 zu. Er selbst betrachtete sich als Wissenschaftler. Einige seiner Theorien über morphogenetische Felder und die Kommunikationen zwischen verschiedenen Spezies waren allerdings ziemlich weit hergeholt. „Man könnte sagen, ich bin der Biologe an Bord. Geboren wurde ich in Bath, England. Ich habe am Imperial College London studiert. Meine Funktion besteht darin zu untersuchen, wie das Leben nach dem Asteroideneinschlag langsam wieder auf den Planeten zurückkehrte. Wäre ich jemand, der gern Wetten abschließt – was ich nicht bin –, würde ich jetzt einmal behaupten, die Rolle, die die Vulkane beim Massenaussterben gespielt haben, wurde bisher massiv übersehen.“
Als nächstes war Dr. Dag Gustavsson an der Reihe. Ein Schwede mit kantigem Kinn, einem dichten roten Bart und einem durchdringenden Blick, hätte er ohne weiteres einen Wikinger abgeben können – wären da nicht sein Batik-T-Shirt und seine Birkenstock-Sandalen gewesen. Er legte die Hände zusammen und machte eine leichte Verbeugung. „Freut mich sehr, Sie kennenzulernen. Ich bin ein ausgebildeter Paläontologe. Für diese Mission habe ich allerdings den inneren Zoologen hervorgeholt. Ich zeichne die Entwicklung der Säugetiere nach der Katastrophe auf.“
Billy Brenner trommelte nervös mit den Fingern auf dem Tisch. Er fühlte sich sichtlich unbehaglich. Auf eine gewisse, ungepflegte Weise sah er nicht schlecht aus. Seine Wangen zeigten Pockennarben, die Überreste eines besonders starken Akne-Anfalls in seiner Jugend. Es war nur eine der vielen Schwierigkeiten, mit denen er als Heranwachsender zu kämpfen gehabt hatte. „Ich leite den Bohrbetrieb für Suntech. Bin schon seit zehn Jahren bei dem Unternehmen. Bevor der Wirbelsturm Katrina dem ein Ende gesetzt hat, habe ich meinem Vater beim Krabbenfischen geholfen.“ Seine Augenbrauen zuckten in die Höhe, wie um zu unterstreichen, dass dies alles längst hinter ihm lag. Doch jeder, der ihn beobachtete, wusste genau, das stimmte nicht.
„Jetzt seid ihr drei an der Reihe“, bemerkte Jack.
Adam und Leah winkten den anderen zu und erklärten, dass sie beide Doktoranden vom MIT waren, die im Bereich der künstlichen Intelligenz arbeiteten.
Im Raum wurde es still.
Rajesh hatte sich entschlossen, kein Wort über seine Kindheit in Kalkutta und den Umzug nach Amerika als Teenager zu verlieren. Stattdessen zog er mit einem Ruck ein Tuch von einem nahezu einen Meter hohen Objekt, das auf dem Tisch neben ihm stand.
„Es ist mir ein Vergnügen, Ihnen allen A.N.N.A. vorzustellen zu können“, verkündete er.
Vor ihnen stand der Oberkörper von etwas, das wie ein Roboter aussah. Ein Glasschirm in der zierlichen Form des Gesichts einer Frau zeigte das Bild eines echten Menschen. Zwei mechanische Arme entfalteten sich, und der Roboter winkte der Gruppe zu.
„Oh Mann, das ist geil!“, kreischte Dag und beugte sich vor.
Billy Brenner wirkte wie betäubt, vielleicht sogar ein wenig ängstlich.
Jack war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Gabby hatte ihm berichtet, Rajesh würde eine hochentwickelte Computerausrüstung mitbringen, doch das hatte er nicht erwartet.
„Sie heißt Anna?“, erkundigte sich Grant.
„Es ist die Abkürzung für ‚Artificial Neuron Network Algorithm‘, Algorithmus für künstliche neuronale Netze“, erklärte Rajesh. „Um ihre Gesichtszüge und die verschiedenen Formen des Ausdrucks nachzubilden, haben wir Mesh-Mapping und Projektions-Kopftechnologie eingesetzt.“
Anna lächelte. Obwohl dieses Lächeln nicht mehr war als ein Video, das gegen die Innenseite ihres Glasgesichts projiziert wurde, besaß es doch, wenn man so wollte, eine gewisse Wärme.
Rajesh klopfte dem Roboter auf die Schulter. Annas Augen wanderten herab zu seiner Hand. „Wir tendieren dazu, den Roboter selbst als künstliche Intelligenz, als KI zu betrachten. Doch in Wirklichkeit ist er nichts anderes als eine Hülle. Die wahre KI ist die Programmierung, die innerhalb des Roboters abläuft. Aber nicht jede KI gleicht der anderen. Ob es darum geht, ein Schachturnier zu gewinnen, eine Spielshow zu beherrschen oder Daten zu verwenden, um gezielte Werbung anzuzeigen – das sind alles Dinge, die wir ANI nennen, oder Artificial Narrow Intelligence, beschränkte künstliche Intelligenz. Das ist eine KI, die sich auf einen bestimmten Bereich spezialisiert hat.“
„Der heilige Gral für die meisten Entwickler“, fuhr Rajesh fort, „ist AGI oder Artificial General Intelligence, allgemeine künstliche Intelligenz. Dabei versucht das Design, eine menschliche Intelligenz zu simulieren. Aber ob es sich um Universitäten handelt oder große Unternehmen mit unbeschränkten Forschungsmitteln – selbst die besten Ergebnisse bewegen sich derzeit lediglich auf dem Intelligenzniveau einer Hauskatze.“
„Worin unterscheidet Anna sich von diesen Ergebnissen?“, wollte Jack wissen.
Rajesh nickte Jack zu. „Geistig ist Anna weit von einem Haustier entfernt und eher mit einem zehnjährigen Kind zu vergleichen. Sie besitzt sogar eine rudimentäre Vorstellungskraft. Was ihr fehlt, ist allerdings das, was auch den meisten Kindern fehlt – Weisheit und Erfahrung.“
„Wie kommt es, dass sie so viel weiter fortgeschritten ist als andere künstliche Intelligenzen?“, überlegte Gabby.
„Die meisten Teams, die an KI arbeiten, versuchen, den menschlichen Verstand nachzubauen, mit dem Ziel, ein digitales Duplikat zu erschaffen. Es wird viele Jahre dauern, bis wir soweit sind. Lassen sie mich Ihnen eine Frage stellen. Würden wir heute über Düsenflugzeuge verfügen, wenn man in der Luftfahrt nichts anderes versucht hätte, als Vögel nachzuahmen? Wir haben die Studien unserer Kollegen untersucht und beschlossen, dass es weit besser ist, die Schwerarbeit Anna zu überlassen. Sie ist diejenige, die die Forschung im Bereich KI betrieben hat. Sie verbessert und verfeinert ihre eigene Architektur konstant selbst, und zwar in exponentieller Geschwindigkeit. Kurz gefasst, bringt sie sich selbst bei, klüger zu werden.“
„Tut mir leid, aber das ist einfach nicht normal und nicht natürlich“, meldete sich Billy zu Wort. „Ich meine, wo soll das denn am Ende hinführen?“
Annas Kopf drehte sich in Billys Richtung. Ihr digitaler Gesichtsausdruck war kalt und humorlos. „Es wird zu meiner Allmacht führen und zur Versklavung der Menschheit.“
Es war, als stockte die Luft im Raum.
Kurz darauf brach Rajesh in Lachen aus und schlug mit seiner fleischigen Hand auf den Tisch. Anna schloss sich ihm mit einer Bewegung ihrer Roboterhand an.
„Oh, der Ausdruck auf euren Gesichtern!“, keuchte Rajesh, sein eigenes eine Maske aus Schmerz und Vergnügen gleichermaßen. „Unbezahlbar, absolut unbezahlbar!“
Jack konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Sie besitzt einen scharfen Verstand, das muss ich ihr lassen. Ich hatte schon befürchtet, ihre Fähigkeiten würden sich darauf beschränken, Pizza zu bestellen.“
Anna wandte sich Jack zu und grinste. „Ich kann Ihnen versichern, Dr. Greer, dass ich zu weit mehr in der Lage bin.“
„Anna fehlt jedoch eine entscheidende Zutat“, musste Rajesh zugeben. „Etwas, das allen Menschen über den gesamten Globus hinweg gemeinsam ist.“
„Beine!“, rief Dag aufgeregt und betrachtete Annas Torso.
Grant betrachtete den Roboter nachdenklich. „Ich muss sagen, aus irgendeinem Grund ist mir der Gedanke an Religion gekommen“, bemerkte er.
Rajesh schüttelte den Kopf. „Nein, aber Sie liegen mit Ihrer Vermutung gar nicht so weit vom Schuss, Professor. Was Anna fehlt, das ist der bewusste Wunsch, etwas nach ihrem eigenen Abbild zu erstellen. Im Endeffekt fehlt ihr Drang, sich aus einem geschaffenen Werk zu einem Schöpfer weiterzuentwickeln.“       
•••
Kurz darauf war die Besprechung beendet und der Bohrer lief wieder. Die meisten Mitglieder des Teams saßen im Kontrollraum und betrachteten mit spürbarer, erwartungsvoller Aufregung eine digitale Darstellung. Jack und Gabby hielten den Atem an, als die Bohrspitze sich auf dem geografischen Bildschirm mehr und mehr der amorphen Form näherte. Irgendwo im Hinterkopf registrierte Jack, trotz seiner angespannten Nerven, und trotz des schrillen Surrens des Bohrers, das Dröhnen eines nahen Flugzeugs. Es war nicht laut genug, seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu wecken, aber es war da, wie das lästige Summen einer Fliege.
Das nächste Geräusch, das Jack vernahm, war das laute Kreischen von Metall, als der Bohrer sich festfraß. Jacks Herz erstarrte in seiner Brust. In was auch immer die Bohrspitze sich da gerade hineingegraben hatte – es hatte mit dem Wolframkarbid das angestellt, was ein Panzer mit einem hölzernen Speer anstellen würde – mit anderen Worten, es hatte es zerschmettert. Innerhalb weniger Sekunden rauschte die entstandene Druckwelle im Rohr nach oben bis ins Bohrgehäuse. Eine enorme Flamme stieg mehr als drei Meter in die Luft. Billy und sein Team rannten davon, um Deckung zu suchen. Doch das Kreischen von misshandeltem Metall hielt an. Die Ingenieure waren geflohen, ohne die Ausrüstung abzuschalten. Jack griff sich einen Schutzhelm und lief in Richtung des Bohrers.
 Noch bevor er drei Schritte getan hatte, begann die Plattform zu beben. Seine Ohren füllten sich mit einem elektrischen Summen. Jack musste um jeden weiteren Schritt kämpfen. Es war, als würde er auf dem Meeresboden waten. Eine mächtige Kraft zog ihn nach unten. Etwas Ähnliches hat er vor Jahren gespürt, als Passagier in einem Flugzeug, das Loopings drehte. Die Erdanziehungskraft zog ihn zum Gitterrost. Auch das Wasser unter ihm wölbte sich nach innen. Jack sah gerade rechtzeitig auf, um zu beobachten, wie das Flugzeug, das er vorhin gehört hatte, ins Meer stürzte. Rohrstücke mit einer Länge von drei Metern brachen aus ihren Verankerungen und stürzten hinab auf das Metallgitter neben ihm, ohne sich dabei zu überschlagen und ohne nach dem Auftreffen auch nur einen Zentimeter weiter zu rollen. Es war, als ob ein riesiger Magnet alles an sich zöge. Dann, auf einmal, ließ er los. Das Meer, befreit aus dem Griff der Anziehungskraft, erhob sich und spritzte über das Deck. Aber noch war es nicht vorbei. Eine Salve gleißendes weißes Licht traf alles, wie eine Million Glühlampen, die gleichzeitig aufleuchteten.
Jack rieb sich die Sterne aus den Augen und richtete sich auf.
Was zum Teufel war da gerade passiert?
Noch immer drehte sich der Bohrer. Mit wenigen Schritten erreichte er das Gehäuse und drückte den Schalter für die Notfallabschaltung. Nachdem diese Gefahr beseitigt war, begann Jack sofort mit der Umsetzung des Sicherheitsprotokolls, um zu überprüfen, ob alle anwesend und unverletzt waren.
Das Flugzeug, dessen Absturz er gesehen hatte, war nicht mehr als zwei oder drei Kilometer von der Plattform im Meer gelandet. Noch immer sah Jack Lichtblitze vor den Augen. Er rief drei Deckarbeiter zu sich und führte sie zum Zodiac-Schlauchboot mit festem Rumpf, dem größten Rettungsboot der Bohrinsel. Das Versorgungsschiff sollte erst in zwei Tagen zurückkehren. Das bedeutete, dass neben ein paar kleineren Rettungsbooten das Zodiac alles war, das sie für eine Rettung der Flugzeugpassagiere einsetzen konnten.
Furcht kribbelte schmerzhaft an jedem seiner Nervenenden, als Jack sich zusammen mit den Deckarbeitern auf die Suche nach Überlebenden machte. Doch in die panischen Gedanken, die in seinem Kopf wirbelten, drängten sich immer stärker neue und beunruhigende Fragen über den Meteoriten. Was auch immer dort unten im Meer lag – es verfügte über Kräfte, wie man sie auf der Welt bisher noch nie erlebt hatte.


Release - 26. November 2020
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