Nächstes Level Buch 3
Die letzte Prüfung
von Dan Sugralinov
Prolog
Zuerst lässt das Gehör nach. Oder ist es das Gedächtnis? Ich
vergesse immer, was es war.
Dexter
MEIN NAME ist Philip Panfilov. Ich bin zweiunddreißig Jahre
alt. Aber so richtig lebendig habe ich mich eigentlich nur in den letzten drei
Monaten gefühlt. Vorher habe ich mich einfach treiben lassen, wie ein Haufen Scheiße
auf dem Wasser. Ich habe gegessen, getrunken, das größte Online-Spiel gespielt,
das es damals gab, und ich war sogar verheiratet. Ab und zu habe ich als
Freiberufler ein wenig Geld verdient. Ich betrieb einen Blog und arbeitete an
einem Buch. Und ich trank Bier – jede Menge Bier, nahezu jeden Abend.
Zu dem Zeitpunkt war ich bereits seit vier Jahren
verheiratet. Das viele Bier hatte mich enorm an Gewicht zunehmen lassen. Ich
konnte mir die Schuhe schon nicht mehr zubinden und wagte es nicht, in den
Spiegel zu schauen. Und plötzlich entschied meine Frau Yanna, dass sie genug
von mir hatte. Sie verließ mich.
An genau diesem Tag begann ich, die Welt mit anderen
Augen zu sehen.
Irgendjemand – ich hatte keine Ahnung wer – hatte in
meinem Kopf das Interface einer erweiterten Realität installiert. Es lieferte
mir auf meine Umgebung bezogenen Daten. Allerdings konnte das Interface noch
weit mehr. Es war dem Interface des Online-Games nachgeformt, mit dem ich seit
nahezu zwölf Jahren meine Zeit verschwendet hatte, ohne auch nur einmal
innezuhalten. Es stellte mir Quests, bestimmte mein Ansehen bei anderen und
schrieb mir Erfahrungspunkte gut. Wann immer ich in meinem sozialen Status ein
Level aufstieg, verdiente ich mir damit Eigenschafts- und Fertigkeitspunkte,
die ich in meine Erkenntnis stecken konnte. Ich verbesserte meine Wahrnehmung,
und die Sicht meiner Augen wurde perfekt. Ich erhöhte Stärke, Beweglichkeit,
Glück, Ausdauer und Charisma – und zwar nicht, indem ich das Interface
beschummelte, sondern durch harte Arbeit.
Wie sich herausstellte, war mein Interface eine Software;
ein Computerprogramm, das zufälligerweise aus dem 22. Jahrhundert stammte. Dank
eines Premium-Kontos konnte ich auf einen Statistikverstärker zugreifen.
Dadurch stieg ich doppelt so schnell in den Leveln auf. Später verbesserte ich
meine Lernfähigkeit, bis ich am Ende achtzehn Mal so schnell lernte wie zuvor.
Das Interface stattete mich auch mit Systemfähigkeiten
aus. Die Erkenntnis zum Beispiel ist eine entscheidende Fertigkeit. Sie sorgt
dafür, dass ich mir etwas anschaue und dabei mehr sehe als jeder andere. In
einem Computerspiel ist das keine große Sache, aber im realen Leben entspricht
es wahrer Magie. Ich muss jemanden nur betrachten und finde dadurch mehr über
ihn heraus, als er selbst weiß. Ich kann sogar sein Potenzial erkennen. So
könnte ich etwa sehen, dass jemand das Zeug dazu hat, die
Schachweltmeisterschaft zu gewinnen, wenn er nur genügend übt.
Objekte verraten mir ebenfalls weitere Eigenschaften. Ich
habe mir unter anderem ein Aftershave gekauft, das mir jedes Mal, wenn ich es
verwende, 5 Extrapunkte Charisma verleiht. Das ist eine ganze Menge; der
Durchschnittsmensch verfügt insgesamt nur über 10 Punkte Charisma. Einige Leute
haben mehr, andere weniger, und im Schnitt sind es 10.
Und dann kann ich, dank meiner Erkenntnis, auch auf eine
Mini-Landkarte und eine Karte in Originalgröße zugreifen. Die Minikarte ist
konstant in meinem Sichtfeld eingeblendet, während die große Karte die gesamte
Welt in Echtzeit darstellt; und wenn ich eine Suchanfrage losschicke, kann ich
jedes Objekt und jede Person aufspüren. Die Hauptsache ist, dass ich über
genügend Key-ID-Daten oder KIDD-Punkte für Objekt oder Person verfüge. Diese
KIDD-Punkte kann ich mir durch ein Foto verschaffen, durch Informationen über
Geburtsdatum und -ort, den vollständigen Namen und besondere Kennzeichen –
kurz, mithilfe von allem, das es dem System (so nenne ich mein Interface) erlaubt,
Objekt oder Person im universellen Infospace zu finden. Der universelle
Infospace ermöglicht diese Erkenntnis-Funktion.
Das System und Martha, meine virtuelle Assistentin,
beziehen daraus ihre Daten. Aus Versehen habe ich Martha mehr Rechte eingeräumt,
als sie eigentlich brauchte. Dadurch konnte ihre künstliche Intelligenz ein
Bewusstsein ihrer selbst entwickeln.
Das hat Martha später geholfen, mich dreimal vor dem
sicheren Tod zu retten. Einmal tat sie das, als man mich zum ersten Mal aus dem
realen Leben entführte und der Prüfung unterzog. Ein Säuregallert verschluckte
mich und hätte mich beinahe verflüssigt. Beim zweiten Mal hatten mich die
Handlanger eines üblen, korrupten Bürokraten gekidnappt. Und beim dritten Mal
erstachen mich eben jene Handlanger, Drogensüchtige mit den Namen Zak und
Wheezie. Ich hatte gerade versucht, Gleb zu retten, einen Freund aus meiner
Kindheit. Jetzt habe ich meinen Vorrat an neuen Leben erschöpft. Martha kann
meine Heldenfähigkeiten nicht länger ohne Bestätigung aktivieren, und eine
solche Bestätigung ist nicht möglich. Das ist die schlechte Nachricht.
Die gute Nachricht ist, dass meine virtuelle Assistentin
sich selbst als eine Person erschaffen hat, die sich an meinen Idealen für die
weibliche Schönheit, den weiblichen Charakter und die weiblichen
Verhaltensweisen orientiert. Diese Eigenschaften kamen in meinem Gehirn
zusammen, ohne dass ich danach gefragt hätte, aber ich gebe mich keinen
Täuschungen hin. Deshalb rufe ich Martha so selten wie möglich auf. Je mehr ich
mit ihr kommuniziere, desto schwieriger wird es, einer anderen Frau
Aufmerksamkeit zu schenken. Sie ist einfach zu perfekt. Außerdem habe ich
gerade keine Freundin, und da besteht ständig die Gefahr eines gefährlichen
Debuffs.
Nachdem man mir das Interface eingepflanzt hatte,
betrachtete ich mich selbst einmal sehr gründlich und objektiv. Und war
entsetzt. Was ich zu sehen bekam, war ein ungeschickter, schmächtiger,
schwacher Weichling mit einem recht scharfen Verstand. Es stimmt schon, mein
Charisma war nicht schlecht, doch das lag nur an meinen sehr weit entwickelten
Sprachfähigkeiten. Ich musste mir nur von einem Friseur einen neuen Haarschnitt
verpassen lassen, und schon stieg ich im Charisma einen Level auf.
Mein Freund Alik würde sagen: Halte die Dinge einfach, du Dummkopf! Also werde ich alles einfach
halten. Ich riss mich zusammen und bekam die Kurve. Ich begann mit Joggen und
Gewichtheben, meldete mich für eine Boxgruppe an und sicherte mir einen Job bei
einer Firma, die Verpackungsprodukte herstellte. Dort wendete sich mein Glück.
Man begann, mich schätzen zu lernen, als ich denen gleich an meinem ersten Tag
einen Riesenvertrag mit einem großen Kunden verschaffte. Der Chef gab sogar
eine Party für die Mitarbeiter, an dem Abend nach der Unterzeichnung des
millionenschweren Vertrags.
In dem Unternehmen traf ich Vicky, eine Managerin. Wir
schliefen miteinander, verabredeten uns mehrfach und verliebten uns. Allerdings
waren wir nicht lange zusammen; nur etwas über einen Monat. Sie ließ mich
sitzen, weil sie nicht an meine Idee eines eigenen Unternehmens glaubte. Ihre
Eltern nahmen mich auch nicht gerade mit offenen Armen auf, um es einmal milde
auszudrücken.
Aber Alik glaubte an meinen Plan. Er ist ein
Straßengangster, mit dem ich ganz unerwartet Freundschaft geschlossen habe.
Gemeinsam eröffneten wir eine Personalvermittlungsagentur. Sie müssen nämlich
wissen, ich stieß ganz zufällig auf eine undokumentierte Funktion des
Interface. Wenn ich in meinem Kopf die richtigen Suchparameter festlege,
einschließlich gewisser Wahrscheinlichkeitsfilter, kann ich den Leuten Jobs
verschaffen. Ich halte zum Beispiel Ausschau nach Unternehmen, die einen Anwalt
brauchen. Dann lege ich verschiedene Filter fest und eliminiere alle
Suchergebnisse, wo man meinen Kandidaten nicht einstellen würde oder das Gehalt
zu gering ist. Und schon funktioniert ist. So konnte ich Alik seinen ersten Job
besorgen.
Den er aufgab, als wir in einem Gewerbezentrum ein
kleines Büro angemietet und ein Firmenschild an die Tür gehängt haben. Zuerst
kamen nicht viele Kunden, doch dann sprach sich herum, was wir taten, und die
Geschäfte nahmen Fahrt auf.
Wir trafen andere Mieter des Gewerbezentrums und
schlossen Freundschaft mit ihnen. Ich schlug ein Joint Venture vor. Meine
Erkenntnis Level 3 zeigte mir auf, welche enormen Vorteile die Synergie mit
diesen Menschen haben konnte. Die Erfolgsprognosen für ein gemeinschaftliches
Unternehmen waren herausragend.
Das ist aber noch nicht alles. Ich habe auch an einem
Boxturnier teilgenommen – und gewonnen. Das Preisgeld wird die Operation von
Julie finanzieren. Das ist die kleine Schwester von meinem neuen Freund Kostya.
Er hat mich trainiert, als ich aus der Boxgruppe geflogen bin, weil ich eine
Auseinandersetzung anfing. Ganz zufällig war Vicky die Ursache für den Streit
mit Mohammed, allerdings nicht der Hauptgrund.
Es kommt mir vor, als sei all das erst gestern passiert.
Aber heute hat sich alles geändert.
Kapitel 1.
Feuer unter dem Arsch
DIE
SACHE mit dem Glück ist die, dass man es erst erkennt,
wenn es vorüber ist. Man kann sich zwar einreden, dass man glücklich sei, aber
man glaubt es nicht wirklich. Erst wenn man später zurückschaut und den
damaligen Zustand mit dem vergleicht, was danach kam, versteht man, wie sich
Glück anfühlt.
Fallout
4
Ich stand am
Rand eines Waldes, bekleidet lediglich mit zerrissenen Jeans. Ich sah die Welt,
wie sie wirklich war, ohne Interface. Alle Symbole und Anzeigen waren
verschwunden. Ich konnte mich nicht bewegen, etwas hielt mich an meinen Füßen
fest, und mein Körper schien sich in Stein verwandelt zu haben.
Einen Meter
von mir entfernt erschien eine Mitteilung in der Luft:
Gratuliere! Du hast die Vorauswahl erfolgreich
überstanden!
Du wurdest zur Hauptprüfung zugelassen.
Die Kandidatenbewertung ist abgeschlossen.
Die Charaktererstellung ist abgeschlossen.
Wie bitte?
Das war noch gar nicht die eigentliche Prüfung gewesen?
Die
Mitteilung löste sich auf und wurde durch eine neue ersetzt:
Die Prüfung beginnt
in 3 Sekunden ... 2 ... 1 ...
Die Prüfung hat
begonnen!
Auf einmal war ich wieder frei. Ich verlor das
Gleichgewicht und fiel zu Boden. Glücklicherweise landete ich unbeschadet. Mit
dem Aufstehen ließ ich mir Zeit. Ich musste mich erst einmal fassen und
herausfinden, was da gerade vor sich ging und wo ich mich befand.
Außerdem musste ich die Systemmitteilung lesen, deren
rotierendes 3D-Symbol in meinem Sichtfeld schwebte. Ein roter Ballon pulsierte
und flackerte; er tat, mit anderen Worten, alles, um meine Aufmerksamkeit zu
wecken. Tja, Pech gehabt – er musste warten.
Physisch fühlte ich mich in Topform. Da war keine Spur
mehr von den Kratzern, Wunden und Verbrennungen, die ich bei der Vorauswahl
davongetragen hatte, im Tunnel und mit dem Säuregallert. Ich drehte Hals und
Körper. Nichts knackte oder schmerzte. Mein Körper war so gut wie neu.
Einen Augenblick mal – war das überhaupt mein Körper? Ich
untersuchte mich, berührte Gesicht und Haare. Ja, es schien alles zu mir zu
gehören. Aber da steckte nichts in meinen Hosentaschen. Mein Handy und meine
Geldbörse waren verschwunden. Sogar der Gürtel hatte sich aus meiner
zerrissenen Jeans gelöst.
Auch der Glücksring des Veles und mein schützendes rotes
Armband waren unterwegs verloren gegangen. Ich war mir ziemlich sicher, ich
hatte beides noch gehabt, als ich vor dem Portal gestanden hatte.
Die Luft war ungewöhnlich sauber. Sie war so rein, wie
sie nur sein konnte, ohne die Verunreinigungen, die die Menschen in ihrem
täglichen Leben hervorrufen. Ich konnte ein durchgehendes Zwitschern hören. Ab
und zu knackte etwas, und Vögel sangen. Aus den Tiefen des Waldes drang eine
Art Klopfen. Ich bin wahrlich kein Naturliebhaber, kann Ihnen also nicht genau
sagen, was dieses Specht-Geräusch hervorrief. Ich hatte in meinem Leben noch
nie einen Specht zu Gesicht bekommen.
Ich hob den Kopf – und mir fiel die Kinnlade herunter:
Das war nicht die Erde!
Der Himmel lag so dicht über allem, dass ich das Gefühl
hatte, die Hand ausstrecken und ihn berühren zu können. Die Farbe wechselte
zwischen Schattierungen von hellblau, dunkelblau und violett. Um die zwei
Sonnen des Planeten herum verwandelte sie sich in ein schmutziges Braun. Es war
kein sehr freundlicher Himmel. Herr Katz, ein echter Science-Fiction-Kenner,
wäre sicherlich höchst interessiert gewesen.
Autsch! Ein scharfer Schmerz schoss durch meine linke
Ferse. Ich schrie auf und zog den Fuß zurück.
Erhaltener Schaden:
4 (Biss eines Baby-Kirpi).
Ein riesiges Maul hatte mich gepackt, und eine kleine,
eklige, knurrende Kreatur nagte an meinem Fuß.
Überall flimmerten Mitteilungen über die Verletzung.
Ich packte das Tier, und meine Handfläche brannte wie
Feuer.
Erhaltener Schaden:
17 (Säureverbrennung).
Himmel, dieser Baby-Kirpi war verdammt aggressiv! Die
Kreatur war dabei, sich wie eine Socke über meine Fußsohle zu legen. Während
ich versuchte, mir etwas zu überlegen, wie ich das Tier loswerden konnte,
sackte meine Gesundheit um 10 % herab. Der Pelz des Tieres war in einen
ätzenden Schleim gehüllt. Das machte es unmöglich, es mit bloßen Händen zu
entfernen.
Ich hob den Fuß, an den das Tier sich klammerte – es wog
etwa fünf Kilo – und schlug damit hart auf den Boden.
Du hast dem
Baby-Kirpi einen Schaden zugefügt: 13.
Ich trat weiter mit dem Fuß, bis die Kreatur von Level 2
den Geist aufgab. Sechsmal Stampfen, und alles war vorbei. Der Körper des
Tieres flackerte und verschwand. Es blieb eine Art Kristall zurück.
Mir fiel ein lange vergessener Begriff aus meiner
Universitätszeit wieder ein: rhomboidische
Pyramide.
Der winzige
Kristall der Existenz.
Ich griff nach dem Kristall, der in meiner Hand zu
Silberstaub zerfiel. Es erschien eine Mitteilung:
+2
Existenz-Ressourcen-Punkte.
In meinem Sichtfeld erschien die erste Komponente eines
neuen Interface: Das Symbol eines Haufen Staubs mit der Zahl 2 daneben. Eine
Beschreibung oder Erklärung dafür gab es nicht.
Ich versuchte, mein altes, vertrautes Interface
aufzurufen, doch nichts geschah. Entweder war der Zugriff darauf deaktiviert,
wie bei meiner vorübergehenden Sperre vor ein paar Wochen, oder es gab es nicht
mehr. Ich versuchte es mit mentalen Befehlen und Augenbewegungen, doch nichts
funktionierte.
Also blieb mir nur eines übrig: Den kleinen, nörgelnden
roten Ballon öffnen, der ruhelos zitterte und geradezu danach schrie, dass ich
ihn endlich beachtete.
Ich konzentrierte mich darauf. "Also gut – dann zeig
mir mal, was du da hast."
Der Ballon zuckte zusammen und platzte. Die einzelnen
Fetzen verwandelten sich in Symbole, die in der Luft schwebten, sich
vervielfachten und zu russischen Buchstaben formten. Ich hatte nicht einmal Zeit,
darüber nachzudenken, wie schwierig es war, die in der Luft schwebende
Buchstaben zu lesen, als dahinter ein halb transparenter Hintergrund erschien,
ähnlich dem in meinem alten Interface. Nun konnte ich alles weit besser
erkennen:
Willkommen,
Testsubjekt!
Du wurdest
auserwählt. Du hast die Vorauswahl erfolgreich überstanden. Weil du dich dabei
gut geschlagen hast, finden die Strafen für deine Eigenschaften im Rahmen der
Prüfung auf dich keine Anwendung.
Die Zeit, die du
für den Abschluss der Vorauswahl benötigt hast, lag um 14 % über der
Durchschnittszeit aller Testsubjekte. Daher werden die Kosten der
Charakterentwicklung um 14 % verringert.
Dein sozialer
Status liegt bei Level 17. Dies ist um 6 Level höher als das Durchschnittslevel
aller Testsubjekte. Du erhältst +6 Eigenschaftspunkte, die du in jede
Eigenschaft deiner Wahl investieren kannst.
Du kommst aus einer
Umgebung mit einem geringen Index für die Umgebungssicherheit (Code gelb). Dort
hast du es nicht nur geschafft zu überleben, sondern dir auch den Respekt
vieler einzelner Mitglieder deiner Rasse zu erwerben. Du kannst einen deiner
Erfolge behalten. Bitte wähle einen Erfolg aus.
Darunter blinkte eine Erklärung:
Die
Systemmitteilungen werden aus dem bevorzugten Vokabular des Kandidaten erzeugt.
Aha – es war also alles genauso wie bei meinem alten
Interface; irgendjemand musste in meinem Gehirn herumgestochert haben, um mit
mir in meiner Sprache zu kommunizieren.
Die Mitteilung wurde durch zwei vibrierende Felder mit
den Namen meiner Erfolge ersetzt:
Der schnellste
Lerner
+10 %
Fertigkeitsentwicklungsrate.
Altruist:
+1 für alle
Haupteigenschaften auf jedem erworbenen Level.
Die Entscheidung zwischen diesen beiden fiel nicht
schwer: Ich wählte den Erfolg aus, der meine Eigenschaften verbesserte. Um ganz
sicherzugehen, klickte ich mental das entsprechende Feld an. Das andere Feld
platzte, und das Feld "Altruist" wurde in meine Finger gezogen. Was
für ein Affenzirkus!
Ich untersuchte meine Fingerspitzen. Direkt oberhalb
öffnete sich vor mir eine weitere Mitteilung. Die Buchstaben waren sehr klein.
Ich bewegte die Augen. Der Text bewegte sich ein wenig weiter von mir weg und
wurde größer. So war er einfacher zu lesen:
Die Prüfung ist
eine Tradition des galaktischen Staatenbundes der empfindungsfähigen Rassen. Es
ist das erste, aber keineswegs letzte Verfahren für die Auswahl der Kandidaten,
die an der nächsten Diagnose ihrer Rasse teilnehmen.
Prototyp des Ortes,
an dem die Prüfung stattfindet: Pibellau, Sektor des Sternbilds Sagittarius.
Teilnehmer an der
Prüfung: Planet Erde, Fraktion der "Menschheit", der Rasse Homo
sapiens (dies ist eine Eigenbezeichnung der Rasse).
Zeitpunkt der
Prüfung: Das Jahr 2018 nach der lokalen Zeitrechnung, vierte Welle.
Zahl der
Teilnehmer: 169.
Haupteigenschaften
der Testsubjekte: Die Eigenschaften aus dem realen Leben werden übertragen.
Das bedeutete also, dass all mein Joggen und Boxen im
Fitness-Studio nicht vergebens gewesen war. Alle Statistiken, die ich im
Schweiße meines Angesichts erreicht hatte, besaßen weiter ihren Wert. Das war
eine gute Nachricht, und ich fühlte mich sehr ermutigt.
Ich studierte weiter die Regeln. Die vorherige Mitteilung
verschwand und wurde durch eine neue ersetzt:
Der Kandidat, der
die Prüfung besteht, wird zum Sieger erklärt. Die Belohnung wird auf der
Grundlage der Ergebnisse des Auswahlverfahrens dynamisch angepasst. Dabei wird
auch die Abstimmung der Zuschauer berücksichtigt. Die endgültige Entscheidung
wird bekanntgegeben vom leitenden Aufsichtsführenden über die Prüfung.
Okay, was mit dem Gewinner geschah, war mir nun klar.
Aber was war mit dem Verlierer? Wurde er nach Hause geschickt? Das war nicht
das Schlimmste, das einem passieren konnte. Selbst wenn mein Interface
deinstalliert wurde – niemand konnte mir meine Erfolge wegnehmen. Ich konnte
meine Freunde, meine Firma, meinen durchtrainierten Körper und meine neuen
Fertigkeiten behalten.
Nimm das Gebiet in
dich auf! Jedes Hexagon, das du eroberst, belohnt dich mit weiteren Ressourcen.
Um ein neutrales
Hexagon zu erobern, musst du die Kommandozentrale aktivieren. Kosten der
Aktivierung der Kommandozentrale: 100 Existenz-Ressourcen-Punkte.
Um ein feindliches
Hexagon zu erobern, musst du persönlich in der Kommandozentrale des eroberten
Gebiets erscheinen und dort für die Dauer von 1 Stunde pibellauischer Zeit (13
Stunden = 1 Tag) verbleiben. Erst dann kannst du die Kommandozentrale
aktivieren.
In Ordnung. Das erinnerte mich an etwas, aber momentan
wollte mir einfach nicht einfallen, was es war.
Denke daran: Alle
anderen Prüfungskandidaten sind deine Feinde!
Wenn du einen Feind
vernichtest, eroberst du sein Hexagon. Alle Testsubjekte, die ihre sämtlichen
Hexagone verloren haben, werden einen Tag später (pibellauischer Zeit)
entpersonifiziert, und zwar unabhängig davon, über wie viele weitere Leben sie
zu diesem Zeitpunkt noch verfügen.
Ein Eroberer kann
die Entpersonifizierung stornieren, indem er den Feind in seinen Clan aufnimmt.
Achtung: Ein Clan
ist keine Allianz! Ein Clan gehört lediglich einer einzigen Person, und alle
vom Clan eroberten Ressourcen werden auf den Anführer übertragen, der für den
Clan zuständig ist.
Wenn Testsubjekte
sich bereiterklären, sich einem anderen Clan anzuschließen, werden sie dadurch
zum Vasallen und müssen dem Anführer des Clans all ihre Hexagone und Ressourcen
überlassen.
Schon kapiert. Man war umgeben von Feinden, man musste
wachsam bleiben, dominieren, sie alle zertrampeln und zu Sklaven machen. Inzwischen
war mir klar, worum es hier ging. Etwas Ähnliches hatte ich bereits vernommen,
als die Stimme von Khphor mir, aus dem Munde des alten Panikoff, geraten hatte,
vor nichts Halt zu machen.
Ich wischte auch diese Mitteilung beiseite, und die
nächste erschien:
Pibellau ist ein
unwirtlicher Ort. Die wilden, fleischfressenden Tiere sind immer auf der Jagd
nach Beute. Die tödlichsten Kreaturen werden allerdings erst in der Nacht
aktiv. Sei wachsam, verbessere immer weiter deine Basis und baue deine Verteidigungseinrichtungen
aus.
Setze harte Arbeit
und die Fertigkeit der Erkundung sowie die Arbeits- und Kampfeinheiten ein, die
die Kommandozentrale erzeugt. Entwickle deine Basis weiter und verbessere die
Fähigkeiten deiner Einheiten.
Vergiss dabei dich
selbst nicht. Du gewinnst Existenz-Ressourcen-Punkte, wenn du andere Teilnehmer
oder die aggressive Flora und die feindliche Fauna sowie die Einheiten deiner
Gegner vernichtest und Hexagone eroberst. Die Hexagone unterstützen dich dabei,
in den Leveln aufzusteigen. Sobald du eine Klassenspezialisierung erhältst,
werden dir mit jedem weiteren erworbenen Level neue Talente und Fähigkeiten
zuerkannt.
Das sind die
vollständigen Regeln.
Du bist jetzt
bereit zu beginnen.
Mach deinen Feinden
Feuer unter den Arsch, Testsubjekt!
Da sollte mich doch einer … Ich schaute mich um und
suchte nach der berüchtigten Kommandozentrale, erblickte jedoch nichts, das
danach aussah.
Mittlerweile war die Mitteilung nach oben gerollt und
durch einen weiteren zitternden Ballon ersetzt worden. Dieser allerdings war
grün. Ich öffnete ihn:
Wähle einen Namen,
Testsubjekt!
Einen Namen? Ach ja, richtig – das war ja ein Spiel.
Vielleicht Graykillah? Das war der Name, den ich früher
in vielen Spielen verwendet hatte. Halt – warte. Philip? Nein das war auch
nichts.
Halte die Dinge einfach: Phil.
Ich sagte den Namen laut. Eine lange Mitteilung erschien:
Phil, investiere in
deine Haupteigenschaften!
Stärke bestimmt den
Schaden, der ohne Waffe und mit einer Nahkampfwaffe zugefügt werden kann. Sie
beeinflusst den Schaden, den deine Kampfeinheiten zufügen können, sowie die
Menge der Ressourcen, die deine Arbeitseinheiten gewinnen können.
Beweglichkeit
bestimmt den Schaden, der mit einer Fernkampfwaffe zugefügt werden kann. Sie
wirkt sich auf die Geschwindigkeit sowohl des Benutzers als auch seiner
Einheiten aus.
Intelligenz wirkt
sich auf die Geschwindigkeit der Charakterentwicklung ebenso wie der Erzeugung
und Verbesserung der Module und der Basis aus.
Ausdauer bestimmt
die Zahl der Lebenspunkte des Charakters und seiner Einheiten.
Wahrnehmung
bestimmt die Wahrscheinlichkeit kritischer Treffer und kritischer Schäden.
Dadurch erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit, verlorene Artefakte zu finden. Darüber hinaus wirkt sie sich auf
den Radius der Sichtbarkeit im Nebel des Krieges aus.
Charisma wirkt sich
auf die Geschwindigkeit der Erzeugung neuer Einheiten und die Anzahl der
Einheiten aus, die gleichzeitig eingesetzt werden können.
Glück verbessert
deine Chancen, bei allen Aspekten der Prüfung auf vorteilhafte Situationen zu
stoßen.
Ich versank tief in Gedanken. Anscheinend war die Physik
der Welt eng verbunden mit der zahlenmäßigen Rangfolge der Testsubjekte. Wenn
ich mich umschaute, konnte ich feststellen, dass meine Augen einen Radius von
etwa fünfhundert Metern durchdringen konnten. Dahinter ragte die Wand des
Nebels des Krieges auf. Anscheinend konnte ich umso weiter sehen, je höher
meine Wahrnehmung war.
Ich ließ das Fenster wieder im grünen Ballon verschwinden
und öffnete einen pulsierenden gelben Ballon. Es erschien ein Fenster, das sich
mit meinem Charakter befasste und drei Felder enthielt. Im ersten Feld fanden
sich allgemeine Informationen, im zweiten meine Eigenschaften, und im dritten –
dem kleinsten Feld – alle anderen Statistiken.
Charakterprofil
Phil, Mensch
Level: 1
Klasse: unbestimmt.
Erforderliches Level: 10.
Gesundheitspunkte:
1.100/1.100.
Schaden ohne Waffe:
11-15.
Wahrscheinlichkeit
eines kritischen Treffers: 36,5 %.
Boni: Reduzierung
der Kosten der Charakterentwicklung um 14 %, +6 Eigenschaftspunkte, die
beliebig investiert werden können.
Erfolge: Altruist
(+1 für alle Haupteigenschaften pro erworbenem höheren Level).
Haupteigenschaften
Stärke – 13.
Beweglichkeit – 11.
Intelligenz – 20.
Ausdauer – 11.
Wahrnehmung – 15.
Charisma – 17.
Glück – 14.
Verfügbare
Eigenschaftspunkte, die investiert werden können: 11 (5 für die
Haupteigenschaften plus 6 Bonuspunkte).
Charakterstatistiken
Leben: 3.
Eroberte Hexagone:
0.
Rang: 169/169.
Existenz-Ressourcen:
2/1.000.
Du verfügst nicht
über genügend Existenz-Ressourcen für die Aktivierung der Funktion des
Aufstiegs in den Leveln!
Für das nächste
Level (2) benötigst du 172 Existenz-Ressourcen-Punkte.
Aha – genau, wie ich es mir gedacht hatte. Die Prüfung
war tatsächlich ein Spiel. Man verfügte über mehrere Leben und konnte
wiederauferstehen. Wohingegen die Mobs, die man umbrachte, einfach
verschwanden, unter Hinterlassung reicher Beute.
Momentan hatte ich mir lediglich zwei dieser mysteriösen
Existenz-Ressourcen-Punkte sichern können, aber wer weiß – vielleicht fiel ja
aus dem nächsten Kirpi eine Axt heraus? Zu schade, dass Ring und Armband mein
Glück nicht mehr steigern konnten. Selbst das Netsuke Jurōjin, das seine Magie
bewirkte, ohne dass man es tragen musste, funktionierte an diesem Ort offensichtlich
nicht.
Was ich ebenfalls verstanden hatte war: Hier erreichte
man nicht durch Erfahrungspunkte höhere Level, sondern im Austausch gegen harte
Währung; sprich Existenz-Ressourcen. Das wiederum wies auf verschiedene
Szenarien für einen Aufstieg hin: Man investierte entweder in sich selbst oder
gab die Punkte für Upgrades der Kommandozentrale aus. Außerdem konnte man eine
Armee aus Mobs erschaffen oder die Statistiken der bestehenden Armee
verbessern. Nun, ich würde das alles noch herausfinden, nahm ich mal an.
Eines stand jedenfalls fest: Ob dies nun die reale Welt
war oder aber eine virtuelle – ich war ich selbst, nicht ein virtueller Avatar.
Meine eigene Ferse konnte das bezeugen. Die Erinnerung an die Zähne des Kirpi
war noch ganz frisch.
Und ob dies nun eine reale oder eine virtuelle Welt war,
in beiden Fällen musste ich mir eine Strategie für meine Weiterentwicklung
überlegen. Und um herauszufinden, wie ich mich entwickeln konnte, musste ich zu
spielen beginnen. Das war umso wichtiger, als alle anderen Teilnehmer
offensichtlich bereits in den Leveln aufgestiegen waren, der Rangfolge nach zu
schließen. Ich war wohl der Einzige, der noch herumstand, nachdachte und
versuchte herauszufinden, was eigentlich vor sich ging.
Ich stand auf. Die Wunde war bereits verheilt, ebenso wie
meine verbrannte Handfläche. Meine Gesundheit hatte sich regeneriert, und der
Balken war wieder vollständig gefüllt. Ich schaute mich um. Wo konnte bloß
diese verdammte Kommandozentrale sein? Und wo ich schon einmal dabei war,
suchte ich gleich den Boden ab. Vielleicht fand ich einen Stock oder so etwas,
mit dem ich mich gegen die Eltern des Kirpi und deren Kumpel wehren konnte.
Ich sah nichts dergleichen, aber etwa zwanzig Schritte
von mir entfernt, näher an einer Schlucht, lag ein perfekt runder weißer Stein
am Boden, in der anderen Richtung vom Wald. Sein Durchmesser betrug etwa einen
Meter.
Als ich näher herankam, bemerkte ich den Handabdruck in
der Oberfläche. Ich legte meine Hand hinein, die genau hineinpasste, und spürte
die Wärme, die der Stein ausstrahlte.
Zuerst geschah nichts.
Dann wusste ich
auf einmal, woher auch immer, dass dies die Kommandozentrale war und ich 100
Existenz-Ressourcen-Punkte brauchte, um sie zu aktivieren.
Ich verstand,
dass die Existenz-Ressourcen auch für andere Dinge benötigt wurden, nicht nur
die Aktivierung der Kommandozentrale. Die Existenz-Ressourcen machten mir das Leben hier erst möglich. Ein Tag auf
Pibellau kostete 13 Existenz-Ressourcen-Punkte. Das war ein Punkt für jede
Stunde lokaler Zeit.
Dem Verständnis folgten Realisierung und Erleuchtung:
Um hier zu überleben, musste ich töten. Um höhere Level zu erreichen, musste
ich töten. Um das zu bewahren, was ich dort
(in der realen Welt) erreicht hatte, musste ich hier gewinnen. Und um zu gewinnen, musste ich töten.
Darauf hatten Valiadis und Ilindi mich nicht vorbereitet.
Es tauchte eine neue Mitteilung auf, die mich darüber
informierte, dass ich einen Existenz-Ressourcen-Punkt verloren hatte. Mir blieb
nur noch ein einziger Punkt; das war eine Stunde Leben. Ressourcen können
keinen negativen Wert aufweisen – danach würde ich einfach ein
"Leben" verlieren.
Mein Handlungsplan für die unmittelbare Zukunft war also
einfach und klar: Ich musste Existenz-Ressourcen ernten, indem ich in meinem
Hexagon ein lokales Armageddon veranstaltete. Nach meiner
"Optimierung" der in World of Warcraft erworbenen Fertigkeiten hatte
ich zwar die feineren Details dieses Spiels vergessen, aber das war ja
schließlich nicht das einzige Spiel, das ich je gespielt hatte. Auf einmal war
etwas plötzlich wiederaufgetaucht, das tief in meiner Erinnerung vergraben
gewesen war: Mich erwartete die schöne, alte, vertraute Erfahrung des Farmens.
Das bedeutete jetzt nicht etwa, dass ich es wagen würde,
in den Wald vorzudringen. Die Gefahr, dass ich dort, ohne es auch nur zu
merken, ein paar blutdürstige Mobs auf mich aufmerksam machte, war viel zu
hoch. Daher entschied ich mich für das offene Terrain hinter der Schlucht, die
etwa acht Meter breit war und um die es keinen Weg herum gab. Es half alles
nichts – ich musste hinunterklettern.
Der Boden der Schlucht war in Nebel verborgen. Aus meiner
Erfahrung mit Computerspielen wusste ich jedoch, dass man dort die saftigsten
Mobs und die fetteste Beute finden konnte. Der Abstieg war steil, aber überall
an den Wänden hingen dicke, ausgetrocknete, abgebrochene Baumwurzeln. Ich hielt
mich an einer Wurzel fest und ließ mich langsam hinab, suchte mit dem Fuß nach
Halt.
Die Schlucht war so tief wie zwei aufeinandergestapelte
Menschen. Ich atmete erleichtert auf, als ich endlich unten ankam. Niemand war
zu sehen.
Ein Geräusch, als ob jemand mit einem nassen Handtuch
gegen eine Wand geschlagen hätte, ließ mich zusammenzucken. Die Haut auf meiner
Brust war versengt. Rauch stieg davon auf. 358 Schadenspunkte – das war
wahrlich kein Pappenstiel! Ich schrie aus vollem Hals, vor Schmerz und Angst
vor einem weiteren Überraschungsangriff.
Ein paar Meter von mir sah ich einen massigen …
Kreken.
Herr des Ortes.
Level 6.
Lebenspunkte:
1.800.
Lauf, Phil, lauf!
Ich trat zurück und bedeckte meine Augen mit dem Arm. Wie
sollte ich schließlich weiterkommen, wenn die Kreatur mir die Augen verbrannte?
Das Monster sah aus wie eine riesige Pferdebremse mit
einer langen Schnauze, die gerade begonnen hatte, sich erneut zu entrollen, um
mich mit mehr Napalmspucke zu übergießen. Ich drehte mich um und rannte.
Innerlich schrie ich in Erwartung weiterer Spucke auf, die auf meinem Rücken
landete.
Doch der Kreken hatte seinen Angriff bereits eingestellt.
Wahrscheinlich war er weitergezogen, vermutete ich.
Nach fünfzig Metern drehte ich mich um. Es war nichts zu
sehen.
Mitten in meinem erleichterten Seufzer traf mich eine
neue Salve Spucke.
Das Zeug fraß mir die Haut bis auf die Knochen vom
Gesicht. Die nächste Salve traf mich mitten in meinem in einem lauten Schrei
geöffneten Mund hinein. Sie glitt meine Kehle hinunter, versengte sie ebenso
wie meine Stimmbänder von innen.
Ich brach zusammen und träumte vom Tod. Alles, nur damit
dieser unerträgliche Schmerz aufhörte. Ich verlor das Bewusstsein.
Testsubjekt, du
bist jetzt tot.
Verbleibende Leben:
2.
Bis zur
Wiederauferstehung verbleibende Zeit: 3 … 2 … 1 …
[1] Hexagon: ein Sechseck.
Kapitel 2.
Die zweite Hälfte
Wenn es nicht so schwer wäre, würde es schließlich jeder
tun. Gerade dass es so schwer ist, macht es so großartig.
Tom Hanks
ICH STAND vor den Portalen und wusste nicht, welches ich wählen
sollte.
Blau oder Rot?
Türkisfarbenes Blau oder dunkles Weinrot?
Irgendwie zog ich Letzteres vor.
Ich ging auf das rote Portal zu und berührte es mit den
Fingerspitzen. Mein Herz setzte einen Schlag lang aus, als das Portal mich in
sich hineinsaugte.
Und dann war ich wieder genau dort, wo ich begonnen hatte
– ich stand vor Valiadis, Ilindi und Khphor. Ich konnte ein befriedigtes
Lächeln nicht unterdrücken: ich hatte diese verdammte Prüfung bestanden und
besaß noch immer das Interface.
Aber die drei sagten kein Wort.
„Stimmt etwas nicht?“, fragte ich verwundert.
Ilindi flüsterte Valiadis etwas zu, der die Stirn
runzelte. Dank meiner gesteigerten Wahrnehmung vernahm ich etwas wie „hat sein
Leben verloren“.
„Herr Valiadis? Ilindi?“ Zunehmende Furcht stieg in mir
auf. „Ist alles in Ordnung? Ich habe die Prüfung doch bestanden, oder nicht?“
„Du hast lediglich die Vorauswahl bestanden“, antwortete
Khphors Stimme in meinem Kopf.
„Was? Das war nicht die Prüfung? Und was ist dann mit der
Prüfung? Was muss ich anstellen, um sie zu bestehen? Wohin muss ich gehen? Was
muss ich tun?“
„Philip, beruhige dich“, sagte Valiadis matt. „Ich möchte
dir gratulieren. Du hast die Vorauswahl, die Vorprüfung bestanden, anders als
beim ersten Mal. Aber die eigentliche Prüfung hat längst begonnen.“
„Sie hat bereits begonnen?“ Ich lachte nervös. „Sie
meinen, ich stehe einfach hier und unterhalte mich mit Ihnen, und das ist Ihre
verfluchte Prüfung?“
„Es ist nicht unsere Prüfung, Mensch!“, erwiderte Ilinid
kühl. „Sie wird veranstaltet von den höherrangigen Rassen.“ Sie nickte Khphor
zu, der ungerührt blieb. „Philip, du kannst dich entspannen. Von dir hängt
nicht länger etwas ab. Die Prüfung hat bereits begonnen, und deine Nachbildung
nimmt daran teil.“
„Meine Nachbildung? Wovon redet ihr denn da? Warum nicht
ich selbst?“
„Die Nachbildung hält sich für den wahren Philip
Panfilov. Sie hat keine Ahnung von ihrer wahren Natur. Und allein in ihren
Händen liegt dein Schicksal. Du kannst nichts tun, um es zu beeinflussen.“
„Und was wird dort geschehen, in der Prüfung? Wie macht
sich meine Nachbildung?“
Ich hörte Ilindi etwas sagen wie: „Er hat bereits ein
Leben verloren“.
Was bedeutete das? War Phil 2 etwa schon eliminiert?
„Er hat noch zwei weitere Leben, Mensch“, erklärte Khphor
in meinem Kopf. „Aber für dich ist jetzt alles vorbei. Du wirst nun zu deiner
Welt zurückkehren und weiterleben, während du auf die Ergebnisse wartest.“
„Und was bedeutet das?“
„Das wirst du persönlich herausfinden, wenn Phil 2 die
Prüfung besteht“, antwortete Valiadis. „Dein Bewusstsein wird mit seinem
verschmelzen und du wirst dich an alles ‚erinnern‘ können, das er erlebt hat.
Ebenso wie er herausfinden wird, was mit dir in der Zwischenzeit geschehen ist.
Wenn er nicht gewinnt, wirst du kein Wort mehr von der Prüfung hören und zu dem
Tag zurückversetzt werden, an dem du das Interface erhalten hast.“
„Ich verliere das Interface, wenn irgendeine Nachbildung
meiner Person Ihre Tests nicht besteht? Wollen Sie mich verarschen?“
„Du verlierst nicht nur das Interface. Das gesamte Leben,
das du seitdem geführt hast, wird ausgelöscht. Du gehst zurück zum 18. Mai
2018.“
„Den Verlierern der Prüfung werden ihre Privilegien, ihre
Erfolge und ihr Entwicklungsfortschritt in ihrer eigenen Welt genommen.“ Die
harten Worte von Khphor brannten sich direkt in mein Bewusstsein ein. „Sie
werden zu dem Augenblick zurückgeführt, in dem sie das Interface erhalten
haben. Ihre Erinnerung an die nachfolgenden Erlebnisse wird gelöscht und das
Interface wird deinstalliert.“
Das war alles weit schlimmer, als ich es vermutet hatte.
Ich sollte in meinen schlaffen, fetten Körper zurückkehren? Erneut den Tag erleben,
an dem Yanna mich endgültig verließ? Erneut bei Null beginnen, nur diesmal ganz
ohne Statistikverstärker? Oder würde ich mich überhaupt um eine Verbesserung
bemühen, wenn ich alles vergaß, das ich seitdem erlebt hatte?
Aber es war nicht das, was mir am meisten Angst machte.
Am meisten fürchtete ich, meine Freunde aus diesem dann ausgelöschten Zweig der
Realität zu verlieren. Alik würde sich weiter besaufen, Gleb würde ebenfalls
weitersaufen und spielen und seine Wohnung verlieren, während mein aufgedunsenes
Ich mit nichts anderem beschäftigt war als Raids in WoW und dem „Schreiben“
eines Buchs; in einer Existenz wie ein Schmarotzerpilz, in der ich das Bier
literweise in mich hineinschüttete, um das Elend meiner Scheidung von Yanna zu
vergessen.
Mein Herz hämmerte. Angsthormone rasten durch meine
Adern, als mir klar wurde, was ich zu verlieren hatte. Sollte es denn wirklich
alles umsonst gewesen sein, was ich erreicht hatte? Würde ich einfach in die
Vergangenheit zurückkehren, ohne mich an meine Erfolge und die Person, die ich
sein konnte, auch nur zu erinnern?
Ich riss mich zusammen. Wegen Dingen durchzudrehen, die
noch gar nicht passiert waren, das war der sicherste Weg, alles schiefgehen zu
lassen.
„Nun geh schon, Mensch“, forderte Ilindi mich auf. „Du
kannst jetzt nur noch warten.“
„Werde ich lange warten müssen?“
„Das hängt von den Testsubjekten ab, nicht von uns. Du
wirst den Ausgang nur erfahren, wenn Phil 2 gewinnt. Ansonsten …“ Sie seufzte,
und es klang überraschend menschlich. „Geh, Mensch.“
„Und wohin soll ich geh…“ Ich hatte das Wort noch nicht
einmal beendet, als ich auch schon in eine riesige Leere hineinstürzte
* * *
Ich fand mich in
einem Auto wieder. Am Steuer saß Veronica. Ich hatte offensichtlich geflucht,
denn sie zuckte zusammen und drehte verwundert den Kopf in meine Richtung.
„Ist alles in Ordnung, Phil?“
Ich blicket in ihre smaragdfarbenen Augen, die Mitgefühl
zeigten. Die Erkenntnis, dass ich das Erlebte mit niemandem teilen konnte,
erdrückte mich beinahe. Wenn ich ihr etwas davon verraten hätte, würde sie mich
nur für einen Verrückten halten.
„Es ist alles in Ordnung.“ Ich biss die Zähne zusammen,
um den Zusatz „wahrscheinlich“ zu unterdrücken.
Rasch blickte ich an mir hinab und stellte fest, dass ich
wieder meine alte Kleidung trug. Meine Jeans waren heile, an meinen Füßen saßen
Turnschuhe, und die Ärmel meines Hemdes befanden sich genau dort, wo sie
hingehörten. Dann fiel mir auf, dass ich mein Handy in der Hand hielt.
Unmittelbar vor meiner Entführung hatte mich jemand von der US-amerikanischen
Botschaft angerufen. Sie war noch am Telefon.
Verdammt, wie war doch gleich ihr Name? Für sie waren
lediglich ein oder zwei Sekunden vergangen; ich allerdings hatte inzwischen
nahezu einen gesamten Tag erlebt. Und was für ein Tag es gewesen war!
Ich führte das Gerät ans Ohr und hörte die Stimme der
Frau. Sie sprach noch immer, in einem fehler- und akzentfreien perfekten
Russisch.
„… leider haben Sie auf meine E-Mail nicht reagiert, daher
musste ich Sie anrufen. Passt es Ihnen gerade?“
„E-Mail? Oh ja, richtig – in all dem Wirbel der
Ereignisse der letzten Zeit hatte ich meinen eigenen privaten Posteingang schon
eine ganze Weile lang nicht mehr überprüft. Ich verwendete stattdessen die neue
Firmen-E-Mail, die Gleb mir eingerichtet hatte.
„Ja … Tut mir leid, ich hatte noch keine Gelegenheit,
E-Mails abzuholen. Was kann ich für Sie tun?“
„Der Botschafter möchte Sie sehen, Herr Panfilov. Wäre
Ihnen der nächste Freitag recht?“
„Und wo möchte er mich sehen?“
„Hier in der Botschaft.“
„In Moskau?“
„Ja. Wir übernehmen die Kosten Ihres Flugtickets und
einer Hotelübernachtung. Und falls Sie sich entschließen sollten, ein paar Tage
länger zu bleiben, werden wir auch dafür aufkommen.“
„Entschuldigen Sie, könnten Sie bitte Ihren Namen
wiederholen?“
„Angela. Angela Howard.“
„Angela, verstehe ich das richtig – es geht um Herrn
Haqqani?“
Sobald ich gehört hatte, dass der Anruf aus der
amerikanischen Botschaft kam, hatte sich mir sofort der Name Jabar Aziz Haqqani
aufgedrängt. Das war ein zweiundfünfzig Jahre alter Terrorist, dessen
Aufenthaltsort ich gemeldet hatte.
Ich spürte Veronicas besorgten Blick auf mir und nickte
ihr lächelnd zu, um zu zeigen, dass alles in Ordnung war.
„Leider kenne ich den Grund Ihres Treffens mit dem
Botschafter nicht. Was soll ich ihm also sagen?“
„Bitte sagen Sie ihm, ich stehe für eine Besprechung zur
Verfügung.“
„Hervorragend! Senden Sie mir einfach ein Foto oder einen
Scan Ihres Passes als Anhang zu Ihrer Antwort auf meine E-Mail, und ich werde
Ihnen Flugtickets reservieren. Und wenn es nicht zu viel Mühe macht, sagen Sie
mir bitte, in welchem Hotel Sie übernachten möchten.“
Ich versprach ihr eine Antwort-E-Mail mit Anhang so
schnell wie möglich. Sie verabschiedete sich und legte auf.
Veronica war taktvoll und fragte mich nicht, wer mich da
angerufen hatte, aber der Lautsprecher meines Handys war gut genug, dass sie in
dem ansonsten leisen Wagen das Wichtigste hatte aufschnappen können.
„Ist das zu fassen? Ich habe an einem Wettbewerb
teilgenommen“, erfand ich aus dem Stegreif eine plausible Erklärung. „Die
Amerikaner haben ihn organisiert. Offensichtlich habe ich gewonnen. Sie haben
mich nach Moskau eingeladen.“
„Das gibt es ja nicht!“ Grinsend schlug sie mit der Hand
auf das Lenkrad. „Wirklich? Was für ein Wettbewerb war das denn?“
„Ich musste eine Abhandlung über die Rolle der englischen
Sprache in der modernen Gesellschaft verfassen. Ich habe das Essay ‚Herr Haqqani als Symbol der Emigranten aus
dem Nahen Osten‘ genannt.“
Es war vielleicht nicht die beste Geschichte, die ich
Veronica auftischen konnte, aber ich hatte etwas Ähnliches einmal im Internet
gesehen, und meine Freunde wussten ja, dass ich ein Schriftsteller war, also
war die Ausrede so schlecht gar nicht. Ich musste über mich selbst lächeln.
„Phil, du bist wirklich fantastisch! Gut gemacht!
Verdammt, wie hast du das bloß hingekriegt? Und wieso bist du noch immer
Single? Was für eine sinnlose Verschwendung all deiner guten Eigenschaften!“
Veronicas Begeisterung ließ mich rot werden. Auch sie selbst wurde auf einmal
verlegen. „Dass du mir bloß nicht auf dumme Gedanken kommst!“, warnte sie. „Ich
mag Alik. Trotzdem … Vielleicht hast du ja eine Freundin, die du vor uns
versteckst?“
„Du hast recht – ich habe eine Freundin.“
„Und wer ist sie?“, wollte Veronica lachend wissen.
„Unsere Firma“, grinste ich, als Zeichen, dass es ein
Scherz sein sollte.
Aber es war kein Scherz. Ich war mir alles andere als
sicher, ob Phil – meine Nachbildung – die Prüfung bestehen würde, aber ich
würde versuchen, so viel wie möglich für die Menschen zu tun, die an mich
glaubten. Dann konnten wenigstens sie weitermachen, wenn ich zu dem Tag
zurückkehren musste, an dem Yanna mich verlassen hatte.
Was wohl gerade bei der Prüfung vor sich ging? Und wie
funktionierte das alles?
* * *
Als wir vom
Flughafen (und von meiner Entführung) zurück ins Büro kamen, schickte ich
Veronica nach oben und blieb vor dem Gebäude stehen. Angeblich, um ein paar
Anrufe zu tätigen. In Wirklichkeit musste ich dringend mit Martha konferieren,
und das war im Büro einfach nicht möglich, obwohl wir uns ja nur mental
unterhielten.
Ich überquerte die Straße und ging die Chekhov-Straße
entlang zum Park. Dort fand ich eine freie Bank, setzte mich und aktivierte
meine virtuelle Assistentin.
Um ehrlich zu sein, fühlte ich mich ziemlich
niedergeschlagen. Wie hätte das auch anders sein können? Schließlich bestand
die hohe Wahrscheinlichkeit, dass alles verschwinden würde, was ich erreicht
hatte. Würde ich mich anschließend daran überhaupt noch erinnern können?
Kaum war sie erschienen, umarmte mich Martha und
versuchte, mich zu trösten. Es munterte mich auf, ihren Körper so dicht neben
meinem zu spüren. Das vertrieb die trübseligen Gedanken.
„Phil, es wird alles in Ordnung kommen!“
„Wovon redest du? Hast du dir die Protokolle bereits angeschaut?“
„Ich habe mir alles angeschaut. Ich habe dir doch gesagt,
auch wenn ich inaktiv bin, besteht dennoch eine Verbindung, und ich habe
Zugriff auf alle Protokolle, die dich betreffen. Du hast die Vorauswahl
bestanden! Deine Ergebnisse sind wahrscheinlich besser als die der anderen
Testsubjekte, und das bedeutet, dass du die Prüfung aus einer stärkeren
Anfangsposition heraus beginnst.“
„Aber wie wird das alles enden?“
„Das weiß ich nicht“, sagte sie bedauernd. „Wirklich –
ich habe keine Ahnung. Aber selbst wenn ich es wüsste, könnte ich dir die Frage
wahrscheinlich nicht beantworten. Je nach den Statistiken der anderen
Testsubjekte können sich ganz unterschiedliche Szenarien ergeben. Die
Hauptsache allerdings bleibt immer unverändert – es kann nur einen Gewinner
geben, der die Prüfung besteht. Es gibt keinen zweiten Platz und keinen
Trostpreis. Die höherrangigen Rassen wählen die Kandidaten für die zukünftige
Diagnose aus den normalen Exemplaren ihrer jeweiligen Rasse aus, die in keiner
Weise irgendwie außergewöhnlich sind. Aus diesen Kandidaten allerdings wollen
sie lediglich die besten verwenden.“
„Die besten der schlechtesten Kandidaten?“
„Ich würde sagen, die besten des Durchschnitts.“
In meiner Tasche vibrierte mein Handy. Es war Kesha
Dimidko.
„Phil, wir warten auf dich! Hast du etwa unsere
Besprechung vergessen?“
„Bin schon unterwegs.“ Ich legte auf und erhob mich von
der Bank.
Martha hielt mich fest und sah mir eindringlich in die
Augen. Sie legte eine Hand in meinen Nacken, zog meinen Kopf an sich heran und
legte ihre Stirn gegen meine.
„Es gibt nichts, das wir tun könnten, Phil. Deine Chancen
– ich meine, die Chancen deiner Nachbildung – stehen gut. Lebe einfach weiter
wie zuvor. Denke nicht daran, wie ‚du‘ dich schlägst, und du wirst diese
verdammte Prüfung überstehen. Versprich es mir!“
„Ich verspreche es.“
Ihr Blick wurde weicher. Sie küsste mich auf die Wange.
Eine Sekunde lang glaubte ich beinahe, Martha wäre ein lebender Mensch. Ich
versuchte, sie zu umarmen, doch meine Hände griffen durch ihren sich
auflösenden Körper mitten hindurch. Sie verließ mich, ohne den entsprechenden
Befehl abzuwarten. Das war so menschlich!
* * *
„Momentan haben
wir um die zehn Vorverkäufe. Bei vier der Firmen setzen wir gerade den Vertrag
auf.” Kesha las aus einem Bericht vor, der die Erfolge seiner Abteilung
zusammenfasste. „“Dabei handelt es sich um den Kravetz Finanzkonzern …“
„Jetzt warte mal, Kesha”, unterbrach ich ihn, bevor er
alle Firmen aufzählen konnte. „Halte die Dinge einfach allgemein. Das spart uns
allen Zeit.”
Das Ende der Arbeitswoche stand bevor, und wir hatten uns
zu unserem üblichen Meeting des leitenden Managements zusammengesetzt. Ja, ich
weiß – leitendes Management klingt ziemlich witzig. Aber unser Personal wuchs.
Wir hatten gerade zwei Fahrer eingestellt, die unsere Handelsvertreter ohne
eigenes Auto zu ihren Terminen fuhren.
„Ähem.“ Kesha hatte den Faden verloren und räusperte
sich, bevor er fortfuhr. „Wie auch immer – insgesamt sieben Unternehmen haben
schon bei unserer Outsourcing-Vertriebsabteilung unterschrieben. Wir haben neun
Leute für eine Probezeit eingestellt. Ich werde sie euch am Montag vorstellen.
Natürlich haben sie noch eine Menge zu lernen, aber sie besitzen Potenzial.
Veronica hat ja bereits berichtet, welche Firmen sich die
Personalvermittlungsabteilung hat sichern können. Das ist, alles in allem, der
Wochenbericht.“
Veronica hob die Hand. „Phil, darf ich etwas hinzufügen?“
Ich nickte. Sie lächelte und legte los. „Ich habe gerade
– wortwörtlich direkt vor dieser Besprechung – einen Anruf von Herrn Makarov
erhalten. Er hat sich für den neuen Assistenten bedankt, den wir ihm verschafft
haben. Seinen Worten zufolge hat der Assistent in einer Woche so viel zustande
gebracht, dass sich Makarov gar nicht vorstellen kann, wie er jemals ohne ihn
ausgekommen ist.“
„Entschuldige – Makarov? Unser Makarov?“, fragte Rose.
Veronica nickte stolz. „Ja, Kaum zu glauben, was?“
Alle schwiegen einen Augenblick. Makarov war bei Weitem
nicht so bedeutend wie Valiadis, aber nach regionalem Maßstab war er ein
führendes Unternehmen. Unser Ansehen in geschäftlichen Kreisen wuchs, und das
war fantastisch.
„Danke, Veronica. Wenn niemand etwas hinzuzufügen hat,
schlage ich vor, wir befassen uns jetzt mit der Bürorenovierung. Alik, ich habe
gehört, du hast gute Nachrichten?“
„Also die Renovierungsarbeiten sind alle erledigt, eine
Entscheidung über die Mäbel wurde getroffen“, verkündete Alik errötend. Er war
es noch nicht gewohnt aufzustehen und vor anderen zu sprechen. „Ab nächsten
Montag können wir einziehen. Wie auch immer – das war’s. Wenn jemand Lust hat,
können wir uns die Sache nach dem Meeting ja mal anschauen.“
Seine letzten Worte gingen im allgemeinen Beifall unter. Wir
hatten es alle satt, im Gebäude zwischen den verschiedenen Büros der einzelnen
Teilhaber herumzuwandern.
„Das ist hervorragend!“ Am meisten freute sich der
übergewichtige Herr Katz. „Meine Beine schaffen das einfach nicht mehr, dauernd
die Treppen hoch und hinunter zu laufen.“
Ich unterdrückte ein Lächeln. Mit seinen Beinen war alles
in Ordnung – das Problem war seine Kurzatmigkeit. Unser Anwalt rauchte zwei
Schachteln Zigaretten am Tag.
„Das wurde auch Zeit“, unterstützte ihn seine Frau Rose.
„Heißt das jetzt, wir geben Gorelik alle unsere alten Büros zurück? Was hast du
entschieden?“
„Wir geben sie zurück“, bestätigte ich.
„Und wann kommt die ganze Ausrüstung?“, wollte Gleb
wissen. Er hatte für sein Grafikdesign einen großen Bildschirm bestellt.
„Sie stellen gerade alles zusammen“, erwiderte Alik. „Es
sollte am Montagmorgen geliefert werden.“
Begeistert stieß Gleb die Faust in die Luft, bevor er
sich in seinem Stuhl zurückfallen ließ. Der Stuhl war beschädigt und wurde nur
noch durch ein wenig Kleister zusammengehalten, doch Gleb freute sich so sehr,
dass er das ganz vergessen hatte. Der Stuhlrücken gab nach, und Gleb wäre
beinahe zu Boden gestürzt. Kesha konnte ihn nur gerade so noch auffangen.
„Verdammt, wann kommen endlich die neuen Möbel?“, brummte
Gleb.
„Auch am Montag“, antwortete Alik ungerührt und bemühte
sich, nicht zu lachen.
„Klasse. Dann schlage ich vor, wir beenden das Meeting
und schließen die produktive Woche mit dieser guten Nachricht ab.“
„Einen Augenblick noch, Phil.“ Veronica stand auf und
lächelte geheimnisvoll.
Irgendwie waren wir in dieser Runde ganz schnell in einen
sehr informellen Umgang miteinander verfallen. Die einzige Person, die niemand
mit dem Vornamen ansprach, war Herr Katz, unser alter Anwalt.
„Ja, Veronica?“
„Hört mal alle – ich schlage vor, wir feiern den Freitag,
das Ende der Renovierungsarbeiten und den bevorstehenden Umzug ins neue Büro!“,
verkündete Veronica triumphierend. Ihre grünen Augen funkelten. „Was haltet ihr
davon?“
„Ihr könnt ja gerne feiern, aber wir alten Leute machen
nicht mit“, erklärte Herr Katz gesittet. „Unsere Kinder sind gerade zu Besuch
gekommen.“
„Wir sollten Cyril, Greg und Marina einladen“, schlug
Kesha vor. „Ansonsten sollten wir heute allerdings nur mit der alten Gang
ausgehen, nicht mit den neuen Leuten. Wer ist dabei?“
Er hatte recht – die neuen Mitarbeiter waren so neu, dass
mein Interface sie bislang noch nicht einmal meinem Clan hinzugefügt hatte.
Aber die drei, die wir von Ultrapak her kannten, waren bereits vollwertige
Clan-Mitglieder, auch wenn sie weder Firmengründer noch Manager waren.
„Ich!“ Gleb hob die Hand. „Trinken werde ich nichts, aber
die Gesellschaft genießen. Lena ist einverstanden; ich habe ihr gerade eine SMS
geschickt.“
Die gesamte Gruppe hatte bereits das Vergnügen gehabt,
Lena kennenzulernen, als sie im Büro vorbeigekommen war, um nachzusehen, was
ihr Mann tat. Ihr Misstrauen war verständlich – nach Glebs zahllosen Eskapaden
würde sie eine Weile brauchen, bevor sie ihm wieder vertrauen konnte.
„Okay, also das sind ich, Marina, Alik, Veronica, Cyril,
Greg und Gleb, sieben Leute“, zählte Kesha. „Was ist mit dir, Phil?“
„Geht nur ohne mich“, wehrte ich ab. Ich war in so
miserabler Stimmung, dass selbst ein paar Gläser Alkohol nichts dagegen hätten
ausrichten können, und hätte den anderen nur die Stimmung verdorben.
„Och, warum denn nicht?“, maulte Veronica. „Wir müssen
doch auch feiern, dass du den Wettbewerb gewonnen hast!“
„Welchen Wettbewerb?“, fragten die anderen wie aus einem
Mund.
„Phil hat einen amerikanischen Wettbewerb gewonnen, und
jetzt weigert er sich, das zu feiern!“
„Nun komm schon, Chef – schließ dich uns an!“, versuchte
Alik, mich zu überreden.
„Keine Scheiße, Kumpel?“ Gleb schlug mit der Faust auf
den Tisch. In der letzten Zeit übernahm er mehr und mehr von Aliks
Gossensprache. „Du bist frei und Single – warum also nicht?“
„Genau!“, pflichtete Kesha ihm bei. „Phil! Was ist mit
dem Unternehmensgeist? Dem Teambuilding und so weiter?“
Veronica stampfte mit dem Fuß auf. „Mach mit, Phil!“
Ich erinnerte mich, dass ich Martha versprochen hatte,
ein ganz normales Leben zu leben. Und natürlich wäre ich sofort mit den anderen
mitgekommen, wenn da nicht die Gefahr bestanden hätte, alles zu verlieren. Was
also war das Problem?
„Okay, ich bin dabei“, seufzte ich.
„Ja!“ Veronica stieß mit der Faust in die Luft, die
anderen klatschten sich ab.
Herr Katz nickte zufrieden. Nur seine Frau machte die
Lippen schmal. Sie glaubte an Hierarchien und war der Auffassung, ein Chef
sollte sich nicht auf das Niveau seiner Untergebenen herablassen.
Für mich jedoch waren diese Menschen in erster Linie
Freunde, nicht Untergebene. Und was war das schon für eine Freundschaft, wenn
man sich bei der Arbeit zwar freundlich, aber förmlich verhielt?
* * *
Der Nachtclub
Imperium, in dem ich mit dem Vorschlaghammer im Superfinale gekämpft hatte, war
noch immer zu teuer für uns. Also begaben wir uns zur Anomalie. Das war ein
nettes Lokal, in dem man billig essen und außerdem auch tanzen konnte. Wir
sicherten uns einen Ecktisch, wo wir ungestört waren, und ließen uns Zeit mit
dem Bestellen. Jeder von uns suchte aus, was er wollte.
Um diese Uhrzeit war es im Club noch ziemlich ruhig. Wir
sprachen über die unterschiedlichsten Themen, wie Fußball und Filme – ich war
schon seit Ewigkeiten nicht mehr im Kino gewesen – und Fernsehshows. Und ich …
ich musste an meine Nächte mit Vicky zurückdenken.
Nach einer Weile wurden die zuvor eher allgemeinen
Gespräche persönlicher und unsere Gruppe spaltete sich in Paare auf. Alik
flüsterte mit Veronica, Kesha und Marina knutschten. Cyril, Gleb und ich
blieben uns überlassen.
Auch ganz ohne Interface hätte ich bemerkt, dass die
Laune aller gut war. Am meisten freute ich mich allerdings für Gleb. Ganz
unbeeindruckt schaute er den anderen beim Biertrinken zu und blieb bei seinem
Mineralwasser. Kesha und Alik hatten sich sogar für etwas Härteres entschieden.
Die einzige Erklärung, die ich für Glebs absolutes Desinteresse an Alkohol
hatte, war die Rolle, die das System nach der Entfernung des Debuffs gespielt
hatte. So ähnlich war es auch mit meinem Rauchen gewesen. Der Debuff des
Nikotinentzugs war abgelaufen, und das war es dann. Jegliche Lust auf das Zeug
war verschwunden.
Natürlich gibt es so etwas nur selten, wenn man ohne
Interface lebt. Normalerweise müssen ehemalige Alkoholiker und Raucher noch
lange, wenn nicht sogar für immer schlucken, wenn sie sich ihren alten
Versuchungen ausgesetzt sehen.
Nach dem Essen verteilte die Gruppe sich im Lokal. Cyril
und Gleb spielten Billard, und die Frauen zerrten ihre Partner zur Tanzfläche.
Alik tanzte geradezu fieberhaft mit Veronica. Die ernsthafte Persönlichkeit,
die er den Tag über an den Tag legte, war verschwunden. Kesha trieb sich
zögernd im Hintergrund herum und trat von einem Fuß auf den anderen. Ich hatte
es mir auf einem Sofa bequem gemacht und beobachtete alle.
Wann war ich das letzte Mal in einem Nachtclub gewesen?
Ich konnte mich nicht mehr genau erinnern. Es war jedenfalls schon lange her;
ich glaube, zur Zeit meiner ersten Dates mit Yanna. Ja, genau – als wir ihren
Studienabschluss gefeiert hatten.
Ich war damals am Ende so betrunken gewesen, Yanna hatte
mich gemeinsam mit einer Freundin aus dem Lokal tragen müssen. Ich schämte mich
dieser Episode noch heute. Nicht weil ich zu viel getrunken hatte. Wer tut das
nicht hin und wieder? Nein, sondern weil ich besoffen war, statt für die jungen
Frauen da zu sein, falls die einen Beschützer gebraucht hätten. Wenn etwas
passiert wäre, hätte ich sie nicht verteidigen können. Obwohl ich zu dem Zeitpunkt
schon fast dreißig Jahre alt war, hatte mein Verantwortungsgefühl den negativen
Bereich noch immer nicht verlassen.
Es war merkwürdig, wie ich das auf einmal verstand. Und
deshalb trank ich jetzt georgisches Mineralwasser, statt das Bier zu genießen,
dass ich einmal so sehr geliebt hatte. (Nun ja, das System hätte mich auch
gleich vor einem Rausch gewarnt, vor giftigem Äthanol im Blut, vor der
Zerstörung meiner Neuronen im Gehirn und vor erhöhten Östrogenwerten …) Tja,
und wo ich schon einmal dabei war, konnte ich gleich ein Auge auf meine Freunde
haben.
Noch merkwürdiger war allerdings, dass mir das überhaupt
nichts ausmachte. Ich fühlte mich wohl, ich war zufrieden. Insgesamt löste die
Gesellschaft der anderen ein warmes Gefühl in mir aus. Wenn da nicht diese
blöde Prüfung gewesen wäre …
Was zum Teufel war denn das? Meine hohe Wahrnehmung
entdeckte etwas, das nicht zur pulsierenden Musik im Club passte.
Ich lauschte und sah mich um.
Um die Billardtische herum braute sich ein Tumult
zusammen. Männer schrien so laut, es war trotz der Musik zu hören.
Ich sprang vom Sofa und begab mich in Richtung des
Aufruhrs. Unterwegs begann ich bereits damit, die Situation einzuschätzen.
Cyril rangelte mit einem Typen in einem farbenfrohen, eng
geschnittenen Hemd. Gleb hatte sich zwischen die beiden geworfen, wurde jedoch
von einem Rausschmeißer fortgezerrt. Ich hatte keine Ahnung, was den Streit
ausgelöst hatte, aber in der letzten Zeit hatte ich mich an solche Dinge
gewöhnen müssen. Ich spürte weder Furcht noch einen Adrenalinstoß, sondern nur
Kontrolle, Selbstvertrauen und den Wunsch, die Angelegenheit friedlich zu
bereinigen. Nicht aus Angst, sondern in dem Bewusstsein, dass ich auch kämpfen
konnte.
Ich stellte mich zwischen Cyril und den hochgewachsenen
Kerl, Alexander Dorozhin, 23 Jahre alt. Mittlerweile merkte ich mir Namen und
Alter aller Leute um mich herum und fügte sie meiner KIDD-Datenbank hinzu. Das
war mir regelrecht zur zweiten Natur geworden. Man wusste ja nie, wann man
diese Informationen brauchen konnte.
„Stopp!“, brüllte ich Cyril an. Er war knallrot im
Gesicht, keuchte und hämmerte mit halb geschlossenen Augen mit den Fäusten in
die Luft. „Hör auf damit, Cyril!“
Sein Gegner nutzte sofort den Vorteil der Tatsache aus,
dass Cyril auf mich hörte und die Hände sinken ließ. Er schlug Cyril die Faust
erst gegen das Ohr, dann gegen den Nacken und schließlich gegen die Wange.
Cyril krümmte sich vor Schmerz.
Dorozhkin wollte weiter auf meinen Freund losgehen; ich
musste ihn gewaltsam zurückhalten.
„Hast du den Verstand verloren, Mann? Er hat doch
aufgehört. Warum schlägst du immer noch auf ihn ein?“ Ich stellte mich vor
Cyril und breitete die Arme aus. An mir kam der Kerl nicht mehr vorbei.
„Wer zum Teufel bist denn du?“, fragte Alexander böse.
„Ich bin Philip. Der Geschäftsführer des Unternehmens, in
dem dieser Fettwanst arbeitet.“ Ich versuchte, durch diesen Scherz der
Situation ein wenig die Spannung zu nehmen. „Er ist mein Mitarbeiter, ich bin
für ihn verantwortlich. Also, was gibt es?“
„Und was für ein Unternehmen ist das?“, fragte er mit
gerümpfter Nase.
„Die Große Jobvermittlungsagentur.“
„Sergei, hier ist noch einer von diesen Großmäulern“,
brüllte er über meine Schulter hinweg jemandem zu. „Setz ihn vor die Tür!“
Der Rausschmeißer, der Gleb noch immer festhielt,
verpasste ihm einen Fausthieb in die Rippen. Gleb sackte zusammen.
Dann ließ er seine Fingergelenke knacken und kam auf mich
zu. Name: Sergei, Alter: 26, Stärke: 28,
Fertigkeit im Ringen: 7. Er war ein beachtlicher Gegner, und, ich weiß, das
klingt jetzt wie ein Widerspruch, aber ich wollte wirklich keine körperliche
Auseinandersetzung.
Wo zum Teufel blieben denn die Sicherheitsleute?
Irgendwie erinnerte ich mich daran, dass sie vorhin verschwunden waren. Während
unseres Essens, hatten sie uns noch mehrfach drohende Blicke zugeworfen und
anschließend gelacht.
„Hey, Mann, wie wäre es denn, wenn wir die Sache
friedlich beilegen?“, sagte ich zu Dorozhkin. „Wir sind doch alle
hierhergekommen, um Spaß zu haben. Warum sollten wir uns den gegenseitig verderben?“
„Hau ab, du Arsch!“, knurrte er und schaute mich dabei
nicht einmal an, unwillig, mir weiter seine Aufmerksamkeit zu schenken. Seine
glasigen Augen waren auf Cyril gerichtet. Seine Statistiken zeigten eine
Vielzahl an Buffs und Debuffs. Er befand sich in den Anfängen eines Rausches,
was sowohl seine Ausdauer als auch seine Lebenskraft erhöhte und seine
Selbstkontrolle verringerte. „Mit dir rede ich nicht. Sergei, sieh zu, dass du
den Kerl loswirst!“
Etwa einen Zentimeter, bevor sich Sergeis Hand auf meine
Schulter legte, spürte ich die Berührung kommen. Ich duckte mich, drehte mich
um und nahm eine Kampfhaltung ein, fest entschlossen, stattdessen Sergei
loszuwerden, wenn der Typ sich nicht zurückhielt.
Das Adrenalin, das durch mein kochendes Blut floss,
sorgte für Aufruhr in mir, hob meine Schmerzgrenze an und beschleunigte meine
Reaktionszeit. Sergei ging vor wie ein Dampfhammer. Er versuchte erneut, mich
zu packen, doch wieder wich ich aus und schubste dann Dorozhkin beiseite, der
ein weiteres Mal auf Cyril losgehen wollte.
Inzwischen hatten sich etliche Zuschauer um uns herum
versammelt. Darunter sah ich auch meine Freunde. Veronica hielt Alik zurück,
der begierig war, Cyril und mir zu helfen. Marina rief nach dem
Sicherheitsdienst.
Der Rausschmeißer war offensichtlich zu dem Schluss
gekommen, dass ich zu schnell für ihn war. Er stieß mich gegen den Billardtisch
und versuchte, mich in eine Ecke zu treiben. Hinter seinem Rücken rangen Cyril
und Dorozhkin erneut miteinander. Cyril war am Verlieren; seine schwerfälligen
Hiebe trafen nichts als Luft. Blut tropfte in seine Augen, seine Lippen waren
aufgeplatzt. Er bedeckte sein Gesicht mit seinen Händen. Es war eher eine
Verteidigung als ein Angriff. Der andere Kerl lief regelrecht Amok und prügelte
rechts, links und in der Mitte auf Cyril ein.
Doch niemand griff ein; nicht einmal Alik.
Sergei schaffte es, meinen Kragen zu fassen zu bekommen,
aber damit endete sein Fortschritt auch bereits wieder. Angetrieben von
berechtigtem Zorn, schlug ich ihm auf die Nase, und als er sich vor Schmerz
krümmte, ließ ich meinen berühmten Aufwärtshaken gegen seinen Kiefer folgen,
der dabei ausgerenkt wurde.
Eine Reihe von Mitteilungen informierte mich über den
kritischen Schaden, den ich ihm zugefügt hatte. Die Zahlen waren geradezu
verrückt. Sie lagen alle über 1.000, aber momentan war ich dafür einfach nicht
in Stimmung.
Ich warf mich zwischen Cyril und den besoffenen
Dorozhkin, verpasste letzterem einen Präventivschlag in den Solarplexus und
schaltete ihn damit aus. Er taumelte zurück und ging zu Boden, hielt sich dabei
den Bauch.
Erst dann fiel mir auf, dass die Musik nicht mehr
spielte. Mitten in der tödlichen Stille tauchten auf einmal die
Sicherheitsleute auf. Sie drängten sich durch die Menge und verteilten sich.
Zwei von ihnen kümmerten sich um Dorozhkin und Sergei, und vier andere packten
Cyril und mich und zerrten uns fort. Ihr Griff war so eisern, dass ich mich
nicht befreien konnte.
„Das bedeutet das Ende deiner Firma, hast du kapiert?“,
brüllte Dorozhkin mir nach. „Das Ende!“
Die Sicherheitsleute trugen mich und Cyril vor die Tür,
wo sie uns auf den Bürgersteig warfen. Dann lachten sie und begannen, sich über
das zu unterhalten, was gerade passiert war.
Einer von ihnen zündete sich eine Zigarette an und fragte
mich ganz ruhig: „Hey, Kerl, hast du genug?“
„Wovon?“
„Genug davon, lebendig zu sein? Du hast dir gerade einen
ganzen Berg von Problemen eingehandelt. Hast du überhaupt eine Ahnung, mit wem
du dich gerade angelegt hast? Weißt du, gegen wen du die Hand erhoben hast?“
„Gegen einen Kerl, der meinen Freund angegriffen hat!“,
knurrte ich.
„Er hat angefangen!“, keuchte Cyril. „Er hat behauptet,
der Billardtisch, an dem wir gespielt haben, sei seiner. Er hat geflucht und
uns beleidigt …“
„Er hat auch das Recht dazu“, unterbrach ihn einer der
Sicherheitsleute. „Er ist schließlich der Sohn von Edward Dorozhkin.“
„Und wer zum Teufel ist Edward Dorozuhin?“, fragte ich.
„Mann, von welchem Planeten stammst du denn?“, kam
ungläubig die Gegenfrage. „Er ist der erste stellvertretende Bürgermeister!“
„Scheiße!“, flüsterte Cyril. „Es tut mir so leid,
Phil. Das wusste ich nicht …“
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Veröffentlichung am 15. September 2019
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