Kapitel
Eins. Flaute
1
DER TURM DER Finsternis war beeindruckend. Geradezu überwältigend.
Die ungeheure Pracht und Größe des tiefschwarzen
Obelisken, der die Bucht überragte, ließ sich auch mit den schillerndsten
Worten nicht beschreiben. In Wirklichkeit sah er viel —
In Wirklichkeit?
Ich stieß einen Fluch aus und erschauderte.
In Wirklichkeit! Verdammt noch mal! Das Spiel war für
mich schon Wirklichkeit geworden! Andererseits … in gewisser Weise traf das ja auch
zu, oder?
Ich konnte mich nicht mehr ausloggen. Ich hatte keine
Hoffnung mehr, jemals in meiner Virtual-Reality-Kapsel aufzuwachen. Der tote
Körper meines Charakters gehörte mittlerweile fest zum Inventar des Spiels. Er
hielt mich wie ein teuflisches Netz umschlungen und würde mich erst wieder
loslassen, wenn ich wiedergeboren würde.
Im Spiel wiedergeboren natürlich. Oder wenn ich im wahren
Leben starb. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Traurig, aber so sah es aus.
Sobald mir das klar geworden war, konnte die eindrucksvolle
Illusion des Turms mich nicht mehr fesseln. Ich wollte ihn nicht mehr
betrachten, sondern hätte mich sogar am liebsten wieder in meiner Kabine verkrochen.
Dennoch zwang ich mich dazu, an Deck zu bleiben. Verdammt noch mal! Schon so
lange hatte ich versucht, in die Hauptstadt zu gelangen, da durfte ich jetzt
nicht im Dunkeln kauern und mir alles Interessante entgehen lassen.
Das Schiff glitt den Azurfluss hinunter, dessen
entlegenes Ufer vom Morgennebel verhüllt war. Ab und an tauchten kleine Inselchen
aus dem milchigen Dunst auf, der über dem Wasser schwebte. Wohin ich auch
schaute, flackerten Navigationslichter.
Schon bald teilte sich der Fluss in zahlreiche schmalere
Wasserläufe. Die Strömung wurde stärker. Die Ork-Crew stand mit langen Stangen
in den Händen an Deck, um das Boot bei Bedarf um Hindernisse herum zu lenken.
Auf der Mastspitze breitete mein untotes Haustier seine
Flügel aus und stieß ein donnerndes Kraah!
in die Lüfte.
Elendes Vieh! Leider erkannte das Spiel mich nicht als echten
Spieler, sodass ich mein Haustier nicht kontrollieren konnte. Das Miststück
machte, was es wollte.
Die Orks hoben die Köpfe und funkelten den Vogel an.
Dennoch wollte sich keiner von ihnen auf den Mast wagen. Sie wussten aus
Erfahrung, dass der Vogel sich nur für kurze Zeit vertreiben ließ.
So oder so hatten sie Wichtigeres zu tun: Der Steuermann
kam mit der Strömung nicht zurecht, sodass der Rest der Crew das Boot von
zahlreichen Strudeln und Wellenbrechern wegbewegen musste.
Nach den jüngsten Statistiken befanden sich stets etwa eine
halbe Million Spieler in der Stadt. Selbst die horrenden Preise vor Ort konnten
sie nicht abschrecken. Da die Hauptstadt der dunklen Seite in weiser
Voraussicht auf einer Vielzahl kleiner Inseln errichtet worden war, ließen sich
die rastlosen Bewohner ein wenig besser im Griff halten. Gerüchten zufolge gab
es sogar Pläne, neuen Spielern erst ab Level 25 Zugang zur Stadt zu gewähren,
umgesetzt hatte man dies jedoch noch nicht.
Ich erhaschte einen Blick auf die steinernen Uferbefestigungen,
die durch den Dunst zu erkennen waren. Dann glitt das Schiff hinaus ins Freie,
der Wind pustete den trüben Nebel davon. Die Strahlen der aufgehenden Sonne
glitzerten auf dem unruhigen Wasser.
Sofort verschlechterte sich meine Wahrnehmung. Ich zog
mir die Kapuze über den Kopf.
Von hinten fiel ein dunkler Schatten auf mich. Ich drehte
mich um. Neben uns ragte der Rumpf einer unfassbar hohen Galeere auf. Auf ihrem
Weg zum offenen Meer überholte sie unseren Kahn in wenigen Sekunden, und die
Spieler an Deck machten kein Hehl daraus, wie sehr sie uns verachteten.
Eilig setzten die Orks die Segel, die sich sofort im Wind
blähten und das Schiff in den Hafen trieben. Zwischen den Wellen blitzte der
enorme Rücken eines Seeungeheuers auf und verschwand dann in den Tiefen.
Ich löste die Finger von der Reling, die ich fest
umklammert hatte. Was für ein gigantisches Monster! Was, wenn es uns mit Haut
und Haar verschlungen hätte?
Doch der Leviathan war schnell vergessen, als ich einen
riesigen, goldenen Drachen erspähte, der von einer der Inseln in die Luft stieg,
zwei Greife im Gefolge. Die funkelnde Rüstung der Reiter spiegelte die
Sonnenstrahlen gleißend hell. Und zu allem Überfluss tauchte hinter dem Turm
der Finsternis ein fliegender Dreimaster auf.
Mir war die Kinnlade heruntergefallen, doch langsam kam
ich wieder zu mir und zuckte die Schultern. Das war alles nur virtuell. Es war
nur ein Spiel.
Allerdings konnte ich mir das einreden, wie ich wollte —
es half mir auch nicht weiter. Die Hauptstadt der dunklen Seite wirkte so
grenzenlos, dass mein Gehirn schier überfordert war. Wo sollte ich hingehen?
Und wie? Und wozu? In dieser riesigen Welt spielten die Probleme eines Toten
nicht die geringste Rolle.
Ich knirschte verbissen mit den Zähnen. Egal! Schließlich
ging es mir gerade auch nicht anders als bei den Malen zuvor, als ich einer unbekannten
Karte gefolgt war. Ich hatte nie gewusst, was mich erwartete. Ich würde es
schon herausfinden, das stand fest. Vielleicht war das noch nicht einmal nötig,
falls Isabella die Zeit sinnvoll genutzt und die richtigen Leute gefunden
hatte.
Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter. Für mich
stand zu viel auf dem Spiel, als dass ich meine ganze Hoffnung auf eine
flüchtige Bekanntschaft setzen durfte. Ich wusste nicht einmal, wie sie nach so
langer Trennung auf meine Ankunft reagieren würde. Geduld war bislang nicht die
Stärke der Priesterin gewesen.
Ich zwang mich, meine Zweifel zu verbannen. Mittlerweile
lagen nicht mehr so viele Level zwischen uns. Sie konnte mich nicht mehr mit
einem einzigen Stabhieb vernichten.
Ich lachte. Nun würde ich mich nicht mehr unterdrücken
lassen. Ich würde dafür sorgen, dass sie meine Sichtweise verstand. Alles würde
bestens laufen.
Ganz sicher würde ich Isabella schon sehr bald sehen.
Schließlich verband uns eine Quest. Wir konnten uns gegenseitig auf der Karte
finden. Und wenn ich ihrer Markierung Glauben schenken durfte, wartete sie
bereits am Pier auf mich. Die ideale Gelegenheit, sich in Ruhe auszusprechen.
WIE SICH
HERAUSSTELLTE, war der Hafen einfach gigantisch, größer als die gesamte Insel,
auf der Stone Harbor lag. Auf der einen Seite war er mit Tiefwasserkais für
ozeantaugliche Schiffe gesäumt, auf der anderen mit Stegen für kleinere
Flussgefährte. Der Hafen war vollkommen überfüllt, doch wie durch ein Wunder gab
es keinerlei Kollisionen zwischen den Booten.
Ein Wunder? Von wegen. Hier war Navigationszauber am
Werke. Der Ork-Steuermann starrte durchdringend auf die geisterhafte
Zauberkugel, die ihn lotste.
Nach und nach kamen die anderen Passagiere an Deck. Sehr
viele waren es allerdings nicht, denn nur wenigen Spielern war es gelungen,
ihren Login genau auf die Ankunft in der Hauptstadt abzustimmen. Das war auch
gar nicht nötig. Sobald das Schiff angelegt hatte, wurden ihre jeweiligen
Respawn-Punkte automatisch an einen der örtlichen Türme der Macht verlegt. In
der Hauptstadt gab es davon eine ganze Menge. Auf jeder auch nur im
Entferntesten wichtigen Insel befanden sich kleinere Orte der Macht.
Auch Neo war an Deck erschienen und blieb mit offenem
Mund wie angewurzelt stehen. Die anderen Spieler musterten unsere weißen
Mönchsgewänder mit den aufgestickten Silberphönixen aus den Augenwinkeln. Sie
wagten es zwar nicht, Fragen zu stellen, doch ihre Aufmerksamkeit war mir
äußerst unangenehm.
Es gab kein Vertun: In Gewändern eines Gottes des Lichts
am Turm der Finsternis zu erscheinen, war nicht die beste Idee. Welchen Sinn
hatte mein Inkognito, wenn jeder Dahergelaufene in mir einen potenziellen
Unruhestifter sah? Je eher ich diese Gewänder loswurde, desto besser.
Einige größere Boote, die an chinesische Dschunken
erinnerten, segelten an uns vorbei. Unser Steuermann ließ sie durch und lenkte
unser Schiff dann in die entlegenste Ecke des Hafens zu einem schiefen Anleger,
der hin und wieder vom Kielwasser anderer Schiffe überspült wurde.
Hier standen statt malerischer Gebäude mit
Buntglasfenstern nur flache Lagerhallen, statt der betriebsamen Tätigkeit am
Hafen herrschte in den menschenleeren, schmalen Gassen Stille.
Nicht weit von unserer Anlegestelle tanzten ein paar
Fischerboote auf den Wellen. Da ich als Nachtjäger über einen besonders
ausgeprägten Geruchssinn verfügte, nahm ich den widerlichen Gestank von
verwesendem Fisch wahr.
Unser Boot stieß mit der Seite sanft gegen die hölzernen Stegpfosten.
Ich spürte einen leichten Ruck. Kaum hatten die Seeleute die Laufplanken
hingelegt, schrie der gefährlich aussehende Kapitän aus Leibeskräften:
„Alle von Bord!
Schnell! Beeilt euch!”
Die Passagiere eilten über die wackeligen Planken auf den
Steg. Eine Gruppe lärmender Hafenarbeiter ging an ihnen vorbei auf das Schiff
zu und verschmolz mit der unruhigen Menge an Spielern, die bereits Karten für
die Rückfahrt gekauft hatten.
Ich befreite mich aus der wogenden Menschenmasse und blieb
mitten auf dem mit Fischschuppen übersäten Anleger stehen. Während ich die
Schwerter hinter meinem Rücken zurechtrückte, sah ich mich nach Isabella um.
Die Elfe wartete am nächsten Lagerhaus. Zu meiner großen
Überraschung trug sie nicht ihre übliche auffällige Kampfrüstung, sondern einen
schlichten Umhang, lang und unförmig.
Neo zupfte mich am Ärmel. „Tante Bella!“
„Bitte sprich leise“, sagte ich, während ich auf Isabella
zuging. Sie hatte sich bereits erhoben und starrte uns ungläubig an.
Ungläubig? — Allerdings! Ihr fielen fast die Augen aus
dem Kopf!
„Was zum Teufel?“, stieß sie hervor, als wir näherkamen.
„Was hast du mit dem Jungen gemacht, Schätzchen?“
Ich zuckte die Schultern. „Das ist einfach so passiert.“
„Einfach so passiert?“, zischte sie wütend. „Einfach passiert?“
Neo versteckte sich schnell hinter meinem Rücken.
„Ja“, erwiderte ich.
„Man kann dich auch nicht eine Minute allein lassen“,
schimpfte sie. „Wo warst du? Warum hast du nicht auf meine Nachrichten
reagiert?“
„Äh“, zögerte ich. „Wie wär’s, wenn ich dir unterwegs
alles erzähle? Okay?“
Sie schüttelte den Kopf. Der Schädel oben auf ihrem Stab klapperte
mit den Zähnen. „Kommt nicht infrage! Los, raus mit der Sprache!“
Unser
Wortwechsel hatte zur Folge, dass sich einige Köpfe nach uns umdrehten. Ich
tippte mit dem Finger auf den Silberphönix auf meiner weißgewandeten Brust. „Ich
fürchte, unsere Kleidung ist hier ziemlich fehl am Platz. Wir müssen uns erst
umziehen.“
Isabella funkelte mich an, doch zum Glück war sie offenbar
bereit, vorerst nachzugeben. Sie deutete auf einen dunklen Durchgang zwischen
den fensterlosen Wänden der angrenzenden Lagerhäuser. „Na warte, Schätzchen.
Darüber reden wir noch … später.“ Und
es gelang ihr, dieses letzte Wort unheilvoll klingen zu lassen.
Ich zuckte die Schultern und verließ als Erster den Steg.
Hinter mir ertönte ein langes, verzweifeltes Kraah!, als der untote, schwarze Phönix den Schiffsmast verließ und
in den Himmel aufstieg. Die Schläge seiner zerrupften Flügel waren nicht
besonders anmutig, hielten ihn jedoch immerhin in der Luft. Als eine neugierige
Möwe ihm zu nahe kam, hieb er heftig mit dem Schnabel nach ihr, sodass sie ins
Wasser taumelte.
„Beweg dich!“, fuhr Isabella mich an. „Wo um alles in der
Welt hast du diese dämlichen Kleider her? Was ist mit dem Jungen passiert?
Nein, das kann warten! Fang am Anfang an! Warum hast du das Portal nicht
benutzt?“
„Das ist eine lange, traurige Geschichte …“
Isabella drehte sich zornerfüllt zu mir um. „Du solltest
meine Geduld nicht überstrapazieren, Schätzchen!“
Ich schenkte ihr ein genauso giftiges Lächeln. Nicht,
dass sie das hinter meiner Maske hätte sehen können.
„Okay“, seufzte ich tief, da ich unser Verhältnis nicht
unnötig belasten wollte. „Ich war zu spät dran, weil ein Bösewicht mir im
schlimmstmöglichen Moment Ärger gemacht hat. Und nachdem ich ihn erledigt
hatte, war das Portal bereits geschlossen.“
„Aber warum hast du nicht auf meine Nachrichten
geantwortet?“, wollte sie erbost wissen.
„Mit meinen Nachrichten stimmt irgendetwas nicht“, log
ich. „Ich kann sie zwar lesen, aber nicht darauf antworten.“
„Wie sinnvoll!“
„Hör mal, wieso sollte ich dich anlügen? Du hast
schließlich noch die Scherbe der Seelensphäre!“
Dieses letzte Argument beruhigte sie ein wenig. „Okay“,
murrte sie. „Also was hast du die ganze Zeit getrieben?“
Ich bekam nicht die Gelegenheit, darauf zu antworten. Der
Durchgang zwischen den beiden Wänden hatte uns auf einen großen Platz geführt,
auf dem sich so viele Spieler tummelten, dass uns von dem Lärm die Ohren
klingelten.
„Billige Levelerhöhung!“, rief ein Ritter in voller
Rüstung, der eine riesige Hellebarde auf dem Rücken trug. „In einer Woche
bringe ich jeden von Level 25 auf 50!“
„Kommt mit auf einen Überfall auf die Lichtanhänger!“,
schrie ein Angehöriger von Isabellas Elfenvolk, wobei er theatralisch mit dem
Langbogen wedelte. „Einzelheiten per Privatnachricht!“
„Eine Inselquest!“, grölte ein Pirat mit blauer Haut und
goldenen Ohrringen. „Der Schatz des Korsarenkönigs! Stapelweise Gold, das nur
abgeholt werden muss.“
„Verkaufe komplette Bernsteinkreuz-Ausrüstung!“”
„Ein Raubzug in die grauen Berge! Zwergen-Mithril!“
„Das Schwert des Sternzerstörers! Zum halben Preis! Ich
brauche dringend Geld!“
„Stärke-Runen auf Bestellung!“
Ich war von der ganzen Kakophonie vollkommen überfordert.
Isabella zog mich hinter sich her, vorbei an einem Dämonologen, der die Menge
überragte, blass wie der Tod höchstpersönlich. Ein Höllenhund, dem teuflische,
schwarze Flammen aus dem glatten Fell sickerten, trottete an der Leine folgsam
hinter ihm her.
„Portale zur Höllenebene, ich sorge für Hin- und
Rücktransport, aber erhebe keinen Anspruch auf Beute“, murmelte er von Zeit zu
Zeit halblaut.
Seltsamerweise schien er zu den beliebtesten Gestalten zu
gehören und wurde ständig von anderen Spielern belagert, die ihn nach seinem
Preis fragten.
Die Menge bestand zum größten Teil aus Menschen und
Elfen, doch es gab auch etliche Zwerge und Orks. Hin und wieder fiel mein Blick
auf ein paar wirklich seltsame Kreaturen. Und die Vielfalt an Rüstungen und
Waffen war einfach überwältigend. Im Vergleich dazu wirkte mein Flammenschwert geradezu
unscheinbar.
Als wir uns außen um die Menge herumschoben, schärfte Isabella
mir ein: „Halt die Augen auf. Die Taschendiebe haben es auf Neulinge wie dich
abgesehen.“
Tatsächlich schien hier ein Paradies für Diebe jeglicher
Art zu sein. Die meisten neuen Spieler kamen übers Meer in die Hauptstadt. Viele
waren so ungeduldig, dass sie gar nicht erst in die Geschäfte gingen, sondern
ihr hart verdientes Geld direkt auf diesem improvisierten Flohmarkt ausgaben.
Und manche bekamen gar nicht erst die Chance, überhaupt etwas auszugeben.
Ich hörte auf zu gaffen und überprüfte eilig mein
Inventar. Der elende Schädel war noch an Ort und Stelle. Große Erleichterung!
Isabella wandte sich wieder zu mir um. „Du, Schätzchen, und
du … was immer du jetzt sein magst … bewegt euch!“
Wir folgten ihr in eine Nebenstraße und hatten den Lärm
und das Geschrei der Menge bald hinter uns gelassen. Isabella führte uns durch
dunkle, verlassene Gassen, bis wir schließlich wieder auf den bunten Strom aus
Spielern stießen. Nach kurzer Zeit fanden wir uns auf dem Platz hinter dem
Hauptgebäude des Hafens wieder.
„Wow“, flüsterte Neo, der seine Freude nicht verbergen
konnte.
Auch ich wurde langsamer und ließ den Blick über den
weitläufigen Platz schweifen, der vor mir lag. Begrenzt wurde er von einem
Kanal, an dessen gegenüberliegendem Ufer ein Tempel aufragte, auf dessen Kuppel
ein Türmchen saß. Das majestätische Gebäude schien sich direkt aus dem Wasser
zu erheben, was es besonders geheimnisvoll und zauberhaft erscheinen ließ.
Hinter ihm schwebte ein fliegender Teppich vorbei. Ich schüttelte den Kopf, um
die Illusion daraus zu verbannen.
Das war nur ein Spiel. Nur ein paar Pixel, die in meinem
Gehirn ein Bild entstehen ließen. Virtuelle Realität machte die verrücktesten
Dinge möglich.
„Komm, Schätzchen, weiter!“, rief Isabella.
Ich folgte ihr und zog Neo hinter mir her. Er wirkte wie
ein ganz gewöhnlicher Junge vom Land, der von der großen Stadt überwältigt war.
Diese Erkenntnis versetzte mir einen Stich. Auch dieser
Junge bestand angeblich nur aus ein paar Pixeln. Aus einer Kombination aus
Einsen und Nullen. Nur ein Teil des Programmcodes.
Ich holte Isabella ein. „Wohin gehen wir?“
„Weg von hier“, erwiderte die Elfenpriesterin. „In euren
weißen Gewändern könntet ihr genauso gut Zielschreiben auf dem Rücken haben.“
Das ließ sich nicht bestreiten. Ich wurde unablässig
benachrichtigt, dass andere mich interessiert anstarrten. Wenn wir
vorbeigingen, wurden die verschiedensten unangenehmen Bemerkungen geflüstert.
Ich tat so, als würde ich nichts hören, obwohl ich manchmal nur zu gern einen
der Witzbolde mit meinem Flammenschwert erledigt hätte.
Die Vorstellung war verlockend, doch es kam nicht infrage.
Die stämmigen Stadtwächter in ihren schwarzen Rüstungen würden alle
Unruhestifter im Handumdrehen in Stücke hacken. Falls ich zum Angriff überginge,
würden sie mich sofort ins Jenseits befördern. Und selbst wenn sie nicht stark
genug wären, würden die Zauberer der Stadt ihnen sicherlich bereitwillig zur
Hilfe kommen. Auch die anderen Spieler würden nicht tatenlos zusehen. Jeder
würde sich nur zu gern ein paar Erfahrungspunkte verdienen und sich Ruhm
sichern, indem er ein paar Außenseiter niedermachte.
„Sollen wir eine Gondel mieten?“, schlug ich vor, als Isabella
die Mietanleger ignorierte und auf die Brücke zuging.
„Heißt du etwa Rockefeller?“, schnaubte sie verächtlich.
„Du weißt doch nicht einmal, wieviel das kostet!“
Ich fluchte halblaut.
Plötzlich bohrte sich ein quälender Schmerz in meinen
Schädel, als hätte man mich mit einem glühend heißen Stab gestochen.
Oder war das tatsächlich passiert?
Ich wirbelte herum und konnte gerade noch sehen, wie mein
untoter Phönix von einem Pfeil getroffen in den Kanal stürzte. Mein Haustier!
Ein Drow-Bogenschütze schwenkte triumphierend seinen
Bogen, während er einen durchdringenden Pfiff ausstieß. Einige Passanten
applaudierten ihm für seine Leistung.
Ein purpurroter Schleier legte sich über meinen Blick.
Zum einen tat es weh. Verdammt noch mal! Ich konnte mich
nicht erinnern, wann ich in diesem Spiel zuletzt Schmerzen verspürt hatte. Und
zum zweiten war das mein Haustier gewesen! Hässlich und tot, aber trotzdem
meins!
Die Schmerzen ließen einfach nicht nach. Eine
Systemnachricht erschien ganz am Rand meines Sichtfelds und informierte mich
über den Angriff. Die Stadtwächter hatten den Schuss ignoriert. Ihr Schutz
erstreckte sich nicht auf Tote.
So ein Abschaum.
Unbändige Wut überkam mich, doch der letzte Rest meines
gesunden Menschenverstands ließ mich innehalten, bevor ich direkt zum Angriff
überging. Zu seinem Pech hatte der Drow erst Level 28 erreicht. Und er war
allein.
„Halt das mal kurz, Neo.“ Ich reichte ihm das schwarze
Ork-Langschwert und wechselte in den Tarnmodus.
„John!“, schrie Isabella auf. „Was um alles in der Welt
hast du vor?“
Ich hörte nicht auf sie. Der Drow hatte sich den
Langbogen schon wieder auf den Rücken geschwungen und stolzierte auf den Steg
mit den Mietbooten zu. Offenbar dachte er nicht im Traum daran, dass ihn jemand
vor den Augen der Stadtwächter und der anderen Spieler angreifen könnte.
Er hatte einen Vogel abgeschossen, na und?
Der Bogenschütze wirkte schlank und hager. Seine
Beweglichkeit war sicherlich gut. Doch mit seiner Konstitution war es bestimmt
nicht weit her. Ich hatte beste Aussichten, mit ein paar kraftvollen Hieben den
Sieg davonzutragen — doch wenn ich nicht traf, konnte der Kampf lang und
schmerzhaft werden.
Ich wollte nicht länger warten, sondern griff ihn mit
einer bewährten Kombination an. Nach unten, von links nach rechts und dann zur
Seite!
Kombination Sichel des Todes!
Die Wellenklinge meines Flammenschwerts traf seine rechte
Schulter und glitt durch sein feines Kettenhemd. Sie drang erstaunlich leicht
direkt in seinen Brustkorb und dann auf der linken Seite wieder hinaus, sodass
sie auf das Kopfsteinpflaster aufschlug. Das Drehmoment ließ mich herumwirbeln,
doch ich konnte mich gerade noch rechtzeitig fangen und landete nicht auf dem
Hinterteil.
Schon hob ich das Schwert wieder, hielt dann jedoch
mitten im Schwung inne. Ein weiterer Angriff war nicht nötig.
Spieler Lucas III wurde getötet!
Erfahrung: +1496 [25 674/28 300]; +1496 [25 718/28 300]
Untoter, du steigst ein Level auf! Schurke, du steigst
ein Level auf!
Mit einem einzigen Hieb hatte ich ihn in zwei Teile
geteilt und stand nun über seinem Leichnam in der Mitte des belebten Platzes,
von Kopf bis Fuß mit Blut bedeckt. In meinem eigenen Blut rauschte das
Adrenalin.
Und nicht nur in meinem. In der Menge um mich herum
funkelte kalter Stahl. Doch da die Markierung als Spielermörder nicht über
meinem Kopf erschien, beruhigten sich die Spieler allmählich wieder.
„Habt ihr beide eine Vendetta?“, erkundigte sich ein
bärtiger Zauberer, während er widerwillig einen Kampfzauber deaktivierte, der
ihm schon zwischen den Fingerspitzen flackerte.
„Ja, so etwas Ähnliches“, murmelte ich und machte einen
Schritt zurück von der Blutlache, die sich auf dem Kopfsteinpflaster
ausbreitete. Dann drehte ich mich um und eilte auf die Brücke zu. Die anderen
Spieler wichen mir weiträumig aus. Jetzt wagten sie nicht mehr, mich
aufzuhalten, zumal die Stadtwächter dem Mord keinerlei Beachtung geschenkt
hatten.
„Hast du den Verstand verloren?“, zischte Isabella.
Ich zuckte die Schultern. Meine Kopfschmerzen hatten
endlich nachgelassen und die blinkende Systemnachricht in meinem Augenwinkel
war nun verschwunden.
„Hör mal, Roger“, wandte Isabella sich an den Schädel
oben auf ihrem Stab, „meinst du nicht auch, dass unser Schätzchen komplett von
der Rolle ist?“
„Lass es doch gut sein“, sagte ich, während ich Neo das
schwarze Schwert wieder abnahm. „Er hat meinen Vogel getötet. Ich habe es ihm
nur heimgezahlt.“
Fluchend zerrte sie mich in eine dunkle Seitengasse.
„Warte hier auf mich“, sagte sie. „Wenn du dich auch nur das kleinste Bisschen
rührst, hacke ich dir die Beine ab.“
Ich wollte ihr sagen, wohin sie sich ihre Drohung stecken
konnte, überlegte es mir aber gerade noch rechtzeitig anders. Es hatte keinen
Sinn, die Situation noch schlimmer zu machen. Stattdessen wischte ich mir das
Drow-Blut von Maske und Handschuhen. Von meinem weißen Gewand ließ es sich
unmöglich entfernen.
„Armer Vogel“, seufzte Neo. „Er war so lustig ...“
Ich zuckte die Schultern, denn ich hatte keineswegs an
dem untoten Phönix gehangen. Alles, was er konnte, war krächzen. Zudem war er
für mich unkontrollierbar. Und so hatte ich ihn gerächt und war dabei sogar ein
Level aufgestiegen. Ich war sehr gespannt, welcher neuer Typus Untoter auf den
Nachtjäger folgen würde.
Allerdings hatte ich keine Zeit, meine Statistik zu
prüfen, denn Isabella kam schon zurück.
„Zieht euch um“, befahl sie, als sie mir einen unförmigen,
grauen Umhang zuwarf.
Der Junge bekam einen identischen in einer kleineren
Größe. Trotzdem wollte ich mein weißes Gewand nur ungern hergeben. Ich warf es
in mein Inventar und legte den Umhang um. „Wohin jetzt?“
„In die Hölle“, fuhr sie mich an.
„Du wirkst heute etwas gereizt“, sagte ich. „Liegt das daran,
dass deine Verhandlungen über das Fragment der Seelensphäre gescheitert sind,
oder was ist los?“
„Damit hat das gar nichts zu tun! Was ist nur in dich
gefahren, dass du vor aller Augen einen Kampf anfängst? Und wenn der Drow
deinem ersten Hieb ausgewichen wäre? Dann hättest du jetzt immer noch mit ihm
zu tun!“
„Ich hätte nur zu gern gesehen, wie er ausweicht“,
grinste ich, während wir auf die Straße traten. „Ich habe ihn in den Rücken
gestochen, nicht wahr? Außerdem war ich getarnt.“
„Sei dir da nicht zu sicher! Dagegen gibt es Amulette!
Und viele andere besondere Beweglichkeits-Fähigkeiten, von denen du gar nichts
ahnst. Oh, verdammt! Ich habe ganz vergessen, mit wem ich hier gerade rede!“
Sie lief die Straße entlang. Ich eilte ihr hinterher.
„Was ist denn jetzt mit der Sphäre?“
„Wir haben eine erste Absprache getroffen, aber ich
wollte den Kunden nicht ohne dich treffen“, erwiderte sie. Doch bevor ich
weitere Fragen stellen konnte, ergänzte sie eilig: „Nein! Erst deine
Geschichte!“
Ich seufzte gequält.
2
DER GASTHOF, ZU dem
Isabella uns geführt hatte, befand sich auf der dritten oder vierten Insel vom
Hafen aus. Einen direkten Weg dorthin gab es nicht. Wohlhabendere Spieler
nahmen ein Boot, während alle anderen durch feuchte Gassen stolpern mussten, in
denen keine zwei Wagen nebeneinander her passten. Und selbst wenn es mir
gelang, eine Abkürzung durch gewundene Nebenstraßen zu finden, musste ich mir
stets mit den Ellenbogen den Weg durch die Menge anderer Spieler bahnen, die
das Gleiche im Sinn hatten.
Wir überquerten eine Brücke, dann noch eine und noch
eine, bis wir endlich mit einer Fähre über einen breiten Kanal setzen konnten.
Als wir schließlich wieder am Uferdamm ankamen, wollte ich protestieren:
„Warte mal! Warum bewegen wir uns im Kreis? Gibt es
keinen direkteren Weg?“
Isabella blieb stehen und schüttelte den Kopf. „Das hier
ist die Höllenbrut-Insel, Privatbesitz des Clans.“
„Ach wirklich?“ Ich stieß einen Pfiff aus, während ich
einen Turm hinaufblickte, der die Häuser überragte. Auf seinem spitzen Dach
thronte die Statue eines dunklen Engels. „Die ganze Insel? Denen muss es ja gut
gehen!“
„Halt den Mund und beweg dich!“
DER GASTHOF ZUM
Alten Bogenschützen befand sich im Eckhaus an einer belebten Kreuzung. Wir
nahmen den Hintereingang und stiegen die Treppe zur dritten Etage hinauf. Das
Zimmer war nicht allzu geräumig, aber immerhin handelte es sich um eine Suite.
In der echten Welt hätten mindesten fünf Personen darin Platz gefunden. Hier
jedoch diente es lediglich als dauerhafter Respawn-Punkt. Langfristig war das
preiswerter und praktischer, als ständig neben einem der Türme der Macht ins
Spiel wiedereinzusteigen.
Soll diese gemietete Unterkunft deine neue Login-Stelle werden?
Nichts wäre mir lieber gewesen, aber leider war diese Option
für mich nach wie vor blockiert.
„Neo, leg dich etwas hin.“ Isabella bedeutete dem Jungen,
in das andere Zimmer zu gehen. Als er verschwunden war, wirbelte sie herum und
funkelte mich an. „Was ist los mit dir, Schätzchen?“
Ich deaktivierte das Inkognito, nahm die Maske ab und
grinste sie breit an. „Wieso, was soll schon los sein?“
„Oh“, höhnte sie. „Mein kleines Schätzchen ist ein
räudiger Straßenköter geworden! Mein Schätzchen ist jetzt ein zäher Bursche!“
„Dein Schätzchen“,
— ich brachte das Wort kaum über die Lippen — „will nur ins Königreich der
Toten. Also was ist mit der Sphäre?“
Sie ließ sich aufs Bett fallen und schlug die Beine
übereinander, sodass ihre wohlgeformten Schenkel deutlich zu sehen waren.
„Erzähl mir, was euch beiden passiert ist. Ich will alles wissen.“
„Wozu? Das ist doch Zeitverschwendung.“
„Los!“
Schulterzuckend zog ich meine beiden Schwerter hinter dem
Rücken hervor und stellte sie in die Ecke. Ich hockte mich auf die Fensterbank
und sah hinunter auf die Straße. Es wurde bereits dunkel. Die Flut an Spielern,
die zum Hafen strömten, hatte nachgelassen. Sie schlenderten gemächlich herum,
musterten Ladenschilder und sahen sich in verschiedenen Vergnügungslokalen um.
Allerdings wollte ich die Geduld meiner Elfenfreundin
nicht überstrapazieren, deshalb lieferte ich ihr einen kurzen Überblick über
meine vielen Abenteuer, vom Angriff des Nekromanten und der Verteidigung von
Stone Harbor bis hin zum Tempel des Silberphönix, den wir wiederhergestellt
hatten.
„Ihr habt also eine Vendetta“, sagte Isabella
nachdenklich, während sie sich meine Geschichte anhörte. „Das könnte
problematisch werden.“
„Das ist nicht der Rede wert“, tat ich ihre Bedenken ab.
„Er kann mich jetzt nicht mehr finden. Ich habe die Funktion auf der Karte
deaktiviert.“
Sie schüttelte den Kopf. „Sei dir da nicht so sicher, Schätzchen.
Es gibt viele andere Möglichkeiten, um einen Feind ausfindig zu machen.“
„Zum Beispiel?“, fragte ich eher lässig.
Isabella erhob sich bereits. „Bleib hier im Zimmer. Ich
werde ein Treffen arrangieren und komme dich dann holen.“
„Ein Treffen mit wem?“, fragte ich.
Statt einer Antwort fiel hinter ihr die Tür ins Schloss.
Mir war das gleichgültig. Schulterzuckend öffnete ich
meine Statistik. Ich sollte die Zeit wirklich nutzen, um die verfügbaren Punkte
zu verteilen. Selbst wenn es nur ein Spiel war, brannte ich darauf zu erfahren,
wie sich mein Untoter diesmal verändert hatte.
Ohne lang zu überlegen erhöhte ich sowohl Kraft als auch
Wahrnehmung. Doch als ich einen Fähigkeitspunkt in Tarnung investieren wollte,
blieb mir vor Erstaunen der Mund offen stehen.
Ich hatte nicht nur einen Extrapunkt. Auch nicht zwei.
Mir standen ganze sechsundzwanzig Punkte zur Verfügung!
Was ging hier vor sich?
Konnte das ein Fehler sein? Das wollte ich überprüfen, indem
ich meine Tarnung auf 15 Punkte erhöhte. Und gerade als ich noch einen weiteren
Punkt dazugeben wollte, erschien eine neue Systemnachricht:
Weitere Steigerung der Fähigkeit nach zusätzlichem Training möglich!
Noch immer ungläubig erhöhte ich die Ausweichfähigkeit
auf 15. Eine neue Nachricht erschien, doch ich öffnete zunächst mein
Charakterprofil.
John Doe, Scharfrichter, Henker
Untoter, Junior-Lich. Level: 25./ Mensch, Schurke. Level:
25
Erfahrung: [25 674/28 300]; [25 718/28 300]
Stärke: 28.
Beweglichkeit: 27.
Konstitution: 24.
Intelligenz: 5.
Wahrnehmung: 14.
Leben: 1200.
Ausdauer: 1300.
Interne Energie: 475.
Schaden: 216 - 324.
Verdeckte Bewegung: +15.
Abwehr von Angriffen: +15.
Kritische Schäden bei Angriffen im Tarn-Modus,
Hinterhalten oder Angriffen auf ein gelähmtes Ziel.
Berufliche Fähigkeiten: „Inkognito“ (3), „Hinrichtung“, „Henker“.
Fechter: beidhändige Waffen (3), Waffen in einer Hand, „Rundumhieb“,
„Kraftvoller Hieb“, „Kraftvoller Ausfallschritt“, „Plötzlicher Hieb“, „Präziser
Hieb“, „Verkrüppelnder Hieb“, „Blind-Hieb“, „Schnell-Hieb“.
Kreatur der Finsternis: Nachtsicht, Einschränkung im
Sonnenlicht, Herr der Toten, Fast lebendig, Haut aus Stein +5.
Neutralität: die Untoten, Untertanen des Herrschers vom
Turm der Verwesung
Feinde: Orden der Feuerhand, Clan Schwerter des Chaos.
Immunität: Todeszauber, Gift, Verfluchung, Bluten,
Krankheit, Heilungen und Segen.
Errungenschaften: „Hundetöter“ Stufe 3, „Beharrlich“, „Gewohnheitstäter“,
„Verteidiger von Stone Harbor“ Stufe 1.
Moment mal. Ein Junior-Lich?
Aber ein Lich war doch ein toter Hexenmeister, oder? Wie
konnte ich mit meinen fünf mageren Intellekt-Punkten ein Hexenmeister sein? Und
wo waren meine alten Fähigkeiten, verdammt noch mal? Wo war der Sprint? Und was
war mit den Klauen der Finsternis passiert?
Plötzlich wurde mir klar, wo die vielen zusätzlichen
Fähigkeitspunkte herkamen. Sie stammten von den gelöschten Fähigkeiten!
Mistkerle! Gebt sie mir zurück!
Diese neueste Entwicklungsstufe meines Untoten erwies
sich also als reinste Enttäuschung. Aber vielleicht war es doch gar nicht so
schlimm, wie es aussah?
Ich öffnete den Tab „Zauber“. Zwecklos. Ich konnte keinen
einzigen Spruch aus dem Zauberbuch aktivieren.
Erlernbare Zaubersprüche der Stufe 1: 0
Verdammt! Mit meinem reduzierten Intellekt bestand keine
Hoffnung, jemals Zauberkräfte einzusetzen. Aber wozu wurde ich dann in einen
Lich verwandelt?
Ich ging zu einem Spiegel an der Wand und starrte mein
Abbild an.
Leichenblasse Haut spannte sich straff über meinen
Schädel. In meinen tiefliegenden Augen flackerten purpurrote Höllenflammen.
Sonst nichts. Die schicken schwarzen Linien auf meinem Gesicht waren nun
verschwunden, stattdessen sah man Runen und magische Formeln. Zugegeben, damit
sah ich besser aus. Aber mit dem Rest stand ich eindeutig schlechter da als
vorher.
Meine Zähne waren noch genauso spitz wie vorher. Meine
Nägel erinnerten immer noch an Krallen. Aber mit einem Biss konnte ich jetzt
keine Lebenskraft und Ausdauer mehr aus meinen Opfern saugen. Außerdem hatte
ich die Fähigkeit verloren, einen Gegner mit einem einzigen Hieb zu betäuben.
Auch die Sprintfähigkeit als Nachtjäger war verschwunden. Und was hatte ich
dafür bekommen? Einen Zauber, den ich nicht einmal benutzen konnte? Mist!
Ich hockte mich auf die Fensterbank und starrte
gedankenverloren aus dem Fenster. Auf der abendlichen Straße tummelten sich
Zecher. Viele der Spieler trugen nicht einmal Rüstung oder Waffen. Sie waren in
die Welt der Türme der Macht gekommen, um sich zu amüsieren und Spaß zu haben.
Bei mir stand Spaß nicht auf dem Programm. Ganz im
Gegenteil, ich steckte ganz schön in Schwierigkeiten.
Allerdings — wenn ich weitere Level aufstieg, könnte ich
meinen Intellekt theoretisch auf die erforderlichen zehn Punkte erhöhen. Ich
überlegte eine Weile, doch letztendlich erschien mir das nicht ratsam. Magie
war zwar schön und gut, aber ich konnte schließlich nicht ahnen, wie ich mich
bei Level 60 verändern würde. Sollte ich wirklich fünf Punkte auf die Gefahr
hin opfern, dass ich die Zauberfähigkeit später wieder verlor? Das war zu
riskant.
Gegen echte Zauberer hatte mein Lich ehrlich gesagt nicht
die leiseste Chance, und gegen einen erfahrenen Krieger waren meine
Zaubersprüche der Stufe 1 ein jämmerlicher Schutz. Der bloße Gedanke war
lächerlich.
Was für ein Dilemma.
Ich seufzte resigniert. Ich sollte wirklich nicht so viel
nachgrübeln. Wenn Isabella uns tatsächlich die Teilnahme am Überfall auf das
Königreich der Toten sichern konnte, spielte es keine Rolle mehr, ob ich beim
Hochleveln Fehler machte. Und ich glaubte fest an sie. Man sah ihr schon auf
den ersten Blick an, wie penetrant sie sein konnte.
Statt weiter mit meinem Schicksal zu hadern, widmete ich
mich nun lieber meinen beruflichen Fähigkeiten. Da ich noch schmerzlich in
Erinnerung hatte, wie viel Zeit mich die Vernichtung des reglosen Nestjägers
gekostet hatte, erhöhte ich die Fähigkeit Hinrichtung. Damit stieg die
Wahrscheinlichkeit, einen Charakter mit gleich hohem Level mit einem Hieb zu
töten, auf 12 %.
Aber das war noch nicht alles.
Hinrichtung II
Mit deiner starken Hand und deinem scharfen Blick kannst
du dort zuschlagen, wo dein Feind am verletzlichsten ist!
+4 % für die Wahrscheinlichkeit, einen kritischen Treffer
zu landen
+2 % für die Wahrscheinlichkeit, einen verkrüppelnder
Hieb zu landen
Nicht übel. Gar nicht übel. Mehr aber auch nicht.
Ich seufzte und sah mir dann die Fähigkeiten des Lich
genauer an. Die Haut aus Stein war keine Überraschung: sie bot lediglich etwas
zusätzlichen Schutz. Für einen Neuling war das nicht so schlecht, klang für
einen Spieler mit Level 50 aber nicht besonders sinnvoll. Trotzdem besser als
gar nichts. Immerhin stand ich damit nicht schlechter da als vorher.
Auch der Herr der Toten erklärte sich im Prinzip von
selbst: Mit dieser Fähigkeit konnte man Untote kontrollieren. Das klang recht
interessant, allerdings durfte das Level der kontrollierten Kreaturen gemeinsam
nicht mehr betragen als die halbe Levelzahl des Lichs.
Die Beschreibung meiner letzten neuen Fähigkeit — „Fast
lebendig“ — gab mir dagegen Rätsel auf:
„Fast lebendig“
Du bist noch nicht sehr lange tot, deshalb weißt du noch, wie es sich
anfühlt, lebendig zu sein. Du kannst selbst den aufmerksamsten Beobachter
hinters Licht führen, aber denke daran: Sobald die Sonne aufgeht, wird ihr
Licht deine Tarnung zunichtemachen.
Sehr interessant. Was genau bedeutete das? Dass ich das Inkognito
nicht mehr brauchte?
Ich stellte mich vor den Spiegel und aktivierte die neue
Fähigkeit.
Sofort wurde mein Gesicht runter. Meine Wangen nahmen
etwas Farbe an, meine Augen loderten nicht mehr so finster. Das war jedoch
alles, abgesehen davon, dass meine interne Energie nachließ. Wer mir auf den
Zahn fühlen wollte, konnte nach wie vor auf mein Profil zugreifen, in dem ich
immer noch als Untoter eingestuft war. Allerdings nicht, wenn ich noch dazu das
Inkognito benutzte ...
Der Anblick eines Maskierten macht die meisten Leute
nervös. Doch mit dieser neuen Fähigkeit sah ich auch ohne eine derart plumpe
Verkleidung vollkommen lebendig aus.
„Neo?“, rief ich und wandte mich zu ihm um. „Was meinst
du?“
Der Junge gähnte schläfrig. „Du hast dich schon wieder
verändert, Onkel John!“, verkündete er.
Ich lachte. „Da hast du völlig recht!“
„Du hast dich verändert, aber du bist immer noch der
Gleiche!“
„Wie kommst du darauf?“
„Ich fühle es einfach.“
Ich runzelte die Stirn. „Was kannst du fühlen?“
Der Kleine zögerte. „Ich fühle, dass du auf dem
Scheiterhaufen verbrannt werden solltest. Tut mir leid, Onkel John.“
Ich prustete los. „Sehr nett von dir!“
Das geschah etwas, mit dem ich nicht gerechnet hatte.
Quietschend öffnete sich die Schranktür einen Spalt weit. Zwischen den leeren
Kleiderbügel wirbelte etwas Dunkles, schwärzer und dichter als im tiefsten
Keller.
Ich legte die Hand an den Griff meines Seelentöter-Hakens.
Doch den brauchte ich nicht. Die Dunkelheit löste sich auf und der struppige
Kopf eines Vogels erschien. Mein untoter Phönix richtete seine blinden weißen
Augen auf mich.
Dann öffnete er den Schnabel „Kraah!“
Ich fluchte erleichtert. „Was für eine Vogelscheuche!“
Der tote Phönix hüpfte aus dem Schrank und flatterte auf
die Kommode, sodass seine mächtigen Krallen tiefe Kratzer auf dem polierten
Holz hinterließen.
„Das Vögelchen ist wieder da!“, rief Neo begeistert aus.
„Das ist kein Vogel. Er heißt Vogelscheuche.“
Der schwarze Phönix öffnete schon wieder seinen Schnabel,
um einen weiteren ohrenbetäubenden Krächzer auszustoßen. Mir reichte es
langsam. Ich hob die Hand, um zu protestieren — und er erstarrte.
„Herr der Toten!“
Eine innere Verbindung zu meinem Haustier hatte ich noch
immer nicht verspürt. Doch irgendwie machte sich meine neue Fähigkeit
bemerkbar. Weil er untot war, hatte ich Vogelscheuche jetzt voll und ganz unter
Kontrolle.
„Das kann ja wohl nicht sein!“, murmelte ich, während ich
mit Mühe eines der schiefen Fenster aufschob.
Der Lärm der nächtlichen Stadt drang ins Zimmer. Auf
meinen Befehl sprang der untote Phönix auf die Fensterbank, stieß einen
weiteren schrillen Krächzer aus und stieg in die Luft auf.
Seltsamerweise hatte ich das Gefühl, als würde ich hinter
ihm her in die Luft gezogen. Die Dächer der Stadt und die gewundenen Kanäle
zuckten vor meinem geistigen Auge auf. Mir drehte sich der Kopf. Erschöpft sank
ich auf die Knie.
„Onkel John! Alles in Ordnung?“
„Mir geht es gut“, sagte ich. „Alles gut. Mach dir keine
Sorgen.“
Fast musste ich mich übergeben, doch zum Glück konnte ich
das verhindern. Schließlich hatte ich schon ziemlich lange nichts mehr in den
Magen bekommen. Ich ließ mich aufs Bett fallen und lehnte den Rücken an die
Wand. Mein erster Versuch, ein untotes Flugtier zu kontrollieren, war nicht
allzu angenehm gewesen.
Inzwischen war Vogelscheuche auf dem Kamin des
Nachbarhauses gelandet und wetzte sich den Schnabel an den schwarzen
Schamottesteinen, wobei er mir immer wieder hämische Blicke zuwarf. Aus
irgendeinem Grund hatte ich keinerlei Zweifel daran, dass ich diesen
aufsässigen Vogel wieder unter geistige Kontrolle bringen konnte, wenn es
darauf ankam. Und das eröffnete einige sehr interessante Möglichkeiten …
„Onkel John? Ich habe Hunger!“, sagte der Junge.
Ich sah erst ihn an, dann zur Tür. Widerwillig erhob ich
mich wieder. „Dann komm.“
Ich war mir nicht sicher, ob ich das Flammenschwert mitnehmen
sollte. Letztendlich ließ ich es im Zimmer, weil es mir in den schmalen
Korridoren des Gasthauses sowieso nicht viel genutzt hätte. Im Falle eines
Angriffs wäre ich besser beraten, meinen Knochenhaken, den Seelentöter, zu
schwingen.
Der Zimmerschlüssel hing an einem Haken im Türrahmen. Ich
nahm ihn ab und ging zuerst hinaus. Neo folgte mir. Nachdem ich abgeschlossen
hatte, stieg ich die quietschenden Stufen zum Erdgeschoss hinunter.
Als wir den geräumigen Speisesaal erreicht hatten, der
leer und schwach beleuchtet war, erwartete mich die nächste Überraschung. Der
Gastwirt — ein stämmiger kleiner Kerl mittleren Alters, der gerade Bierkrüge
abtrocknete — stellte sich als Spieler heraus.
Meine Welt geriet ins Wanken. Wieso sollte man gutes Geld
für den Zutritt zur virtuellen Realität bezahlen, um dann in einer Bar zu
arbeiten, und noch dazu in einer so unvorteilhaften Gestalt?
„Hi“, stieß ich hervor, ohne mir meine Verwunderung
anhören zu lassen.
„Guten Abend“, erwiderte der Gastwirt. Er entdeckte Neo
und hob fragend die Augenbrauen.
„Eine Quest“, erwiderte ich knapp, was mir langsam zur
Gewohnheit wurde. „Kann er etwas zu essen bekommen?“
„Kein Problem“, lachte er und schlug sein Gästebuch auf.
„Und ihr heißt …“
„Wir gehören zu Isabella“, gab ich an. „Die Dunkelelfe.“
„Richtig. Das ist Vollpension. Setzt euch bitte.“
Ich schickte Neo an einen der Tische und blieb an der
Bar, denn ich wollte dringend ausprobieren, ob meine neue Fähigkeit „Fast
lebendig“ verbergen konnte, dass ich untot war.
„Nur der Junge isst!“, rief ich dem Wirt hinterher, als
er in der Küche verschwand. „Ich brauche nichts!“
Er spähte mit einem voll beladenen Tablett aus der
Küchentür. „Bier?“
„Nein, danke“, entgegnete ich. „Ich habe noch einen
geschäftlichen Termin.“
Er zwinkerte mir zu. „Einen geschäftlichen Termin. Im
Spiel?“
„Tja, du bist ja auch nicht gerade mit Drachentöten
beschäftigt.“
Der Gastwirt lachte. Er stellte das Tablett auf die Theke
und streckte mir eine Hand entgegen. „Mark.“
„John“, erwiderte ich, hielt mein Profil aber
sicherheitshalber geschlossen.
Er lächelte. „Freut mich, John. Hau rein, Junge!“
Das ließ sich Neo nicht zweimal sagen. Er schnappte sich
das Tablett und trug es an seinen Tisch.
„Man merkt, dass du neugierig bist“, lächelte Mark. „Du
fragst dich vermutlich, warum ich das mache, oder?“
Ich ließ den Blick durch den geräumigen Saal mit den
getäfelten Wänden, geschnitzten Möbeln und den Wagenrädern als Deckenleuchter
schweifen. „Nun, es ist schön gemütlich.“
Mark holte eine staubige Flasche hervor und goss
giftgrüne Flüssigkeit in ein Schnapsglas. „Netter Witz!“, lachte er, bevor er
das seltsame Getränk hinunterschüttete. Er atmetet geräuschvoll aus und
ergänzte dann ohne eine Spur von Heiterkeit: „Damit kommt du der Wahrheit
eigentlich ziemlich nah. Gemütlich ist es wirklich. Nicht jeder steht auf
Raubzüge und dergleichen. Manche gönnen sich lieber ein schönes Essen und ein
Glas Wein, ohne danach einen Kater und Bluthochdruck fürchten zu müssen. Ganz
zu schweigen von der Tatsache, dass man nach einer Nacht virtueller
Leidenschaft nicht zum Arzt muss, wie es in der echten Welt durchaus passieren
kann. Und wenn dir jemand die Kehle durchschneidet, nun … es ist schließlich
nur ein Spiel, nicht wahr?“
Ich lachte leise. Auf die Idee, dass man die virtuelle
Welt aufsuchen könnte, nur um sein langweiliges kleines Leben unverändert
fortzusetzen, war ich noch nie gekommen.
„Du würdest dich wundern, wie viele nur wegen der
Bordelle und Bars hier sind. An Drachen haben sie nicht das leiseste
Interesse.“
„Wie komisch“, murmelte ich. „Aber für dich ist es doch
sicher mehr als nur Vergnügen?“
Er nickte und rieb sich die Nase, die sich durch das
Getränk rasch rötete. „Hier konnte ich mir endlich meinen Lebenstraum erfüllen
und eine kleine Kneipe eröffnen. Ich habe die Hälfte meiner Ersparnisse dafür
investiert, was ich kein Bisschen bereue. Etwa 40 % habe ich davon bereits
zurückgewonnen, das Geschäft läuft also nicht schlecht.“
Während wir uns unterhielten, erschien ein vornehm
wirkender Herr mit schwarzem Umhang und breitkrempigem Hut oben an der Treppe.
An seinem Gürtel hing ein langer Degen: keine besonders ernstzunehmende Waffe,
sondern eher ein Statussymbol, das für den richtigen Kampf nicht gut geeignet
war.
Mark begrüßte ihn. Der Mann nickte nur, durchquerte den
Raum und ging hinaus.
„Dieser Laden ist hervorragend“, berichtete der Gastwirt.
„Es ist viel los. So etwas bekommt man heutzutage nicht mehr zu vernünftigen
Preisen.“
Ich konnte ein Lachen nicht unterdrücken. „Man hat aber
nicht gerade den Eindruck, als könntest du dich vor Gästen nicht retten!“
„Wieso auch?“ Er klang ehrlich überrascht. „Das läuft
hier anders als im echten Leben. Geld funktioniert anders. Wer einen geeigneten
Login-Punkt braucht, muss sich ein Zimmer mieten. Ich zahle für die
Serverleistung, die Differenz wandert in meine Tasche. Öffentliche Stripshows
sind nicht mein Ding. Versteh mich nicht falsch, damit kann man gut verdienen.
Aber man kann auch im Handumdrehen pleitegehen. Die Ortsansässigen haben schon
alles gesehen. Die Konkurrenz ist groß. Hier steckt hinter jedem einzelnen
Mädchen ein echter Mensch. Niemand will mehr NPCs.“
„Das ist nicht dein Ernst!“
Er nickte. „Oh doch. Wozu also das ganze Theater. Jeder
sollte das machen, was ihm am besten liegt.“
„Soll das heißen, dass alle örtlichen Lokalitäten von
Spielern gekauft wurden?“
„In großen Stadtzentren schon, fast alle“, bestätigte er.
„Natürlich gibt es bestimmte Beschränkungen. Manche Lokalitäten stehen gar
nicht zum Verkauf. Aber das gilt für die dunkle Seite. Die Hellen haben was gegen
Privatunternehmen.“
„Wieso?“
„Dort steht die Interaktion der Spieler im Vordergrund.
Quests, Raubzüge und Veranstaltungen. Zehn Orks töten, fünfzig goldene Lotusse
suchen, hundert Botschaften übermitteln … Ich übertreibe natürlich ein wenig,
aber ich persönlich finde das etwas anstrengend. Dort gibt es keine Opiumhöhlen
oder leichte Mädchen. Wenn man die Altersgrenze auf 14 senken wollte, müsste
man dort nicht das Geringste ändern!“
Ich lächelte ihm höflich zu, denn ich erkannte, dass zu Marks
unerfülltem Traum aus dem echten Leben auch ein dankbarer Zuhörer an der Bar
gehörte. Während unseres Gesprächs waren mindestens zehn Personen die Treppe
hinuntergekommen und aus der Tür verschwunden, ohne ein Wort an den Gastwirt zu
richten.
„Willst du etwas trinken?“, bot er wieder an.
„Nein, danke. Ich passe.“
Er füllte sein Glas erneut und schüttelte den Kopf.
„Weißt du, John, mittlerweile würde ich nicht mehr wagen, so viel Geld in das
Spiel zu investieren.“
„Wieso denn?“, fragte ich nach, wie er es sich offensichtlich
erhoffte.
Er kippte den Drink hinunter und seufzte. „Früher war mir
klar, wie die Strategie dieser Welt funktionierte. Und ich fand sie in Ordnung.
Aber in letzter Zeit ist etwas Merkwürdiges im Gange. Sag mir eins: Wie konnten
sie das Intuit-Projekt absägen? Hm?“
Davon hatte ich noch nie gehört, und das sagte ich ihm.
„Die vielen kleinen Icons und Logos, die einem vor den
Augen herumflackern“, erläuterte er. „Ich finde sie so lästig. Sie lenken nur
ab. Eigentlich sollten sie komplett abgeschafft werden, sodass die besonderen
Fähigkeiten nur noch intuitiv gesteuert werden konnten. Aber irgendwer ist in
seiner unendlicher Weisheit offenbar zu dem Schluss gekommen, das sei für den
Durchschnittsspieler zu kompliziert. Es hieß, die Implementierung sei zu
langwierig und der Kontrast zur Konkurrenz wäre dann zu krass.“
Ich nickte nachdenklich. Er hatte Recht. Ich hatte schon
eine ganze Weile keine Icons mehr in meinem Gesichtsfeld gesehen. Wie war es
mir dann gelungen, meine besonderen Fähigkeiten zu aktivieren? Für mich war
mein Inventar nur eine ganz gewöhnliche Tasche. Hatte ich vielleicht schon zu
viel Zeit im Spiel verbracht? Möglich.
Obwohl ich mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt war,
redete Mark weiter auf mich ein.
„Manchmal glaube ich, dass diese ganze Konfrontation
zwischen den Mächten des Lichts und der Dunkelheit im Spiel nur die
Auseinandersetzungen innerhalb des Vorstands widerspiegelt.“ Er nahm die
Flasche und verstaute sie widerwillig unter der Theke.
Jetzt ging er wirklich zu weit. Seine
Verschwörungstheorien wollte ich mir nicht mehr anhören, deshalb erhob ich
mich. „Das halte ich nicht für möglich.“
Er machte eine abschätzige Handbewegung. „Es mag verrückt
klingen, aber nur, wenn man die Aktionäre nicht kennt. Die Hälfte der Anteile
gehört den Spielentwicklern und die andere Hälfte einem Unternehmen, das das
Patent an den Algorithmen hält, mit dem die Gehirndaten der Spieler verarbeitet
werden. Sie sind sich wohl über die Zukunft des Spiels nicht einig.“
Ich zuckte die Schultern. „Kann sein.“
Der Gastwirt wollte noch etwas hinzufügen, als die
Eingangstür aufschwang und Isabella hereinkam.
„Guten Abend, Frau Ash-Rizt!“, setzte der Gastwirt an.
Sie lächelte ihm beiläufig zu. „Schätzchen?“ Mit einer
Geste wies sie zur Treppe. „Wir müssen reden.“
„Neo“, wandte ich mich an den Jungen. „Iss auf und geh
dann wieder in dein Zimmer.“
„Ich bin schon fertig!“, erwiderte er und lief uns
hinterher.
Ich holte Isabella auf der Treppe ein. „Und?“
„Wir reden oben“, fuhr sie mich an.
Als wir im Zimmer waren und die Tür verriegelt hatten,
machte sie mir natürlich Vorwürfe: „Hatte ich dir nicht gesagt, dass du das
Zimmer nicht verlassen sollst?“
„Ah, lass doch gut sein“, winkte ich ab, während ich „Inkognito“
und „Fast lebendig“ deaktivierte.
Mein unechtes Gesicht verschwand, sodass sich die Haut
wieder straff über meinem Schädel spannte. Isabella wich zurück.
„Was zum Teufel ist —?“, entfuhr ihr, dann verstummte
sie. „Ein Lich?“
„Ein Junior-Lich.“
„Aber wie hast du — “
„Ich steige eben immer weiter auf.“
„Du steckst voller Überraschungen, Schätzchen“, räumte
sie erstaunt ein. „Ausgerechnet ein Lich!“
Ich zuckte die Schultern. „Na und? Ein toter Nekromant,
was ist daran schon so besonders!“
Sie schüttelte den Kopf. „O nein. Das ist etwas ganz
anderes. Todeszauber und die Magie der Untoten ist keineswegs zu vergleichen.“
Ein gequältes Seufzen entwich mir. Die Magie der Untoten!
Nicht im Traum war daran zu denken, dass ich diese jemals erlernen würde.
Allerdings hatte ich nicht vor, jetzt mit ihr über meine Probleme zu reden.
„Also, was ist jetzt mit dem Treffen?“
Sie strahlte und freute sich offenbar wie ein
Schneekönig. „Entspann dich, Schätzchen. Man erwartet uns.“
„Wann?“
„Genau jetzt.“ Sie schenkte mir ein geheimnisvolles
Lächeln. „Aber erst müssen wir uns vorbereiten.“
Als sie ihren unförmigen Umhang ablegte, entfuhr mir vor
Überraschung ein leiser Pfiff.
Ihre Rüstung war mit schwarzem Lackleder besetzt, das sie
äußerst sexy wirken ließ. Ihre Kleidung hatte schon immer etwas aufreizend oder
gar frivol gewirkt — zumindest wenn sie sich nicht gerade in eine wütende
Harpyie verwandelt hatte —, doch jetzt erinnerte sie an eines der leichten
Mädchen, von denen Mark gerade gesprochen hatte.
„Steht mein Schätzchen etwa auf Hardcore?“ Sie blinzelte
mich an, während sie mit ihrer neunschwänzigen Katze spielte. „Ich wäre eine
gute Domina, das kannst du mir glauben!“
„Was ist das denn für eine abartige Verkleidung?“
„Das ist noch nicht alles.“ Isabella fuhr sich mit der
Zunge gierig über die grell geschminkten Lippen und warf mir ein Halsband mit
Kette zu. „Probier das an.“
„Was zum Teufel?“
„Komm schon, Schätzchen, hab dich nicht so! Wir haben
nicht ewig Zeit!“
„Aber —“
„Leg es einfach an!“
3
Ich wurde an einer Kette zu den Verhandlungen geführt.
Isabella ging voran, wobei sie verführerisch die Hüften
schwenkte. Entweder versuchte sie, sich an ihre Rolle zu gewöhnen, oder sie
konnte auf ihren unmöglich hohen Stilettos nicht normal laufen. Für
Kopfsteinpflaster waren das Schuhwerk eindeutig nicht gemacht. Nicht, dass mich
das gekümmert hätte. Meinetwegen konnte sie sich ruhig den Hals brechen. Sie
hatte es gewagt, mir dieses Halsband zu verpassen! Noch mehr beunruhigte mich
die Tatsache, dass ich keine Maske trug, denn obwohl das Inkognito meinen
Status vor anderen Spielern verbarg, konnte jeder das kränkliche Gesicht eines
Toten sehen.
Ja, ich sollte ein Zombie an der Leine sein. Keine
besonders erstrebenswerte Rolle. Aber immerhin diente sie einem guten Zweck.
Leise fluchend legte ich einen Schritt zu, damit sich die
Kette nicht so straff spannte. Es war gar nicht so einfach, einen lethargischen
Zombie zu mimen und gleichzeitig mit Isabella Schritt zu halten.
„Nicht so schnell!“, zischte die Elfe aus dem Mundwinkel.
Gehorsam ließ ich mich zurückfallen.
Der Turm der Finsternis war in dichte Düsternis gehüllt.
Die schmalen Gassen, die ihn umgaben, waren notdürftig mit Fackeln und
magischen Laternen beleuchtet. Um die fragwürdigen Etablissements drängten sich
angetrunkene Spieler, während die leisen Schatten der Stadtwächter durch die
Straßen schlichen und Damen der Nacht Kundschaft anlocken wollten. Das ganz
gewöhnlich Nachtleben in einer ganz gewöhnlichen Stadt: Ausgehen, Alkohol und
Huren.
Ich wurde zwar unfreundlich angestarrt, aber niemand
versuchte mich anzugreifen. Niemand wollte wegen Sachbeschädigung angezeigt
werden. Solange ich an der Kette war, konnte man mir nichts anhaben.
Demütigend, aber sicher.
Als wir in eine verlassende Gasse abbogen, schloss ich
wieder zu Isabella auf.
„Würdest du mir bitte verraten, was die Maskerade soll?“,
flüsterte ich wütend.
Sie drehte sich zu mir um und musterte mich ungnädig.
„Erstens merken unsere potentiellen Partner sowieso, dass du tot bist. Und
zweitens bist du mein Trumpf. Jetzt tu mir einen Gefallen und halt die Klappe.“
Wir gelangten auf eine belebte Kreuzung, auf der ein hoch
aufgeschossener Elf versuchte, ihr auf den Hintern zu hauen. Ohne aus dem Tritt
zu kommen, verpasste ihm Isabella im Vorbeigehen einen Hieb mit der
neunschwänzigen Katze. Ich ließ den Kiefer knacken und riss die Augen auf.
Der Elf lachte auf. Zumindest hatte er Humor.
„Wo gehen wir hin?“, fragte ich erneut.
Isabella zuckte zusammen. „Das wirst du gleich sehen.“
Durch die Dunkelheit hörten wir kalten Stahl klirren. Ich
hätte nicht auf Isabella hören sollen. Vielleicht war es ein Fehler gewesen,
das Flammenschwert im Gasthof zu lassen.
Als wir um die Ecke bogen, sahen wir zwei Krieger, die
mitten auf der Straße erbittert miteinander kämpften. Sie waren von einer
dichten, lärmenden Menge umgeben, doch offenbar wollte sich keiner der
Schaulustigen einmischen.
Ich musterte die Szene. Ein Hinweis erschien:
Ein Duell!
Jemand kreischte auf. Eine Stimme donnerte: „Haltet den
Dieb!“
Ein junger Bursche glitt geschmeidig an mir vorbei und verschwand
in den dunklen Schatten. Ein durchsichtiges Lasso kam hinter ihm hergeflogen
und machte seine Tarnung zunichte, doch der Dieb hatte sich bereits in einen
finsteren Durchgang geflüchtet. Niemand wagte, ihm weiter zu folgen. Die
wütenden Rufe seines Opfers hallten noch lange hinter uns.
Die Straße führte an ein schmales, verlassenes Kanalufer.
Dort schloss ich wieder zu Isabella auf und ging neben ihr her, wobei ich mich
bemühte, nicht auf die Kette zu treten, die auf dem Kopfsteinpflaster klirrte.
„Kann man sich irgendwie vor Taschendieben schützen?“
Isabella zuckte die Schultern. „Alles ist möglich. Kommt
darauf an, wie viel du zahlst.“
„Könntest du etwas deutlicher werden?“
Da niemand in der Nähe war, ließ sie sich zu einer
Antwort herab.
„Wenn du den Herrscher des örtlichen Turms schmierst,
kann er dein Inventar eine Zeitlang schützen. Das ist nicht billig. Außerdem
erlischt sein Schutz, sobald du die Stadt verlässt.“
„Aha. Und wenn man für einen bestimmten Gegenstand
dauerhaften Schutz braucht, unabhängig davon, wo sich sein Besitzer gerade
aufhält?“
Sie blieb stehen und seufzte schwer. „Wozu brauchst du
das? Was hat du noch für Geheimnisse vor mir?“
„Tja“, zögerte ich. „Der Nekro, mit dem ich diese
Vendetta habe, will mir ein bestimmtes Artefakt wegnehmen …“
„Das ist dein Problem.“ Ohne meine Erklärung abzuwarten,
ging sie weiter.
Ich packte die Kette und zwang sie zum Stehenbleiben.
„Das sehe ich anders! Dieses Artefakt ist für meine Wiedergeburt unerlässlich.
Und wenn es gestohlen wird —“
Mehr musste ich nicht sagen.
„Zeig es mir“, gab Isabella nach.
Ich zog den verzauberten Schädel hervor und legte ihn
widerwillig in ihre Hand.
Sie musterte ihn eine Weile und sah dann zu mir auf.
„Wenn du mich verarschen willst —“
„Auf keinen Fall!“
„Dann mache ich dich fertig“, versicherte sie mir. „Um
diesen lausigen Stein zu beschützen, muss ich das Wohlwollen meiner Göttin in
Anspruch nehmen! Kannst du dir eigentlich vorstellen, was es mich gekostet hat,
es überhaupt zu gewinnen?“
„Ich werde mich revanchieren.“
Sie lachte auf und legte eine Hand auf das Artefakt. Als
sie sie wieder wegzog, leuchtete in den leeren Augenhöhlen des Schädels ein
purpurroter Schein. „Hier.“
Eilig verstaute ich den Schädel wieder in meinem
Inventar. „Wie funktioniert das nun?“
„Ein Dieb wird seine Finger verlieren.“
„Ausgezeichnet!“, rief ich aus.
Plötzlich ließ mich irgendetwas aufmerken. „Warte mal.“
Wir näherten uns der nächsten Brücke, als mein untoter
Phönix — der aus Gründen, die nur er selbst kannte, hinter uns hergeflogen war
—, plötzlich über dem Wasser kreiste. Ich ließ meinen Geist zu ihm schweben und
versuchte, aus der Vogelperspektive in die Dunkelheit zu spähen, die über der
Stadt lag. Es war nichts Verdächtiges zu erkennen. Trotzdem war etwas nicht in
Ordnung.
„Können wir diese Brücke umgehen?“, fragte ich Isabella.
„Dazu ist keine Zeit“, fuhr sie mich an. Dann wies sie
auf ein Paar, das gerade aus einer Seitenstraße kam und auch auf die Brücke
zuging. „Schau nur, andere benutzen sie auch.“
Doch da irrte sie sich. Kaum hatten die beiden
Nachtschwärmer die Brücke erreicht, wurden sie von Schatten umringt. Im
nächsten Augenblick schienen sie friedlich auf dem Boden zu ruhen. Allerdings
schliefen sie nicht — sondern verbluteten.
Vier mörderische Schurken filzten die Leichen gekonnt und
sprangen dann in ein Boot, das auf den Wellen neben dem Ufer tanzte. Sekunden
später gab es bis auf das leise Knarren der Ruderdollen keine Spur mehr von
ihnen.
„Wer hätte das gedacht ...“, bemerkte Isabella gedehnt
und mit verblüffter Miene. „Komm, Schätzchen!” Sie riss an der Kette. „Wir sind
fast da.“
An den leblosen Körpern vorbei eilten wir auf die Brücke.
Dank meiner Nachtsicht konnte ich erkennen, wie das Boot auf dem Kanal
verschwand. Leider war nicht genau auszumachen, wer sich daran befand.
„Nette, ruhige Stadt“, höhnte ich.
„Nur ein paar Minderjährige auf einem Adrenalin-Trip“,
erwiderte Isabella, die ihren Schritt beschleunigte.
Widerwillig folgte ich ihr. Der Phönix stieß wieder ein
Krächzen aus und flatterte in die Dunkelheit davon.
Kaum hatten wir den Kanal überquert, trafen wir direkt
auf eine Gruppe von Spielern, die sich auf einen Raubzug vorbereiteten. Ein
hoch konzentrierter Hexenmeister zeichnete mit Kreide die Umrisse eines Portals
auf das Kopfsteinpflaster. Eine Priesterin erteilte Segen, während alle anderen
ihre Ausrüstung prüften oder Heiltränke und Mana-Fläschchen verteilten. Ihr
Durchschnittslevel war nicht besonders hoch, doch ausgestattet waren sie
beeindruckend. Selbst ich, der ich mich in dem Spiel nicht besonders gut
auskannte, erkannte einige legendäre Ausrüstungsteile.
Genauso hatten die Spieler auch mich erkannt.
Natürlich nicht im wahrsten Sinne des Wortes. Sie sahen
eine Dame in schwarzem Leder mit einer Kreatur an einer Kette und hatten es
geschafft, diese zu identifizieren.
„Ein Zombie!“, rief jemand. „Wer will sich ein paar
Erfahrungspunkte sichern?“
„Ich bin dabei!“, knurrte ein stämmiger Krieger, der über
zwei Meter maß, und zog ein glühendes Schwert aus seiner Scheide.
Diesmal war Isabella nicht so dumm, sie mit der Peitsche
zu bedrohen. Sie packte ihren Stab fester. „Versucht es nur!“
Ihr wütendes Knurren ließ den Krieger unentschlossen
zaudern.
Isabella hatte sich teilweise in eine Furie verwandelt.
Ihr Gesicht war spitzer geworden. Ihr Blick zeigte ein finsteres Glühen. Gegen
eine solche Übermacht hatten wir dennoch keine Chance.
Zum Glück kam es nicht so weit.
„Lasst sie in Ruhe!“, befahl der Hexenmeister. Gehorsam
schob der Krieger sein Schwert wieder in die Scheide.
Eilig bogen wir um die Ecke.
„Nette, ruhige Stadt“, wiederholte ich.
„Diese elenden zahlenden Spieler!“, fluchte Isabella.
„Ich kann diese verwöhnten Schnösel nicht ausstehen!“
Ich nickte. Ihr Level war so niedrig gewesen, dass sie
ordentlich investiert haben mussten, um sich so eindrucksvolle
Ausrüstungsgegenstände leisten zu können. Aber was sollte ich sagen? Jeder nach
seiner Fasson. Manche Spieler kaufen sich mit echtem Geld Fantasiewaffen und
-rüstungen, während andere in virtuelle Gastronomie investierten. Die
Weltwirtschaft hatte die Grenzen der echten Welt längst überschritten.
Börsenspekulanten sorgten immer wieder dafür, dass die Aktien von
Online-Startups in die Höhe schossen, selbst wenn sich sämtliche Vermögenswerte
dieser Start-ups nur auf einem einzigen Server befanden.
Jegliche Gedanken über die Verschmelzung der virtuellen
und der echten Wirtschaft verschwanden jedoch auf einen Schlag aus meinem Kopf,
als ich auf der anderen Seite eines weiteren Kanals ein düsteres Gebäude
erblickte, hinter dem ein imposanter Turm mit einem dunklen Engel auf der
Spitze aufragte.
„Warte mal“, sagte ich verwirrt. „Dort haben doch die
Sprösslinge der Finsternis ihren Sitz!“
„Natürlich“, erwiderte Isabella.
Ich traute meinen Ohren nicht. „Soll das etwa heißen,
dass sich der mächtigste Clan der dunklen Seite dazu herablässt, mit uns
Geschäfte zu machen?“
Sie lachte. „Die würden mit dem Teufel höchstpersönlich
einen Deal machen, um den Söhnen des Lichts eins auszuwischen. Oder meinst du
wirklich, dass auf der hellen Seite niemand die Seelensphäre einsammeln will?“
Ich sah das etwas anders, deshalb zuckte ich nur die
Schultern, sagte jedoch nichts.
Die Brücke auf die andere Seite war mit Marmorplatten
belegt und von Statuen verschiedener fantastischer Kreaturen gesäumt, die wie
kämpfende Schlangen ineinander verschlungen waren. Wachposten waren nicht zu
sehen.
„Wir können doch sicher nicht einfach das Territorium des
Clans betreten?“, fragte ich.
„Sei still!“, zischte Isabella. „Du bist ein hirnloser
Zombie, vergiss das nicht!“
Ich fluchte halblaut, gehorchte jedoch.
Kaum lag die Hälfte der Brücke hinter mir, bohrte sich
ein durchdringender Schmerz oben in meinen Kopf. Es war, als hätte mich ein
Hammer getroffen. Fast wand ich mich vor Qualen. Ein Büschel versengter
schwarzer Federn schwebte zu Boden.
Meinen schwarzen Phönix hatte offenbar niemand auf die
Gästeliste gesetzt.
„Beweg dich!“, zischte Isabella.
Mit Mühe richtete ich mich auf, straffte die Schultern
und stolperte ihr mit dem stockenden Gang der wandelnden Toten hinterher.
Die Wachposten warteten am anderen Ende der Brücke auf
uns: zehn Schwertkämpfer, zwei Hexenmeister und als einziger Spieler ein
dunkler Priester. Er hob seinen Stab, dessen Kristallspitze zu leuchten begann
und die nächtlichen Schatten vertrieb.
Die Kontrolle dauerte nicht lange. Der Priester winkte
uns durch.
„Geht geradeaus weiter“, sagte er. „Ihr werdet erwartet.“
Unmittelbar hinter der Brücke stießen wir auf ein unglaublich
hohes schmiedeeisernes Tor, auf dem scharfe Spitzen saßen. Allerdings waren wir
nicht wichtig genug, als dass man uns dieses geöffnet hätte. Wir durften
lediglich durch ein kleines Seitentor eintreten.
„Folgt mir“. Der Torwächter schritt über den Platz auf
den Turm des Clans zu, der auf der gegenüberliegenden Seite aufragte.
Erstaunlicherweise hob sich die Statue des dunklen Engels in der Finsternis,
die uns umgab, deutlich ab.
Leider konnte ich sie mir nicht in Ruhe ansehen. Von
einem Zombie wird nicht erwartet, dass er Sehenswürdigkeiten betrachtet. Wir
sollen mit gesenkten Köpfen herumlaufen, genau wie Schweine.
Die Tore zum Sitz des Ordens waren weit geöffnet. Der
Torwächter geleitete uns in eine geräumige Eingangshalle und befahl uns, dort
zu warten.
Selbst als er fort war, gab ich weiterhin die
emotionslose Leiche, obwohl es mir immer schwerer fiel, eine reglose Miene zu
behalten. Minuten verstrichen, doch wir wurden nicht gerufen. In der echten
Welt wäre das weder seltsam noch erniedrigend gewesen, doch angesichts der
Kosten für den Aufenthalt in der virtuellen Realität ließ das Verhalten unseres
Gastgebers nichts Gutes ahnen.
Nach einer Weile fluchte Isabella halblaut. Sie stellte
sich vor die Eingangstür und starrte finster auf die Statue des dunklen Engels,
die sich darüber befand: er war schmal, mit kräftigen Schwingen und energischer
Miene auf dem schönen Gesicht. Mit der rechten Hand reckte die Kreatur ein
schwarzes Schwert hoch in die Luft, die linke umklammerte passend dazu eine flammende
Peitsche.
„Das ist der Schutzpatron des Clans“, sagte Isabella.
„Sie haben sich nicht einmal die Mühe gemacht, einen Namen für sie zu
überlegen. Hauptsache billig.“
Ihre Stimme klang unverhohlen sarkastisch, als wolle sie
die unsichtbaren Beobachter wissen lassen, wie sehr sie sich über die
unerwartete Verzögerung ärgerte, aber vorerst nicht zu weit gehen.
Ihre wütende Tirade zeigte keine Wirkung. Die Türen
blieben verschlossen.
Nach und nach erschienen andere Spieler in der
Eingangshalle. Niemand sprach mit anderen, jeder blieb für sich. Ich versuchte,
sie nicht anzustarren: Sie waren so schon nervös genug und hatten es nicht
gerne mit einem Zombie zu tun.
Endlich öffneten sich die Türen, und ein Diener in
prächtiger Livree verkündete:
„Isabella Ash-Rizt! Bitte folgt mir!“
Die vielen Spieler im Raum warfen ihr ungnädige,
neidische Blicke zu, die Isabella ignorierte, als sie mit hoch erhobenem Kopf
stolz den Korridor hinunterlief.
Der Durchgang war mit vierarmigen Statuen gesäumt. Ich
brauchte eine Weile, um zu erkennen, dass es keine ganz gewöhnlichen Statuen
waren, sondern Golem-Wächter. Ihre Schwerter und Rüstungen bestanden aus einem
Metall, das sehr nach Mithril aussah, aber dunkelrot schimmerte.
Der Audienzsaal war wirklich gigantisch. Seine Wände und
die unfassbar hohe Decke verschwanden in den Schatten über unseren Köpfen. Die
Beleuchtung stammte von einem gespenstischen Licht, das sich auf die drei
Throne gegenüber dem Eingang konzentrierte.
Auf diese ging der Diener zu. Bei jedem seiner Schritte
leuchteten die Steinfliesen hinter ihm auf. Wir folgten ihm. Sofort stießen die
Steinplatten unter unseren Füßen einen deutlichen roten Schein aus, als wollten
sie jedermann vor einem nahenden Feind warnen.
„Der Fall der Scherbe der Seelensphäre!“, donnerte der
Diener. Daraufhin trat er zur Seite und ließ uns mit den Herrschern des Clans
allein.
Auf dem mittleren Thron saß ein unfassbar groß
gewachsener Ritter mit schwarzer Rüstung und geschlossenem Visier. Er hatte
nichts Helles an sich. Es war, als sei er ganz und gar in Finsternis gehüllt,
die ihn in Hunderten von gespenstischen Schatten umgab.
Oberster Hofmeister
Das war der einzige Hinweis, der erschien, wenn ich mich
auf ihn konzentrierte.
Der linke Thron war von einer weiblichen Gestalt in einer
Rüstung aus Eis belegt, deren Gesicht hinter einem Schleier aus Schneeflocken
verborgen war. Zu ihren Füßen lag ein ungeheurer weißer Wolf.
Auf dem gegenüberliegen Thron befand sich ein Spieler in
einem Feuergewand. Ihre Namen — Lady Blizzard und Fürst Inferno — sagten mir
nichts.
Isabella senkte respektvoll den Kopf. Ich blieb
unbeholfen stehen und starrte reglos auf die Menge, die sich hinter den Thronen
regte. Alle Spieler hier hatten Level 80 bis 90 und sahen mit ihren legendären
Waffen, maßgeschneiderten Rüstungen und einzigartigen Haustieren auch
entsprechend aus. Von manchen der Klassen und Berufe hatte ich noch nie gehört.
Und wir waren gekommen, um ihnen ein Geschäft anzubieten.
Na klar.
Der Oberste Hofmeister schnippte mit den Fingern. Ein
Alchemist trat vor.
„Erlaubt mir, das Artefakt zu prüfen“, sagte er.
Isabella holte die Scherbe der Seelensphäre hervor,
zeigte sich jedoch nicht bereit, sie ihm zu übergeben, sondern streckte sie auf
der Handfläche vor sich aus.
Das war kein Problem. Der Alchemist studierte den kalten
Schein des Objekts mit einem ausgefeilten optischen Gerät.
„Drei von Hundert!“, lautete sein Urteil.
Der Oberste Hofmeister nickte zustimmend. „Wie viel?“
Isabella verstaute das Fragment wieder. „Euer Geld
interessiert mich nicht.“
Ein Raunen ging durch die Halle, doch der Oberste
Hofmeister blieb ruhig. „Erklärt euch“, verlangte er.
„Eine Hand wäscht die andere“, erwiderte Isabella.
„Sucht ihr unseren Schutz?“, erkundigte sich Lady
Blizzard.
„Oder wollt ihr dem Clan beitreten?“, lachte Fürst
Inferno. „Unsere Warteliste ist jahrelang. Und Ihr seid keine besonders
wertvolle Ergänzung, Priesterin.“
Isabella schüttelte den Kopf. „Ich möchte mich dem
Raubzug ins Königreich der Toten anschließen. Und glaubt mir, ihr werdet sicher
feststellen, dass ich eine sehr wertvolle Ergänzung sein kann.“
Die Menge der Spieler hinter den Thronen begann
durcheinander zu reden, um ihrer Empörung Luft zu machen. Ich fand, wir sollten
verschwinden.
Der Oberste Hofmeister blieb jedoch weiterhin ungerührt.
„Fahrt fort“, sagte er und bedeutete der Menge, sich zu beruhigen.
„Ich bin den Untertanen des Herrschers vom Turm der
Verwesung gegenüber neutral. Eine bessere Späherin als mich werdet ihr nicht
finden.“
Der schwarze Ritter schüttelte den Kopf. „Dieser Status
ist nicht so einzigartig, wie Ihr glaubt, Priesterin. Wir brauchen eure Dienste
nicht.“
Isabella ließ sich von seiner Ablehnung nicht
beeindrucken, sondern zog an der Kette, sodass die allgemeine Aufmerksamkeit
auf meine Wenigkeit fiel. „Und wie viele zahme Zombies habt ihr, wenn ich
fragen darf? Keine hirnlosen Idioten, sondern sensible Geschöpfe? Die mit
freiem Willen handeln und die Artefakte der Untertanen des Turms Verwesung
einsetzen können? Und noch dazu in der Lage sind, magische Verteidigungen zu
überwinden?“
Sie wandte mich zu mir um. „Schätzchen, sag was!“
Gehorsam sagte ich mit absichtlich undeutlicher Stimme:
„Es ist mir eine Ehre, meine Damen und Herren!“
Die Spieler begannen sofort, das außergewöhnliche Angebot
zu diskutieren.
Wieder brachte der Oberste Hofmeister alle zur Ruhe.
„Einen Augenblick.“ Er wandte sich an die beiden anderen, um sich zu beraten.
Isabella ließ ein leises Lächeln um ihre Lippen spielen,
das verschwand, sobald der schwarze Ritter wieder sprach und die Entscheidung
des Clans verkündete.
„Wir zahlen euch fünfzigtausend für das Fragment. Und
weitere dreißig für die Zombie-Kontrolle.“
Das unverschämte Angebot schien Isabella zu schockieren.
Stolz warf sie den Kopf in den Nacken. „Tja, wie Ihr wollt. Komm, Schätzchen. Du
bist weitaus mehr wert als jämmerliche Dreißigtausend!“
Der Oberste Hofmeister beugte sich ein wenig vor. „Sagen
wir sechzig und vierzig. Das sind insgesamt hunderttausend. Unser letztes
Angebot.“
„Ich brauche das Geld nicht. Ich will an dem Raubzug
teilnehmen!“
Er schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Dann werden wir
uns nicht einig.“
Isabella zuckte empört die Schultern und wandte sich zum
Gehen. Doch bevor sie einen Schritt tun konnte, trat einer der Spieler — ein
gewisser Prinz Julien — vor.
„Was zum Teufel?“, wollt er wissen. „Lassen wir sie
einfach gehen? Das Fragment ist so gut wie unser!“
Schweigen machte sich breit. Ich hörte es deutlich
klirren, als Isabellas Stab seine Gelenke bewegte. In Erwartung der Hölle, die
gleich losbrechen würde, taten mir schon die Zähne weh.
Ein Prinz? Wer um alles in der Welt hatte diesen
Dreckskerl zum Prinzen gemacht?
Für Isabella war das kein Problem. Sie würde einfach im
Gasthof respawnen und fertig. Aber ich, wie sollte ich hier wieder
herauskommen? Oder standen meine Chancen, das Königreich der Toten zu
erreichen, etwa besser, wenn ich bei dem Clan blieb? Auf keinen Fall. Sie
würden mich auf der Stelle durchschauen.
Die Pause dauerte nur wenige Sekunden. Der Oberste
Hofmeister schüttelte den Kopf. „Wir verstoßen nicht gegen die Gesetze.“
„Aber wir machen sie doch!“, rief der Prinz
leidenschaftlich aus.
Ich war mir ziemlich sicher, dass ihm viele in der Menge
von ganzem Herzen zustimmten.
Diesmal stand die Entscheidung bereits fest. „Geht!“ Der
schwarze Ritter wies Isabella an, den Raum zu verlassen.
Eilig gehorchte sie. Ich trottete hinter ihr her wie ein
Hund an der Leine.
Isabella sagte kein Wort, als wir uns unseren Weg durch
die Menge der anderen Bittsteller bahnten, die in der Empfangshalle darauf
warteten, bis sie an die Reihe kamen. Erst als wir die Brücke überquerten,
wurde sie wieder normal.
„Egal“, stieß sie durch zusammengebissene Zähne hervor. „Was
der kann, kann ich auch.“
Mit diesen Worten eilte sie nach Hause.
„Warum haben die uns gehenlassen?“, fragte ich, als ich
die Rolle des dummen Zombies abgelegt hatte.
Sie zuckte die Schultern. „Da kann ich auch nur raten.
Vielleicht haben sie gedacht, dass wir zu einem größeren Betrug gehören. Denn
glaub mir, auch mit den Sprösslingen der Finsternis kann man es aufnehmen, wenn
sie zu weit gehen.“
„Aber was, wenn sie uns loswerden wollen? Daran hast du
nicht gedacht, oder?“ Ich war wütend und versuchte gar nicht, das zu verbergen.
Die Priesterin lächelte nur. „Vertrau mir, Schätzchen. Ich
wusste genau, was ich mache.“
Mit weiteren Erklärungen gab sie sich nicht ab, und mir
war klar, dass ich ihr besser nicht zusetzen sollten.
Aus der Finsternis über unseren Köpfen erschallte ein „Kraah!“. Offenbar war mein toter Phönix
wieder im Spiel.
„Und was jetzt?“, fragte ich.
Isabella lachte zweideutig. „Keine Sorge. Wir werden von
ihnen hören.“
„Aber uns läuft die Zeit davon!“
„Wirst du etwa unruhig, Schätzchen?“
„Leck mich!“ Ich wollte ihr gerade die Kette aus der Hand
reißen, als aus einer angrenzenden Straße eine laute Prozession auftauchte.
Den Anfang machte ein halbes Dutzend bis an die Zähne
bewaffnete Söldner, darauf folgte ein Feuermagier mit Level 85. Neben ihm eilte
eine wohlgeformte Elfe daher, während uns die drei Spieler-Leibwächter am Ende
der Prozession mit unverhohlenem Misstrauen musterten.
So seltsam es klingen mag, das war der erste Charakter
mit richtig hohem Level, der mir auf den Straßen der Hauptstadt begegnete. Am
Sitz des Clans, den wir gerade verlassen hatten, hatte es davon gewimmelt, doch
in der Stadt selbst keineswegs. Ich fragte Isabella nach einer Erklärung.
Sie schnaubte höhnisch. „Die haben keine Zeit, sich in
der Stadt aufzuhalten. Für diejenigen, die das Hochleveln ernst nehmen, ist das
Spiel ein Job. Und das kann sogar ziemlich gefährlich sein!“
Ich traute meinen Ohren kam. „Gefährlich? Hör doch auf!
Das sind echte Kampfmaschinen!“
„Jeder kann sein Leben verlieren. Man muss sich nur mehr
anstrengen oder mehr Leute mobilisieren. Manche Spielermörder haben es gezielt
auf Spieler mit hohen Levels abgesehen.“
„Warum das denn?“
„Erfahrungspunkte. Coole Ausrüstung. Manche Clans setzen
sogar Kopfgeld aus, nur um einen rivalisierenden Clan zu schwächen.“
„Kopfgeld?“
„Klar. Kannst du dir vorstellen, wie umfangreich ihre
schwarzen Listen sind? Selbst du hast dir gerade einen erklärten Feind
gemacht.“
Ich erschauderte. „Du meinst, sie können wirklich
jemanden ermorden?“
„Wenn sie schnell genug zuschlagen“, grinste sie. „Jetzt
hör zu. Meine Spielzeit neigt sich dem Ende zu. Ich bringe dich zum Gasthaus
und logge mich aus. Morgen entscheiden wir, was wir als Nächstes machen.“
Wir bogen in einen schmalen Durchgang zwischen einigen
Häusern ab, hatten jedoch kaum zehn Schritte getan, als ein Portal vor uns
auftauchte. Mit einem lauten Geräusch öffnete sich ein weiteres direkt hinter
uns.
Ehe ich mich versah, wimmelte die Gasse vor Menschen,
Elfen und Zwergen, die Schwerter und Hellebarden auf uns gerichtet hatten. Die
Menge quoll über vor Zauberstäben und gespannten Armbrüsten. Als ich mich
umdrehte, erwartete mich das gleiche Bild.
Jetzt steckten wir in der Klemme.
Isabella verwandelte sich auf der Stelle in eine Furie.
Dennoch sah es nicht so aus, als könnten wir diese Schlacht gewinnen. Unsere
Feinde waren zu zahlreich — auch wenn es keine Spieler, sondern nur angeheuerte
NPCs waren.
Prinz Julien trat vor. Er war ein Dunkler Ritter auf
Level 89. Auf seiner tiefblauen Rüstung funkelte Schutzzauber, hinter seinem
Rücken ragte das weiße Heft seines beidhändigen Schwerts auf, das aus
Dämonenknochen gemacht war. Meiner Ansicht nach hatte er die Hilfe der Söldner
gar nicht nötig. Er war problemlos in der Lage, uns ganz allein zu Hackfleisch
zu verarbeiten.
„Jetzt kämpft jeder für sich“, warnte ich Isabella, denn
ich hatte fest vor, mich zu tarnen und zu verduften.
„Bleib, wo du bist!“, fuhr sie mich an und wandte sich
dann an den Prinzen. „Wie kann ich dir helfen, mein Junge?“
Seltsamerweise schien ihre sarkastische Anrede einen
Volltreffer zu landen. Mit einer ruckartigen Bewegung schloss der Prinz sein
Visier, das als Tigerkopf mit gefletschten Zähnen gestaltet war, um sein
hübsches Gesicht und das Grübchen in seinem Kinn zu verbergen.
„Leg dich nicht mit mir an“, sagte er. „Gib mir einfach
die Scherbe.“
„Oh, wir haben uns jetzt also auf Diebstahl verlegt?“
„Du kannst dein Geld aus der Schatzkammer des Clans
bekommen. Wenn du nicht mitspielst, wirst du es bereuen.“
Sie lachte. „Du brauchst also Leibwächter, um mir das zu
sagen? Hast du solche Angst vor Frauen?“
Ich konnte mich nicht zurückhalten. „Er weiß einfach
nicht, was er mit dir anfangen soll!“, gab ich meinen Senf dazu. „Deshalb hat
er sich Berater mitgebracht!“
„Ich wollte nur nicht meine Zeit damit verschwenden, dir
hinterherzujagen, das ist alles“, stieß er durch die Zähne hervor und griff
hinter sich, um mich für seine Blamage bezahlen zu lassen.
Sein Schwert glitt aus der Scheide. Vorsichthalber zog
ich mich hinter Isabella zurück.
Der Prinz schnaubte: „Das ist deine letzte Chance, diese
Sache friedlich zu klären.“
Sein ursprünglicher Plan war jetzt sonnenklar. Indem er
an der Spitze einer großen unerwarteten Söldnergruppe auftauchte, hatte er
Isabella so einschüchtern wollen, dass sie ihm das Artefakt aushändigte. Sie
musste das freiwillig tun. Die Chance, das Objekt am toten Körper der
Priesterin sicherzustellen, war zu gering.
Isabella durchschaute seine Strategie genauso gut wie
ich, wollte sich aber nicht den Spaß nehmen lassen, ihn gründlich zu verärgern.
„Der Kleine ist also gerne dominant?“, schnurrte sie. „So
ein schlimmer Junge! Ein ganz, ganz schlimmer Junge!“
Das Schwert des Prinzen zuckte in seinen nervösen Händen.
Die blaue Klinge war mit schwarzen Runen übersät, und der Anblick gefiel mir
ganz und gar nicht. Ich packte mein Halsband und wollte es schon abreißen und
mich tarnen, als Isabella sich zu gewissen Zugeständnissen herabließ.
„Du willst das Fragment, ja?“, lächelte sie und griff in
ihr Inventar. „Hast du keine Angst, dir den Zorn der Herrscherin des
Purpurmonds zuzuziehen?“
Beim Anblick der Kugel aus gespenstischem Licht
erschauerte der Prinz. Dennoch ließ er sich nicht provozieren. Er war nicht so
dumm, dass er die Göttin kränkte.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich um diesen
Tand schert“, sagte er sarkastisch und streckte fordernd die Hand aus. „Gib
her!“
Isabella pustete auf ihre Hand. Der weiße Schein
verschwand und wich einem ungesund aussehenden Purpur. „Nimm doch. Aber pass
auf, dass du dir nicht deine hübschen Fingerchen verbrennst.“
Er zog die Hand zurück. „Du Miststück!“
„Komm schon, nimm!“, beharrte Isabella. „Sobald die
Sphäre komplett ist, brauchst du meine Herrscherin sowieso.“
Julien wandte den Blick von dem Artefakt ab, das
dunkelrot in ihrer Hand leuchtete, und versuchte sogar einen Hieb mit dem
Schwert. Doch der Verstand war stärker als sein Instinkt. „Verschwinden wir“, sagte
er.
Die Söldner steckten ihre Waffen weg und zogen sich
langsam aus der Straße zurück. Der Prinz folgte seinen Schergen.
„Wir sehen uns noch“, bemerkte er.
Kaum war er um die Ecke verschwunden, stieß Isabella ein
erleichtertes Seufzen aus und verstaute das Artefakt wieder in ihrem Inventar.
„Was hast du damit gemacht?“, wollte ich wissen.
Sie ging die Straße hinunter, als würde sie damit
rechnen, dass der Prinz zurückkommen könnte. „Der Wille meiner Herrscherin hat
sie berührt“, erklärte sie widerwillig. „Jetzt kann sie niemand ohne meine
Erlaubnis benutzen. Doch sobald dieses jämmerliche Exemplar von Prinz erkennt,
dass er die perfekte Gelegenheit hatte, der Konkurrenz eins auszuwischen …“
Bei der Vorstellung, dass jederzeit eine Horde
bewaffneter Halsabschneider zurückkommen könnte, ließ ich meinen Geist zu
meinem toten Phönix aufsteigen. Sofort veränderte sich die Welt um mich herum,
wurde bunter, heller und schneller. Sie wurde sogar höllisch schnell.
Meine Vogelscheuche schoss über die gesamte Stadt. Ich
sah alles durch ihre Augen: sämtliche Dächer, die Schornsteine und die
Wetterfahnen auf den Häusern darunter. Erstaunlicherweise flog dieses tote
Federbüschel ungehindert hindurch, hielt auf den Kanal zu und hockte sich auf
einen Laternenpfosten.
Der Prinz marschierte das Ufer entlang in Richtung
Brücke. Die Söldner folgten ihm in einiger Entfernung. Die Schatten wurden
dichter, spuckten einige Gestalten in dunklen Umhängen und Kapuzen aus.
Allerdings griffen sie den Prinz und seine Leute nicht an, sondern stellten
sich als Scouts des Clans heraus.
Menschliche Sprache klang durch die Ohren des Phönix
ziemlich verzerrt, doch ich konnte das Gespräch dennoch einigermaßen verstehen.
Was ich hörte, ließ mich auflachen.
„Was ist denn?“ Isabella riss an der Kette. „Hast du den
Verstand verloren, Schätzchen?“
Ich schüttelte den Kopf und löste mich von meinem
Haustier. „Ich habe gerade eine Gruppe Diebe gesehen, die angeheuert wurden, um
dir das Fragment zu stehlen. Und der Prinz hat soeben alles zunichte gemacht.“
„Im Ernst?“, fragte sie, wobei sie ihre Verwunderung
nicht unterdrücken konnte. „Wieso denkst du das?“
„Ich bin schließlich ein Lich, oder?“, sagte ich mit
einem selbstgefälligen Lächeln. „Ich kann vieles, von dem du nichts ahnst.“ Ich
lehnte mich an die Wand, weil sich mir der Kopf drehte.
Isabella lachte. „Du steckst voller Überraschungen,
Schätzchen.“ Sie zog an der Kette. „Komm jetzt. Lass uns hier verschwinden,
bevor sie es sich anders überlegen.“
4
OHNE WEITERE ZWISCHENFÄLLE erreichten wir den Gasthof.
Kaum waren wir wieder in unserem Zimmer, loggte sich Isabella mit einer Reihe
von elektronischen Soundeffekten aus. Ich riss mir das Halsband ab und
schleuderte es in die entlegenste Ecke.
Neo hörte die Kette klirrten und spähte aus dem zweiten
Zimmer. „Alles in Ordnung?“, fragte er schläfrig.
Ich winkte ab. „Alles bestens. Leg dich wieder hin.“
Dann überlegte ich es mir anders und verteilte all meine
erbeuteten Amulette auf dem Bett. „Meinst du, du kannst sie identifizieren?“
Der Junge war begeistert. „Natürlich, Onkel John! Lass
mich mal sehen!“
Er konnte einige einfache Zauberanhänger erkennen, doch
der Großteil meiner Beute blieb unbekannt. Das ärgerte ihn ungemein.
„Onkel John, soll ich die Phönix-Kräfte verwenden?“, bot
er an.
Ich erschauerte. „Nein, bitte nicht. Isabella kann den
Rest übernehmen. Leg dich jetzt wieder schlafen.“
Neo schniefte und verzog sich in das andere Zimmer. Ich
nahm den Anhänger der Erleuchtung, der seinem Besitzer zwei zusätzliche
Intellektpunkte verschaffen sollte, und wollte ihn mir um den Hals hängen. Doch
das ging nicht. Als ich ihn näher betrachtete, stellte ich fest, dass die
Ausrüstung der Toten offenbar nicht mit anderen Zauberobjekten kompatibel war.
Verdammt. Irgendetwas war immer im Argen.
Ich schleuderte den Anhänger aufs Bett, hockte mich auf
die Fensterbank und drückte die Stirn gegen das kalte Glas. Die Straße unten
war dunkel, nur hin und wieder zuckte helles Zauberlicht durch die Düsternis.
Entweder waren das angetrunkene Hexenmeister, die sich einen Spaß erlaubten,
oder Räuber, die sich das Eigentum anderer unter den Nagel rissen. Für manche
machte die Markierung als Spielermörder das Spiel einfach etwas spannender.
Denn genau das war es für sie. Ein Spiel. Nur ein Spiel.
Ein Spiel ist etwas, das man nach Belieben anfangen und
beenden kann. Wenn man nicht mehr herauskann, ist es kein Spiel mehr. Dann ist
es das Leben.
Ich stieß die Stirn gegen das Glas. Vielleiht würde ich
im Laufe der Nacht verrückt werden. Die ganze Zeit über hatte ich mich auf
etwas freuen können. Erst darauf, endlich den Laufstall zu verlassen, dann
darauf, den Eingang zum Königreich der Toten zu finden, dann die Hauptstadt zu
erreichen ... Und jetzt musste ich warten und wusste nicht einmal, worauf. Das
war unerträglich.
Sollte ich rausgehen und mich vielleicht auch ein wenig
vergnügen? Zum Beispiel ein paar Spieler um die Ecke bringen? Gute Idee, aber
wie lange würde die Spielermörder-Markierung bleiben? Ganz zu schweigen davon,
dass ich auch getötet werden könnte, was mehr Komplikationen mit sich bringen
würde, als ich gebrauchen konnte. Oh nein, herzlichen Dank. Ich sollte besser
mit meinem Seelentöter trainieren.
Ich hatte den Knochenhaken schon aus dem Gürtel gezogen,
als ich von der Straße ein heiseres Krächzen hörte.
Ich lachte und ließ meinen Geist zu meinem untoten
Haustier fliegen. Auf geht’s, mein Freund!
ISABELLA LOGGTE SICH am frühen Nachmittag des nächsten
Tages wieder ein. Mittlerweile wusste ich schon nicht mehr, was ich denken
sollte. Ich lief Runde um Runde durch das Zimmer und wusste nichts mit mir
anzufangen. Von den Fenstern hielt ich mich fern, weil die Sonnenstrahlen sich
ins Zimmer ergossen. Das helle Licht brannte mir in den Augen, nach meinem
Ausflug über die Stadt im Körper meines toten Phönix hatte ich Schwindel und
Übelkeit verspürt. Ich konnte nicht klar denken, Schläfen und Hinterkopf
bereiteten mir Höllenqualen.
Ohne besonderen Grund fiel mir das Gespräch mit Mark, dem
Gastwirt, wieder ein. Das brachte mich ins Grübeln — wer mochte auf der dunklen
Seite dieser Welt wirklich das Sagen haben? Waren es die Spieldesigner oder das
Technik-Team?
Ich ging ins Erdgeschoss, um Neo etwas zu essen zu
besorgen, und hoffte, Mark zu treffen und mit ihm reden zu können. Allerdings
stand jemand anderes an der Bar. Mark war offensichtlich offline.
Der Barkeeper nahm meine Bestellung auf und ging in die
Küche. Ich beugte mich über die Theke, schnappt mir die erstbeste Flasche und
versteckte sie unter meinem Umhang. Immer hin war ich ein Dieb, oder etwa
nicht? Ja, ja, mir war klar, dass man nicht stehlen darf. Aber letztendlich
waren Verpflegung und Getränke sowieso im Zimmerpreis enthalten.
Der erfolgreiche Diebstahl brachte mir 10
Erfahrungspunkte. Als ich wieder nach oben ging, war ich sehr zufrieden mit
mir.
Doch kaum hatte ich einen Schluck Whiskey getrunken,
überkamen mich die schlimmsten aller Krämpfe. Ich ließ mich aufs Bett fallen
und konnte nur hoffen, dass meine Muskeln sich entspannen und das Brennen in
meiner Kehle nachlassen würde. Offenbar war Alkohol nichts für Zombies.
Erst fünf Minuten später hörten meine Augen auf zu
tränen. Und genau dann kündigte das leise Ploppen des Portals Isabellas
Rückkehr an.
„Du schaffst es immer wieder, dich ins Knie zu schießen, Schätzchen!“,
sagte sie ohne Umschweife.
Wie kam sie darauf? Ich warf einen Blick auf die Flasche
auf dem Tisch, aber nein, die hatte sie nicht entdeckt.
„Was ist denn?“, stöhnte ich.
„Öffne den Video-Tab“, befahl sie. Zwischen ihren
Augenbrauen war eine tiefe Falte entstanden. Sie sah jetzt aus wie eine Tierärztin,
die entscheiden muss, ob sie eine Katze einschläfert oder noch ein wenig länger
leiden lässt.
Ein Video-Tab? Ich hatte schon so viel Zeit im Spiel
zugebracht, dass mir die Virtuelle Realität zur normalen Umgebung geworden war.
Dass es noch anderes wie Foren und sonstige In-Game-Dienste gab, hatte ich
schon fast vergessen.
Sie kniff bedrohlich die Augen zusammen.
„Ja, ja, ich habe ihn geöffnet!“, antwortete ich eilig.
„Und jetzt?“
„Schau dir das Video mit den meisten Zuschauerzahlen in
den letzten vierundzwanzig Stunden an. Du gehört zu den ‚meistgesehenen‘!“
„Ich? Bist du dir sicher? Wie kann das sein?“
Leider hatte sie recht. Unter den „meistgesehenen“ war
ein Video mit meiner Wenigkeit. Eine Viertelmillion Aufrufe und Platz Drei im
Ranking.
Die Aufnahme zeigte den Augenblick, in dem der Drow
meinen untoten Phönix mit dem Bogen vom Himmel holte, sowie meine Racheaktion.
Der Erfolg dieses eher unspektakulären Zwischenfalls war zum Großteil auf den
reißerischen Titel zurückzuführen: Spieler
des Lichts bestraft Finsterling am Turm der Düsternis hatte der Uploader
sich einfallen lassen.
Ein Mönch vom Orden des Silberphönix tötet einen Spieler
der dunklen Seite und verschwindet ungehindert — und zwar ausgerechnet direkt
neben dem Turm der Düsternis!
Na toll. Den wahren Ernst der Lage erkannte ich aber
erst, als ich die Kommentare durchsah. Mich interessierten weder die Drohungen
der dunklen Spieler noch die ermutigenden Worte der Hellen. Weitaus mehr
beunruhigte mich ihre Diskussion über mein Flammenschwert. Obwohl meine
Ausrüstung der Toten nicht zu meiner Kleidung eines Spielers des Lichts passte,
hatte ein Waffenkenner sie prompt identifiziert und sogar ihr offizielles
Wiki-Bild veröffentlicht.
Verdammt! Wenn Garth zufällig auf dieses elende Video
stieß, würde er sofort wissen, wo er mich finden konnte.
Eine Viertelmillion Aufrufe. Miiiist. …
„Was bedeutet die Zahl ‚37.000‘ neben dem Bildschirm?“, fragte ich Isabella. „Sind das
Spenden für den Urheber?“
„Oh nein, Schätzchen.“ Sie lächelte mich zuckersüß an. „Das
sind Spenden dafür, dich zu
erledigen. Wer dich als Erster tötet, bekommt 50 %. Wer dich als nächstes
tötet, bekommt 50 % des Rests. Das kann bis zu fünf Mal wiederholt werden.“
Ich erschauerte. „Ist das legal?“
„Die Admins lassen alles zu, was das Spiel etwas
spannender macht.“
„Mistkerle!“ Ich spuckte aus. „So viel zum Thema
Unerkanntbleiben! So viel zum Thema Inkognito! ‚Hallo, Fremder! Was ist das für ein Silberphönix auf deiner Brust?“,
dichtete ich einen alten Schlager um.
Isabella musste kichern, doch ehe ich mich versah, war
sie wieder ernst geworden.
„Ich fürchte, dein Schwert ist etwas zu auffällig, Schätzchen.
Du bist zu leicht zu erkennen.“
Ich winkte ab. „Das ist mir egal. Sag du mir besser, was
wir mit der Scherbe der Seelensphäre machen. Das Geld ist mir vollkommen egal,
aber ich will unbedingt ins Königreich der Toten. Wirklich unbedingt.“
„Entspann dich, Schätzchen“, grinste sie und riss sich
den Lederbesatz von der Rüstung. „Als du auf deinem bequemen Bettchen
geschnarcht hast, habe ich den Sprösslingen der Finsternis ein neues Angebot
gemacht. Eines, das sie nicht ablehnen können.“
„Im Ernst?“, sagte ich ungläubig. „Bedeutet das, sie
nehmen uns mit auf den Raubzug?“
„Nein.“
Ich fluchte enttäuscht. „Wieso freust du dich dann so? Welche
Vereinbarung hast du mit ihnen getroffen?“
Sie beugte sich vor, um mir die Wange zu tätscheln,
bemerkte jedoch meinen finsteren Blick und überlegte es sich anders. „Zunächst
einmal wird uns niemand mehr belästigen. Sinnlos. Das Fragment wurde sicher verstaut.
Zweitens hat der Clan eine Vereinbarung erstellt, nach dem er das Vorkaufsrecht
hat, wenn wir uns jemals zum Verkauf entschließen sollten. Dann sind sie erste
Wahl.“
„Aber wir haben doch gar nicht vor, es zu verkaufen!“
Sie kicherten. „Natürlich nicht. Früher oder später
sorgen wir dafür, dass sie unseren Bedingungen zustimmen.“
Ich runzelte die Stirn. „Wozu brauchen wir dann dieses
Vorkaufs-Ding?“
„Du kannst im Augenblick scheinbar nicht klar denken, Schätzchen!
Bist du noch nicht richtig wach?“, fuhr sie mich an. Sie versuchte erst gar
nicht, ihren Ärger zu verbergen, ließ sich jedoch zu einer Erklärung herab.
„Die Sprösslinge sind sich sicher, dass keiner der erfahrenen Spieler uns auf
den Raubzug mitnehmen wird. Was bedeutet, dass wir die Scherbe früher oder
später versteigern müssen. Und jetzt haben sie die offizielle Garantie, dass
das Fragment nicht in andere Hände gerät. Es sei denn, wir können jemand
anderes überreden.“
„Das wird nicht passieren“, prophezeite ich düster. „Die Söhne
des Lichts hören uns gar nicht erst zu.“
„Das stimmt“, gab sie mir Recht. „Auf ein Lich und eine
dunkle Priesterin können sie gut verzichten. Aber wenn das Rennen in die
Endphase geht, wird sich alles ändern, glaub mir. Wenn sich die Sprösslinge der
Finsternis 97 % der Sphäre gesichert haben, werden sie an uns denken, das
versichere ich dir.“
„Soll das heißen, dass auf der dunklen Seite niemand
sonst die Sphäre sammelt?“
Sie schüttelte den Kopf. „Die Schwerter des Chaos haben
ihre Chance gehabt, sind jetzt jedoch raus. Alle anderen sind nur Mittelsmänner
und Schieber.“
Als sie die Schwerter erwähnte — den zweithöchsten
dunklen Clan —, fiel mir wieder ein, dass ich bei ihnen nun auf der schwarzen
Liste stand. Ich holte die Silberscheibe hervor, die ich in Stone Harbor dem
toten Karl Blitzschlag abgenommen hatte.
„Apropos Schwerter des Chaos“, sagte ich zur Priesterin.
„Meinst du, du kannst das hier identifizieren?“
Isabella nahm mir die Scheibe vorsichtig mit zwei Fingern
ab, musterte sie eine Weile durchdringend und warf sie auf den Tisch. „Ich kann
nicht verstehen, wieso du unbedingt jeden Mist sammeln musst“, beschwerte sie
sich und wischte die Finger an der Tagesdecke ab. „Wo hast du das her? Keine
Ahnung, mit was für einem Zauber es belegt ist, aber ich kann dir sagen, dass
er auf jeden Fall tödlich ist.
Ich setzte sie ins Bild, ließ aber alle Einzelheiten aus,
die sie nichts angingen.
Isabella runzelte die Stirn. „Wegen eines Mordes haben
sie dich auf die schwarze Liste gesetzt?“ Sie schüttelte ungläubig den Kopf.
„Das ergibt keinen Sinn! Das macht man nicht! Es sei denn, du hast ihnen ihre
Pläne durchkreuzt.“
Ich zuckte die Schultern. „Offensichtlich schon.“ Ich
schüttete alle Amulette aus dem Sarkophag auf das Bett. „Das ist meine Beute
aus dem Verlies der Toten. Sollen wir sie teilen?“
Sie grinste. „Gute Idee! Die Sprösslinge der Finsternis haben
uns zehntausend gegeben. Davon gehören dir vier.“
„Nur vier?“
„Tausend musste ich für die Lagerung zahlen“, erläuterte
sie. „Und weitere fünfhundert für den Schutz deines Schädels. Ich bin
schließlich nicht die Heilsarmee.“
„Schon gut“, sagte ich, da ich nicht kleinlich sein
wollte. „Schau dir doch mal die Amulette an. Wenn du damit etwas anfangen
kannst, müssen wir nicht für die Identifizierung zahlen.“
„Klar“, schniefte sie und machte sich an die Arbeit.
Ich legte mich auf das andere Bett und starrte an die
Decke.
Der Raubzug ins Königreich der Toten schien auf
unbestimmte Zeit vertagt worden zu sein. Davon war ich nicht gerade begeistert.
5
VON SÄMTLICHEN AMULETTEN hatte Isabella lediglich drei
nicht identifizieren können: Einen Smaragd-Anhänger, einen schweren Ring mit
einem großen, sternförmigen Saphir und ein Armband, das aus einem unbekannten
grauen Metall geformt war. Der Rest war nicht besonders wertvoll. Dennoch
meinte sie, wir könnten damit sechs- oder siebentausend Goldstücke verdienen.
„Wenn wir Glück haben, bringen diese drei vielleicht das
Gleiche“, vermutete sie und legte sich eine Kette um den Hals, die das Ansehen
bei NPCs förderte. „Die nehme ich mir als meinen Anteil“, erklärte sie.
Ich nickte.
Für mich war in dem ganzen Stapel leider nichts
Sinnvolles dabei. Die Ausrüstung der Toten verhinderte, dass ich den
Sternenring oder das Armband des Wahren Feuers anlegen konnte. Ersterer
verbesserte alle Haupteigenschaften ein wenig, während Letzteres den Schutz vor
Verbrennungen um 30 % erhöhte. Zu schade. Ich hätte beide gut gebrauchen
können.
„Wollen wir die versteigern?“, fragte ich.
„Nein.“ Isabella bewunderte sich vor dem Spiegel. „Wir
verkaufen sie an einen Händler. Bei einer Auktion braucht man ewig, um den
ganzen Mist loszuwerden. Ganz zu schweigen von den halsabschneiderischen
Provisionen.“
Sie rückte die Kette zurecht und warf mir einen
neugierigen Blick zu. „Wie steht es bei einem Lich denn mit dem Blutkreislauf?“
„Fehlanzeige.“
„Du nutzloser —“ Sie ließ den Ausruf unvollendet und
zuckte die Schultern. „Egal. Ich werde jetzt mal die Amulette an den Mann
bringen. Kommst du mit?“
Ich konnte es im Gasthof nicht mehr aushalten. Außerdem
brauchte ich etwas Ausrüstung. Deshalb erhob ich mich vom Bett und griff nach
dem Flammenschwert, das an der Wand lehnte. „Klar, ich komme.“
Isabella runzelte die Stirn. „Nein, Schätzchen. Diesen
rostigen Stahl lässt du besser hier, sonst erkennt man dich in zwei Sekunden.
Hast du die Aufnahme schon vergessen?“
Zögerlich folgte ich ihrem Ratschlag. Stattdessen
verstaute ich das schwarze Ork-Langschwert hinter meinem Rücken.
„Wenn ich dich richtig verstehe, kommt es dir also auf
die Größe an?“, stichelte sie.
Ich winkte ab. „Das will ich verkaufen.“
Isabella grinste und legte sich dann einen kurzen Umhang
um, der ihre knappe Rüstung etwas wenig aufreizend wirken ließ. Allerdings sah
sie damit im Grunde noch verführerischer aus, weil er ihr ein gewisses
Understatement verlieh.
Ich öffnete die Tür und ließ sie in den Korridor. „Neo?
Wir sind weg!“
Der Junge spähte aus dem anderen Zimmer. „Kann ich
mitkommen?“
„Diesmal nicht.“ Ich schloss die Tür und lief hinter
Isabella die Treppe hinunter.
VORSICHTIG VERLIESS ICH den Gasthof. Ich muss zugeben,
dass ich Angst hatte. Wer hätte das nicht? Wegen des elenden Videos hatte ich
das Gefühl, jeder Passant würde gleich mit dem Finger auf mich zeigen. Und
hoffentlich nur mit dem Finger und nicht mit dem Schwert! Sterben würde mir
jetzt gar nicht in den Kram passen.
Nur ein Spiel, was? Von wegen.
Ohne das Flammenschwert kam ich mir nackt vor. Das
schwarze Schwert war ein wenig länger und deutlich schwerer. Zu allem Überfluss
war es in einem Kampf absolut nutzlos. Sollte es hart auf hart kommen, konnte
ich mich nur auf meinen Knochenhaken verlassen. Und zugegebenermaßen war der
Seelentöter eine sehr komplizierte Waffe. Ich hatte den Bogen immer noch nicht
richtig raus.
Doch wir erreichten eine Kreuzung, dann die nächste, ohne
dass etwas geschah. Niemand schien uns zu beachten. Auf den schmalen Straßen
kamen wir an genügend Spielern vorbei, doch keiner schien sich mit dem Ruf „Da
ist er!“ auf uns stürzen zu wollen. Ihre Blicke glitten offenbar einfach von
mir ab. Es hatte sich wirklich gelohnt, in das Inkognito zu investieren. Eine
hervorragende Fähigkeit, die ich nicht genug loben konnte.
Isabella, die voranging, schien die örtlichen
Schleichwegen so gut zu kennen wie eine streunende Katze. Bald führte sie uns
zu einer Brücke. Dort musste ich meine Kapuze tiefer in die Stirn ziehen, um
meine toten Augen vor den grellen Sonnenstrahlen zu schützen.
„Ist es noch weit?“, fragte ich.
„Wir sind fast da“, erwiderte sie und eilte über einen
Platz auf eine kleine Menge aus etwa zwanzig Spielern zu, die sich auf der
anderen Seite befanden.
Ich wurde ein wenig nervös, doch die Spieler hatten
andere Sorgen. Sie diskutierten hitzig über einen anstehenden Raubzug, warfen
ungeduldige Blicke auf einen Turm mit einer goldenen Uhr. Die langen Zeiger
standen auf fünf vor eins.
Wir bogen in eine Nebenstraße ab. Sofort gab mir meine
Fähigkeit Aufmerksamer Blick das Gefühl, dass sich ein Messer zwischen meine
Schulterblätter bohrte.
Ich wirbelte mit dem ausgestreckten Seelentöter herum,
verfehlte mein Ziel jedoch. Der ungetarnte Dieb erstarrte mitten in der
Bewegung, sodass der scharfe Knochen die Luft vor seinem Gesicht durchschnitt.
Im nächsten Augenblick konnte er erstaunlicherweise meinem zweiten Hieb
ausweichen und verschwand in einer dunklen Gasse. Einfach so.
Ich ließ meinen Geist zu meinem Phönix aufsteigen, der am
Himmel über den Dächern kreiste. Eilig jagte er über die Straßen hinweg, aber
der Dieb war schon lange verschwunden.
„Gewiefter Mistkerl“, murmelte ich, denn ich selbst war
nicht so geschickt.
Isabella runzelte die Stirn. „Was zum Teufel war das? Hat
dich jemand erkannt?“
„Glaube ich nicht.“ Ich schüttelte den Kopf, während ich
den Haken wieder im Gürtel verstaute. „Er hatte nichts in den Händen.“
„Vermutlich ein Taschendieb“, verkündete sie. „So was
passiert. Jetzt komm.“
Ich sah noch einmal misstrauisch die Straße hinauf und
hinunter, drehte mich um und eilte ihr hinterher.
„Übrigens“, schnappte ich mit den Fingern, als ich sie
einholte, „meine Fähigkeiten stecken auf Level 15 fest. Wie kann ich das
ändern?“
„Auf fünfzehn?“ Sie sah mich überheblich an. „Du musst
etwas trainieren. Dann hast du Zugang zu den nächsten zehn Levels.“
„Wie denn trainieren?“
„Geht es dir um Tarnung?“, vermutete sie. „Dafür gibt es
mehrere Schulen. Die Tarnkünstler zum Beispiel.“
„Gibt es keine andere Möglichkeit?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nur Meister und Lehrlinge
können dich trainieren. Das ist vermutlich ein Problem für dich?“
Ich nickte. Problem traf es nicht richtig. Niemand würde
einen Toten trainieren. In diesem Fall konnte mir auch das beste Inkognito nicht
helfen. Ein Schüler mit geschlossenem Profil war ein Widerspruch in sich.
Mist! Ich hatte so viele Punkte, die ich noch verteilen
musste! Die wollte ich nicht in unnötige Fähigkeiten investieren.
Aus dem dunklen Durchgang bogen wir auf eine belebte
Straße ab. Dort ging Isabella durch ein offenes Tor in einen schattigen Garten.
Auf dem Ladenschild stand:
An- und Verkauf von Waffen, Rüstungen und Amuletten
Als sie die Eingangstür aufstieß, fuhr der Verkäufer
hinter der Theke zusammen und schüttelte den Kopf. „Frau Ash-Rizt! Leider war
bislang keines Ihrer Gebote für die Krone des Chaos erfolgreich.“
Die Priesterin verzog enttäuscht das Gesicht. „Ist der
Alte da?“
Der Verkäufer zögerte. „Ja, Herr Lloyd ist da“, erwiderte
er nach einer deutlichen Pause. „Sie können durchgehen.“
„Wunderbar.“ Isabellas Laune hob sich, und sie drückte
eine Innentür auf, ohne zu klopfen.
Herr Lloyd stellte sich als Alchemist heraus. Er war
überhaupt nicht alt, sondern nur grau. Außerdem war er kein Mensch. Ich konnte
ihn auch keiner anderen mir bekannten Spielrasse zuordnen.
Auf seiner hohen Stirn waren kurze Hörner zu sehen. In
seinen Augen funkelte ein bernsteinfarbener Schein.
Ein Dämon? Und wenn schon. Ich hatte sowieso nicht vor,
ihm meine Seele zu verkaufen.
Als wir hereinkamen, sah der Alchemist von seinem
Gravurtisch auf und fuhr verärgert zusammen. „Was ist denn jetzt schon wieder,
Isabella?“, seufzte er, während er seinen schlichten Overall zurechtrückte.
„Ich habe doch gesagt, dass du die Krone des Chaos einfach nicht kaufen kannst!
Und du hast nicht einmal einen realistischen Preis geboten.“
„Tja, manchmal geschehen eben Wunder“, murmelte sie.
Der Alchemist stand beleidigt auf.
Sie bedeutete ihm, er solle sich wieder hinsetzen. „Bitte
reg dich nicht auf. Deswegen bin ich gar nicht gekommen. Ich will dir nur ein
paar Sachen geben.“
„Warum wendest du dich dann nicht an Ulrich?“, schniefte
er, womit er vermutlich den Verkäufer meinte, und sah mich durch die getönte Alchemistenlinse
an. „Ist dein Zeug so heiß, dass du einen Leibwächter brauchst?“
„Das ist ein Freund“, stellte Isabella richtig. „Und
nein, mein Zeug ist nicht heiß. Ich kann nur einige Dinge nicht
identifizieren.“
„Na gut, Kleine, lass mal sehen“, schlug er vor und
wischte den ganzen Tand, der den Tisch bedeckte, in die oberste Schublade.
„Zeit ist Geld!“
Knirschend drehte sich der Schädel oben auf dem Stab der
Priesterin um. Seine Zähne klapperten.
Der Ladeninhaber deutete mit einem knorrigen Finger auf
ihn. „Halt die Klappe, Roger!“
Es stellte sich heraus, dass der Alte auch ein Spieler
war. Nach meinem Gespräch mit Mark konnte mich das nicht mehr überraschen.
Ehrlich gesagt war es erheblich cooler, einen Hehler zu spielen als einen
Gastwirt. Und vermutlich verdiente man damit auch mehr.
Isabella lehnte ihren Stab an die Wand und breitete die
drei Objekte auf dem Tisch aus: den Smaragdanhänger, den Saphirring und das
graue Armband.
Angewidert fegte Lloyd den Anhänger auf den Boden. „Weg
mit dem widerlichen Ding!“
„Was hast du denn jetzt?“, wollte Isabella empört wissen.
Gequält legte er seine Linse zur Seite und rieb sich die
Schläfen. „Hast du schon einmal vom Fluch des Nachtdruiden gehört?“, fragte er
sichtlich verärgert. „Er tötet langsam, aber sicher. Und selbst wenn man
wiederauferstanden ist, muss man einen Haufen Gold bezahlen, um den Fluch
aufzuheben.“
„Bist du dir sicher?“
„Ich habe die Beschreibung in mehreren Katalogen gelesen.
Du kannst von Glück sagen, dass du ihn nicht angelegt hast.“
Isabella schnaubte. „Sehe ich etwa so dumm aus?“
„Ihr scheint nur alle eine Schwäche für protzige Klunker
zu haben“, seufzte er und wandte sich dann dem Ring zu. „Das ist ein schönes
Stück“, nickte er anerkennend, während er ihn zwischen den Fingern drehte. „Der
Ring der Intuition. Leider können ihn nur Elementarmagier verwenden.“
„Wie viel würdest du dafür zahlen?“
„Frag Ulrich“, sagte der Alte abschätzig. „Er hat den
Taschenrechner im Kopf und kann dir das sagen.“
Der Alchemist legte das Armband hin und verstummte,
während er die Metallarbeit durch sein Vergrößerungsglas studierte.
Isabella ließ sich auf einen wackeligen Stuhl fallen. Ich
lehnte mich mit der Schulter in den Türrahmen und ließ den Blick durch den Raum
schweifen. Er war von Bücherregalen gesäumt, die mit staubigen alten Bänden
vollgestopft waren. Für Beleuchtung sorgte ein Zauberkristall, der von der
Decke hing. Kisten oder Dinge, die zum Verkauf standen, sah ich nicht. Auch
keine Fenster.
„Sehr interessant“, ließ der Alte erstaunt hören. Er goss
irgendeine magische Flüssigkeit auf das Armband. Das Metall zischte, dünner
weißer Rauch stieg auf.
„Was soll das?“, wandte Isabella besorgt ein.
Der Alte schnüffelte, während er das Artefakt mit einem
Lappen abwischte. Die Säure hatte der komplizierten Metallarbeit offenbar
nichts anhaben können.
„Zwergensilber“, verriet uns Lloyd. „Das Objekt ist für
Runensprüche vorbereitet. Da es keine Magie enthält, ist es unfertig. Bei einer
Versteigerung könnte es tausend bis tausendfünfhundert bringen. Geht damit zu Ulrich.“
Isabella nahm sowohl Ring als auch Armband vom Tisch. Ich
gab ihr die magere Beute, die ich eingeheimst hatte, als ich allein unterwegs
war — die Goldbarren und ein paar Edelsteine —, beschloss aber, weder die
Schulterplatte aus Mithril noch das Konchenstück des Nestjägers zu zeigen. Ich
bezweifelte sehr, dass sie etwas wert waren. Und ich wollte ganz bestimmt nicht
ausgelacht werden.
„Lass das hier für mich gesondert schätzen“, sagte ich
zur Priesterin.
„Und nimm dieses fürchterliche Ding weg“, fügte der
Alchemist hinzu.
Isabella sah zu Boden und trat den verfluchten Anhänger
aus dem Zimmer. „Ein Glück, dass ich den nicht anprobiert habe. Ich war kurz
davon“, murmelte sie im Hinausgehen.
Lloyd sah zu mir auf. „Wie kann ich Ihnen helfen,
geheimnisvoller Fremder? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“
Ich hockte mich auf den Stuhl, von dem Isabella
aufgestanden war. „Ich interessiere mich für die Ausrüstung der Toten.“
Er musterte mich mit unverhohlenem Interesse. „Ihr
Schwert gehört nicht dazu“, sagte er nonchalant.
„Das will ich verkaufen“, sagte ich. „Aber das kann warten.
Was ist mit der Ausrüstung der Toten?“
Er nickte nachdenklich, erhob sich vom Tisch und zog aus
dem nächsten Bücherregal einen dicken, ledergebundenen Band mit Stahlrahmen
hervor. „Hier steht, was wir haben oder was innerhalb von vierundzwanzig Stunden
geliefert werden kann“, sagte er und warf das Buch vor mir auf den Tisch. „Alle
Objekte hier sind noch nicht zur Versteigerung gemeldet. Alles stammt von
Privatverkäufern.“
Ich schlug das Buch auf.
„Der Abschnitt, den Sie brauchen, ist ziemlich in der Mitte“,
erklärte er, während er die Objekte aus der Schublade nach und nach wieder auf
den Tisch legte.
Das Buch stellte sich als richtiggehender Katalog heraus.
Sobald ich mich auf ein Bild konzentrierte, wurde es schärfer, bekam mehr Tiefe
und Dimension. Neben den einzelnen Objekten standen die Preise. Wenn ich meine
Beute losgeworden war, würde ich mir vielleicht ein oder zwei Sachen kaufen
können. Leider waren die Preise in dem Bereich, der mich interessierte, drei-
oder gar viermal höher als alle, die ich bisher gesehen hatte.
Die Stahlkrone des Toten sollte zwölftausend kosten. Der
Knochenring dreizehntausendfünfhundert und die Eishandschuhe stolze
siebzehntausend! Das war Wucher! Soviel Geld hatte ich nicht einmal annähernd.
Manche der Artikel im Katalog waren sogar noch teurer, und für Unikate wurden
Mondpreise verlangt.
Nach einer Weile entdeckte ich zufällig ein schlichtes
graues Gewand mit Kapuze und einem kurzen Umhang. Ich konnte den Blick nicht
davon abwenden. Der Preis lag bei vierzehntausend.
Schatten des Todes
Du bist selbst im strahlenden Sonnenschein von Schatten umgeben, sodass du
niemandem verdächtig erscheinst und feindliche Angriffe vermeiden kannst.
+3 % Tarnung
+1 % Ausweichfähigkeit
Wow. Ein gewöhnlicher Nekro hätte nicht so viele
Vorteile, wenn er es anlegte. Aber ein Lich ... ein Lich hätte bereitwillig ein
zweites Mal seine Seele verkauft, um es in seine toten Finger zu bekommen. Und
ein Lich, der gleichzeitig ein Schurke war? Das war keine Frage. Diese Bonuseigenschaften!
Aber vierzehntausend?
„Äähm“, räusperte ich mich. „Ihre Preise sind nicht sehr
kundenfreundlich, oder? Andere Ausrüstungen sind deutlich günstiger.“
„Andere Ausrüstungen!“ Er warf einen Blick in den Katalog
und lachte. „Das sind Sets, die man aufteilen kann. Mit der Ausrüstung der
Toten geht das nicht.“
„Ist das denn so ein großer Unterschied?“
Er seufzte gequält und fuhr sich durch das graue Haar.
„Manche Sets können jederzeit verändert werden. Die nicht-trennbaren nicht.
Außerdem ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass ein Spieler sie verliert, wenn
er stirbt.“
„Das weiß ich.“
„Deshalb kosten die Teile eines aufteilbaren Sets das,
was sie eben kosten. Wenn ein Objekt aber zu einer untrennbaren Ausrüstung
gehört, muss der Käufer mehr dafür zahlen, dass es nicht durch etwas anderes
beeinträchtigt wird. Können Sie mir folgen? Drücke ich mich klar aus?“
„Nicht wirklich“, gab ich zu.
„Tja“, lächelte er, „wenn ich das sagen darf, Ihre
Stiefel reduzieren den Preis Ihrer Komplettausrüstung um etwa 20 %.“
„Wieso, was stimmt mit ihnen nicht?“
„Das sind Stiefel der Stille, nicht wahr? Aber die
Ausrüstung der Toten interessiert nur Nekromanten. Die sind entweder tote
Magier oder Todesritter, für die sind solche Stiefel überflüssig wie ein
Kropf.“ Er grinste schwach. „Jetzt verstehen Sie, oder? Wenn man die einzelnen
Bestandteile einer Ausrüstung so bunt durcheinander mischt, wird sie niemand
haben wollen, weder für Geld noch für gute Worte. Mit einer sorgfältig
abgestimmten Ausrüstung kann man dagegen jeden beliebigen Preis erzielen.“
Ich horchte auf. „Interessant. Soll das also heißen, dass
es Zeitverschwendung ist, nach erschwinglichen Angeboten Ausschau zu halten?“
„Welchen Betrag hatten Sie denn im Sinn?“
Ich wies bedeutungsvoll auf die Tür, durch die Isabella
gerade verschwunden war.
„Verstehe“, seufzte er. „Dann müssen wir wohl auf sie
warten. Bis dahin würde ich gerne auf das Schwert zurückkommen, wenn Sie nichts
dagegen haben.“ Er streckte die Hand aus. „Darf ich?“
Ich zog das schwarze Langschwert hinter dem Rücken hervor
und legte es vorsichtig auf den Tisch. „Nur zu.“
Der Alte strich die Klinge entlang und studierte das
Gütezeichen dann sorgfältig durch sein Vergrößerungsglas. Erst danach schloss
er die Hand um das Heft. Erwartungsgemäß rutschten seine Finger ab.
Er lachte, wirkte aber zufrieden. „Für Sie ist das Langschwert
der Herbst-Tagundnachtgleiche absolut nutzlos, aber an sich ist es äußert
selten, ganz außergewöhnlich. Ich habe nur von einem dieser Schwerter gehört,
und es war nicht verkäuflich.“
„Wie hoch könnte der Preis sein?“
Lloyd überlegte. „Bei einer Versteigerung? Ich würde
dreißig- oder gar vierzigtausend verlangen. Aber Ihnen muss klar sein, dass
sich nicht so schnell ein Käufer finden wird. Realistisch betrachtet wird es
sicher sechs Monate dauern, um ein solches Objekt loszuwerden.“
„Wirklich?“ Ich runzelte die Stirn, da ich falsches Spiel
witterte.
Ein Grinsen umspielte seine Lippen. „Da bin ich mir ganz
sicher. Raritäten sind meine Spezialität.“
Verdammt!
Vierzigtausend! Das wäre genug, um den Schatten des Todes
zu kaufen, und es wäre sogar noch etwas für die Schulterplatten der Hölle oder
gar den Helm des Dunklen Ruhmes übrig. Aber …
Seufzend fragte ich ihn geradeheraus: „Was würden Sie
dafür zahlen? Hier und jetzt?“
Er schob das Schwert von sich und schüttelte den Kopf.
„Gar nichts. Ich kenne nur einen Spieler, der daran Interesse hätte, und der
ist gerade pleite.“
„Nur einen?“, schniefte ich. „Warum das denn?“
Lloyd seufzte erneut. „Orks sind noch schlimmere
Rassisten als Elfen oder Zwerge. Sie sind nicht nur gegen andere Rassen,
sondern gegen alle, die irgendwie anders sind. Es gibt keine Orks, die auf der
Seite des Lichts stehen, aber auch auf der dunklen sind sie sehr eigen und
neigen entschieden zum Chaos. Ein Ork, der die Tagundnachtgleiche verehrt? Ich
kenne einen. Wie viele kennen Sie?“
Ich kannte überhaupt keine derartigen Gestalten. Dennoch
war ich nicht so dumm, seiner Argumentation zuzustimmen, sondern wechselte das
Thema. „Ist Schwerter des Chaos ein Ork-Clan?“
„Keineswegs. Orks machen einen erheblichen Teil der
Clanmitglieder aus, aber längst nicht alle. Die Chaos-Brüder identifizieren
sich eher religiös als über ihre Rasse.“ Er tippte mit dem Finger auf den
Tisch. „Um noch einmal auf das Schwert zurückzukommen …“
Die Tür schwang auf und Isabella trat ein, die mir einen
schweren Geldbeutel auf den Schoss warf. Ich hörte Goldstücke klimpern.
„Wie viel hast du bekommen?“, fragte ich rasch.
Sie zuckte die Schultern. „Zähl doch selbst nach.“ Sie
wandte sich zum staubigen Spiegel um und richtete sich das Haar. „Bist du noch
nicht fertig?“
Ich schüttete das Gold in mein Inventar. Obwohl mein
Anteil recht beträchtlich war, fehlten mir noch fast fünftausend zu dem Gewand.
„Ist die Option schon dabei?“, fragte ich.
Sie sah mich vielsagend an und lächelte gewitzt. „Ja, Schätzchen.
Das ist alles.“
Der Alchemist wurde bei diesen Worten jedoch hellhörig.
„Hast du gerade Option gesagt? Isabella-Schatz, ich hoffe, du hast nichts
Schlimmes angestellt.“
„Oh“, stöhnte sie theatralisch. „Hör bloß auf. Es hat
mich vernichtet.“
Schnell versuchte ich, den Fauxpas wiedergutzumachen. „Nehmen
Sie es mir für fünftausend ab?“, fragte ich mit Blick auf das Schwert.
Der Alte schüttelte den Kopf. „Es geht nicht um das
Geld.“ Er strich sich durch den Bart und erläuterte weiter: „Handeln hat keinen
Sinn. Es geht vielmehr um moralische Fragen.“
Isabella löste den Blick vom Spiegel. „Ein
Interessenskonflikt?“, lächelte sie verständnisvoll.
Der Alchemist nickte. „Ich könnte Ihnen die Kontaktdaten
meines Kunden geben, damit Sie direkt verhandeln können. Aber ich möchte Sie
warnen: Er hat kein Geld.“
Isabella höhnte: „Du hast einen Kunden, der nicht zahlen
kann? Wem willst du das denn weismachen!“
„Er musste ein Darlehen aufnehmen, um die Rüstung der
Herbst-Tagundnachtgleiche zu kaufen, und hat nicht einmal die erste Rate
zurückgezahlt.“
„Mist!“, fluchte ich. „Isabella, sei so lieb und leih mir
fünftausend.“
„Kommt nicht in Frage, Schätzchen! Ich habe meinen Anteil
bereits investiert, um mein Gebot zu erhöhen.“
„Ach ja, die Krone des Chaos“, erinnerte sich der Alte.
„Die ist selten und teuer. Aber ohne die gesamte Ausrüstung kann man nicht zur
Hohepriesterin aufsteigen.“
Isabella verzog gequält das Gesicht. „So ist es leider.“
Ich runzelte die Stirn. „Wozu brauchen wir diesen Typen,
wenn er nicht mal bezahlen kann?“
Der Alchemist zuckte die Schultern. „Er hat die gesamte
Ausrüstung der Herbst-Tagundnachtgleiche zusammen. Nur eine geeignete Waffe
fehlt ihm noch. Vielleicht könnt ihr euch irgendwie einigen. Schon mal was von ‚Tauschhandel‘ gehört?“
Isabella überlegte. „Sag ihm, er soll zum Gasthof zum
Alten Bogenschützen kommen“, entschied sie für mich. „Der liegt —“
„Auf der Granitinsel. Ich weiß“, sagte Lloyd.
Isabella nickte und wandte sich zu mir um. „Komm, Schätzchen!“
„Moment mal!“, stieß ich hervor. „Ich habe fast
neuntausend in der Tasche und soll wieder gehen, ohne irgendetwas zu kaufen?“
Der Alchemist schob mir das Buch zu. „Suchen Sie sich
etwas aus, das Sie sich leisten können.“
„Oder verschwende dein Geld nicht für etwas Billiges,
sondern spar auf das, was du wirklich brauchst“, riet mir Isabella.
Ich strich nachdenklich über den Ledereinband des
Katalogs.
„Nur als Vorschlag: Vielleicht finden Sie in den
Versteigerungen einen Fehlgriff.“
„Was soll das heißen?“
„Manche Leute kaufen alles, was sie in die Finger
kriegen. Und ein einziger schlecht gewählter Artikel kann eine untrennbare
Ausrüstung erheblich abwerten.“
Ich erhob mich resolut. „Was soll ich mit einem schlecht
gewählten Artikel anfangen.“
Lloyd zuckte die Schultern und kniff seine unmenschlichen
Augen zusammen. „Ich wollte nur helfen. Außerdem können die Artikel selbst ganz
vernünftig sein. Es ist nur so, dass manche bei Nekros und dergleichen begehrt
sind, zum Beispiel Todesrittern, aber zusammengenommen —“
Ich ließ mich wieder auf den Stuhl fallen. „Sind sie
wirklich so viel billiger?“
„Schauen wir mal.“
Er zog das Buch zu sich und blätterte durch die Seiten.
Isabella kicherte übertrieben. „Ich geh dann mal zu
Ulrich.“
„Bitte tu das, Kleine“, sagte der Alchemist und schob mir
das Buch zu. „Hier sind ein paar Sets, die nur zwei oder drei Artikel umfassen.
Dafür könnten zehntausend reichen.“
Ich bedankte mich und studierte die Angebote. Dennoch
ließen sich die Sets offenbar in zwei Kategorien unterteilen: sehr teuer und
sehr dämlich. Zwar konnten einige billigere Artikel das, was ich bereits hatte,
durchaus verbessern. Aber wozu brauchte ich ein Set mit einem Amulett, das die
Geschwindigkeit von Zaubersprüchen erhöhte, einer Halskette zum Schutz vor Todeszauber
und einem Knochenbogen? Oder einen Ring, der die Anzahl der auferstehenden
Zombies erhöhte, eine beidhändige Keule, die Schädel zertrümmerte, und ein
Amulett zum Schutz vor Verbluten? Oder eine Elementschild, einen Stab des Todes
und einen Runenharnisch?
Und so weiter, und so fort. Jede Menge Plunder.
Als ich schon stark daran zweifelte, überhaupt etwas
Sinnvolles zu finden, und mir die Ausrüstungen aus nur zwei Artikeln ansah,
entdeckte ich endlich die Kombination aus Linker Manschette der Macht und Gürtel
der Erinnerung.
Der Armschutz, der aus einem stumpfen Metall geschmiedet
war, schützte den Arm von Handgelenk bis zur Schulter. Am Ellenbogen saß eine
Art Scharniergelenk. Auf dem stählernen Schulterstück befand sich ein einzelner
Stachel.
Linke Manschette der Macht (Ausrüstung der Toten: 2 von 13)
Rüstung: 14
Stärke: +2
Sieben Rüstungspunkte für jedes Teil der Ausrüstung? Das
war nicht schlecht, obwohl nur mein Arm geschützt war. Mit etwas Training
konnte ich Hiebe mit dem Arm genauso gut abwehren wie mit dem Schild.
Der breite Gürtel war mit Metallscheiben besetzt und
wirkte genauso eindrucksvoll. Doch nicht deshalb war er mir so wertvoll.
Gürtel der Erinnerung (Ausrüstung der Toten: 2 von 13)
Rüstung: 1
Ergänzt eine zusätzliche Zauberspruch-Stufe von 1 bis 5.
Zu dem Gürtel gehörten Zaubersprüche! Und damit konnte
mein unausgegorener Lich endlich zaubern! Zwar brauchte ich das nicht unbedingt
— doch je länger ich mir diese Ausrüstung ansah, desto besser gefiel sie mir.
Besonders, da der Besitzer offenbar keine Hoffnung mehr hatte, sie jemals
loszuwerden, und mit dem Preis auf siebentausendfünfhundert heruntergegangen
war.
„Die nehme ich“, sagte ich zum Alchemisten und gab ihm
das Buch zurück.
Er klickerte skeptisch. „Es gibt bessere Wege, Geld zum
Fenster rauszuschmeißen.“
Das wollte ich nicht hören. „Ich möchte, dass Sie das
Geschäft abschließen“, verlangte ich.
Der Alte zuckte die Schultern. „Wie Sie wollen. Das macht
dann achttausendfünfhundert Goldstücke.“
„Wie bitte?“
Er seufzte. „Und wer zahlt für die Versteigerungsgebühr
und die Eillieferung?“
Ich gab mich geschlagen und legte das Geld auf den Tisch.
„Das Geschäft gilt unter Vorbehalt“, sagte er. „Das Zeug
ist in ein bis zwei Stunden bereit. Soll es in den Gasthof geschickt werden
oder holen Sie es lieber selbst ab?“
„Schicken Sie es in den Gasthof“, beschoss ich, weil ich
nicht länger warten wollte. Ein Spiel ist unberechenbar. Man konnte nicht
wissen, wann ich meine neuen Artikel brauchen würde.
„Sonst noch etwas?“, fragte er.
„Oh ja“, lachte ich. „Ich brauche noch ein paar andere
Sachen …“
6
ICH VERLIES DEN Laden mit leeren Taschen. Ich hatte bis
zum letzten Goldstück alles ausgegeben und scherte mich nicht im Geringsten
darum. Geld ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um etwas zu erreichen,
insbesondere virtuelles Geld. Was sollte ich damit sonst anfangen? Etwa
vergraben? Ohne die richtige Ausrüstung dagegen kam ich nicht weiter.
Als erstes gönnte ich mir zwei Sets Schurken-Kleidung,
ein Paar kräftige Handschuhe mit Metallbesatz und lederne Beinschienen mit
schmiedeeisernen Kniebuckeln. Leider konnte ich für meine Beine keinen weiteren
Schutz verwenden, da sowohl Kettenhemd als auch Plattenharnisch meine
Beweglichkeit einschränkten und die Ausweichfähigkeit reduzierten. Die einzige
Panzerung, die ich kaufte, war ein Schutz für den rechten Arm. Bezüglich des Harnischs
hatte der Alchemist mir geraten, noch zu warten, bis ich mir einen Schulterschutz
des Toten beschafft hatte. Außerdem erwarb ich einen ganz einfachen Helm aus
gehärtetem Leder. Dieser bot zwar nicht besonders viel Schutz, doch ich konnte
immerhin die Kapuze darüberziehen.
Doch der Großteil meines Geldes war für die Maske
draufgegangen. Diejenige, die ich von Isabella bekommen hatte, war schon
ziemlich ramponiert, und es war nicht ratsam, unverhüllt durch die Stadt zu
laufen — zumindest nicht bei Tageslicht, wenn die Fähigkeit „Fast lebendig“
nicht funktioniert.
Der Alte legte mir einen weiteren dicken Band vor, der
alle erhältlichen Angebote anführte. Doch kaum hatte ich ihn aufgeschlagen,
verdrehte Isabella mit einem herzzerreißenden Seufzen die Augen.
„Sag ihm einfach, was du brauchst, und er besorgt es
dir!“, sagte sie ungeduldig.
Ich sah den Alchemisten an. „Geht das?“, fragte ich
überrascht.
Lloyd lächelte. „So verdienen wir unser Geld.
Normalerweise haben unsere Kunden kompliziertere Bestellungen, aber für Sie
kann ich eine Ausnahme machen. Hier, zeichnen Sie es auf.“ Er reichte mir ein
Blatt Papier.
Ich skizzierte eine ovale Maske mit Augenschlitzen und
ein paar kleinen Löchern anstelle der Mundöffnung.
„Soll die anatomisch geformt sein?“, fragte er.
„Ja, bitte.“
„Aus welchem Material?“
„Spielt das eine Rolle?“
„Natürlich!“
„Was würden Sie mir raten?“
Der Alchemist schüttelte den Kopf. „Die Frage ist doch,
was Sie sich leisten können.“
Ich wollte schon meinen Geldbeutel öffnen, überlegte es
mir aber anders. Ich war wirklich zu dumm.
Stattdessen griff ich in mein Inventar. „Wäre das
geeignet?“, fragte ich und legte das verformte Schulterstück des Knochengolems
auf den Tisch.
Der Alte stieß einen erstaunten Pfiff aus. „Schwarzes Mithril?
Davon gehe ich aus!“
Isabella sah es sich eilig an und schenkte mir ein wenig
herzliches Lächeln. „Ich sehe schon, du hast das Verlies nicht mit leeren
Händen verlassen, Schätzchen!“
Ich drehte mich um und hielt ihrem Blick stand. „Das ist
aus einem anderen Verlies. Aus dem in Stone Harbor.“
„Wirklich?“
„Ja, wirklich.“
Der Alchemist schlug auf den Tisch, um unser
Streitgespräch zu unterbrechen. „Klärt das draußen auf der Straße!“
Er beugte sich über das zerdrückte Metallstück, musterte
es und seufzte dann. „Es widerstrebt mir, schwarzes Mithril für so einen
halbgaren Pfusch zu verschwenden.“
Ich verstand den Wink und reagierte mit einem ebenso
schweren Seufzer.
Wir haderten noch eine weitere Viertelstunde miteinander,
dann gab ich mein restliches Gold her, während der Alte versprach, mir eine
Maske mit Halterungen für drei magische Runen anzufertigen. Das war teuer, aber
definitiv seinen Preis wert.
ALS WIR UNS trennten, waren wir beide sehr zufrieden. Auf
dem Rückweg beklagte Isabella sich unablässig darüber, wie viel Zeit sie meine
Geschäfte gekostet hatten. Ich lachte nur leise. Als wir den Gasthof fast
erreicht hatte, hielt ich es nicht mehr aus.
„Du bist nur sauer, weil du die Krone des Chaos nicht
bekommen hast!“
Ich wusste, dass ich einen wunden Punkt erwischt hatte,
als sie in stummer Wut mit den Zähnen knirschte. Ich sollte wirklich den Mund
halten und nicht weiter darauf herumreiten.
„Was ist das denn überhaupt für eine Krone?“, fragte ich,
um sie wieder versöhnlich zu stimmen.
Sie musterte mich mit durchdringendem Blick, antwortete
jedoch trotzdem. „Es ist das letzte Teil der Ausrüstung „Chaos der Priester“.
Den Rest habe ich schon.“
Ich nickte. Plötzlich wurde mir klar, dass ich etwas
gesehen hatte, was zu dieser Beschreibung passte wie die Faust aufs Auge. Der
Hauptmann der Golems im Verlies schien etwas ganz Ähnliches gehabt zu haben.
Allerdings verriet ich ihr nichts davon. Mein
Überlebenstrieb hinderte mich daran. Und was sollte es bringen, ihr falsche
Hoffnungen zu machen?
ISABELLA BRACHTE MICH zurück zum Gasthof und ging dann
wieder, weil sie noch etwas zu erledigen hatte. Ich stieg hinauf in mein
Zimmer. Müde war ich zwar nicht, musste jedoch meine innere Energie
wiederherstellen.
Kaum hatte ich das Ork-Langschwert in die Ecke gestellt
und mich aufs Bett fallen lassen, steckte Neo die Nase durch die Tür.
„Glückwunsch zu deinen Käufen, Onkel John.“
Verdammt! Ich hätte daran denken sollen, ihm auch etwas
zu kaufen. Das hatte ich komplett vergessen. Wie dumm von mir! Ich war nicht
daran gewöhnt, mich um jemanden zu kümmern, schon gar nicht um einen NPC. Zu
schade.
„Hast du schon etwas gegessen?“, fragte ich, um das
unbehagliche Schweigen zu brechen.
Er nickte. „Ja. Kann ich rausgehen und mir die Stadt
ansehen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Das ist keine gute Idee.“
„Warum denn nicht?“, fragte er überrascht. „Ich nehme
auch Vogelscheuche mit!“
Er öffnete die Fensterläden. Sofort kam der schwarze
Phönix heruntergeschossen und landete auf der Fensterbank. Seine mächtigen
Krallen gruben tiefe Rillen ins Holz.
„Kraaah!“, schrie
er aus Leibeskräften.
Ich fuhr zusammen, zögerte und nickte dem Jungen dann zu.
„Okay, du kannst mit ihm losziehen. Aber bleib auf der Insel!“
„Versprochen!“ Glücklich rannte Neo zur Tür hinaus.
Vogelscheuche warf mir aus seinen verhangenen toten Augen
einen schiefen Blick zu, krächzte noch einmal und flatterte ins Freie.
Ich bezweifelte, dass ein toter Phönix dem Jungen
entscheidend helfen konnte — aber was sollte ihm am helllichten Tag schon
passieren? Das war für mich kein Grund, ihn unter Verschluss zu halten!
Nachdem ich die Tür verriegelte hatte, ging wieder zum
Bett. Doch sofort musste ich wieder aufspringen. Jemand klopfte energisch an
der Tür.
Ich packte mein Flammenschwert, das noch auf dem Tisch
lag, überlegte es mir jedoch anders und zog stattdessen den Knochenhaken aus
dem Gürtel. Er war wie gemacht für den Nahkampf in engen Räumen wie demjenigen,
in dem ich mich gerade befand.
Es klopfte erneut.
„Wer ist da?“, fragte ich.
„Ihre Bestellung“, ertönte die Antwort aus dem Korridor.
Ich stellte mich hinter die Tür und schob den Riegel weg.
„Tretet ein.“
Paranoid, ich? Eher nicht. Nicht, wenn per Crowdfunding
ein Kopfgeld von siebzigtausend auf mich ausgesetzt waren. Sicher nicht, wenn
ich auf der schwarzen Liste des dritt-einflussreichsten Clans stand oder mein
Erzfeind alles daran setzte, mich zu finden und zu töten.
Die Tür schwang auf und ließ den Assistenten des Alchemisten
hinein, der sich verwirrt nach mir umsah.
Endlich entdeckte er mich. „Da sind Sie ja, John!“
„Was haben Sie mitgebracht, Ulrich?“
„Nur das ersteigerte Zeug. Die Maske ist noch nicht
fertig.“ Er reichte mir ein schweres Bündel.
Kaum hatte ich die Tür hinter ihm versperrt, riss ich die
Verpackung eilig auf. Der Gürtel der Erinnerung erwies sich als überraschend
schwer. Ich legte ihn über mein Kettenhemd und zog dann die Linke Manschette
der Macht aus dem Karton.
Sie passte wie angegossen. Außerdem gehörte dazu eine
Schutzschiene für den rechten Arm, allerdings ohne magische Eigenschaften.
Hätte ich das eher gewusst, hätte ich etwas Geld sparen können.
Ausrüstung der Toten: Geändert
Ausrüstung der Toten: Gespeichert
Ich trat vor den Spiegel und bewegte den Arm, wobei ich
mein Spiegelbild bewunderte. Die Rüstung, die aus irgendeinem dunklen Metall bestand,
sah unglaublich respekteinflößend aus. Das Ellenbogengelenk war sehr
leichtgängig, es quietschte nicht und hatte auch kein Spiel. Jetzt war ich mir
ganz sicher, dass meinem Kettenhemd genau deshalb der linke Ärmel fehlte.
Ich öffnete die Statistiken zu diesem Objekt.
Die Linke Manschette der Macht (Ausrüstung der Toten: 7 von 13)
Rüstung: 49
Stärke: +7
Hervorragend. Nun konnte ich Hiebe mit dem linken Arm
abwehren. Aber nur, wenn …
Ich runzelte die Stirn, denn mir fiel auf, dass ich den versprochenen
Stärke-Bonus nirgendwo entdecken konnte. Ich hatte immer noch 28 Punkte wie
zuvor. Was sollte das jetzt?
Doch das Rätsel löste sich, als ich mein Flammenschwert
packte. Ja! Da war er!
Ich legte das Schwert weg und nahm den Knochenhaken in
die linke Hand. Der Bonus war immer noch da. Eigentlich logisch.
Ich untersuchte die restlichen Sachen aus dem Set, um zu
ermitteln, ob sich die Werte auch verbessert hatten. Was ich feststellte, hob
meine Laune ungemein. Zwar hatte das Kettenhemd nicht mehr als 25 Punkte, doch
das Silberne Amulett des Toten regenerierte nun alle 10 Minuten 7 % Gesundheit,
Ausdauer und interne Energie.
Jetzt konnte ich sowohl Inkognito als auch Fast lebendig nach
Belieben einsetzen, ohne Gefahr zu laufen, mein gesamtes Mana zu verbrennen,
denn das Silberamulett stellte es anderthalb Mal so schnell wieder her.
All das jedoch wurde von meinem Flammenschwert in den
Schatten gestellt. Die rostigen Flecken auf der Klinge füllten sich mit einem
blutroten Schein, der schwarze Runen zum Vorschein brachte. Die letzten noch
verbliebenen Macken und Dellen waren von der Spitze verschwunden. Das Heft
vibrierte leicht in meiner Hand, als könne es das nächste Opfer kaum erwarten.
Blutiges Flammenschwert (Ausrüstung der Toten: 7 von 13)
Schaden: 16 - 22
Genauigkeit: +15 %
Wahrscheinlichkeit kritischer Schäden: +15 %
Wahrscheinlichkeit von Schäden mit Blutverlust: 11 % für jede Welle der
Klinge, die zum Einsatz kommt
Fünfhundert Schadenspunkte bei jedem erfolgreichen
Treffer? Und wenn es ein kritischer Treffer war? Und wenn ich ein dreifach
unbewegtes Ziel angriff? Kaum auszudenken!
Ein Fehlgriff? Kommt ganz auf den Benutzer an!
Dann fiel mir der Gürtel der Erinnerung ein.
Funktionierte sein Bonus auch?
Und ob! In meinem Zauber-Tab blinkte eine neue Nachricht,
die mich dazu aufforderte, einen der Zaubersprüche der Stufe 1 auszuwählen.
Das überforderte mich wirklich. Als ich meinen Charakter
erschaffen hatte, hatte ich mehrere Tage in Foren recherchiert, um die beste
Level-Strategie für meinen Schurken zu ermitteln, doch Zauberei war für mich
absolutes Neuland.
Wie sollte ich nur dahinter kommen?
Es verstand sich von selbst, dass ich die Zombieerweckung
gar nicht erst ausprobieren musste. Die Untoten, die ich auferstehen lassen
konnte, würden höchstens einen absoluten Neuling in Schrecken versetzen.
Angriffszauber kamen auch nicht in Frage. Ihr Schaden wäre lächerlich. Und
Verteidigungszauber ließen sich durch einen einzigen entschlossenen Hieb
durchbrechen. Angreifen konnte ich mit dem Flammenschwert, meine Abwehr war die
Ausweichfähigkeit. Was ich brauchte, waren Zaubersprüche, mit denen ich eine
dieser Fähigkeit verstärken konnte. Ich benötigte etwas, um sie aufzupeppen.
Ich sammelte alle verfügbaren Zaubersprüche in einem
Fenster und sortierte sie. Als erstes kamen diejenigen, deren Wirkung von der
Wahrnehmung des Hexenmeisters abhing und nicht von seinem Intellekt. Aus dieser
Liste strich ich Todeszauber und Seelenmagie, dann sah ich die Zaubersprüche
durch, die nur Lichs vorbehalten waren. Damit würde mein Gegner nicht rechnen.
Genau so etwas meinte ich mit Aufpeppen!
Also kamen Berührung des Todes, Sphäre des Toten Feuers und
der Große Satz in die engere Auswahl. Nummer Eins war eine verbesserte Variante
des Todesgriffs, den ich bereits kannte. Nummer Zwei explodierte und reduzierte
die Wahrnehmung des Opfers. Und Nummer Drei konnte den Hexenmeister
wegtransportieren — ein wenig wie ein Miniport, allerdings nur über eine kurze
Streckte. Eine Beförderung durch Hindernisse hindurch war auch nicht möglich.
In meinem Fall ergaben 3 Zoll pro Wahrnehmungspunkt einen Satz von knapp einem
Meter. Das klang nicht besonders spektakulär, aber ein derartiger plötzlicher
Sprung ist für einen Schwertkämpfer Gold wert, auch wenn er nicht sehr weit ist.
Das war es also. Ich wählte den Großen Satz aus und
testete ihn sofort, indem ich vom Spiegel zurück zum Tisch sprang.
Das geschah im Bruchteil einer Sekunde. Ich merkte es
nicht einmal. Genauso wie ich nicht bemerkte, dass auf einen Schlag 100 Punkte
interne Energie verschwanden.
Damit wäre mein Vorrat nach nur vier Sätzen erschöpft.
Allerdings verbrauchten alle anderen Zaubersprüche erheblich mehr Mana. Und in
Verbindung mit der Fähigkeit, die Blicke anderer zu entdecken und unsichtbare
Ziele zu treffen, konnte der Große Satz für jeden Schurken eine unangenehme
Überraschung bedeuten.
Eine tödliche Überraschung.
Ich nickte zu meinen eigenen Gedanken und schob das
Flammenschwert wieder in die Scheide hinter meinem Rücken, weil ich das Zimmer
verlassen wollte. Nach einigem Zögern nahm ich auch das schwarze Langschwert
mit. Es wäre dumm, wenn ich es erst wieder aus dem Zimmer holen müsste, falls
der Ork-Käufer auftauchte.
ALS ICH NACH unten kam, nickte Mark mir lässig zu und
nahm einen Schluck von seinem starken, aromatischen Kaffee.
„Bedien dich“, deutete er auf den Kaffeekanne neben ihm.
„Nein, danke.“ Ich lehnte das schwarze Schwert an die Bar
und setzte mich auf einen quietschenden Stuhl. „Hör mal, Mark. Was du da über
Licht und Finsternis gesagt hast … Was glaubst du denn? Wer ist wer?“
Der Gastwirt schniefte. „Was ist das denn für eine Frage?
Das ist doch elementar.“
Allerdings hatte er keine Zeit, seine Mutmaßungen mit mir
zu teilen. Geräuschvoll öffnete sich die Eingangstür. Ein enormer Ork in schwarzer
Rüstung betrat den Gasthof. Er hatte seinen gehörnten Helm unter dem Arm,
sodass jedermann seine grau-grüne Haut, seinen blutunterlaufenen Augen und die
Fangzähne bewundern konnte, die unter seiner Oberlippe hervorragten.
Goar der Herbstdonner, Paladin der Tagundnachtgleiche
Er war nicht nur stämmig, sondern auch unglaublich groß.
Als er den Gasthof betrat, musste er sich bücken, um nicht mit dem Kopf an den
Türrahmen zu stoßen.
Oh wow. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wie viel Geld
er in die Entwicklung seines Charakters gesteckt hatte, um die
Rassenbeschränkungen der Orks zu umgehen. Offenbar Unmengen.
Er sah sich im Speisesaal um, entdeckte das Langschwert
und kam direkt auf mich zu. Ich erhob mich mit einem ruhigen Lächeln.
„John?“, dröhnte der Ork.
„Das bin ich“, erwiderte ich und ging in die hintere
Ecke. „Hat Lloyd Sie geschickt?“
Er nickte und folgte mir. Ich musste eigentlich gar nicht
fragen. Mein Schwert und seine schwarze Rüstung gehörten ganz eindeutig zur
gleichen Ausrüstung. Daran gab es keinerlei Zweifel.
Ich lehnte das Schwert an die Wand und setzte mich,
sodass es vor dem Ork verborgen war. Mir gefiel nicht, wie durchdringend er die
begehrte Waffe anstarrte.
Nicht wäre leichter. Er musste nur die Hand danach
ausstrecken und es sich nehmen. Einen Paladin mit Level 74 konnte ich kaum
aufhalten.
Goar der Herbstdonner löste seinen Blick vom Schwert und
ließ sich mit einem schweren Seufzen auf den Stuhl mir gegenüber fallen. Der
Stuhl protestierte mit einem Quietschen.
Unwillkürlich musste ich an den Wächter am See denken.
Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter.
„Wie viel würden Sie für das Schwert zahlen?“ Ich kam
direkt zur Sache. Ich hatte bereits entschieden, dass ich dafür so viel
bekommen sollte, dass es mindestens für das Gewand reichte.
Goar runzelte die Stirn und atmete geräuschvoll aus. „Hat
Lloyd nicht gesagt, dass ich pleite bin?“
Ich lächelte. „Zwischen pleite und mittellos ist ein
großer Unterschied.“
„Genau das bin ich“, sagte er.
Ich zuckte zusammen. „Zu schade. Dann kommen Sie wieder,
wenn Sie wieder Geld haben.“
Er warf einen raschen Blick hinter meinen Rücken.
„Keine gute Idee“, warnte ich.
Das hielt ihn nicht auf. Er erhob sich bereits vom Tisch,
als aus dem Nichts Isabella auftauchte.
„Ich glaube, das würde Lloyd nicht gefallen“, flüsterte
sie ihm ins Ohr.
Das dämliche Grinsen des Orks verschwand. Er ließ sich
wieder auf den Stuhl fallen, der unter seinem Gewicht quietschte. Isabellas
Warnung schien ihn sichtlich zu beeindrucken. In seinem Blick lag unverhohlene
Angst, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde.
Das musste ich mir merken. Mit diesem Herrn Lloyd war
offenbar nicht zu spaßen.
„Ich habe kein Geld“, sagte Goar finster, die Hände vor
sich verschränkt.
Isabella zog sich einen Hocker von einem Nachbartisch
herbei, setzte sich und lächelte ihn an. „Was schlagen Sie dann vor?“
„Ich könnte es abarbeiten“, meinte er unsicher. „Oder ich
könnte es später zurückzahlen.“
Ich wollte gerade einwenden, dass ich das Geld jetzt
brauchte, als ich Isabellas nachdenklichen Blick bemerkte. Also sagte ich
nichts.
„Abarbeiten?“, fragte sie langsam. „Wie denn?“
Der Ork zuckte die Schultern. „Ich könnte jemanden töten.
Oder ich könnte euch beim Hochleveln helfen.“
Isabella schnippte mit den Fingern. „Wir brauchen einen Leibwächter!“
Sie wandte sich zu mir um. „Was meinst du, Schätzchen? Sollen wir diesen
Trottel für einen Monat anheuern?“
Ich nickte. Die Idee gefiel mir.
Der Ork wirkte allerdings weniger begeistert. Genau
genommen strahlte er durch und durch Abscheu aus.
„Einen ganzen Monat lang hier bleiben und gar nichts
tun?“ Er blähte die breiten Nüstern. „Von wegen!“
Isabella verdrehte die Augen. „Mein lieber Freund, Sie
sollten den Kopf mal zum Denken benutzen und ihn nicht nur mit Essen
vollstopfen. Meinen Sie wirklich, wir brauchen einen Leibwächter, wenn wir Tag
und Nacht im Gasthof bleiben? Dieses schwarze Stück Stahl, das Ihnen aus
irgendeinem Grund so wichtig ist, wo kommt das wohl her?“
Goar kratzte sich mit seiner behandschuhten Hand
nachdenklich die Wange. „Ich will einen gleichen Anteil an der Beute.“
Isabella und ich tauschten Blicke. Sie schüttelte den
Kopf. „Nicht gerade bescheiden, was?“
Er runzelte die Stirn. „Ich muss meine Rechnungen
bezahlen. In einem Monat bin ich pleite.“
Wiederwillig kam Isabella ihm entgegen. „Zwanzig Prozent
von der Beute, wenn sie verkauft ist.“
Der Ork nickte. „Abgemacht.“
Er griff nach dem Schwert, aber ich schirmte es immer
noch ab. „Wollen wir das nicht schriftlich festhalten oder so?“
Er sah mich böse an, erhob sich und erklärte feierlich:
„Ich schwöre bei der Tagundnachtgleiche, einen Monat lang als Leibwächter von John
... wie heißen Sie?“
„John Doe.“
„... als Leibwächter von John Doe zu dienen.“
Gespenstische Flammen züngelten um seine schwarze
Rüstung. Ich gab ihm das Schwert.
Vor Freude machte er fast einen Satz, zwang sich jedoch
zur Ruhe. Er trat zur Seite und drehte das Schwert in den Händen, als könne er
sein Glück nicht fassen.
Isabella, die ihn beobachtete, sagte mit saurer Miene:
„Zumindest etwas Gutes hat das dämliche Stück Metall bewirkt.“
„Ich hätte lieber das Geld gehabt.“
„Tja, das Leben ist nicht perfekt. Man muss immer
Zugeständnisse machen.“
Ich seufzte nur. Das ließ sich nicht bestreiten.
Die Eingangstür öffnete sich, als Ulrich hereinkam.
Diesmal war der Karton in seinen Händen ziemlich klein.
„Ihre Bestellung“, verkündete er und stellte den Karton
vor mir auf den Tisch.
Ich öffnete den Deckel und nahm eine schwarze Metallmaske
von ihrem Strohbett.
Maske aus schwarzem Mithril.
Rüstung: 5
Runen: 0/3
„Alles in Ordnung?“, fragte Ulrich.
„Perfekt“, sagte ich und legte sie an. Sie passte wie
angegossen auf mein Gesicht.
Der Assistent des Alchemisten verabschiedete sich von
Isabella. Als die Tür hinter ihm zufiel, meinte sie sarkastisch: „Schätzchen, jetzt
bist du der Mann mit der eisernen Maske.“
„Genaugenommen ist es Mithril“, korrigierte ich.
Ich hörte ein Klopfen an der Tür und drehte mich um.
Allerdings trat niemand ein.
„Was hast du gesagt?“, lachte sie. „Rede lauter! Ich kann
dich nicht verstehen.“
Obwohl meine Stimme zugegebenermaßen dumpf klang, war sie
ziemlich deutlich. Ich holte gerade tief Luft, um ihr genau das ins Ohr zu
schreien, als ich abrupt innehielt und stattdessen hauchte: „Wir haben Besuch.“
Ein kalter, unbarmherziger Blick brannte mir im Rücken.
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Veröffentlichung am 28. Oktober 2019
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