Neustart
Ein Roman
von Dan Sugralinov
Release - March 25, 2019
Pre-order - https://www.amazon.de/dp/B07N8G33FT
„Ein sehr gutes Buch. In den fünf Stunden, in denen ich
es gelesen habe, existierte in meinem Leben nichts anderes mehr!“ – Vasily Mahanenko
„Enorm motivierend! Temporeich und leicht zu lesen. Das
war die schlaflose Nacht wert. Und jetzt geht es weiter mit Buch 2!“ – Alexey Osadchuk
„Ein Autor im Genre der Rollenspiel-Literatur sieht sich
der herausfordernden Aufgabe eines Drahtseilakts zwischen der tristen
Normalität der Alltagsroutine und den fantastischen Abenteuern des Helden
gegenübergestellt. Und letztere könnten sich als zu unrealistisch
herausstellen, um einen skeptischen Leser zu überzeugen. In diesem Buch jedoch
hat Sugralinov diesen Drahtseilakt erfolgreich gemeistert!” – Michael Atamanov
Phil ist dreißig Jahre alt, arbeitslos und
leidenschaftlicher Gamer. Seine einzige Einnahmequelle ist das Schreiben von
Artikeln – wenn er genügend Inspiration verspürt, um seinen alles andere als
beliebten Blog zu bereichern. Kein Wunder also, dass er Probleme hat, über die
Runden zu kommen. Seine Frau hat ihn gerade verlassen - ohne Geld, ohne
Lebenssinn und ohne Essen im Kühlschrank.
An dem Tag, als seine Frau auszieht, wird
Phils Gehirn auf mysteriöse Weise bereichert. In seinen Kopf scheint eine
Spieloberfläche implantiert worden zu sein, die dafür sorgt, dass er die
gesamte Welt durch die Augen eines RPG-Spielers betrachtet.
Phil entdeckt die Statistiken seines
wirklichen Lebens. Dabei stellt er fest, dass diese verdammt
unterdurchschnittlich sind. Seine Beweglichkeit liegt bei 4 Punkten, seine
Stärke bei 6 Punkten und sein Durchhaltevermögen bei 3 Punkten. Die Fertigkeit,
in der er am weitesten fortgeschritten ist, und das kommt wenig überraschend,
ist das Spielen von Computerspielen.
Zum Glück können die Statistiken im
wirklichen Leben ebenso gesteigert werden wie die virtuellen. Aber kann das
Phil dabei unterstützen, seine Frau zurückzugewinnen? Kann es ihm helfen, nicht
länger auf der Couch abhängen, sondern fitter zu werden? Oder erfolgreicher? Kann
er seine in Computerspielen erworbenen Fähigkeiten endlich einmal im wirklichen
Leben nutzen?
Und schließlich: Kann er herausfinden, wer
dieses geheimnisvolle Spiel in sein Gehirn hochgeladen hat? Und wie soll er mit
dieser unbekannten, aber augenscheinlich allmächtigen Macht umgehen?
Kapitel eins. Der Morgen, an dem alles begann
„Bitte, es muss doch etwas anderes geben,
das ich tun kann. Zum Beispiel zwei Wochen lang jede Woche Ihren Rasen mähen. Nächste
Woche kann ich nicht.”
Homer Simpson, Die Simpsons
ZUERST war das Spiel mein Leben. Und dann wurde
mein Leben selbst zu einem Spiel.
Ich hatte im Leben versagt. Mit über
dreißig konnte ich eine Ehefrau vorweisen, eine Reihe von jeweils einmaligen
Freelance-Aufträgen, einen hochmodernen Computer, einen Schurkencharakter mit
Level 110 in einem beliebten Rollenspiel und einen Bierbauch.
Außerdem schrieb ich Bücher. Nun ja, um
genau zu sein, ein Buch. Das ich noch nicht abgeschlossen hatte.
Anfangs fühlte ich mich geschmeichelt, wenn
mich jemand als Schriftsteller bezeichnete. Im Laufe der Jahre war ich
allerdings gezwungen, der unangenehmen Wahrheit ins Gesicht zu sehen: Ich war
kein Schriftsteller. Man hatte mir diese Bezeichnung nur deshalb verliehen, weil
es kein anderes Etikett in den sozialen Medien gab, das mich beschreiben konnte.
Wer war ich also wirklich? Ein
gescheiterter, einstmals allerdings vielversprechender Vertriebsmitarbeiter, der
von einem Dutzend Firmen gefeuert worden war? Nicht gerade berauschend.
Immerhin nennt sich heute jeder – und sogar deren Hunde - Online-Marketing-Guru.
Ich allerdings konnte überhaupt nichts
verkaufen. Um ein Produkt zu bewerben, hätte ich davon überzeugt sein müssen.
Ich konnte keinem Kunden etwas in dem Wissen aufschwatzen, dass er es so nötig
brauchte wie einen Abfalleimer.
Eine Weile lang hatte ich leichtgläubigen
Rentnern extrastarke Staubsauger verkauft. Ich hatte den Großstadt-Strebern,
die sich von rehydrierten Lebensmitteln ernährten, die modernsten Wasserfilter
angedreht. Ich hatte vorgefertigte Websites an Möchtegern-Existenzgründer
vermarktet, die ihre erste Firma mit Hypotheken auf ihr Haus finanzierten. Ich
hatte Online-Werbung verkauft, Pauschalreisen, Diätpillen und Wurmmittel.
Aber nichts davon lief. Ich verlor einen
Job nach dem anderen. In meiner Freizeit betrieb ich sogar einen Blog (und,
zugegeben, oft genug auch während meiner Arbeitszeit). Hier veröffentlichte ich
Kurzgeschichten, um die wenigen Leser zu unterhalten, die ich gewinnen konnte.
Das war für mich Grund genug, mich als ganz anständigen Internet-Marketingfachmann
zu betrachten
Am Ende fand ich einen Job bei einer Firma,
die nach jemandem suchte, der ihren Online-Shop betreute. Allerdings hatte
bereits meine erste Besprechung mit dem Geschäftsführer meine absolute
Inkompetenz enthüllt. Er hatte nach den Konvertierungsraten gefragt, nach dem
durchschnittlichen Bestellwert, dem Grad des Kundenengagements, der
Absprungrate, der Schuldentilgungsfähigkeit und all dem anderen Drum und Dran
der Statistiken, die ich ihm hätte präsentieren müssen.
Anscheinend verlangte der Betrieb eines
Online-Geschäfts mehr als nur das Bestücken eines Blogs mit amüsanten Artikeln,
Kommentaren und Likes. Hatte ich meine Probezeit erwähnt? Man setzte mich auf
die Straße, bevor sie abgelaufen war.
Dieser Fehlschlag traf mich bis ins Mark,
und ich beschloss, mir jetzt endlich die nötigen Grundkenntnisse anzueignen.
Ich lud mir unzählige Kurse, Lehrbücher und Video-Tutorials herunter und
meldete mich sogar für ein paar Webinare an.
Dieser Eifer hielt genau eine Woche lang
an. Die ersten fünf Tage erfreute ich mich an meinem neuen Status. Lange konnte
die Zeit des Lernens schließlich nicht dauern – mit meiner Begeisterung und
Gründlichkeit würde ich die Kunst des Online-Marketings in Nullkommanichts
beherrschen.
Im Geiste sah ich mich bereits als
beliebter Experte mit einer entsprechenden Kundenliste, als jemanden, der für
sein Wissen auf dem Markt die höchste Bezahlung verlangen konnte. Endlich würde
ich mir ein Haus und ein anständiges Auto kaufen können, mehrfach im Jahr
Urlaub machen und all die Vorteile einer wöchentlichen Arbeitszeit von vier
Stunden genießen.
Trotz meiner Euphorie war ich allerdings
nicht gerade begierig darauf, mich ernsthaft mit all den Lernmaterialien zu
befassen. Und im Laufe dieser fünf Tage ließ meine Begeisterung merklich nach.
Am Ende befand ich mich in derselben Position wie zuvor. Als ich mich endlich
am Riemen riss und mit dem eigentlichen Studium begann, wurde ich schnell von
Stumpfsinn und Langeweile eingeholt. Am Ende des zweiten Tages musste ich mir
eingestehen, dass ich für diesen Bereich einfach nicht geschaffen war.
Das nächste Jahr verbrachte ich damit, mich
mit mageren Einnahmen aus den Werbeanzeigen in meinem Blog und ein paar Jobs
als Freiberufler von der Hand in den Mund zu ernähren. Meine Frau Yanna glaubte
noch immer fest an mich und mein angebliches Potenzial. Allerdings ließ ihre
Geduld bereits nach. Sie war acht Jahre jünger als ich und damit in einem
Alter, in dem ihre Freunde sich ständig über die besten Einkaufsorte und Urlaubsziele
unterhielten. Während ihre Highlights darin bestanden, ihren bloggenden Ehemann
hin und wieder zu einer Filmvorschau im geschlossenen Kreis zu begleiten. Unter
den Umständen kann jeder seinen Glauben verlieren.
Aber dann muss man sich ja nur mal zum
Beispiel Gabriel Garcia Marquez betrachten. Viele Jahre lang musste seine Frau
das Geld für die Familie heranschaffen, während er, genau betrachtet, nichts
anderes tat als zu essen, Kinder zu zeugen und das Buch Hundert Jahre Einsamkeit zu schreiben. Hatte sie in ihrem Glauben
an ihn etwa jemals geschwankt? Nicht, dass ich wüsste.
Yanna allerdings war anders. Sie war jünger
und kinderlos. Wahrscheinlich verlieh das ihren Worten zu dieser Zeit einen sarkastischen
Unterton, wann immer ich mein Buch erwähnte.
Tatsächlich schien, als die Monate vergingen,
ihr Respekt für mich zu schwinden. Das zeigte sich in vielen Kleinigkeiten, auf
die ich anfangs gar nicht achtete.
Und was mein Buch betraf … Nun ja, sehen
Sie, es hatte da einen Augenblick gegeben, in dem ich erkannte, dass ich bald
dreißig werden würde, und absolut nichts dafür vorzuzeigen hatte. Mein Leben würde
bald seinen Zenit erreichen, auf den unweigerlich der Abstieg erfolgen würde
Ich erinnere mich noch sehr gut an diesen
Moment. Ich erwachte nach einer absolut geilen Party und beschloss, einen
Bestseller zu schreiben. Angesichts meines Talents konnte nichts einfacher
sein. Dachte ich.
Komischerweise erwies sich das Schreiben
als harte Arbeit. Entweder hatte ich das Ausmaß meines Talents überschätzt, oder
vielleicht – nur vielleicht – hatte ich dieses Talent auch niemals besessen.
Mein Gehirn kämpfte mit Worten, die meine Finger anschließend wieder löschten.
Es hatte mich drei Monate gekostet, auch
nur die erste Seite zu produzieren. Gleichzeitig berichtete ich in meinem Blog
munter über meine fantastischen Fortschritte. Angeblich war ich bereits beim
zwölften Kapitel. Meine Freunde boten mir ständig an, als Beta-Leser zu fungieren.
Allerdings war ich mir ziemlich sicher, selbst wenn ich etwas vorzuzeigen
gehabt hätte, sie wären nicht bei der Stange geblieben. Nun, es blieb die
Tatsache, dass ich eben nichts vorzuzeigen hatte, also konnte ich diese
Prämisse nicht überprüfen. Ich erklärte mein Widerstreben damit, dass ich
keinen unfertigen Entwurf veröffentlichen wollte.
Als ich endlich das dritte Kapitel
fertiggestellt hatte, konnte ich der Versuchung jedoch nicht länger
widerstehen. Ich lud das ganze Teil ins Internet hoch und freute mich auf jede
Menge Kommentare, Likes und die Meinung anderer Leute.
Vorher bat ich jedoch noch Yanna, es zu
lesen. Sie weigerte sich.
„Ich will, dass du das Buch zuerst
abschließt“, erklärte sie. „Und dann lese ich alles in einem Rutsch. Ich mag
nichts, das sich noch in Arbeit befindet, ob es nun ein Buch oder ein Film ist.“
Sehr viel später las sie dann doch den
fertiggestellten Teil des Romans. Aber zu dem Zeitpunkt glaubte sie
wahrscheinlich schon nicht mehr daran, dass ich das verdammte Ding jemals zu
Ende bringen würde.
Die Kapitel veröffentlichte ich allerdings
nicht in meinem Blog. Stattdessen lud ich sie unter einem Pseudonym in einem
beliebten Portal für Schriftsteller hoch.
In dieser Nacht ging ich voller Aufregung
und Vorfreude zu Bett. So ähnlich hatte ich mich auch als Kind gefühlt, in der
Nacht vor einem Angelausflug mit meinem Vater. Ich freute mich auf einen Tag
voller Glück und Freude und am Ende Erfolg. Ich stellte mir vor, wie ich am
Morgen aufstand, in aller Ruhe duschte, mich rasierte und mir die Zähne putzte,
mir eine Tasse extrastarken Kaffee kochte, eine Zigarette anzündete und dann
endlich die Seite mit meinem ersten Kapitel öffnete, wo ich nichts als
überschwängliches Lob der Leser und Forderungen nach dem Rest des Buchs
vorfinden musste.
Ich wachte etwa gegen Mittag auf und begab
mich sofort zum Computer, noch bevor ich mir auch nur die Zähne geputzt hatte.
Nur zwei Seiten waren gelesen worden. Es
gab keine Likes. Und nur einen Kommentar:
Ich konnte nicht zu
Ende lesen, tut mir leid. Ich fürchte, das Schreiben ist nichts für dich.
In genau diesem Augenblick beschloss ich,
das vermaledeite Ding fertigzustellen. Und sei es auch nur, um dieser Person
den Mittelfinger zu zeigen. Ich rauchte eine halbe Schachtel Zigaretten und
begann dann mit der Arbeit am nächsten Kapitel.
Nur, ich konnte nicht schreiben. Weder an
dem Tag, noch am nächsten. Um ehrlich zu sein: Ich habe seitdem nicht eine
einzige Zeile geschrieben.
Das lag nicht etwa daran, dass ich nicht
gewusst hätte, worüber ich schreiben sollte. Ich konnte mich nur einfach nicht
konzentrieren. Ständig war ich abgelenkt durch Mitteilungen in sozialen Medien,
Nachrichten aus Chaträumen, unsere Katze Boris (über sie berichte ich später
noch), den kalten Luftzug im Zimmer, Yanna, die Fliegen, den pfeifenden
Wasserkessel, meine leere Kaffeetasse, die Artikel und Blogbeiträge, die ich
lesen musste, meine Schläfrigkeit, den Beginn meiner Lieblings-Fernsehserie in
fünf Minuten, ein Hungergefühl, die Sucht nach einer Zigarette und den
unbequemen Hocker, den ich kurz darauf durch einen nicht weniger unbequemen
Schreibtischstuhl ersetzte, den ich im Ausverkauf erstanden hatte … Alles, was
man sich nur vorstellen kann, lenkte mich vom Schreiben ab.
Dabei habe ich das Spiel noch nicht einmal
erwähnt.
Ja, genau. Das Spiel. Das Spiel, das schon
seit geraumer Zeit mein Leben geworden war.
Im Spiel hatte ich Yanna kennengelernt, und
im Spiel verbuchte ich die größten Erfolge meines Lebens. (Nein, das ist kein
Witz. Das glaube ich wirklich.)
Unser Clan hatte es in der Rangliste bis
auf die Nummer 2 gebracht. Wir wurden im wahrsten Sinn des Wortes mit
Neubewerbungen überschwemmt. Wir konnten uns die neuen Spieler aussuchen, die
wir in den Clan aufnahmen, und genau das taten wir auch. Wir konnten
schließlich nicht Hinz und Kunz mitmachen lassen.
In meiner Funktion als Stellvertreter des
Clanchefs war ich für eine Menge Dinge verantwortlich. Was mich ziemlich viel
Zeit kostete. Den Spielern mit Geld pflegten wir verschiedene Dienste im Spiel
anzubieten. Das sicherte einen schwachen Strom an Einnahmen, sowohl für den
Clan als auch für dessen Führung. Wenn man diese Summen allerdings in echtes
Geld umrechnete, war es lachhaft.
In der letzten Nacht waren wir eifrig mit
der Untersuchung der neuen Updates beschäftigt gewesen. Die zu einem endlosen
Frag-Fest aus Löschen und Wiederherstellen ausgeartet waren, während wir
versucht hatten, den neuen Dungeon zu erobern. Dessen Boss wollte einfach nicht
sterben. Die Luft im Voice Chat war vor lauter Flüchen ganz blau. Eine
Wischzeit nach der anderen verging, ohne dass wir dafür etwas vorzuzeigen
hatten. Aber wir gaben nicht auf, sondern versuchten es immer wieder. Nicht,
dass es viel gebracht hätte.
Für viele von uns war das ihr Leben. Wir waren die typischen
Hardcore-Computerfreak-Gamer, für die Leben, Erfolg und soziale Kontakte sämtlich
in der virtuellen Realität stattfanden.
Im Spiel wurde jede unserer Handlungen
sofort gemessen und belohnt – oder auch nicht belohnt, je nachdem -, und zwar
mit greifbaren Leistungen wie Erfahrungspunkten, Gold, neuen Erfolgen, Ansehen
und neuen Quests als Auszeichnung. Das machte die Beziehung zur Spielewelt
einfach und logisch nachvollziehbar.
Das war wahrscheinlich der Grund, aus dem
ich am Ende nur im Spiel ehrgeizig und motiviert war, aber nicht im wirklichen
Leben.
Das war weiterhin der Grund, aus dem wir
die neue Instanz unbedingt noch in derselben Nacht abschließen mussten, bevor
die anderen Clans davon Wind bekamen.
Nur schafften wir es nicht.
Als wir endlich aufgaben und das Treffen
auflösten, war es bereits früher Morgen. Ich war gerade eingeschlafen, die
letzte, nicht ganz geleerte Bierdose noch in der Hand, als Yanna aufstand.
Ich kannte mal jemanden, der gern auf die
Unterschiede in der toleranten Umsichtigkeit zwischen Frühaufstehern und
Nachteulen hinwies. Letztere sind ihren Frühaufsteher-Freunden gegenüber sehr
viel rücksichtsvoller. Sie bringen sie zu Bett und sorgen für Ruhe nach 21:00
Uhr. Den Frühaufstehern allerdings fehlt diese Charakterfeinheit. Sie lieben
nichts mehr, als eine friedlich schlafende Nachteule vor dem Mittag aus dem
Bett zu treiben. Yanna war da keine Ausnahme.
„Hey, es ist Zeit, aufzustehen! Das
Frühstück ist fertig! Du hast schon wieder die ganze Nacht gespielt, richtig?“
Sie schaltete den Fernseher ein, öffnete
die Fenster und veranstaltete einen Höllenlärm in der Küche.
„Phil Panfilov, steh jetzt auf, verdammt
noch mal! Sonst komme ich zu spät zur Arbeit!“
Es war eines unserer Rituale, gemeinsam zu
frühstücken. Es hatte zu einer Zeit begonnen, als wir lange schlaflose Nächte
miteinander verbracht hatten. Entweder mit Computerspielen oder mit Sex. Seitdem
Yanna ihren Abschluss gemacht und einen Job gefunden hatte, waren unsere
Tagesrhythmen nicht mehr miteinander kompatibel. Trotzdem frühstückten wir meistens
noch immer gemeinsam.
Mein Kopf bemühte sich gewaltig darum, das
nervenzerrend fröhliche Geplapper einer Waschmittelwerbung auszublenden. Ich
musste das verfluchte Gerät stumm schalten, bevor es mir noch das Hirn zerriss.
Ohne die Augen zu öffnen, tastete ich nach
der Fernbedienung und stellte leiser. Ich taumelte ins Badezimmer, drehte den
Hahn auf, verbrannte mich am heißen Wasser, fluchte, drehte den Kaltwasserhahn
auf, schüttete mir etwas Wasser ins Gesicht, putzte mir die Zähne und schaute
in den Spiegel.
Eine ziemlich mitgenommene Kreuzung
zwischen einem Goblin und einem Ork starrte mich an, die einmal zu oft gerespawned
hatte.
Ich brauchte dringend eine Rasur.
Vielleicht. Irgendwann einmal.
Wir setzten uns an unserem kleinen Esstisch
in der Ecke einander gegenüber. Ohne große Begeisterung mampfte ich mein Brot.
Yanna trank ihren Kaffee und trug dabei geschickt ihr Make-up auf.
Ich erinnerte mich an unsere erste
Begegnung. Ich hatte auf den Beginn eines neuen Spielangriffs gewartet.
Zutiefst gelangweilt hatte ich beschlossen, mein Phönix-Reittier ein wenig
auszuführen. Wir flogen gerade über Kalimdor, als ich auf einmal eine
Priesterin auf einem niedrigen Level im lokalen Chat um Hilfe bitten hörte. Ihr
Name war Healiann. Anscheinend hatte ein ekliger Tartar-Ganker sie verletzt. Da
musste ich natürlich anhalten und ihm eine Lektion erteilen. Sie fügte mich
ihrer Freundesliste hinzu. Ein paar Monate lang half ich ihr, ein Level nach
dem anderen aufzusteigen. Schließlich unterhielten wir uns in einem Voice Chat.
Dabei fanden wir heraus, dass wir in derselben Stadt lebten. Ich lud sie ein,
sich unserem Clan anzuschließen. Und bei einem der von Alkohol beherrschten
Treffen unseres Clans in der wirklichen Welt begegneten wir uns dann zum ersten
Mal.
Yannas Stimme durchbrach die Stille.
„Stehst du so sehr auf Blondinen?“
Was bitte sollte ich denn darauf antworten?
Ich mag Blondinen, das stimmt. Ich mag aber auch Frauen mit dunklen Haaren,
Rothaarige und Brünette. Als ich aufs College ging, war ich in dieses Mädchen verknallt,
das sich die Haare blau gefärbt hatte. Später hatte sie sich den Kopf
kahlrasiert. Ich hatte sie trotzdem nicht weniger geliebt.
Yanna war von Natur aus brünett, ging
jedoch gerade durch eine Phase rabenschwarzer Haare.
„Die Haarfarbe ist mir egal“, erwiderte
ich. „Und andere Frauen kümmern mich nicht. Du bist die einzige Frau, die ich
in den letzten … ähm … vier Jahren geliebt habe.“
„Klar doch“, grinste Yanna, offensichtlich
nicht gerade überzeugt. „Und wer ist dann die Blondine in deinem Buch? Aber
wenigstens scheinst du dich erinnern zu können, wie lange wir schon zusammen
sind.“
Ich verschluckte mich beinahe an meinem
Schinken-Käse-Brot. Sie hatte recht. Die Hauptfigur in meinem Buch hatte sich
tatsächlich in eine blonde Frau verliebt. Aber der Typ war schließlich nicht
ich, verdammt noch mal!
Ich schluckte den Bissen hinunter und
räusperte mich. „Nicht ich stehe auf
Blondinen, sondern der Kerl im Buch. Der Hauptprotagonist.“
Sie betrachtete mich mit verengten Augen.
„Und was bitte macht ihn dazu?“
Sie hatte die Wimperntusche nur bei einem
Auge aufgetragen. Ihr Gesicht erinnerte mich an Two-Face von Gotham City.
Nervös wippte sie mit dem Bein, bis ihr flauschiger Hausschuh durchs Zimmer
flog. Das ist einfach eine ihrer Angewohnheiten.
„Nichts“, gab ich zu. „Er ist einfach nur
ein Protagonist. Ich habe das Buch nur deshalb in der Ich-Form geschrieben,
weil mir das leichter fällt.“
„Du bist ein Lügner! Glaubst du, ich sehe
nicht, wie du rot wirst? Und schau dir deine Hand an – sie zittert.“
Meine Hand zitterte, weil ich in der
vergangenen Nacht zu viel Bier getrunken hatte. Allerdings hatte sie nicht ganz
unrecht. Ich hatte tatsächlich gelogen.
„Nun, Herr Schriftsteller“ – sie legte ihren gesamten Sarkasmus in dieses eine
Wort – „ich muss jetzt los.“
Mich traf eine schwere Wolke ihres Parfüms,
erregend und widerlich süß. Sie drückte mir einen hastigen Kuss auf die Lippen,
dann marschierte sie hinaus.
Die Wohnungstür knallte zu.
Ich starrte auf das Brot in meiner Hand.
Hunger hatte ich überhaupt keinen mehr. Ich war müde.
Ich ließ den Kopf auf meine Arme sinken und
studierte aus diesem Blickwinkel heraus die Ausmaße unserer winzigen Küchenecke.
Der ganze Raum roch nach sparsamem Elend. Die Fliesen über der Küchenspüle
bröckelten ab. Das monotone Geräusch des tropfenden Wasserhahns trieb mich fast
in den Wahnsinn. Die Ofentür ließ sich nicht mehr schließen. Der gesamte Herd
war braun verkrustet. Die niedrige Decke, grau-gelb von all dem Tabakrauch,
hing trübsinnig über meinem Kopf.
Der Anblick weckte in mir den dringenden
Wunsch, auf den vernachlässigten Balkon unserer Einzimmerwohnung zu fliehen,
das Geländer mit seiner abblätternden Farbe zu erklimmen und einfach dort zu
sitzen, die Füße in der Luft baumeln zu lassen. Dann könnte ich mich abstoßen
und hinunterspringen.
Ich stand auf, ließ die schmutzigen Teller
auf dem Küchentisch und marschierte auf den Balkon.
Das grelle Sonnenlicht schmerzte in den
Augen. Ich blinzelte und streckte meinen steifen Körper. Dann griff ich in
meine Tasche und zog die Zigarettenpackung hervor.
Sie war leer. Ich fluchte und stieß einen
tiefen Seufzer aus. Mittlerweile war mir alles egal. Das war wahrscheinlich der
Nikotinentzug.
Ich lehnte mich gegen das Geländer und
blickte auf die Straße, acht Stockwerke unter mir. Dort schimmerte eine tiefe
Regenpfütze. Ihre stählerne Oberfläche spiegelte eine eilige Prozession weißer
Schäfchenwolken am Himmel über mir wider.
Die Wolken teilten sich und gaben einen
hellen Sonnenstrahl frei.
Er blendete mich. Ich kam mir beinahe so
vor, als würde ich gerade auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet.
Alles verschwamm vor meinen Augen. Ich
konnte nichts mehr sehen, bis meine Sicht plötzlich zurückkehrte. Teilweise.
Jetzt tanzten auf einmal kleine helle Flecken in meinem Blick, die verdächtig
wie eine Art von Symbolen und Zahlen aussahen.
Ich ließ mich auf einen wackeligen, alten
Hocker fallen und wischte mir die Augen, blinzelte mehrfach, um die Illusion zu
vertreiben.
Es reichte. Es war Zeit, nach draußen zu
gehen und Zigaretten zu besorgen. Und Kaffee. Und nach meiner Rückkehr musste
ich mich wirklich endlich daransetzen und dieses verfluchte Buch
fertigschreiben.
Ich wurde das hartnäckige Gefühl nicht los,
dass all meine Probleme ein Ende hatten, sobald ich das geschafft hatte.
Ich musste einfach nur dieses verdammte
Buch abschließen.
Kapitel zwei. Was zum Teufel…
„Wir können hier nicht bleiben, das ist Fledermaus-Land!“
Hunter S. Thompson, Fear and Loathing in Las Vegas
ICH GING VORSICHTIG, sprang über die
Regenwasserpfützen in meinem Weg. Mein linker Turnschuh stand im Begriff, sich
aufzulösen, aber ich war nicht in der Stimmung, ihn selbst zu reparieren. Und
ihn zum Schuster zu geben, konnte ich mir nicht leisten. Aus demselben Grund
musste auch ein neues Paar Turnschuhe einstweilen warten. Wir hatten zu viele
Rechnungen zu bezahlen. Miete, Strom, Wasser, Internet … Und wir mussten
Lebensmittel kaufen. Was mich betraf, so hätte ich ein neues Paar Schuhe vorgezogen,
aber zum Glück verwaltete Yanna unser Geld.
Unser Hinterhof
unterschied sich nicht groß von den anderen im Bezirk. Er war eine klassisch
russische Katastrophe aus Schmutz, Schlamm und beschädigten Kantensteinen,
umgeben von uneinheitlichen Fenstern und verglasten Balkonen mit abblätternder
Farbe. Weggeworfene Plastiktüten hatten sich in Ästen und Wäscheleinen
verfangen, und der Abfall quoll aus den überdimensionierten Tonnen. Ein paar
Winter zuvor hatte die Stadtverwaltung ein paar Notreparaturen an geplatzten
Wasserleitungen durchführen müssen (ebenfalls ein klassisch russisches
Problem). Man hatte den gefrorenen Asphalt aufgehämmert, das Leck gestopft, und
alles mit einer Schicht Erde bedeckt. Die sich jetzt bei jedem Regen in einen
schlammigen Sumpf verwandelte. Es gab nichts, woran das Auge sich erfreuen
konnte. Das einzig Positive waren die kleinen grünen Blätterknospen an den
Bäumen. Sie symbolisierten das längst vergessene Versprechen der herannahenden
Sommerferien aus der Schulzeit.
Der heruntergekommene
Spielplatz in der Mitte war schon seit Langem zu einem Treffpunkt für die
Betrunkenen der Gegend geworden. Einige von ihnen waren in meinem Alter und
augenscheinlich als Teenager in ihrer Entwicklung stehengeblieben. Andere waren
jünger – und ihre Botenjungen. Den Vorsitz über alle führte Yagoza, ein
sehniger Mann unbestimmten Alters. Seine Haut war durch die Tätowierungen aus
dem Gefängnis regelrecht blau verfärbt, und er trug meistens formlose
Jogginghosen und ein grünes Che-Guevara-T-Shirt in der Größe eines Zeltes. In
dieser Umgebung war er so etwas wie der kriminelle Experte.
Yagoza rauchte gerade
eine Zigarette und trank Bier aus einer Dose.
Alle, die hier
herumstanden, wirkten gelangweilt und vom Pech verfolgt. Selbst von meinem
Standort aus konnte ich erkennen, dass sie auf etwas Stärkeres als Bier aus
waren. Für diese Leute war Bier dasselbe wie für andere Wasser.
Einer von ihnen hing
am Klettergerüst. Offensichtlich hielt er sich für einen Turner. Als er mich
sah, sprang er herab und rieb die Hände gegeneinander. „Phil? Hi, Mann.“
Die anderen warfen mir
einen Blick zu und wandten sich dann wieder desinteressiert ihrem Bier zu.
Das war nicht gut. Ich
hatte früher schon meine Probleme mit dem Typen gehabt. Er war unter dem
Spitznamen Alik bekannt. Einmal war er mir den ganzen Weg vom Laden an der Ecke
gefolgt. Damals war ich guter Stimmung gewesen. Ich hatte gerade einen netten
kleinen Scheck von einem Auftraggeber erhalten, also hatte ich ein paar
Lebensmittel besorgt, um das zu feiern. Alik hatte mich angesprochen, wir hatten
uns unterhalten und ich hatte ihm ein Bier gegeben. Zu Hause angekommen hatte
ich die Begegnung sofort wieder vergessen.
Er hingegen hatte
nichts vergessen. Seitdem versuchte er, mich bei jeder Begegnung zu umarmen und
ein Bier oder eine Zigarette von mir zu schnorren.
„Hi, Mann“, erwiderte
ich ohne große Begeisterung.
Er kam zu mir und
schüttelte meine Hand, während er mir gleichzeitig den Arm um die Schultern
legte und mir den Rücken klopfte. Dabei strich seine Hand über die Gesäßtasche
meiner Jeans, als ob er mich durchsuchen wollte.
Erneut verschwamm
alles vor meinen Augen. Ich sah ihm ins Gesicht, doch das schien irgendwie
unscharf zu sein.
„Himmel, ist mit dir
alles in Ordnung?“, fragte er nüchtern, ohne eine Spur von Mitgefühl.
„Nicht ganz“,
antwortete ich. „Warte mal eine Sekunde.“ Ich rieb mir die Augen. Dann schaute
ich ihn erneut an.
Endlich konnte ich
sein Gesicht deutlich erkennen. Seine Augen waren umgeben von den dichtesten,
längsten Wimpern, die ich jemals gesehen hatte. Die waren mir vorher nie aufgefallen.
Bevor ihm das Leben in die Quere gekommen war, musste er ein hübscher Junge
gewesen sein.
Seine Gesichtshaut
wies Pockennarben auf und war ölig. Seine Nase war schief und bestimmt früher
einmal gebrochen gewesen. Seine Zähne waren nikotingelb und seine Haare fettig
…
Und was zum Teufel war
das?
Ich betrachtete ihn
eingehender, rieb mir erneut die Augen, betrachtete ihn wieder.
Verwundert schaute
sich Alik um. „Was’n los, Mann? Alles okay? Sag es mir! Was zum T…“
„Nein, warte!“ Ich hob
die Hand, strich damit durch den Bereich über seinem Kopf.
Fühlen konnte ich
nichts, doch ich sah es ganz deutlich!
Mir stockte der Atem.
Ich konnte meinen Blick nicht von der großen Beschriftung in klaren, grünen
Buchstaben losreißen, die über seinem Kopf schwebte:
Romuald „Alik“ Zhukov
Alter: 28
Romuald? Seine Eltern besaßen
wohl einen ziemlich perversen Humor. Wenn mein Name Romuald gewesen wäre, hätte
ich meinen Kummer wahrscheinlich auch im Suff ertränkt.
„Heißt du Romuald?“,
fragte ich.
Er zuckte zusammen. „‘Tschuldigung?“
„Dein richtiger Name
ist Romuald, nicht wahr?“
„Ähm … ja, aber …
Warte mal. Woher weißt du das denn?“
Ich antwortete nicht.
Meine Gedanken stürmten umher wie eine Horde Wildpferde, die alles in ihrer
Nähe zertrampelten.
Das war nicht real. Das
konnte nicht real sein. Vielleicht war es eine aus einem Kater geborene
Halluzination. Ich trank einfach zu viel, spielte zu viel und schlief zu wenig.
Ich konzentrierte mich
auf die Beschriftung, die sich prompt wie eine Pergamentrolle entfaltete.
Romuald „Alik“ Zhukov
Alter: 28
Derzeitiger Status: Arbeitslos
Level des sozialen Status: 4
Unklassifiziert
Unverheiratet
Vorstrafen: Ja
Die letzte Zeile
blinkte rot. Ich konzentrierte mich darauf, in der Hoffnung, mein Blick würde
mehr enthüllen. Doch das funktionierte nicht.
„Phil! Wach auf, Mann!
Hallo?“
Die Mitteilung faltete
sich zusammen. Jetzt leuchtete nur noch die erste Zeile in der Luft.
„Tut mir leid“,
entschuldigte ich mich. „Ich war nur überrascht. Romuald ist ein ziemlich
seltener Name, was?“
Er zuckte mit den
Schultern. „Das war die Idee meines Vaters. Anscheinend hieß sein Großvater
Romuald. Wieso?“
„Ich habe mich nur
gewundert. Einen solchen Namen habe ich vorher noch nie gehört.“
„Ja, ganz bestimmt
nicht“, stimmte er mit verdächtiger Freundlichkeit zu. „Hör mal … ich hab was
zu tun. Wir sehen uns.“
„Klar.“
„Hast du eine
Zigarette für mich?“
„Sind mir gerade
ausgegangen, Mann.“
Er stieß einen Seufzer
aus, dann drehte er sich um und marschierte davon.
„Alik, warte!“
Er wandte sich mir
wieder zu und streckte fragend das Kinn vor. „Was denn?“
„Wie alt bist du?
Achtundzwanzig?“
Er nickte und machte
sich vom Acker. Die Beschriftung schwebte weiter über seinem Kopf, wurde mit
jedem Schritt kleiner, den er sich entfernte, bis sie am Ende ganz verschwand.
Ich wollte es nicht
riskieren, ihm zu folgen, obwohl ich darauf brannte, herauszufinden, ob das bei
den anderen ebenfalls funktionieren würde. Aber ich brauchte dringend eine
Zigarette. Ich überquerte den Hinterhof und ging zur Straße.
Auf dem Weg zum Laden
richtete ich meine Blicke auf alles, das mir begegnete – Schaufenster,
Verkehrsschilder, Autos und gelegentliche Passanten. Nichts passierte.
Wahrscheinlich hatte
ich in der letzten Zeit einfach nur zu hart gearbeitet, das war alles.
Aber was war mit Aliks
richtigem Namen? Den konnte ich doch unmöglich wissen, ebenso wenig wie sein
Alter. Ich kannte den Typen schließlich kaum!
Noch immer tief in
Gedanken versunken, betrat ich das Geschäft, ging zur Kasse und hielt der Frau
ein paar Münzen hin. „Eine Schachtel Marlboro.“
Die Verkäuferin, eine
Frau mittleren Alters – ein reifer Hammel, verkleidet als Lämmchen – unterhielt
sich gerade eifrig am Handy, das sie sich zwischen Ohr und Schulter geklemmt
hatte. Ohne die Unterhaltung zu unterbrechen, nahm sie mein Geld, zählte es,
fischte nach Wechselgeld und legte es neben die Packung auf die Theke. Einen
kurzen Augenblick lang trafen sich unsere Blicke.
Heilige Mutter Gottes!
Jawohl!
Mit zitternder Hand
nahm ich Wechselgeld und Zigaretten an mich, schob sie in meine Tasche und
stürmte hinaus.
In dem Moment, in dem
sie mir in die Augen geblickt hatte, war über ihrem Kopf eine Systemmitteilung
erschienen:
Valentina „Valya“ Gashkina
Alter: 38
Wieder auf der Straße,
fluchte ich erst einmal herzhaft. Das war ziemlich dumm von mir gewesen
davonzulaufen! Ich ging wieder hinein, bot ihr mehr Geld an.
„Tut mir leid,
Valentina. Ich habe vergessen, auch ein Feuerzeug zu kaufen.“
„Ich rufe dich
zurück“, sagte sie ins Handy. Dann starrte sie mich verständnislos an.
Endlich entspannte sie
sich sichtlich und griff nach einem Feuerzeug im Regal. Wahrscheinlich war sie
zu dem Schluss gekommen, dass ich nur einer der Betrunkenen dieser Gegend war,
die die Namen aller Alkoholverkäufer kennen.
Als sie sich wieder zu
mir umdrehte, scrollte ich rasch durch die Mitteilung:
Valentina „Valya“ Gashkina
Alter: 38
Derzeitiger Status: Verkäuferin
Level des sozialen Status: 9
Klasse: Händler. Level: 3
Witwe
Kinder: Igor, Sohn
Alter: 18
Ivan, Sohn
Alter: 11
Vorstrafen: Ja
Versuchte ich es also
noch einmal. „Wie geht’s, Valya? Was machen Igor und der kleine Ivan?“
In diesem Augenblick
musste es ihr klargeworden sein. Das Feuerzeug noch immer in der Hand, starrte
sie mich an und versuchte sich offensichtlich zu erinnern, wo wir einander
bereits begegnet sein könnten. Nicht bereit zuzugeben, dass sie jemanden nicht
im Gedächtnis behalten hatte, der sie scheinbar gut kannte, antwortete sie
schließlich:
„Igor geht es gut,
danke. Er steht kurz vor dem Abschluss seines zweiten Jahrs an der Uni. Ivan
ist allerdings ganz anders als er. Er will einfach nichts lernen. Igor hat
versucht, ihm Einsicht einzubläuen, aber Ivan hört nicht zu. Seit dem Tod
seines Vaters ist er nicht mehr derselbe …“
Sie hielt inne,
offensichtlich überrascht von ihrer eigenen Indiskretion. Mit einem Seufzer
überreichte sie mir das Feuerzeug. „Wenn ich fragen darf – woher kennen wir
uns?“
„Wir sind uns mal bei
Freunden über den Weg gelaufen“, murmelte ich, nahm das Feuerzeug entgegen und
verließ den Laden.
Ich eilte in Richtung
einer schmalen Allee und schälte beim Gehen das Zellophan von der
Zigarettenschachtel. Das zerknitterte Plastik warf ich in eine Abfalltonne,
dann zündete ich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Lungenzug.
Was für eine Art von
Vorstrafe sie wohl hatte? Vielleicht hatte sie in die Kasse gegriffen?
Endlich erreichte ich
die erste Bank, ließ mich darauf fallen und streckte meine schmerzenden Beine
aus. Ich spürte, wie das Nikotin durch meine Adern strömte, mein Gehirn erreichte.
Etwas flackerte in
meinem Augenwinkel. Ich richtete den Blick darauf und blinzelte. Eine
Mitteilung erschien, wurde immer größer. Und diesmal ging es um mich.
Warnung! Du hast eine geringe Menge
Giftstoffe erhalten!
Deine Vitalität ist um 0,00018 % gesunken
Derzeitige Vitalität: 69,31882 %.
Was meinten sie denn
mit „Vitalität“? War das etwa dasselbe wie Gesundheitspunkte?
Ich rauchte meine
Zigarette zu Ende und stellte mir dabei die ganze Zeit vor, wie ich mit jedem
Zug 0,00003 % an Vitalität verlor. Es verdarb mir die Freude am Rauchen gründlich.
Meine tief eingefleischte Spielsucht warnte mich vor jedem Verhalten, das als
„Schaden über Zeit“ oder Schwächung eingestuft werden könnte. Es war reines
Prinzip, dass ich trotzdem weiterrauchte.
Eine Sekunde mal – wie
viel Leben hatte ich eigentlich noch übrig?
Ein roter Balken
tauchte in meinem linken unteren Gesichtsfeld auf. Er war zu 69 % voll.
Wie bitte? Wo waren
denn die verbleibenden 31 % meiner Vitalität abgeblieben?
Hatte ich jetzt gerade
durch das Rauchen einer einzigen Zigarette etwa über 30 % Gesundheit verloren?
Oder war das eine Art kumulative Wirkung? Was konnte ich denn um Himmelswillen
getan haben, um …
Ich wusste genau, was
ich getan hatte. Es waren all die schlaflosen Nächte, das ungesunde Essen, das
Trinken, das Rauchen, ganz zu schweigen von den Umweltbelastungen. Es lag
eigentlich auf der Hand.
Das konnte ich gerade noch
verstehen. Was ich aber nicht verstehen konnte, war: Was zum Teufel passierte
hier?
Kapitel drei. Die erste Quest
„Wer bist du und warum sollte mich das interessieren?”
Futurama
SO VORSICHTIG ICH AUCH GEWESEN WAR, ich musste bei meinem
Spaziergang dennoch ein paar Schuhe voll an Regenwasser abbekommen haben. Diesmal
erschien allerdings keine Systemmitteilung. Offensichtlich riskierte ich keine
durch Unterkühlung verursachte Schwächung, so nass und elend ich mich auch fühlen
mochte.
In meinem Kopf
überschlugen sich die Gedanken. Verlor ich etwa gerade den Verstand? Waren das
die ersten Anzeichen eines Gehirntumors? Oder einer Persönlichkeitsstörung?
Sollte ich vielleicht zum Arzt gehen?
Ich zog an meiner
dritten Zigarette und versuchte, mich an ein geeignetes Krankenhaus zu
erinnern. Am Ende gab ich auf, googelte eine Liste der Hausärzte in der Gegend
und vereinbarte einen Termin.
Danach fühlte ich mich
ein wenig besser. Allerdings … wie sicher war ich mir denn überhaupt, dass die
Welt um mich herum tatsächlich real
war? Verrückt, ich weiß. Aber was, wenn mit mir alles in Ordnung war und nur
die Realität eine Störung hatte?
Der Zigarettenrauch,
die Gruppe der Betrunkenen, die auf dem Spielplatz herumhingen, meine eigenen
nassen Füße und eine winzige Ameise, die meinen Arm hoch kroch – alles um mich
herum schrie geradezu vor absoluter Authentizität.
Aber was war mit Amra
und Mahan? Das waren meine beiden Lieblingshelden der Rollenspiel-Literatur.
Hatten sie nicht Ähnliches empfunden, als sie sich plötzlich versetzt fanden,
der eine ins Reich ohne Grenzen, der andere nach Barliona? Zuerst hatte keiner
von ihnen erkannt, dass er sich in Wirklichkeit in einer virtuellen Realität
befand, weil alles um sie herum so echt erschienen war. Somit ergab mein
Gedanke durchaus Sinn.
Um genau zu sein,
konnte ich ebenso gut von Aliens entführt worden sein – oder von einem
mysteriösen, mächtigen Unternehmen. Man könnte meinen schwächelnden Körper in
eine VR-Kapsel gesteckt und mich hierhergeschickt haben. Warum? Keine Ahnung.
Ich hatte mich niemals als etwas Besonderes betrachtet. Noch nicht einmal
damals, als man mich in der Schule zum Klassensprecher gewählt hatte.
Trotzdem, ich könnte es
ja mal ausprobieren, oder etwa nicht? Ich hatte schließlich in meinem Leben
genügend Spiele gespielt, um Tatsachen und Fiktion voneinander zu
unterscheiden.
Mit der rechten Hand
griff ich in meine Tasche und zog das Feuerzeug hervor. Die linke hielt ich vor
mich, platzierte das Feuerzeug direkt darunter und klickte einige Male, löste
einen Feuerstoß aus.
Ich hielt es nur
wenige Sekunden aus. Ich war nie einer dieser masochistischen Typen gewesen,
die sich in Selbstverstümmelung ergehen.
Autsch! Das tat weh!
Aus dem Nichts
erschien eine Systemmitteilung und verblasste dann wie die Bilder einiger
3D-Filme:
Erlittener Schaden: 1 (Feuer)
Ich blies über meine
versengte Hand. Schmerz war der perfekte Beweis der Realität dieser Welt.
Ebenso wie meine verbrannte Haut. Aber die Systemmitteilung … Sie widersprach
dem massiv.
Außerdem, was bitte
sollte das denn heißen? Erlittener
Schaden: 1. 1 von was? Wie viele Gesundheitspunkte besaß ich? Wo konnte ich
meine Statistiken einsehen? Über welche Fertigkeiten verfügte ich? Was war mein
sozialer Status? Entsprach er einem Spieler-Level? Und wie sollte ich hier
Erfahrungspunkte sammeln?
Ich drehte meine Augen
in alle Richtungen, suchte nach einer Benutzeroberfläche, aber da war keine.
Ich sah keine Symbole, keine Schaltflächen oder Statusbalken. Der
Gesundheitsbalken war der einzige, der noch immer in meinem Sichtfeld schwebte.
Ich blinzelte. Der
Gesundheitsbalken glitt nach oben und verschwand.
Warte mal eine
Sekunde! Ich blinzelte erneut. Sofort war der Balken zurück, lebensgroß und
zweimal so hässlich wie zuvor. Er zeigte die Zahl 69,31792 %. Aha!
Ich konzentrierte mich
auf die Zahl. Nichts geschah.
Ich blinzelte erneut.
Mit demselben Ergebnis.
Die Zahl ärgerte mich.
Wenn ich doch bloß die Gesamtzahl meiner Vitalitätspunkte sehen könnte!
Prompt verschwand die
Zahl und wurde durch eine neue ersetzt:
6.238/9.000
Wie, einfach so? Ich
musste einfach nur einen Gedanken darauf verwenden?
Wie auch immer. Ich
musste mich damit wirklich einmal gründlich befassen, Fertigkeiten,
Statistiken, der ganze Kram. Aber zuerst einmal musste ich die ganzen ekligen
Schwächungen ergründen, die ich offensichtlich bereits erlitten hatte. Wie
konnte ich mein Leben wieder auf die erforderlichen 9.000 bringen?
Allerdings, auch das
konnte erst einmal warten. Leben, Erfahrungspunkte, all das. Zunächst hatte
Priorität, herauszufinden, ob dies alles das wirkliche Leben war oder nicht.
Gerade hatte ich
diesen Gedanken beendet, als über den Asphalt zu meinen Füßen ein Schatten
fiel.
„Entschuldigen Sie
bitte.“
Ich schaute hoch. Ein
alter Mann in merkwürdiger Kleidung mit einem Hut stand vor mir und starrte zu
Boden.
Meine guten Manieren
gewannen die Oberhand. Ich sprang auf. „Kann ich Ihnen helfen? Möchten Sie sich
setzen?“
Ich warf einen Blick
auf die Allee. Es gab jede Menge freier Bänke. Schließlich waren die meisten
Leute noch bei der Arbeit.
„Ich danke Ihnen“,
sagte der alte Mann mit schwacher, lispelnder Stimme. „Das ist sehr nett von
Ihnen. Der Grund, warum ich Sie angesprochen habe, ist der – ich kann nicht gut
gehen. Aber ich muss jeden Tag einen Spaziergang machen. Also gehe ich zu
dieser Allee und marschiere hier auf und ab, auf und ab. Dann bin ich
gezwungen, mich zu setzen und die Zeitung zu lesen. Es ist nämlich sehr gut für
den Geist, eine frische Zeitung zu l…“
Er hatte eine
merkwürdige, steife Art zu sprechen. Fast wie ein Protagonist aus einem Buch.
Ich nickte mehrfach, um ihm zu zeigen, dass ich ihn verstand, und versuchte die
ganze Zeit, seinen Blick einzufangen, doch er wich mir aus, blickte auf den
Boden zu meinen Füßen.
Er trug leichte
Sommer-Slipper, ein an den Ellbogen geflicktes, schäbiges Jackett und viel zu
große, schlabberige Jeans, die ihm bis zu den Achselhöhlen reichten und von
einem Gürtel mit einer funkelnden Schnalle aus Stahl gehalten wurden. Auf der
Schnalle stand Jamiroquai.
Ausgerechnet! Es sah verdächtig wie ein Osterei aus, das die mysteriösen
Designer dieses flotten NPCs erdacht hatten.
Ich unterdrückte ein
Kichern. Der alte Herr hielt inne und schaute mir überrascht direkt in die
Augen.
Herr Samuel „die Ratte“ Panikoff
Alter: 83
Ich hätte mich vor
Lachen auf dem Boden wälzen können. Die Ratte?
Ich betrachtete ihn näher, was eine Reihe weiterer Informationen auslöste.
Derzeitiger Status: Pensioniert
Level des sozialen Status: 27
Klasse: Büroarbeiter. Level: 8
Witwer.
Kinder: Natalia, Tochter
Alter: 54
Enkel: Max, Enkelsohn
Alter: 31
Vorstrafen: Ja
„Herr Panikoff? Wenn
ich fragen darf …“
Der alte Mann wandte
den Blick ab und lispelte: „Sie haben Glück, dass wir uns nicht im Jahr 1936
befinden, junger Mann. Wenn Sie damals ein junger Mann auf der Straße mit Namen
ansprach, konnte es nur eines bedeuten. Und zwar nichts Gutes. Ich war damals
natürlich nur ein kleines Kind, aber ich habe eine Menge Geschichten über heimliche
Verhaftungen gehört. Ich für meinen Teil muss mich entschuldigen, dass ich
diese Höflichkeit nicht erwidern kann. Ich bin mir ganz sicher, ich kenne Sie
nicht. Ich mag zwar alt sein, aber ich habe ein hervorragendes Gedächtnis
sowohl für Namen, als auch für Gesichter.“
Der Kerl war definitiv
ein Bot. Bots besitzen ein absolutes Gedächtnis, richtig? Andererseits hätte
ein NPC niemals Erstaunen darüber gezeigt, von mir mit Namen angesprochen zu
werden. Was dieser Typ getan hatte. Um genau zu sein, schien ihm das sogar
großes Unbehagen zu bereiten.
„Haben Sie etwas
dagegen, wenn ich mich setze?“, fragte er.
„Ich heiße Philip“,
murmelte ich. „Aber Sie können mich Phil nennen.“
„Nun denn, Phil …“ Der
alte Herr setzte sich, nahm seinen Hut ab und glättete sein schüttere Haar.
„Woher kennen Sie mich? Warten Sie einen Augenblick … Ich hatte die Ehre, einen
Kurs in Marxismus zu lehren. Wann war das doch gleich? Neunzehn …
neunzehnhundert … irgendwann in den sechziger Jahren …
„Bitte, mein Herr“,
unterbrach ich ihn. „Sie kennen mich wirklich nicht. Es ist nur so, ich habe
Max getroffen. Er ist Ihr Enkel, nicht wahr? Seine Mutter Natalia hat mir eine
Menge über Sie erzählt. Ich hege großen Respekt für Sie und Ihre Erfolge.“
Das meinte ich
ehrlich. Verglichen mit dem Alkoholiker Alik mit seinem mageren Level 4 und der
wahrscheinlich diebischen Verkäuferin mit ihrem Level 9 hatte dieser Kerl den
Level 27 erreicht! Wenn das mal nicht eine reife Leistung war! Er musste
verdammt viel Arbeit in das Erreichen seiner Level gesteckt haben.
Nur zu gern hätte ich
meinen eigenen Level erfahren. Aber wie sollte ich an diese Information
herankommen?
Der alte Mann
entspannte sich sichtlich. Offenbar war er mit meiner Erklärung zufrieden. „Oh,
das war gar nichts. Ich habe einfach nur meinem Land gedient. Zu der Zeit haben
wir das alle getan. Nicht wie die jungen Leute heutzutage, die nichts lieber
tun, als ins Ausland zu gehen. Mein Max denkt ebenfalls daran, zu emigrieren!
Aber als ich in seinem Alter war …“
„Ich bin vollkommen
Ihrer Meinung.“ Ich schlurfte mit den Füßen über den Asphalt und zündete mir
eine neue Zigarette an. Inzwischen musste ich ziemlich dringend aufs Klo. „Es
tut mir sehr leid, aber ich fürchte, ich muss jetzt gehen.“
„Natürlich … Phil.
Selbstverständlich.“ Er hielt inne und fuhr dann unsicher fort: „Der Grund,
warum ich Sie angesprochen habe, ist der – ich kann nicht gut gehen. Aber ich
muss jeden Tag einen Spaziergang machen. Also gehe ich zu dieser Allee und
marschiere hier auf und ab, auf und ab …“
Verdammt! Also war er
doch ein NPC! Selbst Chat-Bots sprechen natürlicher als er. Ich musste das
unbedingt überprüfen.
„Entschuldigen Sie,
mein Herr“, unterbrach ich ihn. Ich wusste, das war nicht sehr höflich, aber
wenn ich mich tatsächlich in einer
virtuellen Realität befand, musste die Höflichkeit einfach warten. Ich musste
der Sache auf den Grund gehen. „Wer war im Jahr 1941 Präsident der
Sowjetunion?“
Er schüttelte so
heftig den Kopf, dass ich beinahe Angst hatte, sein dürrer Hals könnte brechen.
„Im Jahr 1941 gab es in der UdSSR keinen Präsidenten! Die Führung über das Land
lag in den Händen von Kamerad Joseph Stalin, Generalsekretär des
Zentralkomitees der kommunistischen Partei!“
Er war definitiv ein
Bot. Und noch dazu ein ziemlich primitiver. Konnte ich ihm vielleicht noch
andere Fragen stellen?
Ich hatte keine Zeit
für einen gründlichen Turing-Test, also entschloss ich mich zu improvisieren.
„Darf ich Sie noch etwas fragen?“
„Ich habe es nicht
eilig, mein lieber Phil.“
„Trinken Sie lieber
Brandy oder Wodka?“
„Wasser. Und vorher
trank ich nur den besten Brandy, den ich ergattern konnte.“
„Arsenal oder Real
Madrid?“
„Was für ein Unfug!
Die beste Fußballmannschaft diesseits des Atlantiks ist Zenith! Der feinste
Club in Leningrad – oder, wie man es ja heutzutage nennt, St. Petersburg.“ Ganz
klar artikulierte er den Namen der Stadt, dann brach er in das Lachen eines
glücklichen Kindes aus.
„Bingo!“, murmelte
ich.
Er war echt. Kein NPC
wäre solch skurriler Gedankengänge fähig gewesen.
Der alte Mann starrte
mich an. „Was meinen Sie?“
Ich schenkte ihm ein
strahlendes Lächeln. Das war also tatsächlich die wirkliche Welt. Und was noch
besser war, ich schien der Einzige hier zu sein, der im Besitz einer solch
seltenen, nützlichen Fähigkeit war. Ich sollte ihm wirklich helfen. „Ist schon
in Ordnung. Tut mir leid, dass ich Sie dauernd unterbreche. Was wollten Sie von
mir?“
„Wie ich schon sagte,
ich kann nicht gut gehen. Aber ich muss jeden Tag einen Spaziergang machen. Also
gehe ich zu dieser Allee und marschiere hier auf und ab, auf und ab …“
Was war das denn jetzt
wieder? Das hatte er mir doch bereits zweimal erklärt! Er wiederholte immer
wieder dieselben Sätze, wie eine Schallplatte mit einem Sprung … Oder eine
Skriptvorlage mit einem Fehler.
„Tut mir leid, meine
Gedanken schweifen ab“, stoppte er sich plötzlich selbst. „Ich glaube, das
hatte ich Ihnen bereits gesagt. Um es kurz zu machen – manchmal werde ich dabei
so müde, dass ich gezwungen bin, mich zu setzen und die Zeitung zu lesen. Es
ist nämlich sehr gut für den Geist, eine frische Zeitung zu lesen. Ohne
Zeitungen fühle ich mich ganz tot. Was für eine Art von Leben erwartet man denn
einen alten Mann wie mich zu haben? Ich lese Zeitungen, um über das auf dem
Laufenden zu bleiben, was in der Welt geschieht. Sportveranstaltungen finde ich
besonders faszinierend. Leider habe ich ausgerechnet heute vergessen, die
neueste Ausgabe des Sport Express zu
kaufen, was ich sonst immer auf dem Weg hierher tue. Das bedeutet also, ich
kann die Zeitung erst auf dem Weg nach Hause kaufen. Ich fürchte nämlich, ich
bin nicht in der Lage, den ganzen Weg zurück zum Zeitungskiosk und dann wieder
hierher zu gehen. Was bedeutet …“
„Was bedeutet, dass
Sie jetzt nichts zu lesen bei sich haben.“
„Sie sind sehr umsichtig.
Deshalb wüsste ich es wirklich zu schätzen, wenn Sie mir die neueste Ausgabe
des Sport Express besorgen könnten.
Ich bezahle Sie dafür natürlich.“
Sofort schoss eine
große Systemmitteilung in mein Sichtfeld und verbarg die Hälfte meiner
Umgebung.
Eine Quest!
Sport bringt die Welt zusammen
Herr Samuell Panikoff, pensioniert, bittet
dich darum, ihm die neueste Ausgabe des Sport Express zu besorgen, damit er sich auf seinem
einsamen Spaziergang daran erfreuen kann.
Erforderliche Zeit: 30 Minuten
Belohnungen:
Erfahrung, 10 Punkte.
Ansehen bei Herrn Panikoff, 5 Punkte.
Derzeitiges Ansehen: Gleichgültigkeit
(0/30).
Und wie bitte sollte
ich diese Aufgabe jetzt akzeptieren? Wo war die entsprechende Schaltfläche? Ich
schaute mich überall um, doch da war nichts.
Also sagte ich
einfach: „Kein Problem, mein Herr. Ich besorge Ihnen die Zeitung. Bleiben Sie
einfach hier sitzen.“
„Ich werde mich nicht
vom Fleck rühren“, versprach er mit einem geheimnisvollen Lächeln.
Die Mitteilung verblasste.
Quest akzeptiert, sagte eine Stimme in
meinem Kopf.
Irgendwo in der
Peripherie meines Sichtfeld blinkte ein Ausrufezeichen. Ich konzentrierte mich
darauf. Es öffnete sich eine Quest-Liste. Darin befand sich jedoch nur eine
einzige Quest – diejenige, die ich gerade angenommen hatte.
Ich salutierte dem
alten Mann, drehte mich um und beeilte mich, ihm seine Zeitung zu besorgen.
Das erste Mal seit
Jahren fühlte ich mich in der wirklichen Welt ganz in meinem Element.
Kapitel vier. Die Allianz und ihr großer Sieg
„Ich hab da vielleicht was für dich.“
Warcraft III
DEN WEG zurück zum Zeitungskiosk
hüpfte und tänzelte ich. Was war doch gleich der Name des Spiels, in dem ich
gelernt hatte, mich so zu bewegen? Wenn man nämlich hüpfte und tänzelte, erschwerte
das dem Feind, einen anzuvisieren. Das wurde gefolgt von Elder Scrolls III –
Morrowind mit seiner Akrobatik. Am Ende hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht,
zu hüpfen, zu springen und zu tänzeln, wann immer ich in der virtuellen
Realität unterwegs war. Und nachdem dies jetzt für mich ein Spiel war, konnte ich diese Art der
Fortbewegung ja auch im richtigen Leben übernehmen, oder etwa nicht? Natürlich
immer vorausgesetzt, dies war das
richtige Leben. Und ich hatte nicht den Verstand verloren.
Unterwegs machte ich
in einem Schnellrestaurant Halt, wo ich schnell die Toilette aufsuchte. Das
verschaffte mir +2 % Zufriedenheit. Anschließend setzte ich meine Quest fort.
Während ich mir meinen
Weg vorbei an Plakaten und den vielbeschäftigten Passanten suchte, die sich auf
dem Gehweg tummelten, dachte ich weiter nach. Für den Abschluss dieser Quest
konnte ich 10 Erfahrungspunkte gewinnen. Was bedeutete, dass ich theoretisch
auch ein höheres Level erreichen konnte. Die Beziehung zwischen Level und
Status in der realen Welt war mir noch immer nicht klar. Herr Panikoff, der
Rentner, war sehr viel weiter fortgeschritten als der arbeitslose Alik. Der wiederum
physisch weitaus stärker war als der alte Mann. Ich konnte mich allerdings auch
irren und der soziale Status hatte mit dem Level eines Spielers nichts zu tun.
Sagte ich gerade
„Spieler“? Verzeihung – ich meinte natürlich Menschen.
Auf halbem Weg zum
Zeitungskiosk verpasste mir die Realität einen grausamen und unerwarteten
Schlag: Ich geriet außer Atem. Keuchend hastete ich weiter, in der Hoffnung, am
Ende sowohl mein Durchhaltevermögen als auch meine sportlichen Fähigkeiten
verbessern zu können.
Nach weiteren zwei
Minuten erzwungenen schellen Gehens begann mein Kopf zu dröhnen. Meine Zähne
schmerzten, und in den Beinen spürte ich ein brennendes Gefühl. Ich japste,
rang nach Atem und konnte einfach nicht genug Luft in meine Lungen pressen.
Das war doch verrückt!
Was zum Teufel tat ich da? Warum musste ich denn unbedingt laufen? Dies war
schließlich das reale Leben, um Himmelswillen! Was dachte ich mir bloß? Es gab
hier weder Quests noch Level! Ich drehte wohl gerade durch …
Ich hielt an. Meine
Lungen explodierten mit einem Anfall Übelkeit erregenden, Schleim
produzierenden Hustens. Ich beugte mich über einen Abfallkorb und spuckte
hinein. Dabei fiel mein Blick auf den widerlichen Inhalt. Ich würgte, musste
mich übergeben, und mein gesamtes Frühstück landete im Abfall.
Wütend betrachtete ich
die neue Systemmitteilung, die vor meinen Augen erschienen war. Offensichtlich
hatte meine Lebenskraft sich auf null reduziert und ich musste mich erst einmal
ausruhen!
Die Mitteilung passte
zu genau auf meine Situation, als dass da ein Zufall vorliegen konnte. Und sie
kam zeitlich so sehr zum richtigen Zeitpunkt, dass sie unmöglich eine
Halluzination sein konnte. Verdammt!
Mein Kopf ignorierte
all meine Zweifel und stürzte sich begeistert auf die vertraute Welt der
Spielestatistiken und -eigenschaften.
Mein
Durchhaltevermögen musste wirklich absolut lachhaft gewesen sein. Wahrscheinlich
sogar noch schlechter als das meines neuen Freundes, Herr Panikoff. Ich musste
unbedingt Fortschritte erzielen. Bloß, wie stellte ich das an? Sollte ich
vielleicht morgens joggen gehen? Oh nein! Alles, nur das nicht. Vielleicht
konnte ich mich stattdessen auf Fortschritte bei der Intelligenz konzentrieren.
Nachdem ich wieder zu
Atem gekommen war und die letzten Reste meines Frühstücks ausgespuckt hatte,
zündete ich mir eine Zigarette an. Eine weitere Systemmitteilung informierte
mich prompt über die Schwächung durch Giftzufuhr, die ich gerade erhalten
hatte. Unterstützt wurde dies durch einen langsam ansteigenden Schadenszähler.
Es war mir egal. Ich
musste einfach diesen ekligen Geschmack im Mund loswerden.
Dann ging ich weiter,
nun erheblich langsamer.
Sobald ich die Zeitung
gekauft hatte, erschien in meinem Sichtfeld eine neue Mitteilung: Ich hatte den
Gegenstand meiner Quest erhalten. Ich blätterte durch die Seiten, fand
allerdings nichts Besonderes an der Zeitung. Wie gut, dass er mich nur gebeten
hatte, ein einziges Exemplar zu besorgen und nicht gleich ein Dutzend, was die
NPCs, die Quests an Spieler verteilten, normalerweise machen.
Ich grinste, als ich
darüber nachdachte. Herr Panikoff möchte,
dass du ihm zehn Weisheitszähne von örtlichen Straßengangstern bringst …
Das wäre doch mal eine Quest!
Ich dankte der
Zeitungsverkäuferin (Level 5; Frau
Zinaida Nikolaeva, Alter: 60) und kehrte zu dem alten Herrn zurück.
Herr Panikoff war noch
immer da. Er saß in derselben Haltung auf der Bank, wie er sie eingenommen
hatte, als ich aufgebrochen war, blinzelte in die Sonne und summte etwas. In
der Nähe gurrten und flatterten ein paar Tauben.
„Herr Panikoff …“
„Ah! Phil, mein
Freund!“ Der alte Mann nahm die Zeitung entgegen, hielt sie sich vor die Nase
und atmete tief ein.
Ich wechselte von
einem Fuß auf den anderen und wartete geduldig auf den Abschluss der Quest.
„Ich liebe den Geruch
frischer Zeitungen“, erklärte der alte Mann. „Er hat etwas Bezauberndes an sich. Hier ist Ihr Geld, vielen Dank. Ich weiß Ihre
Hilfe wirklich zu schätzen!“ Er hielt mir eine Handvoll Kleingeld hin, das er
wohl zusammengeklaubt hatte, während ich unterwegs war.
Ich nahm das Geld und
wartete auf die Systemmitteilung. Nichts geschah. Ich betrachtete das Geld in
meiner Hand, dann den alten Mann mit der Zeitung. Nichts.
Er schlug die Zeitung
auf. „Gütiger Himmel! Ich kann es nicht glauben! Manchester ist voller
Überraschungen!“
„Warum, was haben sie
denn gemacht?“, fragte ich mechanisch.
Die Abwesenheit einer
Mitteilung über den Abschluss der Quest beunruhigte mich ein wenig. Könnte ein
Fehler vorliegen? Ich konzentrierte mich auf das Ausrufezeichen, das sich auch
öffnete, jedoch nur ein leeres Drop-Down-Menü enthüllte.
Die Quest war doch
erledigt, oder etwa nicht? In diesem Fall, wo waren meine Erfahrungspunkte? Wo
war mein schwer verdientes Ansehen?
„Was sie gemacht
haben?“, wiederholte er. „Sie sind gerade englischer Meister geworden, das
haben sie gemacht! Genau das habe ich neulich Valiadis erklärt! Ich habe
gesagt, Manchester City, das ist eine Mannschaft, die man nicht unterschätzen
darf! Guardiola ist ein echtes Genie. Und ausgesprochen zäh. Mit ihm würde ich
mich nicht anlegen. Er trainiert das Team.“
Er schaute von der Zeitung
auf und warf mir einen erwartungsvollen Blick zu. Das brachte seine
Namensbeschriftung wieder in mein Blickfeld. Sie schwebte über seinem Kopf.
Jawohl!
Herr Samuel „die Ratte“ Panikoff
Alter: 83
Derzeitiger Status: Pensioniert
Level des sozialen Status: 27
Klasse: Büroarbeiter. Level: 8
Witwer.
Kinder: Natalia, Tochter
Alter: 54
Enkel: Max. Enkelsohn
Alter: 31
Vorstrafen: Ja
Ansehen: Gleichgültigkeit (5/30)
Es hatte funktioniert!
Unsere glorreiche Allianz hatte eine weitere Schlacht gewonnen!
Wenn ich
Ansehenspunkte erworben hatte, musste ich mir auch Erfahrungspunkte gesichert
haben. Irgendwo waren die versteckt. Ich musste wirklich dringend herausfinden,
wie ich sie überwachen konnte.
Ich nickte. „Sie haben
völlig recht, mein Herr.“
„Um genau zu sein,
mein Freund …“ – die Stimme des alten Mannes wurde kraftvoller, und er lispelte
auch nicht mehr – „ich rate Ihnen, sich den Namen gut zu merken. Valiadis. Er ist ein sehr kluger Mensch.
Eines Tages werden Sie vielleicht noch glücklich darüber sein, dass Sie sich an
ihn erinnern.“
Ich nickte wieder,
ohne völlig zu verstehen, was er mir sagen wollte. Eine neue Mitteilung, die
ich vorher gar nicht bemerkt hatte, trat deutlicher hervor.
Dein Ansehen bei Herrn Samuel „die Ratte“
Panikoff hat sich verbessert!
Derzeitiges Ansehen: Gleichgültigkeit
(5/30)
Aha! Anscheinend
folgte dieses Spielsystem den üblichen Regeln. Was bedeutete, die Haltung von
jemandem mir gegenüber konnte auf einer Skala zwischen Hass und Verehrung
liegen. In diesem besonderen Fall würde meine Beziehung zu Panikoff, sobald ich
30 Ansehenspunkte gewonnen hatte, von Gleichgültigkeit zu Freundlichkeit
wechseln, gefolgt von Respekt, Hochachtung und schließlich Verehrung. Jedes
dieser Stadien hatte wiederum seine eigene Skala zwischen null und der Anzahl
an Punkten, die erforderlich waren, um das nächste Level zu erreichen, wie hoch
diese auch immer war. Je höher das Ansehen, desto mehr Punkte musste ich
verdienen, um ein weiteres Level aufzusteigen.
Und sollte mein
Ansehen bei Panikoff aus irgendwelchen Gründen unter null sinken, würde es sich
in negatives Ansehen verwandeln, von Abneigung über Feindseligkeit bis hin zu
Hass.
Gefühle aus der
wirklichen Welt wie Liebe und Freundschaft fehlten allerdings auf dieser Skala.
Verfügten diese Emotionen etwa auch über ihre eigenen, sorgfältig kalibrierten
Balken?
Nun gut, falls das
alles keine Halluzination war, geboren aus der Überforderung meines Gehirns,
hatte ich viel Zeit, genau das herauszufinden.
Ich hätte mich gern
von dem alten Mann verabschiedet, doch der war unempfänglich für seine Umgebung
und völlig versunken in seine Sportnachrichten. Na, egal. Ich sagte ihm
trotzdem auf Wiedersehen und machte mich eilig auf den Weg nach Hause.
Ich hätte ihn wirklich
über seinen Spitznamen ausfragen sollen. Die
Ratte … Stammte der Spitzname vielleicht aus seiner Zeit im Gefängnis?
Möglich war das. Es konnte ohne weiteres während Stalins Säuberungsaktionen
nach dem Krieg verhaftet worden sein.
Zurück zu Hause zog
ich die nassen Turnschuhe aus, die Socken und auch die Hose, die bis zu den
Knien feucht geworden war. Ich stopfte alles in die Waschmaschine und stellte
die Turnschuhe draußen auf den Balkon zum Trocknen in der Sonne.
Dort machte ich es mir
auf dem wackeligen Hocker gemütlich und zündete mir eine weitere Zigarette an.
Ich tendierte zum Kettenrauchen, wenn ich nervös oder aufgeregt war. Am Tag
danach war mir dann immer schlecht, was mich überlegen ließ, mit dem Rauchen
aufzuhören. Das hielt jedoch immer nur ein paar Tage an. Sobald mein Körper
sich von den giftigen Substangen befreit hatte, die ich am Tag zuvor inhaliert
hatte, kam die Nikotinsucht ganz unweigerlich zurück.
Ich zog heftig an
meiner Zigarette und betrachtete meine Turnschuhe. Wenn das tatsächlich ein
Spiel war … welchen Status hatten dann wohl meine Schuhe?
Wahrscheinlich war es
etwas wie:
Ein skandalöses Paar schäbiger
Unglücks-Turnschuhe
Attraktivität: -9
Beweglichkeit: -6
Langlebigkeit: 3/60
Wie bescheuert ich
war! Ich verbrachte zehn bis zwölf Stunden im Spiel, nur um ein Stück virtuelle
Ausrüstung upzugraden, während ich nicht den geringsten Wunsch verspürte, im
wirklichen Leben ein Paar körperlich sehr greifbare Schuhe zu ersetzen!
Ich gähnte. Es war
schon fast Mittag. Ich sollte mich wirklich daran machen, die Wohnung
aufzuräumen und zu putzen und das Abendessen auf dem Tisch haben, wenn Yanna
zurückkehrte. Dann konnte ich mich dem Angriff anschließen und den neuen
Dungeon mit einem guten Gewissen endlich abschließen.
Ich drückte die Zigarette
aus, stellte den Wecker auf 16:00 Uhr und legte mich ins Bett.
Beim Einschlafen wurde
mir klar, dass ich eigentlich gar kein großes Interesse am Angriff hatte. Aus
irgendeinem Grund war ich überhaupt nicht in Stimmung für ein Computerspiel.
Stattdessen schien meine Spielsucht sich zunehmend auf das wirkliche Leben zu
konzentrieren.
Als der Wecker
schrillte, war ich schweißgebadet. Mein gesamter Körper schmerzte. Der
Geschmack in meinem Mund erinnerte mich an die Latrine in Orgrimmar. Boris, die
Katze, bearbeitete meinen Brustkorb mit ihren Pfoten, zur Erinnerung an ihre
Essenszeit.
Ich hatte Boris auf
der Straße aufgelesen, zu einer Zeit, als die Top-Gilden der Welt sich gerade
erst über Illidan herzumachen begonnen hatten. Ich hatte ihn – sie – nicht
einmal richtig betrachtet. Damals war es nur ein pudelnasser Ball roter Pelz
gewesen. Ich hatte den Ball nach Hause gebracht, in der Küche auf den Boden
gesetzt und ihm eine Untertasse mit Milch angeboten. Das Kätzchen hatte sich
sofort darüber hergemacht. Während es schleckte, hatte ich mir einen Namen
überlegt: Boris.
Eine gewisse Zeit
später informierte einer meiner Freunde mich netterweise darüber, dass mein
Boris überhaupt kein Boris war.
„Hey, er ist eine
sie!“, hatte er mir erklärt.
Ich weiß noch immer
nicht, warum er unbedingt das Hinterteil von Boris untersuchen musste. Hatte er
etwa einen Katzenfetisch?
Schließlich, welche
Rolle spielt denn am Ende das Geschlecht einer Katze?
So hatte ich gedacht.
Aber ich hatte mich gewaltig geirrt.
Im nächsten Frühjahr
war unser Boris komplett durchgedreht. Sie schrie mit einer grässlich schrillen
Stimme und verlangte nach einem Partner, während sie unruhig in der Wohnung
herumlief, den Hintern in die Höhe gestreckt. Ich musste sie sofort
sterilisieren lassen.
Sobald ich dann Yanna
kennengelernt hatte, eine ultimative Hundeliebhaberin, nahm Boris‘ Leben eine
Wendung zum schlechteren. Denn Yanna besaß einen Chihuahua. Sein Name war Boy.
Boy fasste sofort eine tiefe Abneigung zu Boris, und dieses Gefühl wurde gründlich
erwidert.
Lange Zeit hatte Yanna
versucht, mich zu überreden, Boris loszuwerden. Ihr zufolge waren Katzen
absolut nutzlose Lebewesen. Sie verloren Haare, kosteten Geld für Futter und
Katzenstreu und machten sich heutzutage nicht einmal mehr die Mühe, Mäuse zu
fangen. Was ihrer Meinung nach bedeutete, es gab keinen Grund, sie im Haus zu
haben. Als ich im Gegenzug die nützlichen Eigenschaften von Boy infrage stellte
– ich hatte darauf hingewiesen, dass es in der heutigen Zeit ziemlich
ungewöhnlich war, von Haustieren zu erwarten, dass sie selbst für ihren
Lebensunterhalt sorgten –, war Yanna ernsthaft beleidigt. Das war eine unserer
ersten Auseinandersetzungen gewesen.
Das Problem hatte sich
auf natürliche Weise gelöst. Eines Tages gingen wir aus und ließen beide Tiere
zu Hause. Boris‘ Katzenklo stand auf dem Balkon, also ließen wir die Balkontür
offen.
Ich habe keine Ahnung,
wie es passieren konnte. Jedenfalls schaffte es der kleine Chihuahua irgendwie,
sich aus dem achten Stock in den Tod zu stürzen. Wir fanden seinen zerschmetterten
Körper unter dem Balkon. Yanna war am Boden zerstört. Ich borgte mir von den
Kindern nebenan eine Spielzeugschaufel und vergrub Boy auf dem unbebauten
Grundstück hinter der Reihe der Gemeinschaftsgaragen.
Seitdem kannte Yannas
Hass Boris gegenüber keine Grenzen. Sie weigerte sich, irgendetwas für die
Katze zu tun. Sie zu füttern und ihr Katzenklo zu säubern, das war
ausschließlich meine Aufgabe.
Die Katze musste
bemerkt haben, dass ich wach war. Sie miaute und verlangte nach Aufmerksamkeit.
Ich stieg aus dem Bett und streckte mich. Meine Gelenke kreischten ihren
Protest. Nach dem Lauf zum Zeitungskiosk am Morgen tat jeder Muskel in meinem
Körper weh.
Die Erinnerung an
diesen merkwürdigen Morgen kehrte zurück. Ich kämpfte vergebens damit, die
Realität von dem Traum zu unterscheiden, den ich gerade geträumt hatte.
Ich griff mir Boris
und schaute ihr tief in die Katzenaugen.
Jawohl!
Boris. Eine weibliche Katze
Alter: 9
Derzeitiger Status: Haustier
Eigentümer: Philip Panfilov
Einen Augenblick mal –
und was war mit ihrem Level? Mit ihrem sozialen Status? Das ergab keinen Sinn!
Ich versuchte, mich
stärker zu konzentrieren. Ich erwartete, dass die Mitteilung sich dadurch
erweiterte, doch Boris sprang zu Boden, schüttelte sich und begann sich zu
putzen. Dabei warf sie beleidigte Blicke in meine Richtung.
Endlich musste ich in
diesem geheimnisvollen Spielsystem den richtigen Klick ausgelöst haben. Es
erschien eine neue Zeile in den Statistiken meines Haustiers:
Beziehung: Verehrung 10/10
Verehrung? Ganz sicher
nicht!
Meine Lippen verzogen
sich zu einem glücklichen Grinsen. „Boris, ich liebe dich auch!“
Es war also doch kein
Traum gewesen. Mein Ansehen bei Boris befand sich beim Maximum. Geil, was?
Ich schaltete den
Fernseher ein und suchte nach einem Musiksender. Dann nahm ich Boris hoch und
begab mich mit Walzerschritten zur Küche.
Dort löffelte ich eine
großzügige Portion Katzenfutter in den Napf und begab mich ins Badezimmer, um
mich präsentabel herzumachen. Das war kein Spiel, Herr Panfilov. Hier wuschen
sich die Leute tatsächlich.
Ich duschte, putzte
mir die Zähne, rasierte mich, trocknete mich ab, zog saubere Unterwäsche, eine
Hose und ein T-Shirt an und kehrte in die Küche zurück.
Ich öffnete den
Kühlschrank und betrachtete seinen Inhalt. Schließlich musste ich entscheiden,
was ich zum Abendessen kochen würde. Wir hatten noch ein paar rohe Hähnchenschenkel
übrig, ein paar Kartoffeln und einen Bund anderes Gemüse. Ich könnte
Hühnersuppe machen. Das würde gleich für den nächsten Tag reichen. Es wurde
wirklich Zeit, einzukaufen.
Ich legte die
Hähnchenschenkel in einen Topf, fügte Wasser hinzu und stellte alles auf den
Herd, gerade als der Wasserkessel kochte. Ich häufte einen großzügigen Löffel
löslichen Kaffee in eine Tasse, gab Wasser und Zucker dazu, rührte um und ging
auf den Balkon hinaus.
Zu dieser Zeit hatte
Boris ihre Mahlzeit bereits beendet und sich entschlossen, mir Gesellschaft zu
leisten.
Ich trank meinen
Kaffee, rauchte und dachte nach. Die mittlerweile vertraute Systemmitteilung
informierte mich über den erhaltenen Nikotinschaden. Meine Vitalität schien
sich insgesamt jedoch verbessert zu haben. Wahrscheinlich hatte es etwas damit
zu tun, dass ich ein wenig geschlafen hatte und mein Körper zumindest einen
Teil des Alkohols vom Vortag losgeworden war. Noch immer war mein
Vitalitätsbalken allerdings nicht voll. Stattdessen steckte er bei 73 % fest.
Was zum Teufel geschah
gerade mit mir? Und warum? Ich musste wirklich herausfinden, was da los war.
Und ich musste versuchen, dieses verrückte System zu durchschauen.
Theorien hatte ich
verschiedene, doch keine davon schien überzeugend genug. Unentschlossen
versuchte ich eine Weile, auf meine eigenen Statistiken zuzugreifen. Die
konnten mir wenigstens einen Anhaltspunkt liefern.
Endlich entdeckte ich
ein kleines Symbol, oben rechts, beinahe außerhalb meines Sichtfeldes. Ich
richtete den Blick darauf und riskierte dabei, mir die Augäpfel zu verrenken.
Es funktionierte.
Daneben erschien ein weiteres Symbol.
Das erste Symbol
schien eine Liste meiner Buffs zu sein. Oder vielmehr Debuffs. Ich sah einen
großen, roten Buchstaben „N“, umgeben von Qualmwolken.
Eine Zeitkontrolle
über dem ersten Symbol zählte die Sekunden rückwärts:
116:31 … 116:30 … 116:29
Ein Ausrufezeichen
schwebte in mein Sichtfeld:
Nikotinsättigung
Dein Körper ist mit Nikotin gesättigt. Dein
Stoffwechsel ist um 15 % beschleunigt. Warnung! Dein Blut enthält große Mengen
an Kohlenmonoxid!
+3 Zufriedenheit
+2 Kraft
-1 Durchhaltevermögen
-1 Intelligenz
-1 Wahrnehmungsfähigkeit
Das zweite Symbol war
ein schwarzer Buchstabe „K“. Es berichtete über die erhaltene Koffeinstärkung
und meldete mir +2 Zufriedenheit und +10 Stoffwechsel und verbesserte,
allerdings nur geringfügig, Kraft, Konzentration und Reaktionszeiten.
Das Problem war nur,
ich hatte ja nichts, womit ich diese Zahlen vergleichen konnte. Über wie viel
Durchhaltevermögen verfügte ich insgesamt? Wenn das bei 100 Punkten lag, war
ein Punkt Abzug keine große Sache. Aber wenn die Gesamtzahl 10 Punkte waren,
fügte ich meinen Statistiken mit meinem Rauchen jedes Mal einen verdammt großen
Schaden zu!
Tief in Gedanken
versunken kehrte ich in die Küche zurück und begann, ein paar Kartoffeln zu
schälen, während das Huhn vor sich hin köchelte. Ich musste all die Jahre
wahnsinnig gewesen sein. Wer, der voll bei Verstand ist, fügt sich schon selbst
einen ständigen Debuff zu? Denn genau das war es, was ich mir mit all dem
Rauchen antat.
Ich beendete das
Kartoffelschälen, trank meinen Kaffee aus und machte mich daran, die Wohnung
aufzuräumen.
Wahrscheinlich war es
besser, Yanna nichts von all dem zu erzählen … Wenigstens einstweilen.
Release - March 25, 2019
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