Wednesday, January 30, 2019

Nächstes Level: Neustart von Dan Sugralinov



Neustart
Ein Roman
von Dan Sugralinov




Release - March 25, 2019



„Ein sehr gutes Buch. In den fünf Stunden, in denen ich es gelesen habe, existierte in meinem Leben nichts anderes mehr!“ – Vasily Mahanenko

„Enorm motivierend! Temporeich und leicht zu lesen. Das war die schlaflose Nacht wert. Und jetzt geht es weiter mit Buch 2!“ – Alexey Osadchuk

„Ein Autor im Genre der Rollenspiel-Literatur sieht sich der herausfordernden Aufgabe eines Drahtseilakts zwischen der tristen Normalität der Alltagsroutine und den fantastischen Abenteuern des Helden gegenübergestellt. Und letztere könnten sich als zu unrealistisch herausstellen, um einen skeptischen Leser zu überzeugen. In diesem Buch jedoch hat Sugralinov diesen Drahtseilakt erfolgreich gemeistert!” – Michael Atamanov

Phil ist dreißig Jahre alt, arbeitslos und leidenschaftlicher Gamer. Seine einzige Einnahmequelle ist das Schreiben von Artikeln – wenn er genügend Inspiration verspürt, um seinen alles andere als beliebten Blog zu bereichern. Kein Wunder also, dass er Probleme hat, über die Runden zu kommen. Seine Frau hat ihn gerade verlassen - ohne Geld, ohne Lebenssinn und ohne Essen im Kühlschrank.



An dem Tag, als seine Frau auszieht, wird Phils Gehirn auf mysteriöse Weise bereichert. In seinen Kopf scheint eine Spieloberfläche implantiert worden zu sein, die dafür sorgt, dass er die gesamte Welt durch die Augen eines RPG-Spielers betrachtet.

Phil entdeckt die Statistiken seines wirklichen Lebens. Dabei stellt er fest, dass diese verdammt unterdurchschnittlich sind. Seine Beweglichkeit liegt bei 4 Punkten, seine Stärke bei 6 Punkten und sein Durchhaltevermögen bei 3 Punkten. Die Fertigkeit, in der er am weitesten fortgeschritten ist, und das kommt wenig überraschend, ist das Spielen von Computerspielen.

Zum Glück können die Statistiken im wirklichen Leben ebenso gesteigert werden wie die virtuellen. Aber kann das Phil dabei unterstützen, seine Frau zurückzugewinnen? Kann es ihm helfen, nicht länger auf der Couch abhängen, sondern fitter zu werden? Oder erfolgreicher? Kann er seine in Computerspielen erworbenen Fähigkeiten endlich einmal im wirklichen Leben nutzen?

Und schließlich: Kann er herausfinden, wer dieses geheimnisvolle Spiel in sein Gehirn hochgeladen hat? Und wie soll er mit dieser unbekannten, aber augenscheinlich allmächtigen Macht umgehen?

Kapitel eins. Der Morgen, an dem alles begann



„Bitte, es muss doch etwas anderes geben, das ich tun kann. Zum Beispiel zwei Wochen lang jede Woche Ihren Rasen mähen. Nächste Woche kann ich nicht.”

Homer Simpson, Die Simpsons


ZUERST war das Spiel mein Leben. Und dann wurde mein Leben selbst zu einem Spiel.
Ich hatte im Leben versagt. Mit über dreißig konnte ich eine Ehefrau vorweisen, eine Reihe von jeweils einmaligen Freelance-Aufträgen, einen hochmodernen Computer, einen Schurkencharakter mit Level 110 in einem beliebten Rollenspiel und einen Bierbauch.
Außerdem schrieb ich Bücher. Nun ja, um genau zu sein, ein Buch. Das ich noch nicht abgeschlossen hatte.
Anfangs fühlte ich mich geschmeichelt, wenn mich jemand als Schriftsteller bezeichnete. Im Laufe der Jahre war ich allerdings gezwungen, der unangenehmen Wahrheit ins Gesicht zu sehen: Ich war kein Schriftsteller. Man hatte mir diese Bezeichnung nur deshalb verliehen, weil es kein anderes Etikett in den sozialen Medien gab, das mich beschreiben konnte.
Wer war ich also wirklich? Ein gescheiterter, einstmals allerdings vielversprechender Vertriebsmitarbeiter, der von einem Dutzend Firmen gefeuert worden war? Nicht gerade berauschend. Immerhin nennt sich heute jeder – und sogar deren Hunde - Online-Marketing-Guru.
Ich allerdings konnte überhaupt nichts verkaufen. Um ein Produkt zu bewerben, hätte ich davon überzeugt sein müssen. Ich konnte keinem Kunden etwas in dem Wissen aufschwatzen, dass er es so nötig brauchte wie einen Abfalleimer.
Eine Weile lang hatte ich leichtgläubigen Rentnern extrastarke Staubsauger verkauft. Ich hatte den Großstadt-Strebern, die sich von rehydrierten Lebensmitteln ernährten, die modernsten Wasserfilter angedreht. Ich hatte vorgefertigte Websites an Möchtegern-Existenzgründer vermarktet, die ihre erste Firma mit Hypotheken auf ihr Haus finanzierten. Ich hatte Online-Werbung verkauft, Pauschalreisen, Diätpillen und Wurmmittel.
Aber nichts davon lief. Ich verlor einen Job nach dem anderen. In meiner Freizeit betrieb ich sogar einen Blog (und, zugegeben, oft genug auch während meiner Arbeitszeit). Hier veröffentlichte ich Kurzgeschichten, um die wenigen Leser zu unterhalten, die ich gewinnen konnte. Das war für mich Grund genug, mich als ganz anständigen Internet-Marketingfachmann zu betrachten
Am Ende fand ich einen Job bei einer Firma, die nach jemandem suchte, der ihren Online-Shop betreute. Allerdings hatte bereits meine erste Besprechung mit dem Geschäftsführer meine absolute Inkompetenz enthüllt. Er hatte nach den Konvertierungsraten gefragt, nach dem durchschnittlichen Bestellwert, dem Grad des Kundenengagements, der Absprungrate, der Schuldentilgungsfähigkeit und all dem anderen Drum und Dran der Statistiken, die ich ihm hätte präsentieren müssen.
Anscheinend verlangte der Betrieb eines Online-Geschäfts mehr als nur das Bestücken eines Blogs mit amüsanten Artikeln, Kommentaren und Likes. Hatte ich meine Probezeit erwähnt? Man setzte mich auf die Straße, bevor sie abgelaufen war.
Dieser Fehlschlag traf mich bis ins Mark, und ich beschloss, mir jetzt endlich die nötigen Grundkenntnisse anzueignen. Ich lud mir unzählige Kurse, Lehrbücher und Video-Tutorials herunter und meldete mich sogar für ein paar Webinare an.
Dieser Eifer hielt genau eine Woche lang an. Die ersten fünf Tage erfreute ich mich an meinem neuen Status. Lange konnte die Zeit des Lernens schließlich nicht dauern – mit meiner Begeisterung und Gründlichkeit würde ich die Kunst des Online-Marketings in Nullkommanichts beherrschen.
Im Geiste sah ich mich bereits als beliebter Experte mit einer entsprechenden Kundenliste, als jemanden, der für sein Wissen auf dem Markt die höchste Bezahlung verlangen konnte. Endlich würde ich mir ein Haus und ein anständiges Auto kaufen können, mehrfach im Jahr Urlaub machen und all die Vorteile einer wöchentlichen Arbeitszeit von vier Stunden genießen.
Trotz meiner Euphorie war ich allerdings nicht gerade begierig darauf, mich ernsthaft mit all den Lernmaterialien zu befassen. Und im Laufe dieser fünf Tage ließ meine Begeisterung merklich nach. Am Ende befand ich mich in derselben Position wie zuvor. Als ich mich endlich am Riemen riss und mit dem eigentlichen Studium begann, wurde ich schnell von Stumpfsinn und Langeweile eingeholt. Am Ende des zweiten Tages musste ich mir eingestehen, dass ich für diesen Bereich einfach nicht geschaffen war.
Das nächste Jahr verbrachte ich damit, mich mit mageren Einnahmen aus den Werbeanzeigen in meinem Blog und ein paar Jobs als Freiberufler von der Hand in den Mund zu ernähren. Meine Frau Yanna glaubte noch immer fest an mich und mein angebliches Potenzial. Allerdings ließ ihre Geduld bereits nach. Sie war acht Jahre jünger als ich und damit in einem Alter, in dem ihre Freunde sich ständig über die besten Einkaufsorte und Urlaubsziele unterhielten. Während ihre Highlights darin bestanden, ihren bloggenden Ehemann hin und wieder zu einer Filmvorschau im geschlossenen Kreis zu begleiten. Unter den Umständen kann jeder seinen Glauben verlieren.
Aber dann muss man sich ja nur mal zum Beispiel Gabriel Garcia Marquez betrachten. Viele Jahre lang musste seine Frau das Geld für die Familie heranschaffen, während er, genau betrachtet, nichts anderes tat als zu essen, Kinder zu zeugen und das Buch Hundert Jahre Einsamkeit zu schreiben. Hatte sie in ihrem Glauben an ihn etwa jemals geschwankt? Nicht, dass ich wüsste.
Yanna allerdings war anders. Sie war jünger und kinderlos. Wahrscheinlich verlieh das ihren Worten zu dieser Zeit einen sarkastischen Unterton, wann immer ich mein Buch erwähnte.
Tatsächlich schien, als die Monate vergingen, ihr Respekt für mich zu schwinden. Das zeigte sich in vielen Kleinigkeiten, auf die ich anfangs gar nicht achtete.
Und was mein Buch betraf … Nun ja, sehen Sie, es hatte da einen Augenblick gegeben, in dem ich erkannte, dass ich bald dreißig werden würde, und absolut nichts dafür vorzuzeigen hatte. Mein Leben würde bald seinen Zenit erreichen, auf den unweigerlich der Abstieg erfolgen würde
Ich erinnere mich noch sehr gut an diesen Moment. Ich erwachte nach einer absolut geilen Party und beschloss, einen Bestseller zu schreiben. Angesichts meines Talents konnte nichts einfacher sein. Dachte ich.
Komischerweise erwies sich das Schreiben als harte Arbeit. Entweder hatte ich das Ausmaß meines Talents überschätzt, oder vielleicht – nur vielleicht – hatte ich dieses Talent auch niemals besessen. Mein Gehirn kämpfte mit Worten, die meine Finger anschließend wieder löschten.
Es hatte mich drei Monate gekostet, auch nur die erste Seite zu produzieren. Gleichzeitig berichtete ich in meinem Blog munter über meine fantastischen Fortschritte. Angeblich war ich bereits beim zwölften Kapitel. Meine Freunde boten mir ständig an, als Beta-Leser zu fungieren. Allerdings war ich mir ziemlich sicher, selbst wenn ich etwas vorzuzeigen gehabt hätte, sie wären nicht bei der Stange geblieben. Nun, es blieb die Tatsache, dass ich eben nichts vorzuzeigen hatte, also konnte ich diese Prämisse nicht überprüfen. Ich erklärte mein Widerstreben damit, dass ich keinen unfertigen Entwurf veröffentlichen wollte.
Als ich endlich das dritte Kapitel fertiggestellt hatte, konnte ich der Versuchung jedoch nicht länger widerstehen. Ich lud das ganze Teil ins Internet hoch und freute mich auf jede Menge Kommentare, Likes und die Meinung anderer Leute.
Vorher bat ich jedoch noch Yanna, es zu lesen. Sie weigerte sich.
„Ich will, dass du das Buch zuerst abschließt“, erklärte sie. „Und dann lese ich alles in einem Rutsch. Ich mag nichts, das sich noch in Arbeit befindet, ob es nun ein Buch oder ein Film ist.“
Sehr viel später las sie dann doch den fertiggestellten Teil des Romans. Aber zu dem Zeitpunkt glaubte sie wahrscheinlich schon nicht mehr daran, dass ich das verdammte Ding jemals zu Ende bringen würde.
Die Kapitel veröffentlichte ich allerdings nicht in meinem Blog. Stattdessen lud ich sie unter einem Pseudonym in einem beliebten Portal für Schriftsteller hoch.
In dieser Nacht ging ich voller Aufregung und Vorfreude zu Bett. So ähnlich hatte ich mich auch als Kind gefühlt, in der Nacht vor einem Angelausflug mit meinem Vater. Ich freute mich auf einen Tag voller Glück und Freude und am Ende Erfolg. Ich stellte mir vor, wie ich am Morgen aufstand, in aller Ruhe duschte, mich rasierte und mir die Zähne putzte, mir eine Tasse extrastarken Kaffee kochte, eine Zigarette anzündete und dann endlich die Seite mit meinem ersten Kapitel öffnete, wo ich nichts als überschwängliches Lob der Leser und Forderungen nach dem Rest des Buchs vorfinden musste.
Ich wachte etwa gegen Mittag auf und begab mich sofort zum Computer, noch bevor ich mir auch nur die Zähne geputzt hatte.
Nur zwei Seiten waren gelesen worden. Es gab keine Likes. Und nur einen Kommentar:

Ich konnte nicht zu Ende lesen, tut mir leid. Ich fürchte, das Schreiben ist nichts für dich.

In genau diesem Augenblick beschloss ich, das vermaledeite Ding fertigzustellen. Und sei es auch nur, um dieser Person den Mittelfinger zu zeigen. Ich rauchte eine halbe Schachtel Zigaretten und begann dann mit der Arbeit am nächsten Kapitel.
Nur, ich konnte nicht schreiben. Weder an dem Tag, noch am nächsten. Um ehrlich zu sein: Ich habe seitdem nicht eine einzige Zeile geschrieben.
Das lag nicht etwa daran, dass ich nicht gewusst hätte, worüber ich schreiben sollte. Ich konnte mich nur einfach nicht konzentrieren. Ständig war ich abgelenkt durch Mitteilungen in sozialen Medien, Nachrichten aus Chaträumen, unsere Katze Boris (über sie berichte ich später noch), den kalten Luftzug im Zimmer, Yanna, die Fliegen, den pfeifenden Wasserkessel, meine leere Kaffeetasse, die Artikel und Blogbeiträge, die ich lesen musste, meine Schläfrigkeit, den Beginn meiner Lieblings-Fernsehserie in fünf Minuten, ein Hungergefühl, die Sucht nach einer Zigarette und den unbequemen Hocker, den ich kurz darauf durch einen nicht weniger unbequemen Schreibtischstuhl ersetzte, den ich im Ausverkauf erstanden hatte … Alles, was man sich nur vorstellen kann, lenkte mich vom Schreiben ab.
Dabei habe ich das Spiel noch nicht einmal erwähnt.
Ja, genau. Das Spiel. Das Spiel, das schon seit geraumer Zeit mein Leben geworden war.
Im Spiel hatte ich Yanna kennengelernt, und im Spiel verbuchte ich die größten Erfolge meines Lebens. (Nein, das ist kein Witz. Das glaube ich wirklich.)
Unser Clan hatte es in der Rangliste bis auf die Nummer 2 gebracht. Wir wurden im wahrsten Sinn des Wortes mit Neubewerbungen überschwemmt. Wir konnten uns die neuen Spieler aussuchen, die wir in den Clan aufnahmen, und genau das taten wir auch. Wir konnten schließlich nicht Hinz und Kunz mitmachen lassen.
In meiner Funktion als Stellvertreter des Clanchefs war ich für eine Menge Dinge verantwortlich. Was mich ziemlich viel Zeit kostete. Den Spielern mit Geld pflegten wir verschiedene Dienste im Spiel anzubieten. Das sicherte einen schwachen Strom an Einnahmen, sowohl für den Clan als auch für dessen Führung. Wenn man diese Summen allerdings in echtes Geld umrechnete, war es lachhaft.
In der letzten Nacht waren wir eifrig mit der Untersuchung der neuen Updates beschäftigt gewesen. Die zu einem endlosen Frag-Fest aus Löschen und Wiederherstellen ausgeartet waren, während wir versucht hatten, den neuen Dungeon zu erobern. Dessen Boss wollte einfach nicht sterben. Die Luft im Voice Chat war vor lauter Flüchen ganz blau. Eine Wischzeit nach der anderen verging, ohne dass wir dafür etwas vorzuzeigen hatten. Aber wir gaben nicht auf, sondern versuchten es immer wieder. Nicht, dass es viel gebracht hätte.
Für viele von uns war das ihr Leben. Wir waren die typischen Hardcore-Computerfreak-Gamer, für die Leben, Erfolg und soziale Kontakte sämtlich in der virtuellen Realität stattfanden.
Im Spiel wurde jede unserer Handlungen sofort gemessen und belohnt – oder auch nicht belohnt, je nachdem -, und zwar mit greifbaren Leistungen wie Erfahrungspunkten, Gold, neuen Erfolgen, Ansehen und neuen Quests als Auszeichnung. Das machte die Beziehung zur Spielewelt einfach und logisch nachvollziehbar.
Das war wahrscheinlich der Grund, aus dem ich am Ende nur im Spiel ehrgeizig und motiviert war, aber nicht im wirklichen Leben.
Das war weiterhin der Grund, aus dem wir die neue Instanz unbedingt noch in derselben Nacht abschließen mussten, bevor die anderen Clans davon Wind bekamen.
Nur schafften wir es nicht.
Als wir endlich aufgaben und das Treffen auflösten, war es bereits früher Morgen. Ich war gerade eingeschlafen, die letzte, nicht ganz geleerte Bierdose noch in der Hand, als Yanna aufstand.
Ich kannte mal jemanden, der gern auf die Unterschiede in der toleranten Umsichtigkeit zwischen Frühaufstehern und Nachteulen hinwies. Letztere sind ihren Frühaufsteher-Freunden gegenüber sehr viel rücksichtsvoller. Sie bringen sie zu Bett und sorgen für Ruhe nach 21:00 Uhr. Den Frühaufstehern allerdings fehlt diese Charakterfeinheit. Sie lieben nichts mehr, als eine friedlich schlafende Nachteule vor dem Mittag aus dem Bett zu treiben. Yanna war da keine Ausnahme.
„Hey, es ist Zeit, aufzustehen! Das Frühstück ist fertig! Du hast schon wieder die ganze Nacht gespielt, richtig?“
Sie schaltete den Fernseher ein, öffnete die Fenster und veranstaltete einen Höllenlärm in der Küche.
„Phil Panfilov, steh jetzt auf, verdammt noch mal! Sonst komme ich zu spät zur Arbeit!“
Es war eines unserer Rituale, gemeinsam zu frühstücken. Es hatte zu einer Zeit begonnen, als wir lange schlaflose Nächte miteinander verbracht hatten. Entweder mit Computerspielen oder mit Sex. Seitdem Yanna ihren Abschluss gemacht und einen Job gefunden hatte, waren unsere Tagesrhythmen nicht mehr miteinander kompatibel. Trotzdem frühstückten wir meistens noch immer gemeinsam.
Mein Kopf bemühte sich gewaltig darum, das nervenzerrend fröhliche Geplapper einer Waschmittelwerbung auszublenden. Ich musste das verfluchte Gerät stumm schalten, bevor es mir noch das Hirn zerriss.
Ohne die Augen zu öffnen, tastete ich nach der Fernbedienung und stellte leiser. Ich taumelte ins Badezimmer, drehte den Hahn auf, verbrannte mich am heißen Wasser, fluchte, drehte den Kaltwasserhahn auf, schüttete mir etwas Wasser ins Gesicht, putzte mir die Zähne und schaute in den Spiegel.
Eine ziemlich mitgenommene Kreuzung zwischen einem Goblin und einem Ork starrte mich an, die einmal zu oft gerespawned hatte.
Ich brauchte dringend eine Rasur. Vielleicht. Irgendwann einmal.
Wir setzten uns an unserem kleinen Esstisch in der Ecke einander gegenüber. Ohne große Begeisterung mampfte ich mein Brot. Yanna trank ihren Kaffee und trug dabei geschickt ihr Make-up auf.
Ich erinnerte mich an unsere erste Begegnung. Ich hatte auf den Beginn eines neuen Spielangriffs gewartet. Zutiefst gelangweilt hatte ich beschlossen, mein Phönix-Reittier ein wenig auszuführen. Wir flogen gerade über Kalimdor, als ich auf einmal eine Priesterin auf einem niedrigen Level im lokalen Chat um Hilfe bitten hörte. Ihr Name war Healiann. Anscheinend hatte ein ekliger Tartar-Ganker sie verletzt. Da musste ich natürlich anhalten und ihm eine Lektion erteilen. Sie fügte mich ihrer Freundesliste hinzu. Ein paar Monate lang half ich ihr, ein Level nach dem anderen aufzusteigen. Schließlich unterhielten wir uns in einem Voice Chat. Dabei fanden wir heraus, dass wir in derselben Stadt lebten. Ich lud sie ein, sich unserem Clan anzuschließen. Und bei einem der von Alkohol beherrschten Treffen unseres Clans in der wirklichen Welt begegneten wir uns dann zum ersten Mal.
Yannas Stimme durchbrach die Stille. „Stehst du so sehr auf Blondinen?“
Was bitte sollte ich denn darauf antworten? Ich mag Blondinen, das stimmt. Ich mag aber auch Frauen mit dunklen Haaren, Rothaarige und Brünette. Als ich aufs College ging, war ich in dieses Mädchen verknallt, das sich die Haare blau gefärbt hatte. Später hatte sie sich den Kopf kahlrasiert. Ich hatte sie trotzdem nicht weniger geliebt.
Yanna war von Natur aus brünett, ging jedoch gerade durch eine Phase rabenschwarzer Haare.
„Die Haarfarbe ist mir egal“, erwiderte ich. „Und andere Frauen kümmern mich nicht. Du bist die einzige Frau, die ich in den letzten … ähm … vier Jahren geliebt habe.“
„Klar doch“, grinste Yanna, offensichtlich nicht gerade überzeugt. „Und wer ist dann die Blondine in deinem Buch? Aber wenigstens scheinst du dich erinnern zu können, wie lange wir schon zusammen sind.“
Ich verschluckte mich beinahe an meinem Schinken-Käse-Brot. Sie hatte recht. Die Hauptfigur in meinem Buch hatte sich tatsächlich in eine blonde Frau verliebt. Aber der Typ war schließlich nicht ich, verdammt noch mal!
Ich schluckte den Bissen hinunter und räusperte mich. „Nicht ich stehe auf Blondinen, sondern der Kerl im Buch. Der Hauptprotagonist.“
Sie betrachtete mich mit verengten Augen. „Und was bitte macht ihn dazu?“
Sie hatte die Wimperntusche nur bei einem Auge aufgetragen. Ihr Gesicht erinnerte mich an Two-Face von Gotham City. Nervös wippte sie mit dem Bein, bis ihr flauschiger Hausschuh durchs Zimmer flog. Das ist einfach eine ihrer Angewohnheiten.
„Nichts“, gab ich zu. „Er ist einfach nur ein Protagonist. Ich habe das Buch nur deshalb in der Ich-Form geschrieben, weil mir das leichter fällt.“
„Du bist ein Lügner! Glaubst du, ich sehe nicht, wie du rot wirst? Und schau dir deine Hand an – sie zittert.“
Meine Hand zitterte, weil ich in der vergangenen Nacht zu viel Bier getrunken hatte. Allerdings hatte sie nicht ganz unrecht. Ich hatte tatsächlich gelogen.
„Nun, Herr Schriftsteller“ – sie legte ihren gesamten Sarkasmus in dieses eine Wort – „ich muss jetzt los.“
Mich traf eine schwere Wolke ihres Parfüms, erregend und widerlich süß. Sie drückte mir einen hastigen Kuss auf die Lippen, dann marschierte sie hinaus.
Die Wohnungstür knallte zu.
Ich starrte auf das Brot in meiner Hand. Hunger hatte ich überhaupt keinen mehr. Ich war müde.
Ich ließ den Kopf auf meine Arme sinken und studierte aus diesem Blickwinkel heraus die Ausmaße unserer winzigen Küchenecke. Der ganze Raum roch nach sparsamem Elend. Die Fliesen über der Küchenspüle bröckelten ab. Das monotone Geräusch des tropfenden Wasserhahns trieb mich fast in den Wahnsinn. Die Ofentür ließ sich nicht mehr schließen. Der gesamte Herd war braun verkrustet. Die niedrige Decke, grau-gelb von all dem Tabakrauch, hing trübsinnig über meinem Kopf.
Der Anblick weckte in mir den dringenden Wunsch, auf den vernachlässigten Balkon unserer Einzimmerwohnung zu fliehen, das Geländer mit seiner abblätternden Farbe zu erklimmen und einfach dort zu sitzen, die Füße in der Luft baumeln zu lassen. Dann könnte ich mich abstoßen und hinunterspringen.
Ich stand auf, ließ die schmutzigen Teller auf dem Küchentisch und marschierte auf den Balkon.
Das grelle Sonnenlicht schmerzte in den Augen. Ich blinzelte und streckte meinen steifen Körper. Dann griff ich in meine Tasche und zog die Zigarettenpackung hervor.
Sie war leer. Ich fluchte und stieß einen tiefen Seufzer aus. Mittlerweile war mir alles egal. Das war wahrscheinlich der Nikotinentzug.
Ich lehnte mich gegen das Geländer und blickte auf die Straße, acht Stockwerke unter mir. Dort schimmerte eine tiefe Regenpfütze. Ihre stählerne Oberfläche spiegelte eine eilige Prozession weißer Schäfchenwolken am Himmel über mir wider.
Die Wolken teilten sich und gaben einen hellen Sonnenstrahl frei.
Er blendete mich. Ich kam mir beinahe so vor, als würde ich gerade auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet.
Alles verschwamm vor meinen Augen. Ich konnte nichts mehr sehen, bis meine Sicht plötzlich zurückkehrte. Teilweise. Jetzt tanzten auf einmal kleine helle Flecken in meinem Blick, die verdächtig wie eine Art von Symbolen und Zahlen aussahen.
Ich ließ mich auf einen wackeligen, alten Hocker fallen und wischte mir die Augen, blinzelte mehrfach, um die Illusion zu vertreiben.
Es reichte. Es war Zeit, nach draußen zu gehen und Zigaretten zu besorgen. Und Kaffee. Und nach meiner Rückkehr musste ich mich wirklich endlich daransetzen und dieses verfluchte Buch fertigschreiben.
Ich wurde das hartnäckige Gefühl nicht los, dass all meine Probleme ein Ende hatten, sobald ich das geschafft hatte.
Ich musste einfach nur dieses verdammte Buch abschließen.




Kapitel zwei. Was zum Teufel…



„Wir können hier nicht bleiben, das ist Fledermaus-Land!“

Hunter S. Thompson, Fear and Loathing in Las Vegas


ICH GING VORSICHTIG, sprang über die Regenwasserpfützen in meinem Weg. Mein linker Turnschuh stand im Begriff, sich aufzulösen, aber ich war nicht in der Stimmung, ihn selbst zu reparieren. Und ihn zum Schuster zu geben, konnte ich mir nicht leisten. Aus demselben Grund musste auch ein neues Paar Turnschuhe einstweilen warten. Wir hatten zu viele Rechnungen zu bezahlen. Miete, Strom, Wasser, Internet … Und wir mussten Lebensmittel kaufen. Was mich betraf, so hätte ich ein neues Paar Schuhe vorgezogen, aber zum Glück verwaltete Yanna unser Geld.
Unser Hinterhof unterschied sich nicht groß von den anderen im Bezirk. Er war eine klassisch russische Katastrophe aus Schmutz, Schlamm und beschädigten Kantensteinen, umgeben von uneinheitlichen Fenstern und verglasten Balkonen mit abblätternder Farbe. Weggeworfene Plastiktüten hatten sich in Ästen und Wäscheleinen verfangen, und der Abfall quoll aus den überdimensionierten Tonnen. Ein paar Winter zuvor hatte die Stadtverwaltung ein paar Notreparaturen an geplatzten Wasserleitungen durchführen müssen (ebenfalls ein klassisch russisches Problem). Man hatte den gefrorenen Asphalt aufgehämmert, das Leck gestopft, und alles mit einer Schicht Erde bedeckt. Die sich jetzt bei jedem Regen in einen schlammigen Sumpf verwandelte. Es gab nichts, woran das Auge sich erfreuen konnte. Das einzig Positive waren die kleinen grünen Blätterknospen an den Bäumen. Sie symbolisierten das längst vergessene Versprechen der herannahenden Sommerferien aus der Schulzeit.
Der heruntergekommene Spielplatz in der Mitte war schon seit Langem zu einem Treffpunkt für die Betrunkenen der Gegend geworden. Einige von ihnen waren in meinem Alter und augenscheinlich als Teenager in ihrer Entwicklung stehengeblieben. Andere waren jünger – und ihre Botenjungen. Den Vorsitz über alle führte Yagoza, ein sehniger Mann unbestimmten Alters. Seine Haut war durch die Tätowierungen aus dem Gefängnis regelrecht blau verfärbt, und er trug meistens formlose Jogginghosen und ein grünes Che-Guevara-T-Shirt in der Größe eines Zeltes. In dieser Umgebung war er so etwas wie der kriminelle Experte.
Yagoza rauchte gerade eine Zigarette und trank Bier aus einer Dose.
Alle, die hier herumstanden, wirkten gelangweilt und vom Pech verfolgt. Selbst von meinem Standort aus konnte ich erkennen, dass sie auf etwas Stärkeres als Bier aus waren. Für diese Leute war Bier dasselbe wie für andere Wasser.
Einer von ihnen hing am Klettergerüst. Offensichtlich hielt er sich für einen Turner. Als er mich sah, sprang er herab und rieb die Hände gegeneinander. „Phil? Hi, Mann.“
Die anderen warfen mir einen Blick zu und wandten sich dann wieder  desinteressiert ihrem Bier zu.
Das war nicht gut. Ich hatte früher schon meine Probleme mit dem Typen gehabt. Er war unter dem Spitznamen Alik bekannt. Einmal war er mir den ganzen Weg vom Laden an der Ecke gefolgt. Damals war ich guter Stimmung gewesen. Ich hatte gerade einen netten kleinen Scheck von einem Auftraggeber erhalten, also hatte ich ein paar Lebensmittel besorgt, um das zu feiern. Alik hatte mich angesprochen, wir hatten uns unterhalten und ich hatte ihm ein Bier gegeben. Zu Hause angekommen hatte ich die Begegnung sofort wieder vergessen.
Er hingegen hatte nichts vergessen. Seitdem versuchte er, mich bei jeder Begegnung zu umarmen und ein Bier oder eine Zigarette von mir zu schnorren.
„Hi, Mann“, erwiderte ich ohne große Begeisterung.
Er kam zu mir und schüttelte meine Hand, während er mir gleichzeitig den Arm um die Schultern legte und mir den Rücken klopfte. Dabei strich seine Hand über die Gesäßtasche meiner Jeans, als ob er mich durchsuchen wollte.
Erneut verschwamm alles vor meinen Augen. Ich sah ihm ins Gesicht, doch das schien irgendwie unscharf zu sein.
„Himmel, ist mit dir alles in Ordnung?“, fragte er nüchtern, ohne eine Spur von Mitgefühl.
„Nicht ganz“, antwortete ich. „Warte mal eine Sekunde.“ Ich rieb mir die Augen. Dann schaute ich ihn erneut an.
Endlich konnte ich sein Gesicht deutlich erkennen. Seine Augen waren umgeben von den dichtesten, längsten Wimpern, die ich jemals gesehen hatte. Die waren mir vorher nie aufgefallen. Bevor ihm das Leben in die Quere gekommen war, musste er ein hübscher Junge gewesen sein.
Seine Gesichtshaut wies Pockennarben auf und war ölig. Seine Nase war schief und bestimmt früher einmal gebrochen gewesen. Seine Zähne waren nikotingelb und seine Haare fettig …
Und was zum Teufel war das?
Ich betrachtete ihn eingehender, rieb mir erneut die Augen, betrachtete ihn wieder.
Verwundert schaute sich Alik um. „Was’n los, Mann? Alles okay? Sag es mir! Was zum T…“
„Nein, warte!“ Ich hob die Hand, strich damit durch den Bereich über seinem Kopf.
Fühlen konnte ich nichts, doch ich sah es ganz deutlich!
Mir stockte der Atem. Ich konnte meinen Blick nicht von der großen Beschriftung in klaren, grünen Buchstaben losreißen, die über seinem Kopf schwebte:

Romuald „Alik“ Zhukov
Alter: 28

Romuald? Seine Eltern besaßen wohl einen ziemlich perversen Humor. Wenn mein Name Romuald gewesen wäre, hätte ich meinen Kummer wahrscheinlich auch im Suff ertränkt.
„Heißt du Romuald?“, fragte ich.
Er zuckte zusammen. „‘Tschuldigung?“
„Dein richtiger Name ist Romuald, nicht wahr?“
„Ähm … ja, aber … Warte mal. Woher weißt du das denn?“
Ich antwortete nicht. Meine Gedanken stürmten umher wie eine Horde Wildpferde, die alles in ihrer Nähe zertrampelten.
Das war nicht real. Das konnte nicht real sein. Vielleicht war es eine aus einem Kater geborene Halluzination. Ich trank einfach zu viel, spielte zu viel und schlief zu wenig.
Ich konzentrierte mich auf die Beschriftung, die sich prompt wie eine Pergamentrolle entfaltete.

Romuald „Alik“ Zhukov
Alter: 28
Derzeitiger Status: Arbeitslos
Level des sozialen Status: 4
Unklassifiziert
Unverheiratet
Vorstrafen: Ja

Die letzte Zeile blinkte rot. Ich konzentrierte mich darauf, in der Hoffnung, mein Blick würde mehr enthüllen. Doch das funktionierte nicht.
„Phil! Wach auf, Mann! Hallo?“
Die Mitteilung faltete sich zusammen. Jetzt leuchtete nur noch die erste Zeile in der Luft.
„Tut mir leid“, entschuldigte ich mich. „Ich war nur überrascht. Romuald ist ein ziemlich seltener Name, was?“
Er zuckte mit den Schultern. „Das war die Idee meines Vaters. Anscheinend hieß sein Großvater Romuald. Wieso?“
„Ich habe mich nur gewundert. Einen solchen Namen habe ich vorher noch nie gehört.“
„Ja, ganz bestimmt nicht“, stimmte er mit verdächtiger Freundlichkeit zu. „Hör mal … ich hab was zu tun. Wir sehen uns.“
„Klar.“
„Hast du eine Zigarette für mich?“
„Sind mir gerade ausgegangen, Mann.“
Er stieß einen Seufzer aus, dann drehte er sich um und marschierte davon.
„Alik, warte!“
Er wandte sich mir wieder zu und streckte fragend das Kinn vor. „Was denn?“
„Wie alt bist du? Achtundzwanzig?“
Er nickte und machte sich vom Acker. Die Beschriftung schwebte weiter über seinem Kopf, wurde mit jedem Schritt kleiner, den er sich entfernte, bis sie am Ende ganz verschwand.
Ich wollte es nicht riskieren, ihm zu folgen, obwohl ich darauf brannte, herauszufinden, ob das bei den anderen ebenfalls funktionieren würde. Aber ich brauchte dringend eine Zigarette. Ich überquerte den Hinterhof und ging zur Straße.
Auf dem Weg zum Laden richtete ich meine Blicke auf alles, das mir begegnete – Schaufenster, Verkehrsschilder, Autos und gelegentliche Passanten. Nichts passierte.
Wahrscheinlich hatte ich in der letzten Zeit einfach nur zu hart gearbeitet, das war alles.
Aber was war mit Aliks richtigem Namen? Den konnte ich doch unmöglich wissen, ebenso wenig wie sein Alter. Ich kannte den Typen schließlich kaum!
Noch immer tief in Gedanken versunken, betrat ich das Geschäft, ging zur Kasse und hielt der Frau ein paar Münzen hin. „Eine Schachtel Marlboro.“
Die Verkäuferin, eine Frau mittleren Alters – ein reifer Hammel, verkleidet als Lämmchen – unterhielt sich gerade eifrig am Handy, das sie sich zwischen Ohr und Schulter geklemmt hatte. Ohne die Unterhaltung zu unterbrechen, nahm sie mein Geld, zählte es, fischte nach Wechselgeld und legte es neben die Packung auf die Theke. Einen kurzen Augenblick lang trafen sich unsere Blicke.
Heilige Mutter Gottes! Jawohl!
Mit zitternder Hand nahm ich Wechselgeld und Zigaretten an mich, schob sie in meine Tasche und stürmte hinaus.
In dem Moment, in dem sie mir in die Augen geblickt hatte, war über ihrem Kopf eine Systemmitteilung erschienen:

Valentina „Valya“ Gashkina
Alter: 38

Wieder auf der Straße, fluchte ich erst einmal herzhaft. Das war ziemlich dumm von mir gewesen davonzulaufen! Ich ging wieder hinein, bot ihr mehr Geld an.
„Tut mir leid, Valentina. Ich habe vergessen, auch ein Feuerzeug zu kaufen.“
„Ich rufe dich zurück“, sagte sie ins Handy. Dann starrte sie mich verständnislos an.
Endlich entspannte sie sich sichtlich und griff nach einem Feuerzeug im Regal. Wahrscheinlich war sie zu dem Schluss gekommen, dass ich nur einer der Betrunkenen dieser Gegend war, die die Namen aller Alkoholverkäufer kennen.
Als sie sich wieder zu mir umdrehte, scrollte ich rasch durch die Mitteilung:

Valentina „Valya“ Gashkina
Alter: 38
Derzeitiger Status: Verkäuferin
Level des sozialen Status: 9
Klasse: Händler. Level: 3
Witwe
Kinder: Igor, Sohn
Alter: 18
Ivan, Sohn
Alter: 11
Vorstrafen: Ja

Versuchte ich es also noch einmal. „Wie geht’s, Valya? Was machen Igor und der kleine Ivan?“
In diesem Augenblick musste es ihr klargeworden sein. Das Feuerzeug noch immer in der Hand, starrte sie mich an und versuchte sich offensichtlich zu erinnern, wo wir einander bereits begegnet sein könnten. Nicht bereit zuzugeben, dass sie jemanden nicht im Gedächtnis behalten hatte, der sie scheinbar gut kannte, antwortete sie schließlich:
„Igor geht es gut, danke. Er steht kurz vor dem Abschluss seines zweiten Jahrs an der Uni. Ivan ist allerdings ganz anders als er. Er will einfach nichts lernen. Igor hat versucht, ihm Einsicht einzubläuen, aber Ivan hört nicht zu. Seit dem Tod seines Vaters ist er nicht mehr derselbe …“
Sie hielt inne, offensichtlich überrascht von ihrer eigenen Indiskretion. Mit einem Seufzer überreichte sie mir das Feuerzeug. „Wenn ich fragen darf – woher kennen wir uns?“
„Wir sind uns mal bei Freunden über den Weg gelaufen“, murmelte ich, nahm das Feuerzeug entgegen und verließ den Laden.
Ich eilte in Richtung einer schmalen Allee und schälte beim Gehen das Zellophan von der Zigarettenschachtel. Das zerknitterte Plastik warf ich in eine Abfalltonne, dann zündete ich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Lungenzug.
Was für eine Art von Vorstrafe sie wohl hatte? Vielleicht hatte sie in die Kasse gegriffen?
Endlich erreichte ich die erste Bank, ließ mich darauf fallen und streckte meine schmerzenden Beine aus. Ich spürte, wie das Nikotin durch meine Adern strömte, mein Gehirn erreichte.
Etwas flackerte in meinem Augenwinkel. Ich richtete den Blick darauf und blinzelte. Eine Mitteilung erschien, wurde immer größer. Und diesmal ging es um mich.

Warnung! Du hast eine geringe Menge Giftstoffe erhalten!
Deine Vitalität ist um 0,00018 % gesunken
Derzeitige Vitalität: 69,31882 %.

Was meinten sie denn mit „Vitalität“? War das etwa dasselbe wie Gesundheitspunkte?
Ich rauchte meine Zigarette zu Ende und stellte mir dabei die ganze Zeit vor, wie ich mit jedem Zug 0,00003 % an Vitalität verlor. Es verdarb mir die Freude am Rauchen gründlich. Meine tief eingefleischte Spielsucht warnte mich vor jedem Verhalten, das als „Schaden über Zeit“ oder Schwächung eingestuft werden könnte. Es war reines Prinzip, dass ich trotzdem weiterrauchte.
Eine Sekunde mal – wie viel Leben hatte ich eigentlich noch übrig?
Ein roter Balken tauchte in meinem linken unteren Gesichtsfeld auf. Er war zu 69 % voll.
Wie bitte? Wo waren denn die verbleibenden 31 % meiner Vitalität abgeblieben?
Hatte ich jetzt gerade durch das Rauchen einer einzigen Zigarette etwa über 30 % Gesundheit verloren? Oder war das eine Art kumulative Wirkung? Was konnte ich denn um Himmelswillen getan haben, um …
Ich wusste genau, was ich getan hatte. Es waren all die schlaflosen Nächte, das ungesunde Essen, das Trinken, das Rauchen, ganz zu schweigen von den Umweltbelastungen. Es lag eigentlich auf der Hand.
Das konnte ich gerade noch verstehen. Was ich aber nicht verstehen konnte, war: Was zum Teufel passierte hier?



Kapitel drei. Die erste Quest



„Wer bist du und warum sollte mich das interessieren?”

Futurama


SO VORSICHTIG ICH AUCH GEWESEN WAR, ich musste bei meinem Spaziergang dennoch ein paar Schuhe voll an Regenwasser abbekommen haben. Diesmal erschien allerdings keine Systemmitteilung. Offensichtlich riskierte ich keine durch Unterkühlung verursachte Schwächung, so nass und elend ich mich auch fühlen mochte.
In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Verlor ich etwa gerade den Verstand? Waren das die ersten Anzeichen eines Gehirntumors? Oder einer Persönlichkeitsstörung? Sollte ich vielleicht zum Arzt gehen?
Ich zog an meiner dritten Zigarette und versuchte, mich an ein geeignetes Krankenhaus zu erinnern. Am Ende gab ich auf, googelte eine Liste der Hausärzte in der Gegend und vereinbarte einen Termin.
Danach fühlte ich mich ein wenig besser. Allerdings … wie sicher war ich mir denn überhaupt, dass die Welt um mich herum tatsächlich real war? Verrückt, ich weiß. Aber was, wenn mit mir alles in Ordnung war und nur die Realität eine Störung hatte?
Der Zigarettenrauch, die Gruppe der Betrunkenen, die auf dem Spielplatz herumhingen, meine eigenen nassen Füße und eine winzige Ameise, die meinen Arm hoch kroch – alles um mich herum schrie geradezu vor absoluter Authentizität.
Aber was war mit Amra und Mahan? Das waren meine beiden Lieblingshelden der Rollenspiel-Literatur. Hatten sie nicht Ähnliches empfunden, als sie sich plötzlich versetzt fanden, der eine ins Reich ohne Grenzen, der andere nach Barliona? Zuerst hatte keiner von ihnen erkannt, dass er sich in Wirklichkeit in einer virtuellen Realität befand, weil alles um sie herum so echt erschienen war. Somit ergab mein Gedanke durchaus Sinn.
Um genau zu sein, konnte ich ebenso gut von Aliens entführt worden sein – oder von einem mysteriösen, mächtigen Unternehmen. Man könnte meinen schwächelnden Körper in eine VR-Kapsel gesteckt und mich hierhergeschickt haben. Warum? Keine Ahnung. Ich hatte mich niemals als etwas Besonderes betrachtet. Noch nicht einmal damals, als man mich in der Schule zum Klassensprecher gewählt hatte.
Trotzdem, ich könnte es ja mal ausprobieren, oder etwa nicht? Ich hatte schließlich in meinem Leben genügend Spiele gespielt, um Tatsachen und Fiktion voneinander zu unterscheiden.
Mit der rechten Hand griff ich in meine Tasche und zog das Feuerzeug hervor. Die linke hielt ich vor mich, platzierte das Feuerzeug direkt darunter und klickte einige Male, löste einen Feuerstoß aus.
Ich hielt es nur wenige Sekunden aus. Ich war nie einer dieser masochistischen Typen gewesen, die sich in Selbstverstümmelung ergehen.
Autsch! Das tat weh!
Aus dem Nichts erschien eine Systemmitteilung und verblasste dann wie die Bilder einiger 3D-Filme:

Erlittener Schaden: 1 (Feuer)

Ich blies über meine versengte Hand. Schmerz war der perfekte Beweis der Realität dieser Welt. Ebenso wie meine verbrannte Haut. Aber die Systemmitteilung … Sie widersprach dem massiv.
Außerdem, was bitte sollte das denn heißen? Erlittener Schaden: 1. 1 von was? Wie viele Gesundheitspunkte besaß ich? Wo konnte ich meine Statistiken einsehen? Über welche Fertigkeiten verfügte ich? Was war mein sozialer Status? Entsprach er einem Spieler-Level? Und wie sollte ich hier Erfahrungspunkte sammeln?
Ich drehte meine Augen in alle Richtungen, suchte nach einer Benutzeroberfläche, aber da war keine. Ich sah keine Symbole, keine Schaltflächen oder Statusbalken. Der Gesundheitsbalken war der einzige, der noch immer in meinem Sichtfeld schwebte.
Ich blinzelte. Der Gesundheitsbalken glitt nach oben und verschwand.
Warte mal eine Sekunde! Ich blinzelte erneut. Sofort war der Balken zurück, lebensgroß und zweimal so hässlich wie zuvor. Er zeigte die Zahl 69,31792 %. Aha!
Ich konzentrierte mich auf die Zahl. Nichts geschah.
Ich blinzelte erneut. Mit demselben Ergebnis.
Die Zahl ärgerte mich. Wenn ich doch bloß die Gesamtzahl meiner Vitalitätspunkte sehen könnte!
Prompt verschwand die Zahl und wurde durch eine neue ersetzt:

6.238/9.000

Wie, einfach so? Ich musste einfach nur einen Gedanken darauf verwenden?
Wie auch immer. Ich musste mich damit wirklich einmal gründlich befassen, Fertigkeiten, Statistiken, der ganze Kram. Aber zuerst einmal musste ich die ganzen ekligen Schwächungen ergründen, die ich offensichtlich bereits erlitten hatte. Wie konnte ich mein Leben wieder auf die erforderlichen 9.000 bringen?
Allerdings, auch das konnte erst einmal warten. Leben, Erfahrungspunkte, all das. Zunächst hatte Priorität, herauszufinden, ob dies alles das wirkliche Leben war oder nicht.
Gerade hatte ich diesen Gedanken beendet, als über den Asphalt zu meinen Füßen ein Schatten fiel.
„Entschuldigen Sie bitte.“
Ich schaute hoch. Ein alter Mann in merkwürdiger Kleidung mit einem Hut stand vor mir und starrte zu Boden.
Meine guten Manieren gewannen die Oberhand. Ich sprang auf. „Kann ich Ihnen helfen? Möchten Sie sich setzen?“
Ich warf einen Blick auf die Allee. Es gab jede Menge freier Bänke. Schließlich waren die meisten Leute noch bei der Arbeit.
„Ich danke Ihnen“, sagte der alte Mann mit schwacher, lispelnder Stimme. „Das ist sehr nett von Ihnen. Der Grund, warum ich Sie angesprochen habe, ist der – ich kann nicht gut gehen. Aber ich muss jeden Tag einen Spaziergang machen. Also gehe ich zu dieser Allee und marschiere hier auf und ab, auf und ab. Dann bin ich gezwungen, mich zu setzen und die Zeitung zu lesen. Es ist nämlich sehr gut für den Geist, eine frische Zeitung zu l…“
Er hatte eine merkwürdige, steife Art zu sprechen. Fast wie ein Protagonist aus einem Buch. Ich nickte mehrfach, um ihm zu zeigen, dass ich ihn verstand, und versuchte die ganze Zeit, seinen Blick einzufangen, doch er wich mir aus, blickte auf den Boden zu meinen Füßen.
Er trug leichte Sommer-Slipper, ein an den Ellbogen geflicktes, schäbiges Jackett und viel zu große, schlabberige Jeans, die ihm bis zu den Achselhöhlen reichten und von einem Gürtel mit einer funkelnden Schnalle aus Stahl gehalten wurden. Auf der Schnalle stand Jamiroquai. Ausgerechnet! Es sah verdächtig wie ein Osterei aus, das die mysteriösen Designer dieses flotten NPCs erdacht hatten.
Ich unterdrückte ein Kichern. Der alte Herr hielt inne und schaute mir überrascht direkt in die Augen.

Herr Samuel „die Ratte“ Panikoff
Alter: 83

Ich hätte mich vor Lachen auf dem Boden wälzen können. Die Ratte? Ich betrachtete ihn näher, was eine Reihe weiterer Informationen auslöste.

Derzeitiger Status: Pensioniert
Level des sozialen Status: 27
Klasse: Büroarbeiter. Level: 8
Witwer.
Kinder: Natalia, Tochter
Alter: 54
Enkel: Max, Enkelsohn
Alter: 31
Vorstrafen: Ja

„Herr Panikoff? Wenn ich fragen darf …“
Der alte Mann wandte den Blick ab und lispelte: „Sie haben Glück, dass wir uns nicht im Jahr 1936 befinden, junger Mann. Wenn Sie damals ein junger Mann auf der Straße mit Namen ansprach, konnte es nur eines bedeuten. Und zwar nichts Gutes. Ich war damals natürlich nur ein kleines Kind, aber ich habe eine Menge Geschichten über heimliche Verhaftungen gehört. Ich für meinen Teil muss mich entschuldigen, dass ich diese Höflichkeit nicht erwidern kann. Ich bin mir ganz sicher, ich kenne Sie nicht. Ich mag zwar alt sein, aber ich habe ein hervorragendes Gedächtnis sowohl für Namen, als auch für Gesichter.“
Der Kerl war definitiv ein Bot. Bots besitzen ein absolutes Gedächtnis, richtig? Andererseits hätte ein NPC niemals Erstaunen darüber gezeigt, von mir mit Namen angesprochen zu werden. Was dieser Typ getan hatte. Um genau zu sein, schien ihm das sogar großes Unbehagen zu bereiten.
„Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich setze?“, fragte er.
„Ich heiße Philip“, murmelte ich. „Aber Sie können mich Phil nennen.“
„Nun denn, Phil …“ Der alte Herr setzte sich, nahm seinen Hut ab und glättete sein schüttere Haar. „Woher kennen Sie mich? Warten Sie einen Augenblick … Ich hatte die Ehre, einen Kurs in Marxismus zu lehren. Wann war das doch gleich? Neunzehn … neunzehnhundert … irgendwann in den sechziger Jahren …
„Bitte, mein Herr“, unterbrach ich ihn. „Sie kennen mich wirklich nicht. Es ist nur so, ich habe Max getroffen. Er ist Ihr Enkel, nicht wahr? Seine Mutter Natalia hat mir eine Menge über Sie erzählt. Ich hege großen Respekt für Sie und Ihre Erfolge.“
Das meinte ich ehrlich. Verglichen mit dem Alkoholiker Alik mit seinem mageren Level 4 und der wahrscheinlich diebischen Verkäuferin mit ihrem Level 9 hatte dieser Kerl den Level 27 erreicht! Wenn das mal nicht eine reife Leistung war! Er musste verdammt viel Arbeit in das Erreichen seiner Level gesteckt haben.
Nur zu gern hätte ich meinen eigenen Level erfahren. Aber wie sollte ich an diese Information herankommen?
Der alte Mann entspannte sich sichtlich. Offenbar war er mit meiner Erklärung zufrieden. „Oh, das war gar nichts. Ich habe einfach nur meinem Land gedient. Zu der Zeit haben wir das alle getan. Nicht wie die jungen Leute heutzutage, die nichts lieber tun, als ins Ausland zu gehen. Mein Max denkt ebenfalls daran, zu emigrieren! Aber als ich in seinem Alter war …“
„Ich bin vollkommen Ihrer Meinung.“ Ich schlurfte mit den Füßen über den Asphalt und zündete mir eine neue Zigarette an. Inzwischen musste ich ziemlich dringend aufs Klo. „Es tut mir sehr leid, aber ich fürchte, ich muss jetzt gehen.“
„Natürlich … Phil. Selbstverständlich.“ Er hielt inne und fuhr dann unsicher fort: „Der Grund, warum ich Sie angesprochen habe, ist der – ich kann nicht gut gehen. Aber ich muss jeden Tag einen Spaziergang machen. Also gehe ich zu dieser Allee und marschiere hier auf und ab, auf und ab …“
Verdammt! Also war er doch ein NPC! Selbst Chat-Bots sprechen natürlicher als er. Ich musste das unbedingt überprüfen.
„Entschuldigen Sie, mein Herr“, unterbrach ich ihn. Ich wusste, das war nicht sehr höflich, aber wenn ich mich tatsächlich in einer virtuellen Realität befand, musste die Höflichkeit einfach warten. Ich musste der Sache auf den Grund gehen. „Wer war im Jahr 1941 Präsident der Sowjetunion?“
Er schüttelte so heftig den Kopf, dass ich beinahe Angst hatte, sein dürrer Hals könnte brechen. „Im Jahr 1941 gab es in der UdSSR keinen Präsidenten! Die Führung über das Land lag in den Händen von Kamerad Joseph Stalin, Generalsekretär des Zentralkomitees der kommunistischen Partei!“
Er war definitiv ein Bot. Und noch dazu ein ziemlich primitiver. Konnte ich ihm vielleicht noch andere Fragen stellen?
Ich hatte keine Zeit für einen gründlichen Turing-Test, also entschloss ich mich zu improvisieren. „Darf ich Sie noch etwas fragen?“
„Ich habe es nicht eilig, mein lieber Phil.“
„Trinken Sie lieber Brandy oder Wodka?“
„Wasser. Und vorher trank ich nur den besten Brandy, den ich ergattern konnte.“
„Arsenal oder Real Madrid?“
„Was für ein Unfug! Die beste Fußballmannschaft diesseits des Atlantiks ist Zenith! Der feinste Club in Leningrad – oder, wie man es ja heutzutage nennt, St. Petersburg.“ Ganz klar artikulierte er den Namen der Stadt, dann brach er in das Lachen eines glücklichen Kindes aus.
„Bingo!“, murmelte ich.
Er war echt. Kein NPC wäre solch skurriler Gedankengänge fähig gewesen.
Der alte Mann starrte mich an. „Was meinen Sie?“
Ich schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Das war also tatsächlich die wirkliche Welt. Und was noch besser war, ich schien der Einzige hier zu sein, der im Besitz einer solch seltenen, nützlichen Fähigkeit war. Ich sollte ihm wirklich helfen. „Ist schon in Ordnung. Tut mir leid, dass ich Sie dauernd unterbreche. Was wollten Sie von mir?“
„Wie ich schon sagte, ich kann nicht gut gehen. Aber ich muss jeden Tag einen Spaziergang machen. Also gehe ich zu dieser Allee und marschiere hier auf und ab, auf und ab …“
Was war das denn jetzt wieder? Das hatte er mir doch bereits zweimal erklärt! Er wiederholte immer wieder dieselben Sätze, wie eine Schallplatte mit einem Sprung … Oder eine Skriptvorlage mit einem Fehler.
„Tut mir leid, meine Gedanken schweifen ab“, stoppte er sich plötzlich selbst. „Ich glaube, das hatte ich Ihnen bereits gesagt. Um es kurz zu machen – manchmal werde ich dabei so müde, dass ich gezwungen bin, mich zu setzen und die Zeitung zu lesen. Es ist nämlich sehr gut für den Geist, eine frische Zeitung zu lesen. Ohne Zeitungen fühle ich mich ganz tot. Was für eine Art von Leben erwartet man denn einen alten Mann wie mich zu haben? Ich lese Zeitungen, um über das auf dem Laufenden zu bleiben, was in der Welt geschieht. Sportveranstaltungen finde ich besonders faszinierend. Leider habe ich ausgerechnet heute vergessen, die neueste Ausgabe des Sport Express zu kaufen, was ich sonst immer auf dem Weg hierher tue. Das bedeutet also, ich kann die Zeitung erst auf dem Weg nach Hause kaufen. Ich fürchte nämlich, ich bin nicht in der Lage, den ganzen Weg zurück zum Zeitungskiosk und dann wieder hierher zu gehen. Was bedeutet …“
„Was bedeutet, dass Sie jetzt nichts zu lesen bei sich haben.“
„Sie sind sehr umsichtig. Deshalb wüsste ich es wirklich zu schätzen, wenn Sie mir die neueste Ausgabe des Sport Express besorgen könnten. Ich bezahle Sie dafür natürlich.“
Sofort schoss eine große Systemmitteilung in mein Sichtfeld und verbarg die Hälfte meiner Umgebung.
Eine Quest!

Sport bringt die Welt zusammen
Herr Samuell Panikoff, pensioniert, bittet dich darum, ihm die neueste Ausgabe des Sport Express zu besorgen, damit er sich auf seinem einsamen Spaziergang daran erfreuen kann.
Erforderliche Zeit: 30 Minuten
Belohnungen:
Erfahrung, 10 Punkte.
Ansehen bei Herrn Panikoff, 5 Punkte.
Derzeitiges Ansehen: Gleichgültigkeit (0/30).

Und wie bitte sollte ich diese Aufgabe jetzt akzeptieren? Wo war die entsprechende Schaltfläche? Ich schaute mich überall um, doch da war nichts.
Also sagte ich einfach: „Kein Problem, mein Herr. Ich besorge Ihnen die Zeitung. Bleiben Sie einfach hier sitzen.“
„Ich werde mich nicht vom Fleck rühren“, versprach er mit einem geheimnisvollen Lächeln.
Die Mitteilung verblasste.
Quest akzeptiert, sagte eine Stimme in meinem Kopf.
Irgendwo in der Peripherie meines Sichtfeld blinkte ein Ausrufezeichen. Ich konzentrierte mich darauf. Es öffnete sich eine Quest-Liste. Darin befand sich jedoch nur eine einzige Quest – diejenige, die ich gerade angenommen hatte.
Ich salutierte dem alten Mann, drehte mich um und beeilte mich, ihm seine Zeitung zu besorgen.
Das erste Mal seit Jahren fühlte ich mich in der wirklichen Welt ganz in meinem Element.



Kapitel vier. Die Allianz und ihr großer Sieg



„Ich hab da vielleicht was für dich.“

Warcraft III


DEN WEG zurück zum Zeitungskiosk hüpfte und tänzelte ich. Was war doch gleich der Name des Spiels, in dem ich gelernt hatte, mich so zu bewegen? Wenn man nämlich hüpfte und tänzelte, erschwerte das dem Feind, einen anzuvisieren. Das wurde gefolgt von Elder Scrolls III – Morrowind mit seiner Akrobatik. Am Ende hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, zu hüpfen, zu springen und zu tänzeln, wann immer ich in der virtuellen Realität unterwegs war. Und nachdem dies jetzt für mich ein Spiel war, konnte ich diese Art der Fortbewegung ja auch im richtigen Leben übernehmen, oder etwa nicht? Natürlich immer vorausgesetzt, dies war das richtige Leben. Und ich hatte nicht den Verstand verloren.
Unterwegs machte ich in einem Schnellrestaurant Halt, wo ich schnell die Toilette aufsuchte. Das verschaffte mir +2 % Zufriedenheit. Anschließend setzte ich meine Quest fort.
Während ich mir meinen Weg vorbei an Plakaten und den vielbeschäftigten Passanten suchte, die sich auf dem Gehweg tummelten, dachte ich weiter nach. Für den Abschluss dieser Quest konnte ich 10 Erfahrungspunkte gewinnen. Was bedeutete, dass ich theoretisch auch ein höheres Level erreichen konnte. Die Beziehung zwischen Level und Status in der realen Welt war mir noch immer nicht klar. Herr Panikoff, der Rentner, war sehr viel weiter fortgeschritten als der arbeitslose Alik. Der wiederum physisch weitaus stärker war als der alte Mann. Ich konnte mich allerdings auch irren und der soziale Status hatte mit dem Level eines Spielers nichts zu tun.
Sagte ich gerade „Spieler“? Verzeihung – ich meinte natürlich Menschen.
Auf halbem Weg zum Zeitungskiosk verpasste mir die Realität einen grausamen und unerwarteten Schlag: Ich geriet außer Atem. Keuchend hastete ich weiter, in der Hoffnung, am Ende sowohl mein Durchhaltevermögen als auch meine sportlichen Fähigkeiten verbessern zu können.
Nach weiteren zwei Minuten erzwungenen schellen Gehens begann mein Kopf zu dröhnen. Meine Zähne schmerzten, und in den Beinen spürte ich ein brennendes Gefühl. Ich japste, rang nach Atem und konnte einfach nicht genug Luft in meine Lungen pressen.
Das war doch verrückt! Was zum Teufel tat ich da? Warum musste ich denn unbedingt laufen? Dies war schließlich das reale Leben, um Himmelswillen! Was dachte ich mir bloß? Es gab hier weder Quests noch Level! Ich drehte wohl gerade durch …
Ich hielt an. Meine Lungen explodierten mit einem Anfall Übelkeit erregenden, Schleim produzierenden Hustens. Ich beugte mich über einen Abfallkorb und spuckte hinein. Dabei fiel mein Blick auf den widerlichen Inhalt. Ich würgte, musste mich übergeben, und mein gesamtes Frühstück landete im Abfall.
Wütend betrachtete ich die neue Systemmitteilung, die vor meinen Augen erschienen war. Offensichtlich hatte meine Lebenskraft sich auf null reduziert und ich musste mich erst einmal ausruhen!
Die Mitteilung passte zu genau auf meine Situation, als dass da ein Zufall vorliegen konnte. Und sie kam zeitlich so sehr zum richtigen Zeitpunkt, dass sie unmöglich eine Halluzination sein konnte. Verdammt!
Mein Kopf ignorierte all meine Zweifel und stürzte sich begeistert auf die vertraute Welt der Spielestatistiken und -eigenschaften.
Mein Durchhaltevermögen musste wirklich absolut lachhaft gewesen sein. Wahrscheinlich sogar noch schlechter als das meines neuen Freundes, Herr Panikoff. Ich musste unbedingt Fortschritte erzielen. Bloß, wie stellte ich das an? Sollte ich vielleicht morgens joggen gehen? Oh nein! Alles, nur das nicht. Vielleicht konnte ich mich stattdessen auf Fortschritte bei der Intelligenz konzentrieren.
Nachdem ich wieder zu Atem gekommen war und die letzten Reste meines Frühstücks ausgespuckt hatte, zündete ich mir eine Zigarette an. Eine weitere Systemmitteilung informierte mich prompt über die Schwächung durch Giftzufuhr, die ich gerade erhalten hatte. Unterstützt wurde dies durch einen langsam ansteigenden Schadenszähler.
Es war mir egal. Ich musste einfach diesen ekligen Geschmack im Mund loswerden.
Dann ging ich weiter, nun erheblich langsamer.
Sobald ich die Zeitung gekauft hatte, erschien in meinem Sichtfeld eine neue Mitteilung: Ich hatte den Gegenstand meiner Quest erhalten. Ich blätterte durch die Seiten, fand allerdings nichts Besonderes an der Zeitung. Wie gut, dass er mich nur gebeten hatte, ein einziges Exemplar zu besorgen und nicht gleich ein Dutzend, was die NPCs, die Quests an Spieler verteilten, normalerweise machen.
Ich grinste, als ich darüber nachdachte. Herr Panikoff möchte, dass du ihm zehn Weisheitszähne von örtlichen Straßengangstern bringst … Das wäre doch mal eine Quest!
Ich dankte der Zeitungsverkäuferin (Level 5; Frau Zinaida Nikolaeva, Alter: 60) und kehrte zu dem alten Herrn zurück.
Herr Panikoff war noch immer da. Er saß in derselben Haltung auf der Bank, wie er sie eingenommen hatte, als ich aufgebrochen war, blinzelte in die Sonne und summte etwas. In der Nähe gurrten und flatterten ein paar Tauben.
„Herr Panikoff …“
„Ah! Phil, mein Freund!“ Der alte Mann nahm die Zeitung entgegen, hielt sie sich vor die Nase und atmete tief ein.
Ich wechselte von einem Fuß auf den anderen und wartete geduldig auf den Abschluss der Quest.
„Ich liebe den Geruch frischer Zeitungen“, erklärte der alte Mann. „Er hat etwas Bezauberndes an sich. Hier ist Ihr Geld, vielen Dank. Ich weiß Ihre Hilfe wirklich zu schätzen!“ Er hielt mir eine Handvoll Kleingeld hin, das er wohl zusammengeklaubt hatte, während ich unterwegs war.
Ich nahm das Geld und wartete auf die Systemmitteilung. Nichts geschah. Ich betrachtete das Geld in meiner Hand, dann den alten Mann mit der Zeitung. Nichts.
Er schlug die Zeitung auf. „Gütiger Himmel! Ich kann es nicht glauben! Manchester ist voller Überraschungen!“
„Warum, was haben sie denn gemacht?“, fragte ich mechanisch.
Die Abwesenheit einer Mitteilung über den Abschluss der Quest beunruhigte mich ein wenig. Könnte ein Fehler vorliegen? Ich konzentrierte mich auf das Ausrufezeichen, das sich auch öffnete, jedoch nur ein leeres Drop-Down-Menü enthüllte.
Die Quest war doch erledigt, oder etwa nicht? In diesem Fall, wo waren meine Erfahrungspunkte? Wo war mein schwer verdientes Ansehen?
„Was sie gemacht haben?“, wiederholte er. „Sie sind gerade englischer Meister geworden, das haben sie gemacht! Genau das habe ich neulich Valiadis erklärt! Ich habe gesagt, Manchester City, das ist eine Mannschaft, die man nicht unterschätzen darf! Guardiola ist ein echtes Genie. Und ausgesprochen zäh. Mit ihm würde ich mich nicht anlegen. Er trainiert das Team.“
Er schaute von der Zeitung auf und warf mir einen erwartungsvollen Blick zu. Das brachte seine Namensbeschriftung wieder in mein Blickfeld. Sie schwebte über seinem Kopf.
Jawohl!

Herr Samuel „die Ratte“ Panikoff
Alter: 83
Derzeitiger Status: Pensioniert
Level des sozialen Status: 27
Klasse: Büroarbeiter. Level: 8
Witwer.
Kinder: Natalia, Tochter
Alter: 54
Enkel: Max. Enkelsohn
Alter: 31
Vorstrafen: Ja
Ansehen: Gleichgültigkeit (5/30)

Es hatte funktioniert! Unsere glorreiche Allianz hatte eine weitere Schlacht gewonnen!
Wenn ich Ansehenspunkte erworben hatte, musste ich mir auch Erfahrungspunkte gesichert haben. Irgendwo waren die versteckt. Ich musste wirklich dringend herausfinden, wie ich sie überwachen konnte.
Ich nickte. „Sie haben völlig recht, mein Herr.“
„Um genau zu sein, mein Freund …“ – die Stimme des alten Mannes wurde kraftvoller, und er lispelte auch nicht mehr – „ich rate Ihnen, sich den Namen gut zu merken. Valiadis. Er ist ein sehr kluger Mensch. Eines Tages werden Sie vielleicht noch glücklich darüber sein, dass Sie sich an ihn erinnern.“
Ich nickte wieder, ohne völlig zu verstehen, was er mir sagen wollte. Eine neue Mitteilung, die ich vorher gar nicht bemerkt hatte, trat deutlicher hervor.

Dein Ansehen bei Herrn Samuel „die Ratte“ Panikoff hat sich verbessert!
Derzeitiges Ansehen: Gleichgültigkeit (5/30)

Aha! Anscheinend folgte dieses Spielsystem den üblichen Regeln. Was bedeutete, die Haltung von jemandem mir gegenüber konnte auf einer Skala zwischen Hass und Verehrung liegen. In diesem besonderen Fall würde meine Beziehung zu Panikoff, sobald ich 30 Ansehenspunkte gewonnen hatte, von Gleichgültigkeit zu Freundlichkeit wechseln, gefolgt von Respekt, Hochachtung und schließlich Verehrung. Jedes dieser Stadien hatte wiederum seine eigene Skala zwischen null und der Anzahl an Punkten, die erforderlich waren, um das nächste Level zu erreichen, wie hoch diese auch immer war. Je höher das Ansehen, desto mehr Punkte musste ich verdienen, um ein weiteres Level aufzusteigen.
Und sollte mein Ansehen bei Panikoff aus irgendwelchen Gründen unter null sinken, würde es sich in negatives Ansehen verwandeln, von Abneigung über Feindseligkeit bis hin zu Hass.
Gefühle aus der wirklichen Welt wie Liebe und Freundschaft fehlten allerdings auf dieser Skala. Verfügten diese Emotionen etwa auch über ihre eigenen, sorgfältig kalibrierten Balken?
Nun gut, falls das alles keine Halluzination war, geboren aus der Überforderung meines Gehirns, hatte ich viel Zeit, genau das herauszufinden.
Ich hätte mich gern von dem alten Mann verabschiedet, doch der war unempfänglich für seine Umgebung und völlig versunken in seine Sportnachrichten. Na, egal. Ich sagte ihm trotzdem auf Wiedersehen und machte mich eilig auf den Weg nach Hause.
Ich hätte ihn wirklich über seinen Spitznamen ausfragen sollen. Die Ratte … Stammte der Spitzname vielleicht aus seiner Zeit im Gefängnis? Möglich war das. Es konnte ohne weiteres während Stalins Säuberungsaktionen nach dem Krieg verhaftet worden sein.
Zurück zu Hause zog ich die nassen Turnschuhe aus, die Socken und auch die Hose, die bis zu den Knien feucht geworden war. Ich stopfte alles in die Waschmaschine und stellte die Turnschuhe draußen auf den Balkon zum Trocknen in der Sonne.
Dort machte ich es mir auf dem wackeligen Hocker gemütlich und zündete mir eine weitere Zigarette an. Ich tendierte zum Kettenrauchen, wenn ich nervös oder aufgeregt war. Am Tag danach war mir dann immer schlecht, was mich überlegen ließ, mit dem Rauchen aufzuhören. Das hielt jedoch immer nur ein paar Tage an. Sobald mein Körper sich von den giftigen Substangen befreit hatte, die ich am Tag zuvor inhaliert hatte, kam die Nikotinsucht ganz unweigerlich zurück.
Ich zog heftig an meiner Zigarette und betrachtete meine Turnschuhe. Wenn das tatsächlich ein Spiel war … welchen Status hatten dann wohl meine Schuhe?
Wahrscheinlich war es etwas wie:

Ein skandalöses Paar schäbiger Unglücks-Turnschuhe
Attraktivität: -9
Beweglichkeit: -6
Langlebigkeit: 3/60

Wie bescheuert ich war! Ich verbrachte zehn bis zwölf Stunden im Spiel, nur um ein Stück virtuelle Ausrüstung upzugraden, während ich nicht den geringsten Wunsch verspürte, im wirklichen Leben ein Paar körperlich sehr greifbare Schuhe zu ersetzen!
Ich gähnte. Es war schon fast Mittag. Ich sollte mich wirklich daran machen, die Wohnung aufzuräumen und zu putzen und das Abendessen auf dem Tisch haben, wenn Yanna zurückkehrte. Dann konnte ich mich dem Angriff anschließen und den neuen Dungeon mit einem guten Gewissen endlich abschließen.
Ich drückte die Zigarette aus, stellte den Wecker auf 16:00 Uhr und legte mich ins Bett.
Beim Einschlafen wurde mir klar, dass ich eigentlich gar kein großes Interesse am Angriff hatte. Aus irgendeinem Grund war ich überhaupt nicht in Stimmung für ein Computerspiel. Stattdessen schien meine Spielsucht sich zunehmend auf das wirkliche Leben zu konzentrieren.
Als der Wecker schrillte, war ich schweißgebadet. Mein gesamter Körper schmerzte. Der Geschmack in meinem Mund erinnerte mich an die Latrine in Orgrimmar. Boris, die Katze, bearbeitete meinen Brustkorb mit ihren Pfoten, zur Erinnerung an ihre Essenszeit.
Ich hatte Boris auf der Straße aufgelesen, zu einer Zeit, als die Top-Gilden der Welt sich gerade erst über Illidan herzumachen begonnen hatten. Ich hatte ihn – sie – nicht einmal richtig betrachtet. Damals war es nur ein pudelnasser Ball roter Pelz gewesen. Ich hatte den Ball nach Hause gebracht, in der Küche auf den Boden gesetzt und ihm eine Untertasse mit Milch angeboten. Das Kätzchen hatte sich sofort darüber hergemacht. Während es schleckte, hatte ich mir einen Namen überlegt: Boris.
Eine gewisse Zeit später informierte einer meiner Freunde mich netterweise darüber, dass mein Boris überhaupt kein Boris war.
„Hey, er ist eine sie!“, hatte er mir erklärt.
Ich weiß noch immer nicht, warum er unbedingt das Hinterteil von Boris untersuchen musste. Hatte er etwa einen Katzenfetisch?
Schließlich, welche Rolle spielt denn am Ende das Geschlecht einer Katze?
So hatte ich gedacht. Aber ich hatte mich gewaltig geirrt.
Im nächsten Frühjahr war unser Boris komplett durchgedreht. Sie schrie mit einer grässlich schrillen Stimme und verlangte nach einem Partner, während sie unruhig in der Wohnung herumlief, den Hintern in die Höhe gestreckt. Ich musste sie sofort sterilisieren lassen.
Sobald ich dann Yanna kennengelernt hatte, eine ultimative Hundeliebhaberin, nahm Boris‘ Leben eine Wendung zum schlechteren. Denn Yanna besaß einen Chihuahua. Sein Name war Boy. Boy fasste sofort eine tiefe Abneigung zu Boris, und dieses Gefühl wurde gründlich erwidert.
Lange Zeit hatte Yanna versucht, mich zu überreden, Boris loszuwerden. Ihr zufolge waren Katzen absolut nutzlose Lebewesen. Sie verloren Haare, kosteten Geld für Futter und Katzenstreu und machten sich heutzutage nicht einmal mehr die Mühe, Mäuse zu fangen. Was ihrer Meinung nach bedeutete, es gab keinen Grund, sie im Haus zu haben. Als ich im Gegenzug die nützlichen Eigenschaften von Boy infrage stellte – ich hatte darauf hingewiesen, dass es in der heutigen Zeit ziemlich ungewöhnlich war, von Haustieren zu erwarten, dass sie selbst für ihren Lebensunterhalt sorgten –, war Yanna ernsthaft beleidigt. Das war eine unserer ersten Auseinandersetzungen gewesen.
Das Problem hatte sich auf natürliche Weise gelöst. Eines Tages gingen wir aus und ließen beide Tiere zu Hause. Boris‘ Katzenklo stand auf dem Balkon, also ließen wir die Balkontür offen.
Ich habe keine Ahnung, wie es passieren konnte. Jedenfalls schaffte es der kleine Chihuahua irgendwie, sich aus dem achten Stock in den Tod zu stürzen. Wir fanden seinen zerschmetterten Körper unter dem Balkon. Yanna war am Boden zerstört. Ich borgte mir von den Kindern nebenan eine Spielzeugschaufel und vergrub Boy auf dem unbebauten Grundstück hinter der Reihe der Gemeinschaftsgaragen.
Seitdem kannte Yannas Hass Boris gegenüber keine Grenzen. Sie weigerte sich, irgendetwas für die Katze zu tun. Sie zu füttern und ihr Katzenklo zu säubern, das war ausschließlich meine Aufgabe.
Die Katze musste bemerkt haben, dass ich wach war. Sie miaute und verlangte nach Aufmerksamkeit. Ich stieg aus dem Bett und streckte mich. Meine Gelenke kreischten ihren Protest. Nach dem Lauf zum Zeitungskiosk am Morgen tat jeder Muskel in meinem Körper weh.
Die Erinnerung an diesen merkwürdigen Morgen kehrte zurück. Ich kämpfte vergebens damit, die Realität von dem Traum zu unterscheiden, den ich gerade geträumt hatte.
Ich griff mir Boris und schaute ihr tief in die Katzenaugen.
Jawohl!

Boris. Eine weibliche Katze
Alter: 9
Derzeitiger Status: Haustier
Eigentümer: Philip Panfilov

Einen Augenblick mal – und was war mit ihrem Level? Mit ihrem sozialen Status? Das ergab keinen Sinn!
Ich versuchte, mich stärker zu konzentrieren. Ich erwartete, dass die Mitteilung sich dadurch erweiterte, doch Boris sprang zu Boden, schüttelte sich und begann sich zu putzen. Dabei warf sie beleidigte Blicke in meine Richtung.
Endlich musste ich in diesem geheimnisvollen Spielsystem den richtigen Klick ausgelöst haben. Es erschien eine neue Zeile in den Statistiken meines Haustiers:

Beziehung: Verehrung 10/10

Verehrung? Ganz sicher nicht!
Meine Lippen verzogen sich zu einem glücklichen Grinsen. „Boris, ich liebe dich auch!“
Es war also doch kein Traum gewesen. Mein Ansehen bei Boris befand sich beim Maximum. Geil, was?
Ich schaltete den Fernseher ein und suchte nach einem Musiksender. Dann nahm ich Boris hoch und begab mich mit Walzerschritten zur Küche.
Dort löffelte ich eine großzügige Portion Katzenfutter in den Napf und begab mich ins Badezimmer, um mich präsentabel herzumachen. Das war kein Spiel, Herr Panfilov. Hier wuschen sich die Leute tatsächlich.
Ich duschte, putzte mir die Zähne, rasierte mich, trocknete mich ab, zog saubere Unterwäsche, eine Hose und ein T-Shirt an und kehrte in die Küche zurück.
Ich öffnete den Kühlschrank und betrachtete seinen Inhalt. Schließlich musste ich entscheiden, was ich zum Abendessen kochen würde. Wir hatten noch ein paar rohe Hähnchenschenkel übrig, ein paar Kartoffeln und einen Bund anderes Gemüse. Ich könnte Hühnersuppe machen. Das würde gleich für den nächsten Tag reichen. Es wurde wirklich Zeit, einzukaufen.
Ich legte die Hähnchenschenkel in einen Topf, fügte Wasser hinzu und stellte alles auf den Herd, gerade als der Wasserkessel kochte. Ich häufte einen großzügigen Löffel löslichen Kaffee in eine Tasse, gab Wasser und Zucker dazu, rührte um und ging auf den Balkon hinaus.
Zu dieser Zeit hatte Boris ihre Mahlzeit bereits beendet und sich entschlossen, mir Gesellschaft zu leisten.
Ich trank meinen Kaffee, rauchte und dachte nach. Die mittlerweile vertraute Systemmitteilung informierte mich über den erhaltenen Nikotinschaden. Meine Vitalität schien sich insgesamt jedoch verbessert zu haben. Wahrscheinlich hatte es etwas damit zu tun, dass ich ein wenig geschlafen hatte und mein Körper zumindest einen Teil des Alkohols vom Vortag losgeworden war. Noch immer war mein Vitalitätsbalken allerdings nicht voll. Stattdessen steckte er bei 73 % fest.
Was zum Teufel geschah gerade mit mir? Und warum? Ich musste wirklich herausfinden, was da los war. Und ich musste versuchen, dieses verrückte System zu durchschauen.
Theorien hatte ich verschiedene, doch keine davon schien überzeugend genug. Unentschlossen versuchte ich eine Weile, auf meine eigenen Statistiken zuzugreifen. Die konnten mir wenigstens einen Anhaltspunkt liefern.
Endlich entdeckte ich ein kleines Symbol, oben rechts, beinahe außerhalb meines Sichtfeldes. Ich richtete den Blick darauf und riskierte dabei, mir die Augäpfel zu verrenken.
Es funktionierte. Daneben erschien ein weiteres Symbol.
Das erste Symbol schien eine Liste meiner Buffs zu sein. Oder vielmehr Debuffs. Ich sah einen großen, roten Buchstaben „N“, umgeben von Qualmwolken.
Eine Zeitkontrolle über dem ersten Symbol zählte die Sekunden rückwärts:

116:31 … 116:30 … 116:29

Ein Ausrufezeichen schwebte in mein Sichtfeld:

Nikotinsättigung
Dein Körper ist mit Nikotin gesättigt. Dein Stoffwechsel ist um 15 % beschleunigt. Warnung! Dein Blut enthält große Mengen an Kohlenmonoxid!
+3 Zufriedenheit
+2 Kraft
-1 Durchhaltevermögen
-1 Intelligenz
-1 Wahrnehmungsfähigkeit

Das zweite Symbol war ein schwarzer Buchstabe „K“. Es berichtete über die erhaltene Koffeinstärkung und meldete mir +2 Zufriedenheit und +10 Stoffwechsel und verbesserte, allerdings nur geringfügig, Kraft, Konzentration und Reaktionszeiten.
Das Problem war nur, ich hatte ja nichts, womit ich diese Zahlen vergleichen konnte. Über wie viel Durchhaltevermögen verfügte ich insgesamt? Wenn das bei 100 Punkten lag, war ein Punkt Abzug keine große Sache. Aber wenn die Gesamtzahl 10 Punkte waren, fügte ich meinen Statistiken mit meinem Rauchen jedes Mal einen verdammt großen Schaden zu!
Tief in Gedanken versunken kehrte ich in die Küche zurück und begann, ein paar Kartoffeln zu schälen, während das Huhn vor sich hin köchelte. Ich musste all die Jahre wahnsinnig gewesen sein. Wer, der voll bei Verstand ist, fügt sich schon selbst einen ständigen Debuff zu? Denn genau das war es, was ich mir mit all dem Rauchen antat.
Ich beendete das Kartoffelschälen, trank meinen Kaffee aus und machte mich daran, die Wohnung aufzuräumen.
Wahrscheinlich war es besser, Yanna nichts von all dem zu erzählen … Wenigstens einstweilen.



Release - March 25, 2019


No comments :

Post a Comment