Unterwerfung der Wirklichkeit
von Michael Atamanov
Buch 1: Countdown
Release - 6. Mai 2019
Pre-order - https://www.amazon.de/dp/B07NGQQ1C2
Einführung. Erster
Kontakt
WIE OFT HABEN sich
Schriftsteller, Astronomen, Philosophen und Militärtheoretiker schon den ersten
Kontakt der Menschheit mit einer außerirdischen Intelligenz ausgemalt?
Observatorien der Erde, die erstmals verständliche Signale aus dem Weltraum
empfangen? Oder die Entdeckung interstellarer Artefakte oder sogar lebender
Aliens in uralten Grabhügeln oder Pyramiden? Das Erscheinen von bedrohlichen,
außerirdischen Raumschiffen über unseren Großstädten? Himmelskörper, die auf
die Erde fallen, abstürzende UFOs? Ein Kennenlernen intelligenter Verbündeter
auf fernen Planeten? Invasion? Krieg? Das Ende allen Lebens auf Erden ...?
Aber als es dann wirklich passierte, sah es aus wie ein
dummer Witz, ein Schwindel oder eine aufdringliche Werbung, und die Menschheit
glaubte nicht, dass es sich dabei tatsächlich um den ersten Kontakt handelte.
Eines Tages erschien auf vielen beliebten Websites ein Popup-Fenster, das den
gesamten Bildschirm blockierte. Trotz der instinktiven und gewohnheitsmäßigen
Reaktion jedes Benutzers ließ es sich nicht schließen. Im Popup wurde ein Video
abgespielt. Es zeigte einen pelzigen Humanoiden, der irgendwie entfernt an den
Yeti erinnerte, aber ein dickes, dunkelrotes Fell hatte. Der große, zweibeinige
Außerirdische hatte durchdringend, schwarze Augen, eine flache, dunkle Nase und
einen breiten Mund. Seine Kleidung sah aus wie eine Kombination aus einer
Rüstung und einem helmlosen Raumanzug.
Als Erstes hob er eine bekrallte Hand und winkte seinem
unfreiwilligen Publikum freundlich zu. Mit starkem Akzent hielt der Humanoide
dann in der Sprache des jeweiligen Landes eine Rede:
„Bewohner der Erde, die Zivilisation Shiharsa erklärt
ihre durch das Recht der Erstentdeckung erworbene Autorität und Gerichtsbarkeit
über euren Planeten. Wir werden eurer Welt einen Tong lang Sicherheit gewähren.
Das Schicksal der Menschheit hängt allein davon ab, wie ihr diese Zeit nutzt.
Ihr habt nun genügend Fortschritte als Spezies gemacht und dürft an dem großen
Spiel teilnehmen, dem Spiel, das die Wirklichkeit unterwirft. Spielt also und
verdient euch euren rechtmäßigen Platz an der Seite der großen Rassen der
galaktischen Raumfahrt!“
Darauf folgten seltsame Diagramme und Pläne, dann endete
der zweiundfünfzig Sekunden lange Clip und das Popup-Fenster schloss sich ganz
von allein. Es versteht sich von selbst, dass nur recht begrenzte Menschen auf
solch einen primitiven und kunstlosen Schwindel hereinfallen würden. Selbst die
leichtgläubigsten Zuschauer dachten, es sei nur ein Schauspieler im Fellkostüm,
der eine plumpe Werbung für ein neues Computerspiel machte.
Aber einige Naivlinge hatten dennoch Fragen.
Fernsehstudios luden Experten ein, um die „Blaupausen“ aus dem Clip zu
untersuchen. Sie alle kamen zu dem einstimmigen Schluss, dass selbst die
oberflächlichste Untersuchung sie als vollkommenen Nonsens entlarvte. Die
abgebildete Technologie, versicherten sie uns, verfügte nicht einmal über eine
Stromschaltung, womit sie selbst in der Theorie nicht funktionieren würde.
Das Interesse an dem Video des pelzigen Aliens währte
nicht lange. Die Anzeige tauchte aber immer wieder auf. Wenn dann wieder einmal
ein Film, eine Nachrichtenseite oder eine Sportübertragung durch das
nervtötende Popup unterbrochen wurde, platzte einem einfach der Kragen, egal,
wofür da geworben wurde. Unzufriedene Internetnutzer auf der ganzen Welt
installierten Pop-up-Blocker und bombardierten den technischen Support-Services
der betroffenen Websites mit allen möglichen Beschwerden.
Die Behörden versuchten, die viral gewordene Anzeige zu
bekämpfen, und drohten den geheimnisvollen Hackern, auf deren Konto dieser
dumme Witz ging, mit schwerwiegenden Konsequenzen. Sysadmins lernten, das
störende Video schnell zu blockieren. Datensicherheitsspezialisten versuchten,
seinen Ursprung zu ermitteln, doch dieser war geschickt verborgen. Sie alle
versicherten uns aber, dass sie bald die Spur dieser unverschämten
Gesetzesbrecher aufnehmen würden. Und obwohl diese nie aufgespürt wurden,
verschwanden die Anzeigen nach wenigen Wochen und die Erde stieß einen
kollektiven Seufzer der Erleichterung aus.
So kam und ging das außerordentlichste Ereignis in der
Geschichte der Menschheit, das endlich den Streit um die uralte Frage nach der
Existenz einer außerirdischen Intelligenz beigelegt hätte, als chaotischer
Flop. Natürlich, fast jeder bekam es mit, aber so gut wie niemand hatte
erkannt, wovon sie tatsächlich gerade Zeuge geworden waren.
Hier und dort aber gab es Enthusiasten, die mehr über
„das Spiel, das sich die Wirklichkeit unterwirft" erfahren wollten. Obwohl
Experten die Entwürfe als absurd bezeichneten, glaubten diese beharrlichen
Verrückten, sie hätten ein Wunder gesehen und einige bauten sogar das Gerät
nach, das in den Plänen dargestellt wurde ...
Kapitel Eins. Das
Online-Turnier
WIR WUSSTEN GENAU, dass es riskant und illegal war. Wir wussten auch, dass wir hochkant von
der Universität fliegen und wieder zu Hause sitzen würden, ehe wir es uns
versahen, wenn jemand davon Wind bekam, dass wir diese gewinnorientierten
Online-Gaming-Turniere veranstalteten. Und vor allem, wenn sie unsere
Glücksspiel-Software fanden. Trotzdem gingen wir das Risiko ein. Warum? Schwer
zu sagen.
Zuerst
war alles ganz simpel. Meine Mitbewohner und ich organisierten die ersten
Turniere in unserem Studentenwohnheim aus rein finanziellen Gründen.
Schließlich waren wir Studenten am Rande des Existenzminimums. Aber nachdem wir
ein Sümmchen verdient hatten, konnten wir einfach nicht mehr aufhören. Das Geld
wurde zur Nebensache. Das Adrenalin, der Nervenkitzel des Spiels, der Respekt,
den unsere Kommilitonen uns zollten und die Tatsache, dass wir bei den Mädchen
gut ankamen, waren Motivation genug.
Uns war nur zu deutlich bewusst, dass mit zunehmendem
Umfang der Turniere immer mehr Menschen herausfinden würden, was wir trieben.
Es würde immer schwieriger werden, es vor unseren Professoren, der Polizei und
den universitätseigenen Sicherheitskräften zu verheimlichen. Die Identität der
Spieler und Organisatoren verschleierten wir nur mit primitiven Tricks.
Irgendwann würden seriöse Informationssicherheitsexperten eine Untersuchung in
die Wege leiten und dann wäre bei uns Schluss mit lustig. All das war uns
sonnenklar. Immer öfter sagten meine Freunde und ich, dass es nun an der Zeit
wäre, das Ganze zu beenden. Wir beteuerten, dass das nächste Online-Turnier das
letzte sein würde. Aber darauf folgte immer ein weiteres, dann noch eines und
noch eines ...
Dieses Mal hatte unser großes PvP-Turnier Studenten aus
jedem Wohnheim in Moskau zu uns gelockt. Es hatte am Samstagmittag begonnen und
war jetzt, am Montag um fünf Uhr morgens, immer noch im Gange. Von anfänglich
achthundert Spielern hatten es nur zweiunddreißig durch die
Qualifikationsspiele geschafft. Und ich war einer von ihnen. Ja, im Gegensatz
zu meinen Mitbewohnern, die die Server, die Verschlüsselungssoftware und die
Buchhaltung innehatten, nahm ich oft selbst an den Online-Battles teil. Gar
nicht so selten gewann ich sogar und erhielt ein beträchtliches Preisgeld.
Und ich habe nie irgendwelche „Unsterblichkeitsmods“,
Cheat-Codes oder andere unfaire Methoden angewandt. Alles, was ich brauchte,
war mein leistungsstarker Computer mit der erstklassigen Grafikkarte, guten
Prozessoren und schnellem Ping, dazu eine gute Kenntnis der Spielkarten und
Waffen — und vor allem flinke Finger. Ich benutzte immer unterschiedliche
Pseudonyme und war sicher, dass keiner der Stammspieler ahnte, dass ein und
dieselbe Person viele der letzten Turniere gewonnen hatte.
Und jetzt spielte ich. Tief versunken, mit dem
Virtual-Reality-Helm auf dem Kopf und den Fingern an den Buttons des
ergonomischen Handschuh-Controllers. Die Welt außerhalb existierte für mich
einfach nicht mehr ...
* * *
Ich
lief eine steile Wendeltreppe in das dritte und höchste Stockwerk eines
luxuriösen Palastes hinauf. Ich blieb stehen, um wieder Atem zu schöpfen. Meine
Ausdauerwerte waren praktisch auf 0, meine dicken Säulenbeine zitterten und
meine Seiten blähten sich wie der Blasebalg eines Schmieds. Ich holte rasselnd
Atem und klappte meinen Mund auf und zu wie ein Fisch an Land. Ich bekam
einfach nicht genug Luft. Das Leben als Riese war anstrengend!
Ich hatte nur eine Minute vor Beginn des Finalspiels ganz
spontan einen Ogerkrieger ausgewählt. Die zufällig ausgewählte Spielkarte war
eine mittelalterliche Burg mit riesigen, düsteren Räumen, engen Gängen und
steilen Treppen. Der Drow-Schütze, den ich in den frühen Stadien gespielt
hatte, wäre hier im Nachteil gewesen, also hatte ich mich im allerletzten
Moment umentschieden.
Ich hatte noch nie einen so großen Charakter gespielt und
die Behäbigkeit dieses schweren Körpers war eine böse Überraschung. Mein
sechshundertfünfzig Pfund schwerer Oger war nicht in der Lage, zu rennen oder
Regenrinnen hochzuklettern. Sogar eine steile Treppe stellte ein beträchtliches
Hindernis dar, das mich meine gesamte Ausdauer kostete. Außerdem gab es fast
eine Sekunde Verzögerung zwischen der Eingabe eines Befehls und der Reaktion
des Charakters, was besonders gewöhnungsbedürftig war.
Diese Trägheit hatte mich zuvor bei einem Gefecht mit
einem listigen menschlichen Assassinen beinahe das Leben gekostet. Dieser war
den Hieben meiner gigantischen zweihändigen Streitaxt mühelos ausgewichen. Ich
musste eine ungewöhnliche Strategie anwenden — ich
holte aus, als wollte ich meine Waffe schwingen, aber anstatt sie
niederschmettern zu lassen, spreizte ich meine Arme und sprang nach vorne. Das
warf den hockenden Mann um und ich schaffte es zum Glück, meinen agilen Gegner
am Boden festzuhalten. Der Hauptvorteil, den die Klasse der Assassinen hatte,
war ihre Mobilität und genau diese hatte ich ihm geraubt. Ich erledigte ihn
mühelos, indem ich ihm einfach mit bloßen Händen den Hals brach. Der Assassine
war mein vierter Frag im Finale und mir blieben nur 37% Leben. Zu wenig, um zu
gewinnen. Eine kritische Situation.
Während sich meine Ausdauerwerte langsam wieder erholten,
öffnete ich das Leaderboard. Nach fast einer Stunde Spiel waren nur vier von
zweiunddreißig Spielern übrig: mein Oger, ein menschlicher Speermann, ein
Elfenschütze und ein weiterer, unbekannter Charakter. Da noch kein Spieler
diesen Charakter entdeckt hatte, erschien ein Fragezeichen anstelle der Rasse
und Klasse. Und in der Zwischenzeit hatte diese unbekannte Person drei Kills
geschafft. Ziemlich cool. Muss wohl eine Art unsichtbarer Stealth-Charakter
gewesen sein, der Menschen aus dem Verborgenen angreift.
Es ertönte ein Alarm, der anzeigte, dass das Turnier in
fünf Minuten vorbei sein würde. Ich musste mich beeilen. Ich öffnete die Karte.
Hinter der verschlossenen Tür vor mir schien ein langer, gerader Korridor zu
liegen. Wenn ich einen Elfenschützen spielen würde, hätte ich mich dort
postiert und meine Gegner aus der Ferne angegriffen. Es wäre der perfekte Platz
dafür. Das sollte ich im Hinterkopf behalten.
Polternd warf ich die Türen auf, trat einen entschiedenen
Schritt nach vorne und machte dann einen kräftigen Satz zurück. Und genau in
dem Moment schlug ein langer Pfeil mit roter Befiederung genau in Kopfhöhe
neben mir in den Türrahmen! Ich hatte mich nicht geirrt. Die Elfe hielt sich
genau dort versteckt, wo ich ihn vermutet hatte. Ohne eine Sekunde zu zögern
stürmte ich vorwärts und gab dabei ein markerschütterndes, wildes Geheul von
mir. Lautes Gebrüll ließ Feinde manchmal vor Verwirrung und Angst erstarren,
was sich als großer Vorteil erweisen konnte. Wenn das Geschrei dann auch noch
aus dem Maul eines wilden, menschenfressenden Riesen stammte, verstärkte sich
dieser Effekt natürlich.
Selbst der blutigste Anfänger wusste, dass ein Pfeil in
die Brust eine hünenhafte Tötungsmaschine wie meinen Charakter nicht stoppen
konnte. Worauf sollte ein zarter Bogenschütze also am besten zielen? Auf den
Kopf natürlich, dort würde der größte Schaden entstehen. Genau in dem Moment,
als die Elfe die Bogensehne losließ, schützte ich mein Gesicht mit der breiten
Klinge meiner Streitaxt.
Ping! Glück gehabt. Der Pfeil prallte ab und meine Waffe
erzitterte. Kein kluger Schachzug meiner Gegnerin! Sie hätte auf meine Beine
zielen und mich verlangsamen sollen. Dann hätte sie noch einige Male
nachschießen können. Aber das Spitzohr war zu vorhersehbar. Nachdem sie
gescheitert war, verließ sie der Mut. Erst blieb sie an Ort und Stelle stehen und
griff nach einem weiteren Pfeil, dann versuchte sie, wegzulaufen. Aber es war
zu spät! Ich hackte diagonal von rechts nach unten und der Kopf des hübschen
langohrigen Mädchens rollte über die Steine. Meine schwere Axt hatte ihn
abgetrennt. Ein fünfter Frag! Und das ohne Gesundheit zu verlieren!
Ich hielt an und öffnete erneut die Karte. Es blieb nicht
mehr viel Zeit. Wo würde ich die beiden anderen Feinde finden? Wie zur Antwort
ertönte zwanzig Schritte vor mir, hinter einer anderen Tür, ein deutliches Jaulen.
Ein weiterer Feind war tot. Wer wohl nun gestorben war? Ich öffnete die
Spielerliste. Der Name des menschlichen Speermanns wurde dunkel, dann tickte
die Zahl neben meinem letzten Rivalen auf vier. Und wieder war es dem Opfer
nicht gelungen, seinen Mörder zu sehen. Ein geschicktes Kerlchen, soviel war
klar ...
In der rechten oberen Ecke des Bildschirms lief der Timer
unaufhaltsam weiter. Nur noch zwei Minuten bis zum Ende des Spiels. Wenn
mehrere Spieler bis zum Ende überlebten, würde es ein Rematch geben und die
acht besten Cyber-Athleten des Finales sich wieder auf derselben Karte
versammeln. Oh, bitte bloß nicht! Nach diesem unendlich langen Gaming-Marathon
konnte ich ohnehin kaum mehr einen klaren Gedanken fassen. Noch dazu hatte ich
heute in der dritten Unterrichtsstunde einen wichtigen Test, für den ich noch
lernen wollte, und dann sollte ich idealerweise auch noch ein wenig schlafen.
Also, vorwärts! Wer wagt, gewinnt!
Ich barst durch die Tür und sprang dann rasch zurück. Es
war der gleiche Trick, den ich gegen die Bogenschützin verwendet hatte. Aber
niemand griff mich an. Seltsam. Ich beruhigte mich etwas und sah mich um. Das
düstere, kleine Zimmer war vollgestopft mit Möbeln. Es hatte zwei Ausgänge,
einen nach links und einen nach rechts, aber beide führten zu demselben
halbrunden, mit Efeu bewachsenen Balkon. Es gab auch eine runde Luke in der
Decke, aus der eine Strickleiter baumelte. Vielleicht war der geheimnisvolle
Stealth-Charakter ja da oben. Höchstwahrscheinlich aber befand sich mein Gegner
immer noch irgendwo in diesem kleinen, abgedunkelten Raum, versteckt,
unsichtbar, und wartete darauf, dass mir ein Fehler passierte. Meine Mission
war es, ihn zu entdecken, ohne dabei meinen verwundbaren Rücken preiszugeben.
Ein Stich in den Rücken des Rivalen war für viele Spielklassen eine
Möglichkeit, einen kritischen Treffer zu landen und das bedeutete erhöhten
Schaden.
Ich kappte die Strickleiter. Dann hackte ich mit meiner
Axt ein Kreuz in die Luft vor mir und ließ die Klinge abrupt einige Male den Boden
entlang scheuern. Nichts. Entweder war mein Feind geschickt genug, mir lautlos
auszuweichen (was unmöglich schien), oder er war einfach nicht hier. Aber wo
war er dann? Wartete er oben? Wohl kaum. Schließlich wollte er das Ganze
bestimmt ebenfalls hier und jetzt beenden und kein Rematch spielen. Wartete er
tatsächlich auf einem sonnigen Balkon auf mich? Komm schon, das war doch
Irrsinn. Warum sollte sich ein Stealth-Charakter aus dem Schatten lösen?
Ich sah mich erneut um. In diesem kleinen Raum konnte man
sich schlicht und ergreifend nirgendwo verstecken. Regale, ein kleiner Tisch,
ein offener Schrank mit schiefen Türen. Ich hackte mit meiner Waffe erneut
durch die Luft und überzeugte mich davon, dass mein Gegner nicht hier war. Ein
weiterer Alarm ertönte. Nur noch eine Minute im Finale. Also musste ich mich
entscheiden. Sollte ich durch die rechte oder die linke Tür auf den Balkon
treten? Mein Feind musste hinter einer dieser Türen auf mich warten.
Wahrscheinlich verharrte er gerade in Unsichtbarkeit und ertrug es kaum noch,
zu warten. Die Qual der Wahl. Ich war dem Gegner an Stärke überlegen. Aber
würde ich es schaffen, ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten und ihn
zu töten? Oder würde ich die falsche Wahl treffen, er mir in den Rücken fallen
und mich besiegen?
Mit einem tiefen Seufzer traf ich meine Entscheidung und
... hieb mit all meiner Kraft, mit dem gesamten Rest meiner Ausdauer, meine Axt
in den Schrank!
Meine schwere Waffe glitt durch etwas Weiches. Bingo!
Anstelle von Brettern und Splittern spritzte Blut, und ein entzweigespaltener
Körper fiel zu Boden. Ein Gestaltwandler. Diese Klasse lauerte ahnungslosen
Opfer auf, um sie von hinten anzugreifen und in der Regel mit einem einzigen
Schlag zu töten. Sie wurden sehr selten in Online-Turnieren verwendet, weil sie
nur langsam vorwärtskamen, sich direkt neben ihren Opfern befinden mussten und
gänzlich hilflos wären, wenn ihr erster Schlag nicht tödlich war. Eine
ungewöhnliche Wahl, aber ich musste zugeben, dass es dem Gegner fast den Sieg
eingebracht hatte.
„Ja! Verdammt! Habt ihr das gesehen?!“ rief ich meinen
Mitbewohnern frohlockend zu. Ich nahm meinen Virtual-Reality-Helm ab.
Und erstarrte ...
In meinem Studentenzimmer befanden sich unzählige
Menschen in der grauen Uniform der Moskauer Polizei. Meine Freunde lagen zu
Boden gedrückt und mit auf dem Rücken gefesselten Händen da.
„Ja, haben wir“, grinste ein schnurrbärtiger Mann, der
ein kurzläufiges Maschinengewehr in den Händen hielt. Er schien hier das Sagen
zu haben. „Wie wär’s, wenn du dich jetzt brav wie deine Freunde auf den Boden
legst? Beine spreizen und Hände in den Rücken. Und das sage ich dir nur einmal,
Freundchen.“
Kapitel Zwei.
Exmatrikuliert
„WERDE ICH EXMATRIKULIERT?“ fragte ich, als der hochwichtige Ermittler endlich die
Zeit fand, mich zu verhören.
„Na, was meinst du?“, fragte der schnurrbärtige Polizist
mittleren Alters zurück. Seinen Schulterstücken nach zu urteilen war er ein
Captain. Er überflog einen Stapel Papiere auf dem Tisch und unterschrieben
einige von ihnen. „Es wäre besser gewesen, wenn du und deine kleinen Freunde
nur Computerspiele gespielt hättet, anstatt an der besten Universität des
Landes für eure Prüfungen zu lernen. Hätte mir zwar nicht gefallen, aber
zumindest hätte ich es verstanden. Aber nein, ihr musstet die Leute ja
unbedingt wetten lassen! Es gibt also nichts, was ich tun kann. Strafgesetzbuch
der Russischen Föderation, Artikel 171.2, Punkt 2. Bis zu vier Jahre in
Strafvollzug. Kirill, jetzt sitzt du wirklich in der Tinte.“
Ich schlotterte und nickte nur blöde. Natürlich wusste
ich das schon, denn ich hatte im vergangenen Jahr nachgesehen, wo wir mit
unserem illegalen Unternehmen landen könnten. Vier Jahre Gefängnis ... Ich
stöhnte schaudernd und versuchte, meine wilden Gedanken ein wenig zu sammeln.
Ich war so erschöpft und in Panik, dass mein Kopf nur langsam arbeitete.
Zuvor hatte ich drei unangenehme Stunden auf einer Bank
in einer Zelle der örtlichen Polizeistation verbracht. Meine Zellengenossen
waren eine Gruppe bestialisch stinkender Penner gewesen, die sich offenbar auch
noch besudelt hatten. Ich tat mein Möglichstes, um mich von ihnen fernzuhalten
und nicht einzuschlafen. Schließlich aber war ich doch eingenickt. Eine Weile
später wurde ich von einem Sergeant wachgerüttelt und den Flur entlang in
dieses Büro gebracht. Mir wurde gesagt, er sei ein Ermittler, aber er stellte
mir keine Fragen, bestätigte nur meinen Vor- und Nachnamen und die kurze
Biografie in meiner persönlichen Akte.
Und ich beantwortete seine Fragen eifrig. Ja, ich bin
Kirill Wiktorowitsch Ignatjew, zwanzig Jahre alt. Aus der kleinen Stadt Susdal
in der Oblast Wladimir. Keine Brüder oder Schwestern. Ich erinnere mich nicht
an meine Mutter. Sie starb, als ich noch keine vier Jahre alt war. Aber meinen
Vater verlor ich erst kürzlich. Vor noch nicht einmal drei Jahren. Er arbeitete
als Geologe und sein Team war in Ostsibirien illegalen Goldgräbern über den Weg
gelaufen, die keine Zeugen für ihre kriminellen Unternehmungen brauchen
konnten. Danach wohnte ich bei meiner Tante in Susdal, schloss die Schule ab
und wurde an der Geologischen Fakultät der Staatlichen Universität Moskau
aufgenommen.
Der Ermittler hörte aufmerksam zu und kritzelte etwas in
seine Unterlagen. Dann schien er zu vergessen, dass ich existierte. Er schaltet
seinen Computer ein und suchte lange Zeit nach etwas in Seiten über Seiten an
Text.
„Und wo sind meine Mitbewohner?“ fragte ich, nur, um die
qualvolle Stille zu unterbrechen.
Endlich wandte der Polizist seinen Blick vom Bildschirm
ab, platzierte den Kugelschreiber auf den Papierstapel und blickte mich
aufmerksam an.
„Die beiden Verlierer? Im Moment hält man sie in einer
Zelle fest, ohne ihnen ein Wort darüber zu sagen, was mit ihnen passieren wird.
Das Übliche. Wir versuchen, sie nervös zu machen und ihre Köpfe mit jeder Menge
Horrorszenarien zu füllen. Und morgen oder übermorgen, wenn sie moralisch
darauf vorbereitet sind, stellen wir sie vor eine einfache Wahl: Entweder wegen
der illegalen Spielsoftware vor Gericht gehen oder freiwillig der Armee
beitreten. Deine Kumpane haben ihren verpflichtenden Militärdienst noch nicht
geleistet, also werden sie als Soldaten in den Ingenieurkorps eintreten.
Dorthin schicken sie normalerweise Studenten, die aus der Geologischen Fakultät
geflogen sind. Sie werden dem Vaterland dienen, ein wenig Lebenserfahrung
sammeln und es wird ihnen eine gute Lektion sein, was mit Gesetzesbrechern
passiert.“
Ich überlegte, aber es fiel mir schwer, unter
Schlafentzug einen klaren Gedanken zu fassen. Einerseits war es gut, dass es
eine Alternative zum Gefängnis zu geben schien. Andererseits hatte ich keine
Ahnung, warum der Polizeibeamte mir das erzählte und warum ich getrennt von
meinen Kommilitonen festgehalten wurde. Ehemaligen Kommilitonen, um genauer zu
sein.
„Und warum werde ich getrennt von meinen Freunden
festgehalten?“ fragte ich endlich.
„Weil du, Kirill, kein bloßer Teilnehmer bist, sondern
der Anführer dieses ganzen illegalen Unternehmens. Ein ziemliches Fiasko, das
da ans Licht gekommen ist. Irgendjemand muss sich vor dem Gesetz dafür
verantworten. Was dich angeht, ist die Geschichte aber noch nicht entschieden.
Wir müssen zuerst einige Details klären. Vielleicht werden wir dich zu deinen
Freunden stecken, dann könnt ihr alle zusammen oben im Norden Pontons und
Brücken bauen oder was weiß ich. Vielleicht hast du aber auch ein paar mehr
Auswahlmöglichkeiten als deine Mitbewohner.“
Der Offizier verstummte und widmete sich wieder seinen
Dokumenten. Inzwischen versuchte ich, dahinterzukommen, was genau er meinte und
welche Details ihn wohl interessierten. Ich saß so lange in absoluter Stille,
dass ich langsam wegdöste. Plötzlich klingelte das Telefon auf dem Tisch des
Ermittlers. Ich zuckte vor Überraschung zusammen. Der Polizist hob ab, hörte
still zu und legte wieder auf.
„Sie haben gerade eure Buchhaltung entschlüsselt. Wir
haben die Liste der Preisträger und die Gesamtsummen aus allen vergangenen
Turnieren“, teilte er mir mit und bemühte sich nicht sonderlich, seine
Selbstzufriedenheit zu verbergen. „Jetzt können alle Spieler bestraft werden.
Einige werden von der Universität ausgeschlossen, falls sie ohnehin schon
Probleme dort haben. Für den Rest gibt's einen kräftigen Arschtritt, der sie
wieder auf die rechte Bahn bringt. Aber was dich angeht ...“
Der Mann unterbrach sich plötzlich und legte mir ein paar
Blätter Papier vor. Er pfiff überrascht durch die Zähne, unterstrich etwas mit
seinem Stift und sah mich dann an. „Wenn man den Finanzberichten Glauben
schenken will, Kirill, hast du in dreiundfünfzig Online-Turnieren mitgespielt.
Siebenundzwanzig davon hast du gewonnen und in allen anderen warst du immer
noch so gut, dass du etwas Geld bekommen hast. Stimmt das?“
„Ja, ja, das stimmt“, sagte ich und versuchte es gar
nicht mit Ausreden. „Ich war nur in zwei Turnieren unter dem Preisniveau. Bei
allen übrigen habe ich zumindest einen Gewinn erzielt. Aber was tut das jetzt
noch zur Sache ...?“
Meine Ergebnisse schienen jedoch aus irgendeinem Grund
wichtig zu sein, das ließ mich die plötzliche Veränderung in seinem Benehmen
erahnen. Der Ermittler legte sorgfältig alle Papiere in einen Plastikordner auf
den Tisch, klappte den Ordner zu und beugte sich zu mir.
„Ob du es glaubst oder nicht, es tut etwas zur Sache.
Erst gestern haben wir eine sehr ungewöhnliche Anfrage von ganz oben bekommen:
Wir sollten eine Liste von eingefleischten Spielsüchtigen aus Moskaus
Studentenpopulation zusammenstellen und sie hochschicken. Glücklicherweise
haben wir zufällig alle Informationen, die wir brauchen, auf deinem Spielserver
gefunden.“
„Wer braucht denn schon eine Liste von Studenten, die
gamen?“
Der schnurrbärtige Polizist zuckte mit der Achsel und
lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Ich weiß nur, was man mir sagt. Irgendein
Institut im Moskauer Bezirk, das an Virtual Reality arbeitet, braucht erfahrene
Spieler, die ihre Programme testen. Ich weiß nicht, wie viele freie Stellen die
haben, und ich kenne die genauen Bedingungen nicht, aber für dich wäre das doch
eine ausgezeichnete Alternative zu Gefängnis oder Armee. Also denk scharf nach,
Kirill. Das ist eine einmalige Chance. Du umgehst eine Strafe und bekommst
stattdessen einen guten Job. Also streng' deine grauen Zellen an. So ein
Schlupfloch bleibt nicht ewig offen.“
Wie im Delirium dachte ich über das Angebot nach. Ein
wenig in einem Institut im Moskauer Bezirk arbeiten, bis der ganze Wirbel sich
gelegt hatte? Das klang fantastisch! Selbst wenn ich einen Hungerlohn verdienen
sollte, spielte das jetzt keine Rolle. Außerdem hatten sie offenbar nicht vor,
das Geld, das ich gewonnen hatte, zu beschlagnahmen, denn alle meine
Debitkarten befanden sich noch in meiner Brieftasche. Das bedeutete also, dass
ich einige Ersparnisse hatte, von denen ich leben konnte.
„Was gibt es da groß zu überlegen? Ich bin dabei!“,
erklärte ich lautstark. „Wo soll ich unterschreiben?“
Kapitel Drei.
Unglücksgenossen
DAS WÜTENDEN GESCHREI eines Mädchens riss mich aus dem Schlaf.
„Der verdammte Vertrag mit dem Institut läuft über zwei
Jahre?!“, stöhnte das Mädchen beinahe hysterisch.
Ich öffnete ein Auge und ... wachte endlich auf. Ich war
an einem mir unbekannten Ort, in einem dunklen Raum voller Zementsäcke und
alten Möbeln. Ich brauchte ein paar Sekunden, um mich zu orientieren und mich
daran zu erinnern, wo ich war. Irgendein Hangar oder Lager, zu dem ich direkt
von der Polizeistation in einem Fahrzeug mit verdunkelten Scheiben gebracht
worden war. Um ehrlich zu sein, hatte ich keine Ahnung, wie lange die Fahrt
gedauert hatte oder in welche Richtung sie gegangen war. Ich war in der
Sekunde, als ich mich in den Sitz sinken ließ, eingeschlafen. Ich erinnerte
mich nur daran, dass ich aus dem Wagen gestoßen und in diesen Raum geführt
worden war. „Warte auf den Rest der Gruppe“, hatte man mir gesagt.
Mein ganzer Körper schmerzte und fühlte sich taub an. Ich
war in einer verrenkten Position auf einer dieser harten, unbequemen Bänke
eingeschlafen, die sich normalerweise in den Wartezimmern von Busbahnhöfen
befanden. Bänke mit Armlehnen zwischen den Sitzen, damit Penner es sich auf
ihnen nicht für die Nacht bequem machen konnten. Aber heute war ich so müde
gewesen, dass ich meine Extremitäten irgendwie darauf drapiert und mich
hingelegt hatte. Als ich nun versuchte, mich zu bewegen, spürte ich einen
stechenden Schmerz in meinem tauben Bein.
„Sieh an, sieh an. Der Yogi erwacht!" witzelte
jemand zu allgemeinem Gelächter.
Ich befreite mich irgendwie aus meiner bankförmigen
Falle, richtete mich auf und wandte mich um, um zu sehen, wer außer mir noch
hier war. Drei junge Männer und zwei junge Frauen, alle ungefähr in meinem
Alter. Waren auch sie Gamer, die man von der Uni geworfen hatte und die nun an
diesem geheimnisvollen Institut aufgenommen worden waren?
Vielleicht, aber eines der Mädchen passte nicht recht ins
Bild. Sie erregte sofort meine Aufmerksamkeit. Eine auffällige, langbeinige
Blondine mit einem hübschen Puppengesicht und einer beinahe unmöglich perfekten
Figur und ... einem klugen, aufmerksamen Blick, der den Rest sofort untergrub
und auf einen scharfen Verstand schließen ließ. Sie trug ein stilvolles
Reisekleid und schicke Schuhe, eine Designertasche und teure Smaragdohrringe.
Diese elegante Schönheit sah nicht aus wie jemand, der virtuelle Welten
brauchte, um der Realität entfliehen zu können.
Das andere Mädchen dagegen war vollkommen unauffällig:
klein, dunkelhaarig und bescheiden gekleidet, mit einer dicken Brille auf der
Nase. Eine klassische graue Maus.
„Hallo zusammen!“ Ich begrüßte sie alle mit einem
Lächeln. „Habe ich etwas Interessantes verpasst? Ich habe gehört, dass jemand
einen Zweijahresvertrag erwähnt hat?“
„Ja, Artur.“ Die graue Maus deutete auf einen
langhaarigen Jungen mit einem Ring im linken Ohr, der aussah wie ein Hippie.
„Er meint, dass er im Dekanat einen zweijährigen Vertrag erhalten habe.“
„So ist es!“ bestätigte der Hippie. Er trug zerrissene
Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit dem Logo der Band Pink Floyd. „Ich wurde
heute rausgeworfen. Ich war schon in meinem dritten Jahr! Lange Geschichte,
aber sie hatten wohl ihre Gründe. Ich hab' versucht, Einspruch zu erheben. Hab'
dem Dekan sogar ein Statement vorgelegt. So in der Art: Lektion gelernt, tu' es
bestimmt nicht wieder, blablabla ... Aber dieses Arschloch meint, ich muss
beweisen, dass es mir ernst ist und an einem speziellen Auftrag in einem
paramilitärischen Institut in Moskau arbeiten. Er meint, ich darf wieder
zurück, wenn ich fertig bin. Und er hat mich gezwungen, einen Vertrag zu
unterschreiben, in dem von „zwei Jahren“ die Rede ist, schwarz auf weiß.“
Artur beendete seine Rede, senkte den Kopf und schwieg.
Die anderen blieben ebenfalls stumm und sahen mich unverhohlen an.
„Was ist mit dir? In Ungnade gefallener Student, wie wir
anderen auch?“ fragte ein am Boden hockender Junge. Sein Haar war kurz
geschnitten und er war ein Gopnik, wie er im Buche stand. Er trug eine
schwarze Lederjacke, Trainingshosen, Laufschuhe ohne Socken und eine
Ballonmütze. Alles, was fehlte, um das perfekte Abbild eines klassischen Russen
aus dem Proletariat zu vervollständigen, waren ein blaues Auge und eine
zerknitterte Belomorkanal-Zigarette im Mund.
Ich hatte nichts zu verbergen, also sagte ich ihnen
meinen richtigen Namen und dass ich von der Geologie-Abteilung der Moskauer
Staatlichen Universität geflogen war, weil ich, anstatt zu studieren, für Geld
ein Online-Spiel gezockt hatte.
„Genau wie wir alle“, verkündete die graue Maus mit einem
bitteren Lachen. „Während du geschlafen hast, haben wir uns einander
vorgestellt und herausgefunden, dass wir alle am selben Online-Turnier
teilgenommen hatten. Außerdem waren wir alle ins Finale gekommen. Am
schlimmsten ist es, dass ich fast die letzte Runde mit meiner Bogenschützin
gewonnen hätte. Ich war einer der letzten vier überlebenden Spieler. Ich hatte
einfach Pech. Ich habe ein paar Mal danebengeschossen und ein Kämpfer hat aus
mir Kleinholz gemacht ..."
„Du hättest auf die Beine des Ogers schießen und
rückwärts gehen sollen, dann hätte er dich nicht gekriegt“, riet ich ihr recht
verspätet.
Das Mädchen rief erstaunt: „Das warst also du, Kirill?!
Dein Oger hat mich umgebracht? Du hast das Finale gewonnen! Du hast
wahrscheinlich jede Menge Geld gekriegt, gib es zu!“
„Hmm, was soll ...“ Peinlich berührt senkte ich den Blick
zu Boden. „Klar, ich habe gewonnen, aber ich habe keinen Groschen bekommen. Ich
hatte mir kaum den Helm vom Kopf genommen, da hatten die Bullen mich schon in
Handschellen. Ich bin nicht einmal vom Computer aufgestanden.“
Hier unterbrach ein zuvor stiller, muskulöser Junge, der
aus der Kaukasusregion zu stammen schien, unser Gespräch. Bis dahin hatte er
erfolglos versucht, sein Handy zu aktivieren.
„Was das Turnier betrifft, sage ich euch – es waren die
Organisatoren, die die Bullen gerufen haben! Nur sie kannten die IP-Adressen
aller Spieler. Und sie haben uns bei den Bullen verpetzt, damit sie uns nichts
zahlen müssen. Sie haben das ganze Geld selbst eingesteckt, die Mistkerle!“
Alle im Raum waren derselben Meinung. Es hagelte Flüche
und Beleidigungen gegen die Organisatoren. Und ich beschwerte mich am
lautesten, damit niemand auf die Idee kam, ich könnte etwas mit den unbekannten
Betrügern zu tun haben. Irgendwann hatten sie sich genügend ausgelassen und
verstummten. Ich nutzte die Pause und bat alle, sich noch einmal vorzustellen.
Die Blondine sagte, sie wäre Anya von der First Medical.
Sie bereute es nicht, hinausgeworfen worden zu sein. Sie könnte den Anblick von
Blut nicht ertragen und es wäre die dumme Idee ihrer Eltern gewesen, dass sie
ein Medizinstudium beginnen sollte. Das zweite Mädchen hieß Mascha und hielt
sich nicht mit Details auf. Sie sagte, sie wäre eine Studentin an einer
technischen Universität in Moskau und freute sich auch, die Uni verlassen zu
können. Für sie war es nichts als eine endlose Folter mit ständigem Geldmangel
und demütigendem Betteln um Stipendien und Studentenzimmer gewesen.
Der Gopnik sagte nach einigem Herumdrucksen, dass sein
Name Denis wäre und wir „den Rest nicht zu erfahren brauchen, denn das ist
alles in der Vergangenheit.“ Der letzte Kerl war dafür etwas offener. Er sagte,
sein Vorname wäre Imran und er wäre SAMBO-Profi. Imran hatte im vergangenen
Jahr seinen Abschluss am Athletics Institute als Klassenbester absolviert,
hatte es aber nicht eilig, in seine Heimat Dagestan zurückzukehren. Er blieb
auf Gedeih und Verderb weiterhin zusammen mit seinen Freunden im Wohnheim, wo
er auf sein goldenes Ticket wartete.
„Einige Kumpel haben mir gute Arbeit in Moskau
versprochen, aber etwas ist passiert“, sagte er über seinen gescheiterten Plan,
ohne weiter ins Detail zu gehen.
Imran nestelte noch eine Minute lang an seinem Handy
herum, um es dann wieder in seine Tasche zu stecken und zu sagen: „Kann sich
nicht mit dem Netzwerk verbinden, das bescheuerte Teil! Wahrscheinlich ist es
dieses verdammte Stahldach.“
„Unter anderem“, ertönte da eine höhnische Stimme aus der
Dunkelheit. „Aber dies ist ein Militärstützpunkt, wir haben auch Störsender.“
Zusammen mit dem Rest der Gruppe wandte ich mich der
Stimme zu und sah einen kräftig aussehenden Mann mittleren Alters in einer
dunkelblauen Overall-Uniform. Ein ungewöhnlich buntes Emblem zierte seinen
Ärmel. Es zeigte einen goldenen, griechischen Helm in einem weißen Kreis.
Darunter prangten ein Wappen und der kursive Schriftzug „Zweite Legion“. Er
schien nicht bewaffnet zu sein, aber seine militärische Haltung und seine
Armeeerfahrung waren sofort offensichtlich.
Ohne uns viel Zeit zu geben, darüber nachzudenken, was er
gesagt hatte, deutete der Mann in die dunklen Tiefen des Hangars: „Geht da
lang, in die Dunkelheit. In der Ecke werdet ihr einen Stapel Dachziegeln
finden. Räumt ihn zur Seite und geht die Treppe dahinter hinunter. Folgt dem
Tunnel bis in die Kuppel. Die anderen Newbies sind bereits dort. Die Einführung
wird in Kürze beginnen. Der Sitzungssaal in der Kuppel ist nicht sehr groß,
also beeilt euch. Die Präsentation dauert ein paar Stunden und wer zu spät
kommt, muss stehen.“
* * *
Wir
hatten die Dachziegel schnell gefunden. Es war ein Stapel von zwanzig Ziegeln
und sie ließen sich einfach nicht bewegen. Aber ein leichter Druck löste einen
versteckten Mechanismus aus und der ganze Stapel glitt zur Seite. Darunter
befand sich eine runde Luke. Als wir sie öffneten, gab sie Metallsprossen frei,
die hinunter in die Dunkelheit führten. Imran kletterte als Erster hinab und
rief bald, dass er einen Schalter in der Wand gefunden hätte. Eine Sekunde
später ging unten ein Licht an. Wir sahen, dass es eigentlich eine ziemlich
kurze Leiter war.
Doch der Tunnel, der spärlich von trüben Glühbirnen
beleuchtet wurde, schien endlos. Wir gingen eine gefühlte Ewigkeit an
schmucklosen, grauen Betonwänden entlang und betrachteten dabei die Rohre und
Drahtbündel im Fußboden. Einige Male wurde der Weg unserer Gruppe durch
Metalltüren blockiert, die sich aber lautlos öffneten, sobald wir an sie
herantraten. Widerwillig musste ich zugeben, dass mich die scheinbare
Unverwüstbarkeit der Türen beeindruckte. Jede war mindestens fünfundzwanzig,
wenn nicht sogar dreißig Zentimeter dick und aus starkem Hartmetall gefertigt.
Hinter einer weiteren Tür entdeckten wir schließlich eine Leiter, die nach oben
führte.
Ich blinzelte, um mich an das grelle Licht in dem kleinen
Raum zu gewöhnen. Ein fleischiger Wachmann, der neben einem metallischen Rahmen
stand und ebenfalls die blaue Uniform der Zweiten Legion trug, befahl uns,
unsere Ausweise, Telefone, Brieftaschen, Schlüssel und andere Gegenstände auf
den Tisch zu legen.
„Die werdet ihr für eine ganze Weile nicht brauchen“,
versicherte er uns. Sein Kollege, der nur wenige Meter entfernt stand, grunzte
amüsiert.
Anya von der First Medical stand in der Reihe ganz vorne.
Sie errötete und zögerte, vor allen anderen den Inhalt ihrer Tasche zu
offenbaren. Ich konnte mir nicht vorstellen, was sich wohl darin befand, das
ihr so peinlich war, und ich fand es auch nicht heraus, denn die Wachen
schickten uns weg und ersparten ihr die Beschämung.
Aber dann kam ich an die Reihe und auch ich wurde
gezwungen, meine Taschen zu leeren. Mein Personalausweis, mein nun ungültiger
Studentenausweis, eine Handvoll Kleingeld, ein ungeöffnetes Päckchen Kondome
und die Schlüssel zu meinem ehemaligen Studentenwohnheim. Dann meine
Brieftasche mit den Debitkarten, die Zugang zu all meinen Ersparnissen
gewährten ... Ich wurde dazu genötigt, durch einen Metalldetektor zu gehen,
dann einer raschen, professionell ausgeführten Leibesvisitation unterzogen.
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass ich nichts versteckt hielt, gab der
Wächter mir nur die Kondome zurück. Den Rest legte er in eine große,
transparente Tasche und versiegelte sie mit einem speziellen Gerät.
„Ich weiß nicht einmal, ob das jetzt ein gutes oder
schlechtes Zeichen ist“, kommentierte Denis zynisch die selektive Rückgabe
meines Eigentums. Nach mir kam nun er dran.
„Halte die Warteschlange nicht auf, weiter in die Kuppel!
Merk dir deine Nummer, eintausendvierhundertundsiebzig!“ Der Soldat trieb mich
zur Eile und befestigte ein nummeriertes Etikett an meiner Tasche.
Zuvor hatte die graue Maus Mascha die Nummer
eintausendvierhundertneunundsechzig erhalten, während Artur, dem Hippie, die
eintausendvierhundertachtundsechzig zugeteilt worden war. Wir wurden also
nummeriert. Das bedeutete, dass beinahe fünfzehnhundert Menschen in dieser
geheimnisvollen „Kuppel“ arbeiteten. Das war eine beeindruckende Anzahl. Das
muss ein unheimlich wichtiges Projekt sein!
Der Wachmann schob meine Tasche durch ein kleines Fenster in der Wand,
wo sie sofort von einer unsichtbaren Person gepackt wurde. Dann ging ich den
Korridor entlang und wiederholte in Gedanken meine Nummer, um sie mir
einzuprägen. „Eintausendvierhundertundsiebzig!“
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