Thursday, April 1, 2021

Sperrgebiet von Yuri Ulengov

Sperrgebiet, Buch 1
Die Hüter der Vorhölle
von Yuri Ulengov


Release - 9. September 2021


1.Kapitel

 

 

Erdföderation, Orionsystem

Planet Rhapsodie, Sektor 3 der grauen Zone des Sperrgebiets. Einstufung: Bedingt sicher

Abwurfzone.


DIE RETTUNGSKAPSEL schlug so hart auf dem Boden auf, dass ich für einen Moment das Bewusstsein verlor. Meine inneren Organe schienen ihre Plätze getauscht zu haben. Hey, wenigstens war ich nicht in Stücke gerissen worden. Aber viel hatte nicht gefehlt. Hätte der Motor nur zehn Sekunden früher schlapp gemacht, wäre von mir jetzt nur ein nasser Fleck übrig.


Laut Vorschriften hätten die Umkehrschubdüsen laufen sollen, bis die Landung vollständig abgeschlossen war. Aber laut Vorschriften hätte die Kapsel auch längst verschrottet werden müssen. Das wurde sie zwar jetzt – aber mit mir drin. Offensichtlich scherten die Mechaniker sich einen Dreck darum, wie es dem Passagier beim Abwurf erging. Und Treibstoff verschwenden, um für einen wie mich eine sanfte Landung zu gewährleisten? „Vergiss es!“, wie ein mir bekannter Nerd sagen würde.

Nach dem Aufprall auf den Boden schnellte die Kapsel nach oben und hüpfte wie ein Frosch von Fels zu Fels. Das Sicherheitssystem war ausgebaut worden, sodass es nichts gab, was sie daran hindern würde. Ich baumelte im Inneren in den Gurten (Gott sei Dank waren die wenigstens nicht entfernt worden!), biss die Zähne fest zusammen, um meine Zunge nicht zu verletzen, und betete nur um eines: dass der nächste Aufprall nicht tödlich sein würde.

Entweder hatten meine Gebete ihren Empfänger erreicht oder ich hatte in den letzten Monaten meinen gesamten Vorrat an Pech verbraucht – keine Ahnung, aber ich überlebte. Zu einer verbeulten Dose deformiert kam die Kapsel endlich zum Stehen. Ohne Zeit zu verschwenden befreite ich mich aus den Gurten. Theoretisch war in der Kapsel nichts vorhanden, was Feuer fangen könnte, aber außer der Brandgefahr gab es noch andere Bedrohungen.

 

Ein AR-Schriftzug leuchtete vor meinen Augen auf:

Willkommen im Sperrgebiet!

 

Ja genau, ihr mich auch! Ich kämpfte weiter mit den Gürtelschnallen, die brav Murphys Gesetz befolgten und sich im ungünstigsten Moment verkeilt hatten.

 

Achtung! Sie befinden sich in der Grauen Zone. Einstufung: bedingt sicher. Keine Anwesenheit von aggressiver Fauna und Mechanismen. Beachten Sie, dass Waffen der Bedrohungsstufe 6 und höher in der Grauen Zone verboten sind. Die Verwendung solcher Waffen zieht schwerwiegende Konsequenzen nach sich. Weitere Informationen finden Sie in der Hilfe.

Die NewVision Corporation empfiehlt Ihnen dringend, Ihr Leben und Ihre Gesundheit zu versichern. Im Falle Ihres Todes wird eine Entschädigung an die von Ihnen angegebenen Personen gezahlt.

Fehler. Der Spieler wurde als Gefangener Nr. 33286AN identifiziert, der im Rahmen des Strafersatzprogramms in das Sperrgebiet geschickt wurde. Versicherung: nicht verfügbar. Briefing: nicht verfügbar. Hilfe: nicht verfügbar bis Level 5 und Initiierung.

Seien Sie vorsichtig und aufmerksam. Vergessen Sie nicht, Ihr Starterkit mitzunehmen.

 

Danke für nichts!

Ich hatte mich vom letzten Gurt befreit und versuchte, die Luke zu öffnen. Nun geh schon auf! Erstaunlich, dass dieser zusammengeschraubte Eimer nicht schon beim Eintritt in die Atmosphäre auseinandergefallen war. Hoffentlich funktionierte das Notentriegelungssystem noch. Ich wollte nicht lebendig in diesem Blechhaufen begraben werden.

Ich fand einen großen, pilzförmigen Knopf und trat mit dem Fuß dagegen. Die Zündpatronen ploppten, die Kapsel schwankte - und die abgesprengte Luke flog in die Dunkelheit davon. Kalter Wind pfiff mir entgegen. Verdammter Mist, das war eine sichere Methode, sich eine Lungenentzündung zu holen! Natürlich funktionierte auch die Klimaanlage in der Kapsel nicht. Während des kurzen Abstiegs aus dem Orbit wäre ich fast bei lebendigem Leib gekocht worden, und jetzt war ich völlig durchgeschwitzt. Na ja, wenigstens atmete ich noch. Ich steckte das Starterset in meine Brusttasche und streckte mich, um meine Muskeln zu dehnen. Ich musste so schnell wie möglich von hier verschwinden.

Ich war mir sicher, dass sie draußen schon auf mich warteten. Köter, Schakale, Aasfresser - sie hatten hier verschiedene Namen. Kleine Fische, maximal auf Level 3, unfähig zum selbstständigen Handeln und zu schade für ein Upgrade. Bastarde, die nur in der Lage waren, Nullen aufzulauern, die gerade am Anfang standen - entmutigt, verängstigt, noch nicht an die Umgebung angepasst und ohne Zeit, sich auch nur umzusehen. Schakale vermieden das Innere des Sperrgebietes, wo sie Gefahr liefen, den höher entwickelten Bewohnern zum Opfer zu fallen. Nein, sie lebten hier, in der Sandbox. Und hier starben sie auch, wenn sie auf eine besser vorbereitete Null trafen, so eine wie mich.

Als ich aus der Kapsel glitt, sah ich einen Schatten, der sich gefährlich nah auf mich zubewegte, und sprang zur Seite. Gutes Timing!

Ein nicht identifiziertes Objekt pfiff durch die Luft, genau dort, wo eben noch mein Kopf gewesen war. Ich griff mir ein Stück Ziegelstein vom Boden und warf es mit voller Wucht in die Dunkelheit, in Richtung des Geräusches. Es gab einen dumpfen Schlag und ein klirrendes Geräusch. Das Implantat zeigte eine neue Systembenachrichtigung an. Dafür war jetzt keine Zeit. Ich blinzelte, um die Nachricht beiseite zu wischen. Ich würde sie später lesen.

Ich stürzte dorthin, wo mit einem Klirren der Armierstab des Schakals auf den Boden gefallen war. Meine Finger schabten unangenehm über den Stein und schlossen sich um den „Griff“, um den eine Schnur gewickelt war. Wiederum gutes Timing. Hinter mir hörte ich das Geräusch eines Kieselsteins, der von einem Schuh wegsprang. Ich drehte mich blitzschnell um und schwang meine improvisierte Waffe. Das Metall klirrte, und mein Arm fühlte sich vor Schmerz wie gelähmt an. Mit meinem Armiereisen fing ich den Schlag eines anderen Stabes ab, mit dem der Schakal, kaum sichtbar in der Dunkelheit, mit aller Kraft nach mir ausgeholt hatte.

Da ich vom Fechten mit Baumaterialien nichts verstand, trat ich der dunklen Gestalt, die vor mir auftauchte, gegen das Schienbein. Der Schakal zischte vor Schmerz, und ich schlug daraufhin mit der linken Faust auf seinen Kopf. Der Angreifer schwankte, verlor das Gleichgewicht und gab mir ein paar kostbare Sekunden Zeit, um die Stange mit beiden Händen zu ergreifen und sie auf seinen Kopf zu schlagen. Es ertönte ein schmatzendes Geräusch, und der Schakal sank zu Boden.

Ich hörte Schritte, die sich eilig entfernten. Die anderen hatten wohl erkannt, dass ich keine leichte Beute sein würde, und zogen es vor, das Schlachtfeld zu verlassen. Umso besser für mich. Ich sollte auch von hier verschwinden. Was, wenn es hier noch andere Schmarotzer gab?

Ich hob den Stab auf und durchsuchte schnell die beiden Aasfresser. Der eine hatte eine Wasserflasche bei sich, der andere eine Packung Universalrationen und einen sorgfältig abgefeilten Metallstreifen, der zu einem handgefertigten Messer verarbeitet worden war. Na, das war doch schon mal ein guter Anfang. Eine Tasche wäre auch schön, damit ich nicht alles in meinen Hosentaschen tragen müsste, aber man konnte nicht alles haben. Nicht alles auf einmal. Eine andere Sache stand mir jetzt bevor.

Ich unterdrückte den Wunsch, zu kotzen, und zog dem größeren Aasfresser die Kleidung aus. Er brauchte sie ohnehin nicht mehr, ich aber schon. Es war keine gute Idee in einem orangefarbenen Gefangenenoverall herumzulaufen. Zugegeben, fast 90 % von uns hier waren Gefangene, aber der Overall verriet einen als Neuankömmling, der nicht in der Lage war, sich geeignetere Kleidung zu besorgen. Außerdem zog man die Aufmerksamkeit auf sich, und es machte es einem unmöglich, im Gelände in Deckung zu gehen.

Nachdem ich mich umgezogen hatte, beschloss ich, entgegengesetzt zur Richtung der geflohenen Schakale weiterzugehen, und machte mich auf den Weg durch die Nacht.

Kalt. Dunkel. Tödlich. Das wären die ersten drei Worte, die mir in den Sinn kämen, wenn ich diesen Ort beschreiben sollte. Wie zur Bestätigung und Begrüßung warf der feuchte Märzwind mir eine Handvoll eisigen Nieselregen ins Gesicht.

Das Gehen war schwierig. Immer wieder stieß ich auf große Felsbrocken, und mehrmals war der Weg durch Geröll versperrt. Dieser Teil der Stadt war am stärksten getroffen worden. Mehrere Häuserblocks lagen in Schutt und Asche, und es war schwierig, zwischen den Müllbergen und den Trümmern aus Kunststoffbeton nicht die Orientierung zu verlieren. Trotzdem durfte ich nicht langsamer werden. Im Umkreis von ein paar Kilometern hatte man die Landung der Kapsel sehen können, und ich war mir sicher, dass viele gern ihr Glück versucht hätten, wenigstens eine Flasche Wasser und eine Packung der im Starterkit enthaltenen Universalration zu ergattern.

Allmählich näherte ich mich den verschont gebliebenen Stadtteilen. Die Trümmer wurden weniger, und bald tauchten in der Ferne die ersten Gebäude auf - die üblichen neunstöckigen Wohnhäuser, typisch für alle entlegenen Kolonien. Schnell, billig, bewohnbar. Was brauchte man mehr? Die Kolonisten - größtenteils Bergleute, die Mineralien abbauten, oder Fabrikarbeiter, die diese Mineralien verarbeiteten - waren nicht wählerisch. In den fünf Jahren, die ein Standardvertrag dauerte, verdienten sie genug Geld, um die Zeit durchzustehen. Zurück in der Metropole hauten sie dann alles auf den Kopf, um nach ein paar Monaten, nachdem sie alles, was sie verdient hatten, verprasst hatten, in das nächste Drecksloch zu gehen und dort für das Wohl der Erdföderation hart zu arbeiten.

Ich selbst hatte mich einmal von der Anzahl der Nullen im Vertrag blenden lassen und war der Armee beigetreten. Wer hätte schon ahnen können, dass ein Jahr später der Krieg der Kolonien ausbrechen und wiederum ein paar Monate später eine Xenos-Flotte aus dem Nichts in unseren Raum einfallen würde, sodass ich um mein Leben hatte kämpfen müssen, anstatt nur auf abgelegenen Außenposten herumzuhängen? Zugegeben, zumindest waren meine Überlebenschancen jetzt höher: intensives Training, ein Handfeuerwaffensystem und die Sturmpanzerung waren gute Voraussetzungen, wenn man es mit Rebellen und Aliens zu tun hatte. Bergleute und andere Arbeiter hatten keine solchen Boni. Diese Vorteile wurden allerdings dadurch ausgeglichen, dass wir dafür diese Workaholics unter den Angriffsschlägen der Xenos retten mussten. Während sie nur einen Angriff überleben mussten, bis sie evakuiert wurden, riskierten die planetaren Landetruppen jeden Tag ihr Leben.

Ja, es war schwer zu glauben. Noch vor zwei Monaten war ich der Kommandant einer Sturmtruppe gewesen. Jetzt war ich Gefangener Nr. 33286AN, der das Sperrgebiet als Alternative zum elektrischen Stuhl gewählt hatte. Das Leben konnte launisch sein.

Inzwischen hatte ich ein stark beschädigtes, aber noch stehendes Wohngebiet erreicht, in dem die Trümmer weggeräumt worden waren. Hier musste ich dreimal so vorsichtig sein. Man wusste nie, wer sich in der Dunkelheit versteckte. Sie konnten mich schon vor langer Zeit entdeckt haben, mir jetzt folgen und auf eine Gelegenheit zum Angriff warten. Es mochte Paranoia sein, aber im Sperrgebiet war Paranoia keine psychische Störung, sondern eine unverzichtbare Eigenschaft, die das Überleben sicherte.

Ich hockte mich hin, versteckt hinter dem Skelett eines Fahrzeugs, das am Straßenrand seine ewige Ruhe gefunden hatte, lauschte und spähte angestrengt in die Dunkelheit. Nachdem sie ihre Beute verloren hatten, hätten Aasfresser unweigerlich angefangen, hektisch zu werden, und sich schließlich verraten. Höchstwahrscheinlich war niemand in der Nähe. Gut so.

In der Ferne war eine Grube zu sehen, die als Fundament für ein neues Gebäude ausgehoben und danach verlassen worden war. Daneben sah ich einen Baucontainer und beschloss, ihn zu meinem ersten Rastplatz zu machen. Ich musste mich hinsetzen, verschnaufen und darüber nachdenken, was ich als Nächstes tun sollte. Mich aufzuwärmen würde auch nicht schaden. Der feuchte Wind blies durch die ausgefranste Lederjacke und den zerrissenen Pullover, die ich dem toten Aasfresser abgenommen hatte. Wenigstens würden die Wände des Baucontainers mich vor der Kälte schützen.

Nachdem ich eine Weile gewartet hatte, bewegte ich mich auf mein Ziel zu, wobei ich im Schatten blieb.

Die Containertür knarrte verräterisch, und ich erstarrte. Stille. Wäre mir jemand gefolgt, hätten sie mich jetzt schon angegriffen.

Ich schlüpfte hinein, setzte mich auf einen durchgesessenen Stuhl und öffnete mein Interface.

 

Spieler Nr. 7892 eliminiert. Sie erhalten 500 XP.

Errungenschaft „Erstes Blut“ erhalten.

Spieler Nr. 7895 eliminiert. Sie erhalten 500 XP.

Glückwunsch! Sie haben ein neues Level erreicht.

Aktuelles Level: 1

Punkte bis zum nächsten Level: 2.000 XP

Achtung! Sie haben eine Spende von Nutzer Firestone erhalten. Es wurden 300 Credits auf Ihr Konto gutgeschrieben. Nutzerkommentar: „Genialer Start!“

Wir möchten Sie daran erinnern, dass von Nutzern erhaltene Credits für Upgrades und zusätzliche Ressourcen ausgegeben werden können. Begeistern Sie weiterhin die Zuschauer, um zusätzliche Spenden zu erhalten.

Achtung! Primärinitialisierung verfügbar. Führen Sie die Initialisierung durch, um die Fähigkeiten der Spieloberfläche zu erschließen.

 

Ich blinzelte das Menü zur Seite und stieß einen Fluch aus. „Genialer Start!“ Von wegen! Schlimmer hätte es nicht laufen können. Ich hatte weniger als eine Stunde im Sperrgebiet verbracht, und es waren schon zwei Leichen zu beklagen. Obwohl ich mich deswegen nicht allzu schlecht fühlen sollte - die Bastarde hatten es verdient. Nach ihren Seriennummern zu urteilen, waren sie zusammen auf dem Planeten gelandet, möglicherweise als Teil einer Gruppe. Es war nicht schwer, zu erraten, was mit den anderen passiert war. Höchstwahrscheinlich gehörte der dritte, der entkommen war, zur selben Gruppe. Ich wusste, wie diese Drecksäcke ihre ersten Level freigeschaltet hatten. Sie waren mir egal, aber es würde noch schlimmer werden.

Nicht jeder im Sperrgebiet war Abschaum, der es verdient hatte, zu sterben. Viele hatte es durch Zwang der Umstände hierher verschlagen. Mich, zum Beispiel. Aber wenn ich hier überleben wollte, musste ich das vergessen. Für mich waren sie nur namenlose Spieler, die alle das einzige Ziel hatten, mich zu töten, um Extrapunkte und Geld zu verdienen. Die Hauptsache war, mich selbst davon zu überzeugen, und dann würde es mir vielleicht gelingen, es so zu sehen.

Ich rief erneut das Interface auf, aktivierte den Link und betrachtete das Menü, das sich vor mir ausrollte.

 

Subjekt: Nr. 33286AN

Codename: keiner

Status: Gefangener. Wurde im Rahmen des Strafersatzprogramms in das Sperrgebiet geschickt. Erlass der Regierung der Erdföderation Nr. 43897, Änderung Nr. 4 vom 31.2.2385.

Urteil: lebenslange Haft. Entscheidung des Obersten Gerichts der Erdföderation Nr. 876456 vom 12.3.2387.

Versicherung: nicht vorhanden

Rasse: Terraner

Level: 1

Fähigkeiten des Subjekts:

Stärke: 8. Überdurchschnittlich.

Ausdauer: 10. Überdurchschnittlich.

Beweglichkeit: 10. Überdurchschnittlich.

Wahrnehmung: Unzureichende Daten.

Genauigkeit: Unzureichende Daten.

Kampfeffizienz: Unzureichende Daten.

Rüstung: 1 (minderwertige Oberbekleidung)

Die Werte werden auf der Grundlage der Analyse der physischen Zustandsparameter des Probanden und deren Vergleich mit den durchschnittlichen Parametern anderer Spieler in der Grauen Zone berechnet. Die Werte können sich mit der Installation von Implantaten und Augmentierungen, der Verwendung von Rüstungen und Ausrüstungsgegenständen sowie dem Wechsel in andere Zonen des Sperrgebiets ändern.

Spezialisierung: keine

Primärinitialisierung abgeschlossen. Um Zugriff auf andere Schnittstellenfunktionen, den Speicher und spezialisierte Anwendungen zu erhalten, erreichen Sie Level 5 und schließen die Initialisierung des Basisimplantats ab.

 

Hm, „überdurchschnittlich“. Nun, das war besser als nichts. Die Hauptsache war jetzt, diese „überdurchschnittlichen“ Parameter richtig zu nutzen. Es war auch wichtig, nicht an einem Ort zu verweilen. Wenn man hier am Leben bleiben wollte, musste man ständig in Bewegung bleiben. Wenn man sich schon verstecken musste, sollte man besser machen, als ich es gerade getan hatte. Ich musste weiter. Zuvor sollte ich aber noch den Container durchsuchen. Was, wenn es hier etwas Nützliches gab?

Ich minimierte das Menü, nahm einen Schluck Wasser aus der Flasche, platzierte den Armierstab so, dass er leicht zu erreichen war, und sah mich um.


 

2.Kapitel

 

Erdföderation, Orionsystem

Planet Rhapsodie, Sektor 3 der grauen Zone des Sperrgebiets. Einstufung: Bedingt sicher

Abwurfzone.

 

DER BAUCONTAINER war wie leergefegt. Ich konnte kein einziges Werkzeug noch sonst etwas finden. Kein Wunder. Dieser Sektor wurde als Abwurfzone genutzt. Alles war schon vor langer Zeit ausgeräumt worden, entweder von den Bewohnern selbst oder von anderen Gefangenen, die vor mir hier gelandet waren. Alles war durchwühlt und geplündert worden. Es machte den Eindruck, als wäre sogar der Staub fortgetragen worden. Vermutlich lebten die Bewohner der Ruinen nur davon, was die sogenannten Humanitären - Drohnen, die Behälter mit Wasser und Nahrung trugen - für sie abwarfen. Allerdings taten sie das nicht aus Nächstenliebe, wie man meinen könnte, sondern nur, um die Show spektakulärer zu gestalten. Aus dem gleichen Grund wählte man für meinesgleichen auch keine Sektoren mit Gefahrenstufe Rot oder Orange.

Die NewVision Corporation, die die Übertragungen von Rhapsodie verkaufte, wusste, wie man Sendungen produzierte, und die Regierung der Föderation, die vom Krieg erschöpft war und sich nur mühsam davon erholte, tat alles, um sie zufriedenzustellen. Allein der Corporation war es zu verdanken, dass der Planet, dessen Säuberung und Wiederaufbau Milliarden von Credits gekostet hätte, nicht nur keinen Verlust brachte, sondern in gewissem Maße profitabel war.

Neben der Pacht, die NewVision an die Staatskasse zahlte, musste die Föderation nicht für die Versorgung von Zehntausenden von Gefangenen sorgen, die auf eigene Faust und für Peanuts Sektoren der Gefahrenstufe Rot und Orange, Ruinen und Ödland räumten, die immer noch voller feindlicher Xenos-Mechanismen und wahnsinniger, autonomer terranischer Kampfmaschinen war, die sich nicht aus der Ferne deaktivieren ließen.

In 50 Jahren, nach Ablauf des Pachtvertrages, würde die Föderation einen sicheren Planeten erhalten, auf dem wieder Mineralien abgebaut werden konnten. Dass sie es dann mit Zehntausenden von Gefangenen zu tun haben würde, die sich an die Abwesenheit von Recht und Gesetz gewöhnt hatten, brutal waren und nach dem Recht des Stärkeren lebten, kümmerte die Erdregierung jetzt nicht. Sie hatten eine Menge zu tun. Und in gewisser Weise verstand ich sie.

In Ordnung, hier war nichts zu holen. Ich musste tiefer in den Sektor hineingehen. Dort war es wahrscheinlicher, dass ich auf etwas Nützliches stieß und weniger wahrscheinlich, dass ich auf jemanden träfe, der entlang der Abwurfzone kreuzte und Neuankömmlinge jagte. Selbst Schakale waren nicht so furchterregend, wenn sie einen nicht unerwartet angriffen. Ein gezielt an den Kopf geworfener Stein tötete genauso gut wie eine Schuss- oder Energiewaffe. Für mich machte das keinen Unterschied. Ich musste mir einen Unterschlupf suchen. Heldentaten würden mir in der ersten Nacht nichts nützen. Keiner würde es zu schätzen wissen.

Außerdem lief ich Gefahr, ohne einen Plan und ein klares Verständnis der Situation zu sterben, bevor ich das zweite Level erreicht hatte. Ich konnte von Glück sagen, dass ich gleich am Anfang auf kleine Fische getroffen war. In der Zukunft würde ich es mit auf stärkeren Gegner zu tun haben, aber daran war nichts ändern. Ich saß hier für den Rest meines Lebens fest - oder bis zum Ende des Pachtvertrags für den Planeten. Mir blieb keine Wahl: Ich musste mich anpassen.

Ich schaute mich um. Vor mir lag ein Parkplatz, der mit verrosteten und einigen ausgebrannten Rümpfen von Mobilen übersät. Auf der rechten Seite befand sich ein zweistöckiges Café mit einer Holzterrasse, die ebenfalls vom Feuer nicht verschont geblieben war. Hinter dem Café ragten neunstöckige Wohnhäuser empor. Ich trat zurück, schaute genauer hin ... und schloss diese Richtung aus. Alles sah dort viel zu einladend aus: Es gab viele Verstecke, der Hof war voller Mobile, und die Häuser standen rechtwinklig zueinander, so dass nur ein Spalt dazwischen blieb – gerade groß genug, dass ein Mensch hindurchschlüpfen konnte. Eine Flasche, deren Inhalt noch intakt war, lag an prominenter Stelle. Ausgeschlossen. Da würde ich nicht hingehen. Der Ort war zu praktisch für einen Überfall. Die Flasche verstärkte nur meinen Verdacht. Auf keinen Fall würden die Ressourcen einfach so auf dem Boden herumliegen. Nicht hier. Ich würde die andere Richtung nehmen, das war sicherer. Sie mussten warten, bis andere Idioten darauf hereinfielen.

Auf der gegenüberliegenden Seite machte die Straße eine Kurve und verlief in einer geraden Linie etwa 250 Meter bergab. Rechts befand sich ein Parkplatz für Mobile, zur Linken ein hoher Zaun. Es war zu dunkel, um zu sehen, was danach kam. Vielleicht war es eine Sackgasse und am Ende der Straße wartete ein Hinterhalt auf mich. Vielleicht aber auch nicht. Ich würde es erst wissen, wenn ich dort ankam. Bei aller Unahnsehnlichkeit schien mir dieser Weg verlockender. Was bedeutete, dass meine Intuition erwacht war. Ich neigte dazu, meiner Intuition zu vertrauen, sie hatte mich schon mehr als einmal gerettet.

Ich rückte den Kragen meiner Jacke zurecht und ging die Straße entlang, immer im Schatten des Zauns.

Es war unmöglich, beim Gehen keine Geräusche zu verursachen. Die Straße war mit Schlamm und Pfützen bedeckt, die jedes Mal ein hörbares Platschen erzeugten, wenn ich hineintrat. Glücklicherweise wurde das Geräusch erfolgreich durch den feuchten Wind gedämpft, der heulte und mir etwas ins Gesicht schleuderte, das sich wie Regen oder Graupel anfühlte. Das perfekte Wetter für einen Ort wie diesen. Kalt, feucht, düster, schmutzig.

Ich ertappte mich dabei, dass ich wehmütig an meine Lieblingsjacke aus dem guten alten Leben dachte. Auch wenn ich damit sofort zum Jagdobjekt all derer geworden wäre, die darauf brannten, so ein praktisches Kleidungsstück zu ergattern. Ich hatte es hier mit Menschen zu tun, die bereit waren, mich für eine virtuelle Erfahrung zu töten. Was ich anhatte, kümmerte sie zunächst wenig. Wenn sie allerdings sahen, dass ich eine TriDex-Jacke trug - wasserdicht, besonders strapazierfähig und gleichzeitig atmungsaktiv und beheizt - würde jeder Bewohner des Sperrgebiets mich vorsichtig töten, um das Ding nicht zu verderben oder zu viel Blut darauf zu spritzen. In normaler Kleidung würden sie mich umbringen, ohne viel darüber nachzudenken. Das war der einzige Unterschied. Aber was spielte das jetzt für eine Rolle? Die Jacke war im Schrank geblieben, in dem Haus, das jetzt an die Föderation gehen würde, und ich war hier, auf Rhapsodie, planschte durch die Pfützen in der Kleidung, die ich dem getöteten Schakal abgenommen hatte.

Die Straße vor mir machte eine Kurve nach rechts und führte fast im rechten Winkel tief in das Wohngebiet hinein. Vor mir lag ein kleiner Vorgarten, durch den ein Pfad verlief. Soweit ich von hier aus sehen konnte, führte der Pfad zu einem Fußweg, der zwischen den Gebäuden entlanglief. Auf der linken Seite befand sich ein neunstöckiges Wohnhaus, das sich entlang des Weges in die Dunkelheit erstreckte, auf der rechten Seite säumten weitere Häuser den Weg. Ich schlich mich durch den Vorgarten und versteckte mich hinter einem rostigen Verkaufscontainer. Ich starrte angestrengt in die Dunkelheit, bis meine Augen schmerzten. Alles sah sicher aus. Doch der Eindruck täuschte.

Wie um meinen Verdacht zu bestätigen, ertönte irgendwo in der Ferne das wütende Knattern eines Pulsgewehrs. In der ohrenbetäubenden Stille, die nur durch das Heulen des Windes unterbrochen wurde, waren die Schüsse sehr laut und deutlich zu hören. Ein durchdringender Schrei zerriss die Nacht und verstummte schnell. Es hörte sich an, als wäre jemand getötet worden. Das war nicht verwunderlich, hier wurden jede Minute Menschen getötet. Manche einfach so - wie der hier, dessen Mörder riskierten, dass ihre Erfahrungspunkte reduziert wurden oder sie auf der Most Wanted-Liste landeten, weil sie Energiewaffen in der Grauen Zone benutzten. Und manche - wie die Schakale, die ich zuvor am Start getötet hatte - lautlos und schnell, ohne Lärm zu verursachen. Nach den Regeln. Um ehrlich zu sein, bevorzugte ich die zweite Option. Wenn man das über das Töten überhaupt sagen konnte.

Ich hörte Rufe und Schritte irgendwo auf der anderen Seite. Sie kamen näher. In Ordnung, das war genug Abenteuer für die erste Nacht. Ich musste einen Platz zum Ausruhen finden und dann auf das Tageslicht warten, um mich vorsichtig umzusehen und mir einen Plan auszudenken. Ich hatte etwas zu essen und Wasser. Aber wo könnte ein geeignetes Versteck sein?

Es wäre ideal gewesen, eine der Wohnungen zu belegen. Die Gebäude waren groß, und es gab eine Menge Wohnungen. Wenn ich mich schlau anstellte, konnte ich eine in ein relativ sicheres Versteck verwandeln. Niemand würde ohne Grund Wohnung für Wohnung durchkämmen. Ich durfte nur keine Aufmerksamkeit erregen.

Zugegeben, dieser Plan hatte ein paar Haken. Der erste war der Gebäudeeingang. Er war zu leicht zu überwachen, und es war schwer, sich unbemerkt zu bewegen. Wenn ich dort auf jemanden traf, war es ungewiss, was dann passierte. Außerdem war er leicht zu blockieren.

Der zweite Punkt waren die Wohnungstüren. Wie sollte ich da ohne Schlüssel oder Werkzeuge reinkommen? Stahltüren konnte ich auf keinen Fall mit bloßen Händen öffnen, und auf eine unverschlossene Tür zu hoffen, war naiv. Wenn die Tür offen wären, bedeutete das, dass jemand drinnen wäre oder bald zurückkäme. Ich musste die Sache anders angehen. Und ich wusste auch schon, wie.

Direkt vor mir, im ersten Stock des Wohnhauses, befand sich ein Geschäft, das längst geplündert worden war. Aber ich war nicht an dem Laden interessiert oder daran, was man darin möglicherweise finden konnte. Mich interessierte vielmehr der Dachüberstand, von dem aus ich leicht den Balkon im zweiten Stock erreichen konnte. Der Balkon war durch ein starkes Gitter und eine Isolierverglasung aus metallisiertem Polyplastikmaterial geschützt, aber es war nicht dieser Balkon, den ich brauchte. Ich hatte einen im dritten Stock im Auge, der sich über dem Balkon mit den Gittern befand und nicht verglast war. Wahrscheinlich war die Wohnungstür auch eine Standardausführung und nicht schwer zu öffnen. Ich könnte sie mit einem Tritt aushebeln und dann von innen verbarrikadieren. Okay, das klang nach einem Plan. Und jetzt, da ich einen Plan hatte, konnte ich nicht mehr nur rumsitzen. Ich musste meinen Arsch hochkriegen und handeln.

Ich spitzte die Ohren - alles schien ruhig. Keine Schüsse, kein Geschrei. Scheiß drauf!

Ich verließ den Vorgarten, überquerte den Fußweg - schnell, aber bemüht, kein Geräusch zu machen - und versteckte mich im Schatten des Ladens. Ich kauerte mich hin, sah mich um und lauschte in die Nacht. Ich konnte einige Geräusche hören, aber sie waren zu weit weg, um mich zu beunruhigen. Es konnte losgehen!

Ich stand auf, sprang hoch, griff nach der Kante und zog mich auf den Überstand des Ladens. Die erste Etappe war geschafft. Ich sicherte den Armierstab hinter meinem Rücken, lief zwei kurze Schritte nach oben, stellte meinen Fuß auf einen Mauervorsprung, sprang wieder hoch und griff nach dem Balkongeländer. Verdammt, war das rutschig! Ich keuchte und strampelte mit den Füßen, aber schließlich fand ich Halt. Jetzt musste ich noch ein bisschen höher nach den Stangen greifen und auf die Fensterbank klettern. Geschafft. Ich schob mich vorsichtig nach rechts. Verflucht, die elende Fensterbank klapperte! Hier kam die Kante. Vorsichtig bewegte ich mich auf den nächsten Balkon. Oh, dieser hier hatte horizontale Gitterstäbe, toll! Jetzt war es ein Kinderspiel!

Ich kletterte höher, wobei ich mich an der Verkleidung des anvisierten Balkons festkrallte. Ehrlich gesagt, waren die horizontalen Vorsprünge im Kunststoffbeton nicht zum Klettern geeignet, aber ich brauchte sie bloß, um das Gleichgewicht zu halten. Ich durfte nur nicht darüber nachdenken, was passieren könnte, wenn ich aus dem dritten Stocks herunterfallen sollte. Es konnte gut gehen, oder es konnte mit einem Bruch der Wirbelsäule enden. Oder es könnte ein Pfahl aus dem Boden ragen ... Ich hatte doch „Nicht nachdenken!“ gesagt. Ein kurzer Ruck - und ich hatte die Hand am Geländer des unverglasten Balkons. Jetzt die andere Hand – hochziehen ... Geschafft!

Ich rollte mich über das Geländer und lag ein paar Sekunden auf dem kalten Boden, um zur Besinnung zu kommen. Puh! Ich war nicht mehr geschmeidig genug für diese Art der Akrobatik. Ich musste wieder in Form kommen, bevor es zu spät war.

Keine Zeit zum Herumliegen! Aufgestanden!

Der Balkon war leer. Ich sah absolut nichts Brauchbares, außer einem leeren Polyplastikeimer und einem schmutzigen Lappen. Wozu hätte ich diese Gegenstände benutzen können? Mir fiel auf Anhieb nichts ein. Okay, was kam als Nächstes? Ich schaute durch die Fenster, aber es war zu dunkel, um irgendetwas zu erkennen. Verdammt. Nun, mir blieb keine andere Wahl. Ich musste hineingehen.

Wie ich gedacht hatte, war die Balkontür billig und morsch. Ich lauschte und vergewisserte mich, dass ich keine Aufmerksamkeit erregt hatte, dann stemmte ich mich mit der Schulter dagegen.

Die Tür flog auf. Schnell hielt ich sie mit der Hand fest, um zu verhindern, dass sie gegen die Wand schlug, und trat hinein.

Aus der Dunkelheit heraus sprang jemand auf mich zu, stieß mich zu Boden und schlug meinen Kopf gegen die Wand.

Verdammt noch mal!

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