Der Inkarnator
»Projekt Stellar«-Buch 1
von Roman Prokofiev
Release - 21. Januar 2021
Pre-order - https://www.amazon.de/dp/B08JLS1L3S
AKTIVIERUNG
Nr. 30765
Starke
Azur-Strahlungsquelle entdeckt
Absorption
initiiert: 1/1000
Aktivierung
Nr. 30765
Inkarnation
unmöglich
Der
Wirt ist infiziert. Regeneration unmöglich. Die Energiequelle wurde irreparabel
beschädigt.
Suche
nach neuem Wirt eingeleitet …
LICHT. Das war das Erste, was ich sah. Ein schwaches
Licht aus einem Riss, der einmal längs über die Wand verlief. Wo war ich?
Der Raum war seltsam. Er ähnelte dem Inneren eines
riesigen Eis, dessen gewölbte schwarze Decke mit einem komplexen, netzartigen
blassblauen Muster bedeckt war. Mehrere hohe Objekte versanken weiter unten
tief im Boden und erweckten den Anschein, sie wären lebendig und dort verwurzelt.
Auch sie waren mit demselben blassblauen Muster überzogen, das sich wie Efeu um
sie herumrankte.
Sobald ich mich auf eins der Objekte konzentrierte,
erschien ein Rahmen in meinem Blickfeld, in dem es markiert wurde. Darunter tauchte
ein durchscheinender Kasten mit einer Nachricht auf:
Schwarzer Sarkophag
Eine Kryogenkapsel
Herkunft:
Unbekannte Xenotechnologie
Beschädigt
Ich schwebte direkt darüber in der Luft. Als ich
ein wenig nach unten sank und mich den Sarkophagen näherte, begriff ich, dass
es sich in der Tat um technogene Objekte handelte: flache Zylinder aus einer
Art schwarzem Metall. Einer war aus seiner hauchdünnen blassblauen Verankerung
gerissen worden und lag ein wenig abseits der anderen verformt und aufgerissen
auf dem Boden.
Mehrere Personen standen daneben. Sie sahen merkwürdig
aus, auch wenn ich nicht genau sagen konnte, was diesen Eindruck hervorrief. Offenbar
hatten sie den schwarzen Sarkophag mit Gewalt geöffnet und studierten nun
dessen Inhalt, wobei sie sich leise unterhielten. Ihre Sprache erinnerte an eine
Reihe langer Klicklaute, von denen ich sogar einen Bruchteil verstand.
Um sie zu belauschen, flog ich näher an sie heran. Nun
schwebte ich direkt über ihren Köpfen. Dennoch ignorierten sie mich völlig. War
ich unsichtbar?
Bei dem Sarkophag hatten sie ganze Arbeit geleistet:
So deformiert, wie er aussah, musste er entlang der Nähte aufgeplatzt sein. Im Inneren
lag in einem Gewirr aus Röhren und Stahlstreben ein Toter; ein grinsendes
geschwärztes Skelett, an dem noch hier und da etwas mumifiziertes Fleisch hing.
Als ich noch weiter herabsank, um einen besseren
Blick hineinwerfen zu können, veränderte sich die Nachricht in meinem Blickfeld
erneut:
Toter A-Mann
Sammle
Daten …
Integrität: 22 %
Die
Energiequelle ist irreparabel beschädigt. Beweise für genetische Modifikationen
und Upgrades entdeckt. Infektionsspuren entdeckt: ???
Inkarnation unmöglich
Der blassblaue Rahmen um die Nachricht wurde
flammend rot. Irgendwie wusste ich, dass es sich dabei um eine Gefahrenwarnung
handelte. Darüber hinaus fiel mir noch ein anderes Element dieses Interface ins
Auge: ein durchscheinender blauer Balken, der fast zu einem Viertel gefüllt
war.
Kaum hatte ich ihn bemerkt, erschien auch schon
eine neue Information darin:
Gesamt-Azur:
173/1000
Momentane
Absorptionsrate: 58 Azur pro Minute
Die Gruppe bestand aus insgesamt sieben Personen:
fünf Männern und einer Frau. Alle hatten verschiedene Waffen dabei und trugen
seltsame grün-graue Rüstungen, in denen sie ein bisschen wie mittelalterliche Ritter
aussahen. Zwei Männer hatten zudem noch geschlossene Helme auf, sodass man ihre
Gesichter nicht erkennen konnte.
Nachdem sie die zerborstene Kapsel inspiziert hatten,
waren sie nun dabei, den Deckel des Sarkophags daneben zu öffnen. Ich
beobachtete, wie sie unterschiedliche Werkzeuge und einen ungewöhnlichen Schweißbrenner
mit blauer Flamme benutzten, um die Reifen, die den Zylinder zusammenhielten,
zu durchtrennen.
Das Resultat war anders als erwartet. Eine pechschwarze
Substanz quoll aus der geöffneten Hälfte, zähflüssig wie Gummi und doch fließend
wie Wasser, und ließ eine große Pfütze rings um die Sarkophage entstehen. Die Flüssigkeit
spritzte auch durch die Luft, und mehrere der dünnen, langen Tropfen landeten
auf zwei der Umstehenden.
Chaos brach aus. Die beiden Getroffenen schrien und
versuchten verzweifelt, die dunkle Flüssigkeit wegzuwischen. Zuckend sanken sie
zu Boden. Die fünf Überlebenden rannten auf den Riss in der Wand zu und quetschten
sich hindurch, während sie auf die Gefahr feuerten. Ihr Waffenfeuer erhellte
das Dämmerlicht im Inneren der Kammer.
Ihnen gelang die Flucht.
Nun fiel mir auf, dass die seltsame Flüssigkeit gar
nicht so unbeweglich war, wie man annehmen sollte. Sie schien sich durchaus verlagern
zu können, wenngleich sehr langsam. Die schwarze Masse kräuselte sich und näherte
sich den beiden sich am Boden windenden Personen, einer jungen Frau mit langem
dunklem Pferdeschwanz und einem stämmigen Mann mit stark vernarbtem Gesicht. Nach
und nach schloss sie die beiden ein und bildete eine undurchlässige Schicht um
sie, bis ihr Schreien und Stöhnen zu einem unnatürlichen Blubbern verstummte.
Ich sank noch ein Stück tiefer, bis ich direkt über
ihnen schwebte.
Schon bald tauchten ihre Gesichter und ihre Körper
wieder auf, nun jedoch blass und blutlos. Ihre Haut schien einen Teil der schwarzen
Flüssigkeit absorbiert zu haben, von der auf dem Boden keine Spur mehr zu sehen
war.
In der Nachrichtenbox stand:
Totes menschliches
Wesen
Sammle Daten …
Integrität: 99 %
Keine Energiequelle
gefunden
WARNUNG! Kontamination
im Gang!
Inkarnation unmöglich
Ein vages Gefühl der Gefahr hinderte mich daran,
noch weiter nach unten zu schweben. Gerade noch rechtzeitig flog ich etwas höher,
denn die beiden infizierten Kreaturen schlugen gleichzeitig die Augen auf. Ich
bemerkte eine weitere Besonderheit: Ihre Augen hatten keine Pupille oder Iris
mehr, sondern waren vollkommen schwarz.
Sie konnten mich sehen. Schon drehten sie die Köpfe
und sahen mich eindeutig an. Furcht überkam mich, fuhr mir durch den Kopf wie
eine Alarmsirene. Rasch gewann ich noch mehr an Höhe und stieg hinauf bis zur
Kuppeldecke.
Von draußen waren weitere Schreie zu hören. Durch den
Riss in der Wand konnte ich einige der verbliebenen Gruppenmitglieder ausmachen.
Dann war der Raum auf einmal in blau-orangefarbene Flammenstrahlen getaucht.
Die beiden infizierten Kreaturen gaben keinen Laut
von sich, obwohl ihre Kleidung wie Papier aufloderte und Brandflecken auf ihrer
Haut zu erkennen waren. Sie hörten einfach auf, mich anzustarren, und wandten
sich stattdessen dieser neuen Gefahr zu, der offenbar eine höhere Priorität eingeräumt
wurde.
Eine neue Nachricht erschien unter dem blassblauen
Balken, der nun ganz gefüllt war:
Gesamt-Azur:
1000/1000
Kritische Menge
Absorption abgebrochen
Es drangen keine Flammen mehr durch den Riss in der
Wand, dafür waren nun Schüsse und Explosionen zu hören. Die Schreie ließen
vermuten, dass draußen ein neuer Kampf tobte. Der Mann und die Frau waren von
Flammen umgeben und bewegten sich ungelenk und mit ruckartigen, unnatürlichen
Bewegungen, als würden sie gerade erst lernen, wie sie ihre menschlichen Körper
zu benutzen hatten.
Seit dem Moment, in dem mein Bewusstsein wieder
aktiv geworden war, wusste ich nicht, wer ich war, wie ich aussah und was ich
hier tat. Es interessierte mich nicht einmal. Plötzlich »erinnerte« ich mich
jedoch genau an das, was ich zu tun hatte.
Solange ich hier drin war, schwebte ich in Gefahr. Ich
musste raus, einen passenden Wirt finden und ihn wieder zum Leben erwecken.
Und zwar schnellstmöglich.
1
Draußen
war es unerwartet hell. Die Mittagssonne schien grell vom Himmel herunter. Ich stellte
fest, dass ich mich in einem Krater inmitten der Ruinen einer Stadt befand. Die
Struktur, aus der ich gerade entkommen war, stand aufrecht im Zentrum des Kraters.
Sie erinnerte an ein riesiges gesprungenes Ei, das halb im Boden vergraben war.
Das Gebilde sah fremdartig und – wie soll ich es ausdrücken? – deplatziert
aus. Es gehörte hier schlichtweg nicht hin. Es war schwarz und mit denselben
blassblauen Venen überzogen, die ich auch innen schon gesehen hatte und deren pulsierende
Enden in der Erde verschwanden. Sehr viele sowohl große als auch kleine
zerbrochene Steine schwebten in der Luft und waren von einem blassblauen Glühen
umgeben.
Jenseits
des Kraters konnte ich die zerfallenden Spitzen von Wolkenkratzern erkennen,
die von der Vegetation überwuchert waren.
Jetzt
begriff ich, dass die Gruppe, die mich gefunden hatte, erneut in der Klemme
saß. Diejenigen, die aus dem »Ei« entkommen waren, kämpften nun gegen eine
seltsam aussehende Kreatur, die an einen sehr langen und sehr schnellen
Tausendfüßler erinnerte, ein riesiges Raubtier mit unzähligen Augen und Beinen.
Die Menschen sahen daneben richtiggehend winzig aus; obwohl sie weiterhin aus
nächster Nähe auf diesen monströsen Scolopendra feuerten, schienen ihre Waffen
so gut wie keinen Schaden zu bewirken. Der gelenkige Körper des Wesens wurde durch
eine gräulich-blaue Chitinschicht geschützt, sodass es unfassbar schnell
angreifen, ausweichen und seinen Körper zusammen- oder auseinanderrollen konnte.
Mit den stachligen Füßen war es in der Lage, sich mühelos um seine Angreifer
herumzubewegen. Es packte einen mit seinen scharfen Kauwerkzeugen, ohne dabei
auch nur innezuhalten, ignorierte den glitzernden Stahl in dessen Händen, brach
ihn entzwei und schlang den noch immer schreienden Mann herunter.
Der
Rahmen mit den Informationen über die Kreatur blinkte scharlachrot. Darin stand
jedoch nicht besonders viel:
???
A-Morph
Typ: unbekannt
???
Warnstufe: Rot (Tödlich)
Die
Menschen da unten hatten keine Chance. Selbst ihr hektisches Feuern konnte die
Schmerzensschreie der Menschen nicht übertönen, die bei lebendigem Leib in
Stücke zerrissen wurden. Mit seinen gezackten Beinen und dem beweglichen, dornenbesetzten
Schwanz hatte die Kreatur rasch drei weitere beseitigt. Sie spie eine Art rauchendes
Gift aus, das die Rüstungen der Menschen einfach zerfraß.
Die
drei Überlebenden rückten enger zusammen und schafften es, das Monster mit
Sperrfeuer auf Abstand zu halten, um dann auf den verkohlten Kraterrand zuzurennen,
wobei sie einem schwarzen Punkt, der eben über den zerfallenden Wolkenkratzern
am Himmel aufgetaucht war, wild zuwinkten.
Der
Punkt wurde schnell größer, und sein insektenartiges Summen wuchs zu einem
zornigen Brummen heran. Dann tauchte ein flaches Fluggerät mit stumpfer Nase über
dem Rand des Kraters auf.
Im
nächsten Augenblick drang aus den kurzen Flügeln hinter den eingefassten
Rotoren Tracer-Feuer hervor. Der Scolopendra wurde zurückgeschleudert und stieß
ein zorniges Zischen aus.
Zwei
gewundene Rauchsäulen sausten auf die zusammengerollte Kreatur zu, die in einem
Chaos aus Rauch, Feuer und aufstiebender Erde verschwand. Im Schutz der
Explosion packten die drei Überlebenden die Rettungsleinen, die von dem
Fahrzeug herabgelassen wurden, kletterten daran empor und verschwanden aus meinem
Sichtfeld.
Das
Heliflugzeug erhob sich in die Luft und flog eine scharfe Kurve. Es war
offensichtlich, dass der Pilot schnellstmöglich von hier weg wollte,
aber …
So
viel Glück hatte er nicht. Ein gewaltiger Schatten huschte über den Himmel und hüllte
kurzzeitig den gesamten Krater ein. Erst dann konnte ich erkennen, dass er von
einem riesigen Vogel stammte, neben dem das Heliflugzeug nicht größer wirkte
als eine Taube neben einem Adler. Das Wesen stürzte sich auf den Flieger und packte
ihn ungeachtet der Rotoren mit seinen Krallen.
Mit
lautem Krachen flogen die Rotorblätter in alle Richtungen davon. Sie mussten
den Vogel gestreift haben, da er einen ohrenbetäubend lauten Schrei ausstieß
und seine Beute losließ. Das Heliflugzeug schlingerte unkontrolliert über den
Himmel, rammte die skelettierten Überreste eines Wolkenkratzers und verschwand
in einer Staubwolke jenseits des Kraterrands.
Ich
hörte eine Explosion. Eine schwarze Rauchwolke stieg zum Himmel hinauf. Mit siegreichem
Schrei flatterte der Vogel wieder nach oben und tauchte mich abermals in seinen
Schatten.
In
meinem Infofeld war sein Umriss kurz golden umrahmt:
Der Rock
Typ: Eine einzigartige stabile Unterart des
A-Morph
??
Warnstufe: Gold (Unbesiegbar)
Zischend
huschte der Scolopendra von dannen und ließ nichts als eine rauchende Spur aus
grünem Schleim zurück. Es war offensichtlich, dass es vor diesem neuen Feind, für
den es kaum mehr als ein leckerer Wurm sein musste, große Angst hatte.
Ich
kehrte aufs Schlachtfeld zurück, um mir die Leichen und Einzelteile anzusehen.
Es
gab keine Überlebenden. Der Großteil der Gruppe war bei lebendigem Leib
zerfetzt worden, und ihre seltsamen technogenen Waffen und Rüstungen sahen
nicht so aus, als ließen sie sich noch reparieren.
Totes menschliches Wesen
Keine Energiequelle gefunden
Integrität: 24 %
Totes menschliches Wesen
Modifikationsnachweis: Myoelektrische Verstärkung
Schwache Energiequelle gefunden
Energieart: Qi
Integrität: 43 %
Totes menschliches Wesen
Schwache Energiequelle gefunden
Energieart: Ra
Integrität: 96 %
Möchten Sie den Reinkarnationsprozess
einleiten?
Bei
dem letzten Kämpfer handelte es sich um einen jungen Mann, der erst vor wenigen
Minuten gestorben war. Unter seinem zertrümmerten Helm waren ein attraktives
Gesicht und kurzes, mit Blut getränktes blondes Haar zu erkennen. Nach der
Datenanalyse kam ich irgendwie »zu dem Schluss«, dass er meine beste Option
darstellte.
Reinkarnationsprozess eingeleitet
Verbindung mit der Quelle …
Übernehme bioenergetische Kanäle des Wirts …
Repariere Schaden an inneren Systemen Ihres
Wirts …
Erfolg! Inkarnation abgeschlossen!
Energiekosten: 500 Azur
Aktuelles Gesamt-Azur: 500/1000
Ich
rieb mir den Kopf, rappelte mich vorsichtig auf und tat einige Schritte. Mein neuer
Körper ließ sich leicht steuern; das Muskelgedächtnis und die motorischen Fähigkeiten
konnten die erforderlichen Bewegungen problemlos ausführen.
Augenblicklich
spürte ich eine immense Veränderung in mir. Ich war nicht länger eine
gefühllose Kreatur ohne Körper. Zwar existierte eindeutig noch ein Teil meines
alten Ichs in mir, doch nun war ich vollkommen lebendig und in der Lage, die
gesamte Bandbreite an Gefühlen zu erleben.
Mein
Selbsterhaltungstrieb setzte ein. Ich musste fliehen. Zwar hatte sich der verwundete
Scolopendra davongeschlängelt, doch er hielt sich garantiert noch in der Nähe
auf. Am Himmel drehte der Riesenvogel weiter seine Kreise. In diesem schrecklichen
schwarzen »Ei« erwachten immer mehr Leute in ihren Sarkophagen aus der Stasis,
deren Körper mit der schwarzen Flüssigkeit infiziert waren. Ich hatte keine
Ahnung, was genau das war, spürte jedoch, dass ich in Lebensgefahr schwebte,
solange ich mich in der Nähe aufhielt. Je eher ich von hier verschwand, desto
größer waren meine Überlebenschancen.
Ich
brauchte nicht lange, um zum Rand des Kraters zu gelangen, und kletterte über
ein niedriges Bollwerk, das anscheinend vor langer Zeit von einem tosende Feuer
verglast worden war. Glassplitter und aller möglicher Unrat knirschten unter
meinen Füßen.
Der
Krater war von den Ruinen der umstehenden Gebäude umgeben. Gerade noch rechtzeitig
gelang es mir, in eine Lücke zu rennen. Als ich mich umdrehte, erspähte ich die
bebenden Fühler des neugierigen Scolopendras am Kraterrand, der meine Bewegung offensichtlich
gespürt hatte.
Ich
befand mich in einer Stadt – jedenfalls in dem, was davon noch übrig war. Die
Straße vor mir wurde von den zerdrückten Karosserien unzähliger Fahrzeuge
versperrt, die sich rostend und verformt aufeinanderstapelten und den Raum
zwischen den Gebäuden vollständig ausfüllten. Die Häuser sahen verlassen aus
und als würden sie schon lange leer stehen. Die unteren Stockwerke waren von
Moos und rankenden Gewächsen überwuchert, und der Wind jaulte durch die
klaffenden Löcher, in denen sich einst die Fensterscheiben befunden hatten.
Der
Asphalt unter meinen Füßen war rissig und von hohem Gras durchwachsen. Ein kleiner
Baum wuchs direkt aus einem Auto heraus und hatte es mit sich in die Luft
gehoben. Seit wann war diese Stadt schon verlassen? Was war hier passiert?
Ich
hatte nicht die leiseste Ahnung, wo ich mich befand oder was zum Teufel hier
vor sich ging. Im Gehen versuchte ich, mich daran zu erinnern, wer ich war. Wie
lautete mein Name? Was war das hier für ein Ort? Wie war ich hier gelandet? Aber
es wollte mir einfach nicht einfallen. Mein Gedächtnis war wie leergefegt, nur
hier und da blitzten belanglose Details auf. In meinem Kopf herrschte vollkommene
Leere. Meine letzte bewusste Erinnerung bestand darin, wie ich aus dem
Sarkophag glitt und unsichtbar in der Luft schwebte, um mich auf die Suche nach
einem passenden Wirt zu machen.
Das
fühlte sich falsch an, als hätte man mir etwas genommen, das mir alles
bedeutete. So etwas sollte nicht passieren!
Aber
so war es nun mal. Ich rannte an den von Moos überwucherten Mauern entlang,
wobei ich darauf bedacht war, kein Geräusch zu erzeugen. Wohin? Ich wusste es nicht.
Allein mein Selbsterhaltungstrieb sorgte dafür, dass ich mich von diesem
eiförmigen Ding im Krater und dem räuberischen Scolopendra, der einen gut bewaffneten
Sturmtrupp einfach ausgeschaltet hatte, entfernte. Ich musste schnell eine möglichst
große Distanz zwischen mich und diesen Ort bringen und mir einen Unterschlupf
suchen. Erst dann konnte ich mich hinsetzen und versuchen, einen Sinn in all
das zu bringen.
Um
mich herum gab es nichts als Verwüstung. Dunkle Ladenschilder lagen am Boden;
in den Schaufenstern glitzerten noch vereinzelte Glasreste; dicke Spinnweben
versperrten klaffende dunkle Eingänge. Wie lange dauert es, bis aus den Straßen
einer Stadt so etwas wie Waldlichtungen werden? Das allgegenwärtige Grün brach
aus dem aufgeborstenen Asphalt und griff nach den oberen Stockwerken der zerstörten
Wolkenkratzer, als würden die Pflanzen der Sonne entgegenstreben. Mehrere Gebäude
erweckten den Anschein, als ließen sich die Schäden daran nicht allein durch den
Zahn der Zeit erklären; sie wirkten eher, als hätten sie einen Angriff durch
ein ganzes Schwadron militärischer Heliflugzeuge hinter sich. Wie ließen sich
die eingestürzten Wände und diversen zusammengesackten Etagen denn sonst
erklären? Ich musste über Trümmerhaufen klettern und mich zwischen den
umgestürzten verrosteten Karosserien der Fahrzeuge hindurchzwängen.
Ein
heiseres Krächzen in der Ferne durchbrach die Stille. Vom zerfallenden Überrest
eines der hohen Gebäude erhob sich ein dunkler Vogelschwarm in den Himmel. Oder
waren das gar keine Vögel? Ich konnte die Einzelheiten der Vielzahl an schwarzen
Punkten, die anfingen, den zerstörten Wolkenkratzer zu umkreisen, nicht genau
erkennen, aber ihre Bewegungen kamen mir beunruhigend schnell und kontrolliert
vor. Auf einmal machte es den Anschein, als würden sie in meine Richtung fliegen.
Ich
nahm meine ganze Kraft zusammen und suchte nach Lücken in dem Labyrinth aus
verrosteten Autos. Sehr viele sahen aus, als wären sie zerquetscht oder wie Blechdosen
aufgerissen wurden.
Irgendwann
versperrte mir ein tiefer Riss im Boden den Weg, der von aufgeplatztem Asphalt
gesäumt war. Er reichte über die gesamte Straße und durchschnitt auch die eingestürzten
Gebäude, soweit das Auge reichte. Es schien keinen Weg zu geben, ihn zu
umgehen.
Das
laute Kreischen der Vögel und das Flattern ihrer Flügel kam immer näher. Sie hatten
es offensichtlich auf mich abgesehen, und mir schwante Böses.
Ich
musste sofort in Deckung gehen. Die Erdgeschosse der mich umgebenden Gebäude
waren im Grunde genommen nur gewaltige Löcher und boten keinerlei Schutz. Ich rannte
in die nächste Seitenstraße, die von einem auf der Seite liegenden Bus
versperrt war. Dahinter entdeckte ich eine verrostete Feuerleiter. Eine der stählernen
Plattformen führte zu einer Tür. Ich zerrte an der untersten Strebe, um mich zu
vergewissern, dass sie mein Gewicht tragen würde, und kletterte vorsichtig hinauf.
Die Leiter sackte zwar leicht ein, schien jedoch zu halten.
Als
ich die Tür öffnete, blickte ich in einen dunklen Gang, aus dem mir der Geruch
nach Feuchtigkeit und Schimmel entgegenschlug. Im schwachen Licht, das durch
die Risse und Spalten im zusammengesackten Mauerwerk hereindrang, konnte ich
die von den Wänden abblätternde Farbe und den Unrat auf dem Boden erkennen.
Ich
vermied es bewusst, in die ersten Korridore abzubiegen, auf die ich stieß, und
erhaschte einen Blick auf einen offenen Fahrstuhlschacht zu meiner Linken, um
mich schließlich in einer verlassenen menschlichen Behausung wiederzufinden.
Die
Tür musste schon vor langer Zeit aus den zerstörten Angeln gerissen worden sein.
Im allgegenwärtigen Zwielicht bahnte ich mir den Weg durch Pfützen stehenden
schwarzen Wassers. Der Raum war übersät mit Haufen aus zerstörtem Mauerwerk und
nicht identifizierbarem, verwesendem Müll. Die Wände waren von Schimmel und
blauem Moos überzogen, und in den Zimmerecken zuckten Gruppen aus hohen,
durchscheinenden Pilzen.
Der
Lärm der Vögel bestürmte meine Ohren wie das Kreischen ebenso vieler Kreissägen.
Ihre geflügelten schwarzen Umrisse sausten an den offenen Fenstern vorbei. Ich bemerkte
sie gerade noch rechtzeitig, um mich auf den Boden werfen zu können. Vielleicht
bildete ich mir das nur ein, aber die Vögel schienen etwa die Größe eines großen
Hundes zu haben. Was gab es denn hier für Tauben?
Die
Vögel mussten ganz in der Nähe vorbeigeflogen sein. Ich konnte ihren Schatten über
den Boden zucken sehen und das laute Flattern ihrer Flügel hören. Inzwischen bezweifelte
ich nicht länger, dass sie mich fressen wollten. Waren sie in der Lage, ins Gebäude
einzudringen? Ich hoffte, dass sie aufgrund ihrer großen Flügelspanne nicht
durch die leeren Fensterrahmen passten.
Tja,
diese Hoffnung hätte ich mir sparen können. Einer der Vögel quetschte sich
tatsächlich durchs Fenster und raste kreischend und mit den Flügeln schlagend
durch den Raum. Sein spindelförmiger gräulich-blauer Körper sauste an mir vorbei,
prallte gegen die gegenüberliegende Wand und kam sofort wieder auf mich zu. Der
Vogel reichte mir bis zur Taille, und sein langer Schnabel und die beeindruckenden
langen drei Krallen an seinen Füßen sahen schon sehr beeindruckend aus.
Junger Ptar
A-Morph
Typ: Herdentier
Warnstufe: Grün (unbedeutend)
Das
war ein unbedeutendes Wesen? Einen Moment lang starrten wir einander an. Dann
stürzte sich der Ptar – oder wie immer diese Kreatur auch heißen mochte – auf
mich. Es gelang mir mit Mühe und Not, zur Seite zu springen. Seine harten
Federn schlugen mir ins Gesicht, seine Krallen schabten über die Wände und hinterließen
tiefe Furchen.
Zu
meinem Glück war die Größe des Vogels hier sein Nachteil, da er sich aufgrund
seiner Flügelspanne nicht umdrehen konnte. Abermals rammte er die Wand und
schlug panisch mit den Flügeln, weil er wusste, dass er nun in der Falle saß.
Bis
jetzt hatte ich gar nicht bemerkt, dass ich bewaffnet war. Dabei trug ich sogar
zwei Waffen bei mir: ein Messer in einer Scheide an der Hüfte und eine
Schusswaffe, die mein Wirtskörper bereits in der Hand hielt, als ich ihn übernommen
hatte. Beim Verlassen des »Eis« hatte ich sie automatisch ins Holster gesteckt,
das sehr ergonomisch und für Rechtshänder ausgelegt war. Die motorischen Fähigkeiten
und Reflexe meines Körpers funktionierten einwandfrei, was mich sehr erfreute.
Ich
schloss die Finger um den geriffelten Waffengriff, was sich so natürlich und
vertraut anfühlte, als würde ich einem alten Freund die Hand schütteln. Während
ich mit dem Daumen den Sicherungsbügel umlegte, tastete ich mit dem Zeigefinger
nach dem Abzug. Die Waffe war ungewöhnlich ausbalanciert und hatte einen sehr
dicken und schweren Lauf, daher musste ich sie mit der linken Hand abstützen.
Der
Schuss erzeugte keinen Rückstoß und erfolgte nahezu lautlos. Der Ptar wurde in
eine Ecke geschleudert, und eine Wolke aus Federn stob auf. Protestierend
piepend versuchte das Monster abermals, auf mich zuzukommen, wobei seine Krallen
laut über den Boden schabten.
Ich
feuerte ein zweites und noch ein drittes Mal, doch der Vogel schien nicht anhalten
zu wollen, sondern bewegte sich weiter verzweifelt auf mich zu, obwohl er
inzwischen eine breite rote Spur hinter sich herzog.
Erst
nach vollen zehn Schüssen hatte ich dieses zähe Federvieh zur Strecke gebracht.
Endlich stieß es einen letzten, herzergreifenden Schrei aus und blieb reglos liegen.
Mausetot.
Eine
dunkle Blutlache breitete sich um seinen Körper aus. Was war das nur für ein Vogel?
Der lange Schnabel stand offen und enthüllte einige sehr beeindruckende Zähne;
und die knorrigen dreikralligen Füße waren durch dicke Schuppen geschützt. Während
ich ihn untersuchte, kam ich zu dem Schluss, dass dieser sogenannte Ptar eher
einem Pterodaktylus als einem normalen Vogel glich. Seine Federn waren so lang
wie mein Unterarm und so scharf, dass man sich mit den Rändern wirklich
verletzen konnte, und die Kiele waren hart und fest. Angespitzt hätte man sie
vermutlich als Wurfpfeil verwenden können.
Die
Artgenossen des Ptar machten draußen einen gewaltigen Lärm und flatterten ganz in
der Nähe wild herum. Auf einmal übertönte ein lauter Schrei ihr Kreischen, so
wie das Gebrüll eines Löwen das Kläffen der Schakale ausblenden würde. Ein
derartiges Geräusch konnte nur einer wahrlich gewaltigen Kehle entsprungen
sein.
Ich
ging hinter einer Trennwand in Deckung, wobei ich mich halb setzte, halb den
Rücken an die kalte, schleimige Wand presste. Der donnernde Schrei hallte
abermals durch die Luft, diesmal noch näher. Der Boden bebte, als hätte ein
Riese das Gebäude im Vorbeigehen gestreift. Kleine Trümmerteile flogen vor dem
Fenster zu Boden. Ein weiteres Beben, und mir wurde bewusst, dass die Vibration
von oben kam und sich anfühlte, als wäre eine gigantische Kreatur auf dem Gebäude
gelandet.
Das
musste der Rock sein, der das Heliflugzeug wie ein Kinderspielzeug aus Plastik
zerschmettert hatte. Gegen ein solches Monster hatte ich nicht die geringste
Chance. Ich konnte mir auch rein gar nichts vorstellen, das dazu in der Lage
war, einen derartigen Koloss zu bezwingen. Da war es kein Wunder, dass sich der
Scolopendra vom Acker gemacht hatte, kaum dass dieses Wesen aufgetaucht war.
Mir
blieb nur eine Option: Ich musste in Deckung bleiben und abwarten. Dieses Wesen
konnte unmöglich zu mir vordringen, wenn es das Gebäude nicht mühevoll Stein
für Stein auseinandernahm. Trotzdem hatte ich das seltsame Gefühl, dass es sich
mit einer armseligen Beute wie mir gar nicht abgeben würde.
Also
beschloss ich zu warten. Ich musterte den toten Vogel, der ganz in meiner Nähe
lag. Ein weiteres Mal tauchte die Nachricht im blauen Rahmen auf:
Toter Ptar
???
Ich
kniff die Augen zusammen und konzentrierte mich auf die blinkenden dreieckigen
Symbole mit den Fragezeichen. Sofort ging eine weitere Meldung auf:
Vergessen Sie nicht, das Azur und
genetische Material des A-Morph zu sammeln. Um den Absorptionsprozess zu
beginnen, berühren sie die Leiche der Kreatur.
Aha,
so funktionierte das also. Mentale Befehle, muss einem ja gesagt werden. Ein neues
Bruchstück meiner alten Erinnerung erschien: Ich musste früher einmal gewusst
haben, wie man diese Art von Interface benutzte.
Der
Anweisung entsprechend berührte ich den steifen Flügel des Vogels. Ein kleiner
Ball aus blassblauer Energie schoss direkt in meine Hand, wurde von meiner Haut
absorbiert und hinterließ ein angenehmes Kribbeln.
Ein
neues Symbol erschien über dem toten Vogel:
Sie haben 210 Azur absorbiert
Gesamt-Azur: 1000/1000
Kritische Menge
Absorption abgebrochen
Möchten Sie Ihre kritische Energiereserve
nutzen, um eine Neurosphäre zu erschaffen?
Ein
geisterhafter grüner Funken in Form einer Acht erschien an der Stelle, an der
die blaue Kugel verschwunden war. Er pikte in meine Hand und verschwand darin. Was
zum Henker war denn das?
Sie haben ein Ptar-Genom erhalten
Wieder
dieses heisere Krächzen von oben. Bildete ich mir das nur ein, oder hörte es
sich irgendwie enttäuscht an? Das Gebäude bebte wieder; ich hörte das Flattern
von Flügeln. Wenn ich den Windstoß richtig deutete, der eine Wolke kleiner Steinchen
von den Fensterbrettern schleuderte, war der Rock ein beachtliches Monster. Seine
kleineren Brüder hatten sich bereits verzogen und sich vor dem größeren Raubtier
in Sicherheit gebracht.
Ich
verbrachte mehrere Minuten damit, angespannt zu lauschen, aber es machte ganz
den Anschein, als wäre die Luft rein. Der Rock war weitergeflogen, und neue
Geräusche konnte ich nicht hören. Endlich hatte ich die Gelegenheit, mal
durchzuschnaufen und herauszufinden, was in aller Welt hier eigentlich los war.
Das
Wichtigste zuerst: Das hier war nicht mein Körper. Das geheimnisvolle
Inkarnationsprotokoll hatte meine Identität in den Körper dieses jungen Mannes übertragen,
der kurz zuvor beim Kampf gegen den mysteriösen A-Morph gestorben war.
Aber
war es wirklich eine Übertragung gewesen oder eher eine Wiederbelebung? Ich konnte
meinen Puls spüren; mein Herz schlug, meine Körpertemperatur schien innerhalb
der normalen Grenzen eines menschlichen Wesens zu liegen.
Zweitens:
Ich war einem der schwarzen Sarkophage entstiegen, einer extraterrestrischen Kryogenkapsel,
die vom Himmel gefallen sein musste – oder eher aus dem Weltraum gekommen sein
musste, denn wie hätte sonst ein so großer Krater entstehen sollen? Wahrscheinlich
lag mein eigener Körper noch immer darin und war wahrscheinlich ebenfalls mit
dieser nicht identifizierten schwarzen Flüssigkeit infiziert. Worum handelte es
sich dabei überhaupt? Und wie hatte mein altes Ich hier landen können?
Drittens.
In meiner körperlosen Form war ich unsichtbar und gefühllos gewesen und hatte
nur eine einzige Sorge gekannt: Ich hatte einen passenden Wirt für meine neue Inkarnation
finden müssen.
Da
stellte sich die Frage: Was in aller Welt war ich eigentlich? War ich überhaupt
ein Mensch?
Auf
all diese Fragen hatte ich keine Antworten. Ich konnte mich an rein gar nichts
erinnern. Mein Gedächtnis war vollkommen leer. Obwohl mir manche Worte wie
»Weltraum«, »Interface«, »Kryogenkapsel« und »Schusswaffe« einfielen, kamen sie
mir erst in den Sinn, wenn sich die Notwendigkeit dafür ergab, und ich wusste
beim besten Willen nicht, woher ich sie überhaupt kannte. Wie lautete mein
Name? Wo waren meine Eltern? Wie alt war ich? Welches Jahr schrieben wir? Wie
war ich hierhergekommen? Und wo zum Teufel war ich überhaupt?
Alles,
woran ich mich erinnerte, war eine widerhallende kristallklare Leere. Trotzdem hatte
ich tief in meinem Inneren den Eindruck, dass ich lebendig und menschlich war. Angesichts
der Tatsache, dass mir diese Welt und alle Objekte darin erschreckend bekannt
vorkamen, hatte ich hier vermutlich früher einmal gelebt.
Konnte
mein Interface mir irgendwie weiterhelfen? Ich konzentrierte mich und
versuchte, auf das Hauptmenü zuzugreifen. Wenn ich schon all die kleinen Symbole,
Anzeigen und Beschreibungen in der augmentierten Realität hatte, war es doch naheliegend,
dass es auch eine Art Steuermenü gab.
Was
sich auch sogleich manifestierte.
Mein
mentaler Befehl ließ einen durchscheinenden rechteckigen Bildschirm vor mir
auftauchen. Nannte man so etwas nicht mnemonische Kontrolle? Oder war es neurale
Kontrolle? Im Grunde genommen war das nicht weiter wichtig.
Ein
langer horizontaler Balken leuchtete ganz oben, der mit Azur beschriftet war. Der
eisblaue Bereich war in eintausend Schritte unterteilt. Darunter stand eine
anmutige Acht, die sowohl an das Unendlichkeitssymbol als auch das DNA-Symbol erinnerte
und aus einer Vielzahl an winzigen leeren Feldern bestand.
Daneben
leuchteten vier Symbole:
Status
Fähigkeiten
Transformation
Information
Das
Interface-Design sah ebenso elegant wie spartanisch aus. Es musste ein ganzes
Forschungsinstitut voller Intelligenzbestien erfordert haben, diese Art der
Perfektion zu erschaffen.
Ich
beschloss, mit dem ersten Punkt anzufangen.
2
STATUS: Inkarnator
Projekt Stellar
Nummer: ???
Name: ???
Rang: Rekrut
Gesamt-Azur: 1000/1000
Quelle: Energieart Ra
Physikalische Modifikationen: keine
Verfügbare Neurosphären: keine
Verfügbare Genome: Ptar-Genom
INKARNATOR
… Das Wort hinterließ einen unangenehmen Nachgeschmack. Kein Name, keine Nummer …
Ich konzentrierte mich auf die Fragezeichen. Eine Systemnachricht ploppte auf
und teilte mir mit, dass die Nummer »erzwungenermaßen
gelöscht« wurde, und was meinen Namen anging, so wären »sämtliche Daten unwiederbringlich verloren«.
Interessant.
Es sah ganz so aus, als wären sämtliche Informationen über meine Vergangenheit
und somit auch über meine vorherige Inkarnation gewissenhaft gelöscht worden. Aber
von wem? Und vor allem, warum? Noch mehr Fragen.
Nun
denn. Was sollte ich als Nächstes tun? Eine kleine Nachricht blinkte neben dem
Azur-Balken:
Kritische Menge
Absorption abgebrochen
Die
geheimnisvolle Quelle schien ebenfalls »vorübergehend
gesperrt« zu sein. Und was hatten all diese verfügbaren Neurosphären und Genome
zu bedeuten?
Das
Azur … Das Wort tauchte ziemlich häufig auf. Azur-Stufe, Azur-Strahlung …
Als ich mich auf den blauen Balken konzentrierte, erschien eine neue
Beschreibung, die jedoch auch keine meiner Fragen beantwortete.
Das Azur ist eine Art biologischer Energie,
die mit dem Rand (auch als A-Dimension bekannt) in Verbindung gebracht wird. Man
bezeichnet es auch als »Das Licht der Schöpfung«, oder »Das ursprüngliche Licht«.
Das Azur ist in der Lage, sowohl organische als auch nicht-organische Materie
auf höchst unvorhersehbare Weise zu verändern. Ihre Quelle kann das Azur
absorbieren und speichern, um es für die kontrollierte Entwicklung Ihres
Körpers zu verwenden.
Ach,
wirklich? Eine biologische Energie, die organische Materie auf unvorhersehbare
Weise verändert? Bedeutete das, dass diese A-Morphs, denen ich begegnet war,
von dieser A-Strahlung auf ähnliche Weise verwandelt wurden? Was konnte es mit
einem Menschen machen? Nichts Gutes, wenn ich mir den Zustand der verlassenen
Stadt ansah …
Als
ich mich auf den blauen Azur-Balken konzentrierte, tauchten noch weitere
interessante Informationen auf:
Gesamt-Azur: 1000/1000
Kritische Menge
Zu Ihrer Information: Schwache Quelle von
Azur-Strahlung entdeckt. Absorption angehalten.
Zu Ihrer Information: Kritische Menge
erreicht.
Weitere Absorption unmöglich
Ich
stand vor einer recht verwirrenden Entscheidung:
Möchten Sie Ihre kritische Energiereserve
nutzen, um eine Neurosphäre zu erschaffen?
Auf
einmal wusste ich, dass mir das alles nicht neu war. Das war der Grund dafür, dass
mich das, was passierte, nicht wirklich verwunderte. Irgendwie fühlte es sich
völlig normal an. Meine Erinnerungen mochten gelöscht worden sein, aber es
waren noch Restspuren davon in meinem Verstand vorhanden. All dies war mir ebenso
vertraut wie der Griff meiner Waffe.
Auf
meinen mentalen Befehl hin flackerte der blaue Inhalt des Azur-Balkens und
verschwand, um durch das Bild einer winzigen, stacheligen Sphäre ersetzt zu
werden, die neben dem DNA-Symbol auftauchte.
Neurosphäre komplett.
Verfügbare Neurosphären: 1
Zu Ihrer Information: Jede neue Neurosphäre
benötigt eine größere kritische Energiereserve.
Als
ich mich abermals auf den blauen Balken konzentrierte, stellte ich fest, dass er
in der Tat etwas länger geworden war.
Gesamt-Azur: 0/1100
Warnung! Quelle von Azur-Strahlung entdeckt!
Aktuelle Absorptionsrate: 3 Azur pro Minute
Bedeutete
das, dass sich diese geheimnisvolle Energie regenerierte, wenn auch nur sehr
langsam? Die Absorptionsrate war vermutlich vom Standort abhängig. Neben dem Alien-»Ei«
war die Strahlung sehr viel stärker gewesen. Da ich nun 1100 Punkte Azur speichern
konnte, würde es gute sechs Stunden dauern, den Balken wieder aufzufüllen, wie
ich schnell ausrechnete. Lag das daran, dass die Azur-Strahlung hier so schwach
war? In diesem Fall sollte ich wohl besser nach Orten mit »mächtiger Strahlungsquelle«
suchen. Und ich hatte so das komische Gefühl, dass sich diese in den Gebieten
mit den gefährlichsten A-Morphs befinden würden.
Das
war Option Nummer eins. Option Nummer zwei: Azur aus Monstern gewinnen. Durch den
Ptar hatte ich 210 Punkte erhalten. Sechs derartige Vögel würden meinen Balken
wieder auffüllen.
Okay.
Der Punkt wäre geklärt. Weiter mit dem nächsten Symbol.
Unter
den Fähigkeiten stand nichts, wie zu erwarten war. Vier leere Einträge flackerten
jämmerlich unter diesem Reiter:
Physikalische Upgrades: nicht gefunden
Genetische Modifikationen: nicht gefunden
Myoelektrische Modifikationen: nicht
gefunden
Implantate: nicht gefunden
Ich
schloss diesen Punkt und widmete mich der Transformation. Diesmal wurde ein
tolles neues Fenster geöffnet, in dem sich ein lebensgroßes, durchscheinendes 3D-Bild
eines Mannes langsam drehte. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass es
sich bei dieser generischen blauen Gestalt wirklich um mich handelte; mein Herz
setzte einen Schlag aus, als ich die verwaschenen Gesichtszüge beäugte.
Diese
Transformation war in der Tat eine beeindruckende Funktion. Hier wurde wirklich
alles angezeigt, von meiner Pulsfrequenz bis hin zur Menge meiner weißen
Blutkörperchen. Wenn ich mich auf einen Körperteil konzentrierte, wurden
augenblicklich alle Komponenten markiert: sämtliche Muskeln, Nerven, Knochen,
Organe und Blutgefäße. Das System machte eine komplette Bestandsaufnahme und
bot mir eine Reihe unverständlicher Grafiken und Diagramme an, gefolgt von Datenkolonnen,
in denen meine Werte mit dem erwarteten Durchschnitt verglichen wurden. Und als
wäre das noch nicht genug, standen mir verschiedene Möglichkeiten zur
Verfügung, um gewisse Teile meiner Anatomie zu »modifizieren« oder mit einem
»Upgrade« zu versehen, wofür jedoch die zuvor erwähnten Neurosphären benötigt
wurden. Was wohl passierte, wenn ich mich beispielsweise für ein Lungen-Upgrade
entschied? Oder mein Blut modifizierte? Welche neuen Effekte mochten diese
Veränderungen mit sich bringen?
Als
wäre meine mentale Neugier bemerkt worden (wovon wohl auszugehen war), erschien
auch schon ein detailliertes Informationsblatt. Trotz der Vielzahl an seltsamen
Begriffen gelang es mir, das Wesentliche zu erfassen. Allein das Ausmaß an Biotechnologien,
mit denen ich meinen Körper umstrukturieren konnte, war überwältigend. Ich konnte
nahezu schmerzlos alle möglichen Transformationen an meinem Körper vornehmen,
indem ich seine eigenen Reserven, Stammzellen oder die geheimnisvolle
Azur-Energie nutzte, und dafür waren noch nicht einmal Laborbedingungen
erforderlich.
Für
das Implantieren eines neuen Genoms wurde ebenfalls eine verfügbare Neurosphäre
benötigt. Nach und nach wurde mir einiges klarer: Indem ich den Azur-Balken füllte,
konnte ich neue Neurosphären erschaffen, mit deren Hilfe sich mein Körper auf
vielfältige Weise verbessern ließ, wozu auch die Fähigkeit gehörte, mir Genome
einer dritten Partei zu implantieren. Wenn man es mit einem Virtual-Reality-Spiel
verglich, war das Azur das Gegenstück zur Erfahrung, während die Neurosphären
wie Leben oder bestimmte Punkte funktionierten, an denen man die gewonnenen EP
in die Attribute oder Fähigkeiten eines Charakters investierte.
Virtual-Reality-Spiele?
Dieser Begriff kam mir bekannt vor, auch wenn ich mich beim besten Willen nicht
daran erinnern konnte, unter welchen Umständen ich damit in Kontakt gekommen
war oder welche Spiele ich bereits gespielt hatte. Was für eine seltsam selektive
Amnesie. Aber vielleicht würde mein Gedächtnis ja auch wieder zurückkehren; wer
konnte das schon voraussehen?
Aus
reiner Neugier wählte ich das Ptar-Genom aus, das ich eben erhalten hatte,
woraufhin das Symbol einen leuchtend grünen Rahmen erhielt. Als ich versuchte,
es in die verfügbare Zelle der DNA-Spirale zu ziehen, tauchte eine neue
Systemmeldung auf:
Sammle Daten …
Wählen Sie eine der folgenden Modifikationen
Ihres visuellen Systems aus:
Binokularsicht
Verbessert Ihr Sehvermögen und ermöglicht
es Ihnen, auch auf große Entfernung Details zu erkennen.
Drittes Augenlid
Verwandelt Ihre Halbmondfalte in eine feste
transparente Membran, die Ihre Augen vor Angriffen schützt.
Magnetorezeption
Erschafft ein Kompasssystem auf Ihren Netzhäuten,
das als Karte dient und den Empfang von Ortungsdaten sicherstellt.
Ich
erstarrte kurz. Selbstverständlich konnte ich auch auf Ablehnen drücken, aber mein Bauchgefühl, mein Unterbewusstsein und
die verbliebenen Überreste meiner Erinnerung, schlichtweg alles in mir schrie förmlich
danach, diese Gelegenheit zu nutzen und mich zu verbessern. Selbst der Vorgang an
sich fühlte sich vertraut an, als hätte ich ihn schon Dutzende von Malen
durchlaufen.
Okay,
einverstanden. Probieren wir es aus. Alle drei Modifikationen klangen auf ihre
Weise verlockend. Für welche sollte ich mich entscheiden?
Das
dritte Augenlid wählte ich schon mal ab. Das hörte sich irgendwie unheimlich an
und nicht wirklich nach etwas, das ein Mensch haben sollte. Bei der
Magnetorezeption musste ich mir eingestehen, dass ich nicht begriff, wie das
funktionieren sollte. War das in etwa vergleichbar mit der Art und Weise, wie sich
Zugvögel zurechtfanden?
Die
Binokularsicht hörte sich hingegen sehr interessant an …
Möchten Sie das Ptar-Genom implantieren?
Dunkelheit.
Stechender Schmerz in meinen Augen. Unmittelbar danach toste die versprochene
Woge an Endorphinen oder Ähnlichem durch meinen Körper wie ein qualvoller Krampf,
der mir fast schön köstliche Schmerzen bereitete.
Das
war gar nicht so schlimm gewesen. Auf einmal wurde mir bewusst, dass ich mich
von jetzt an immer auf meine nächste Transformation freuen würde, nur um dieses
süchtig machende Gefühl erneut erleben zu dürfen.
Langsam
schlug ich die Augen auf. Tränen strömten mir über die Wangen. Ich sah mich ruhig
in dem zerstörten Raum um und blickte dann zum Fenster. Sowohl meine Sehschärfe
als auch der Fokus hatten sich verbessert. Ich konnte jeden Wirbel im Moos erkennen,
das an der Wand auf der gegenüberliegenden Straßenseite wuchs; und ich meinte,
sogar jedes Detail des zerbröckelnden Mauerwerks am Fenstersims ausmachen zu
können. Meine Augen funktionierten jetzt tatsächlich wie ein Fernglas.
Mühelos
zoomte ich die Fassade auf der anderen Straßenseite heran und musterte die Form
der Efeublätter, die sich daran emporrankten. Was für ein seltsames Gefühl. Daran
würde ich mich erst gewöhnen müssen.
Meine
erste genetische Modifikation war unter meinem Status und meinen Fähigkeiten
aufgeführt. Das war bestimmt ein Grund zum Feiern.
Ich
verbrachte noch ein wenig Zeit damit, mein neues Sehvermögen zu testen und
herauszufinden, was sich mit diesen neuen Fähigkeiten alles anstellen ließ. Schließlich
musste ich sie aus dem Effeff beherrschen und sicherstellen, dass sie zu einem
wesentlichen Bestandteil von mir wurden.
Sehr
schön. Während sich mein Gehirn an diese neue Funktion anpasste, konnte ich mir
ja mal die Kleidung ansehen, die ich mit meinem neuen Körper erhalten hatte.
Mein
abgenutzter Overall bestand aus einem dicken khakifarbenen Stoff, der mich an
eine Abdeckplane erinnerte und der an den Schultern, Ellbogen und Knien mit gummiartigen
Einsätzen verstärkt worden war. Darüber hinaus trug ich Schienbein- und Ellbogenschützer
aus einer Art mattem, leichtem Metall, die voller Kratzer und Dellen waren. Über
dem Overall hatte ich eine Munitionsweste an, die an die anatomische Form eines
Männertorsos angepasst war. Sie fühlte sich hart, aber flexibel an, als wäre
sie aus einem widerstandsfähigen Plastik hergestellt worden.
Auf
meiner Brust entdeckte ich direkt über dem Herzen ein kleines Abzeichen, auf
dem »Grey« stand. Das war vermutlich
entweder der Name oder der Spitzname des Soldaten.
Um
die Taille trug ich einen Kampfgürtel mit Dutzenden großer Taschen, die
anscheinend randvoll waren. Meine Füße steckten in hohen gummierten Stiefeln mit
dicken Sohlen, die mit Stahlkappen und Fersenschutz ausgestattet waren. Die gesamte
Ausrüstung wurde mit durchsichtigen Klett-artigen Verschlüssen befestigt. Sie sah
abgenutzt, sogar fast schon verschlissen aus, war jedoch von guter Qualität und
saß wie angegossen.
Auf
einem schwarzen Armband an meinem linken Handgelenk blinkte ein winziges blaues
Licht: die Azur-Anzeige. Als ich sie mir genauer ansah, erkannte ich, dass sie meinem
eingebauten System glich, jedoch einfacher strukturiert war und die Intensität
der A-Strahlung anhand des Blinkens anzeigte. Nach kurzem Überlegen drückte ich
einige Sekunden auf das Licht, um es zu deaktivieren; das Blinken konnte schließlich
alle Arten von unerwünschten Besuchern anziehen.
Und
was jetzt? Die Waffen. Ich hielt eine schwere Handfeuerwaffe aus einem matten
schwarzen Metall in der Hand; ein recht ungewöhnliches Gerät mit langem, dickem
Lauf und einem grobkörnigen Griff mit geriffeltem Überzug. Die Waffe erinnerte
an einen futuristischen Revolver mit eingelassenem flachem Zylinder. Ein V-förmiges
Symbol war in den Griff eingraviert, das am unteren Ende eine kleine Schlinge aufwies.
Das war das Symbol für »Gamma«, einen Buchstaben aus dem griechischen Alphabet,
wie mir wieder einfiel.
Einen
Augenblick später bot mir mein Interface eine vollständige Übersicht über die
Waffe an:
Nadel-Gaußgewehr
Leichte kinetische Waffe (Replik)
Munition: Nadeln aus einer hitzebeständigen
Legierung
Teil des Gamma-Sets, das zur
Standardausrüstung der planetaren Sicherheitskräfte gehört.
Meine
Finger wussten noch genau, wie sie die Waffe zu handhaben hatten. Mit wenigen
geübten Bewegungen hatte ich den Lauf geöffnet und betrachtete das Innenleben
der Waffe. Der Zylinder mit den Nadeln war so gut wie voll, und ich stellte
fest, dass ich noch zwei weitere in den Gürteltaschen hatte. Somit verfügte ich
über fast dreihundert Schuss. Das war ein guter Anfang.
Ich
steckte die Waffe – oder vielmehr das Nadel-Gaußgewehr – zurück in das offene ergonomische
Holster an meiner rechten Hüfte. Alles war so perfekt angeordnet, dass ich die Waffe
in einem Sekundenbruchteil zu ziehen vermochte. Ein lautloser Revolver mit so
gut wie keinem Rückstoß – ich mochte gar nicht darüber nachdenken, was für eine
Art von Technologie dieser beinhaltete.
An
meiner rechten Hüfte hing ein Messer in einer Scheide. Hervorragend. Es sah
ungewöhnlich alt aus, vielleicht sogar antik, und war möglicherweise nach Wunsch
hergestellt worden. Man sah deutlich, dass es schon in vielen Kämpfen zum Einsatz
gekommen war und jede Menge Blut vergossen hatte.
Es
gelang mir nicht, das Metall zu identifizieren, aus dem die gefährliche
zweischneidige Klinge bestand. Zwar sah es aus wie Stahl, aber mir war keine Legierung
bekannt, die derart intensiv blau leuchtete. Eine schicke Gravierung verzierte
die Klinge und stellte einen schnaubenden Wolf dar, unter dem die eine
verblasste Inschrift stand: FF. Das
wunderschön kalligraphierte Doppel-F war wie die gebleckten Zähne des Wolfs geformt.
Dies war in der Tat eine einzigartige Waffe, die sogar einen eigenen Namen
trug: Fang.
Der
Griff schien aus einem gelblichen Knochen gefertigt worden zu sein, war mit Streifen
aus grobem schwarzem Leder umwickelt und mit einem großen roten Kristall versehen.
Interessanterweise schien meine eingebaute Informationsquelle nichts weiter
darüber zu wissen. Selbst wenn ich es noch so intensiv anstarrte, konnte sie
mir keine nützlichen Daten liefern:
???
Kampfmesser. Eine leichte Klingenwaffe.
???
Ich
kramte in den Gürteltaschen herum und stieß auf ein Multitool, das so alt war,
dass es fast auseinanderfiel, aber sehr penibel von jeglichem Rost befreit
worden war. Es enthielt ein kleines Messer, eine Gabel, einen Löffel, eine Pinzette
sowie diverse andere nützliche Dinge. Zudem fand ich einen Universalinjektor,
der wie eine dicke Spritze aussah, und zahlreiche farbcodierte Kartuschen, die
offenbar dazugehörten. Gegenmittel, mehrere Akut-Sprays, einige Regenerationslösungen
und Adrenalintabletten … ein Blutstopp-Spray … Dazu einige weniger fortschrittliche
Gegenstände: ein alter Druckverband, eine Rolle schwarzes Elektrotape, zwei
Feldrationen, einige flache krosse Dinger, die in Vakuumfolie verschweißt waren,
eine Nadel und etwas Faden, ein Lappen, der dringend gewaschen werden musste,
eine kleine Blechdose mit einer Art Talkumpuder und ein harter Plastikkamm.
Den
interessantesten Gegenstand entdeckte ich in der letzten Tasche, die ich überprüfte:
Es handelte sich um einen schweren, gerippten Zylinder mit einem Ring und einer
großen Klammer auf der Oberseite, der schwarz bemalt und mit diagonalen roten
Streifen versehen war. Am oberen Rand befand sich ein längst aus der Mode gekommenes
elektronisches Ziffernblatt, während am unteren eine komplizierte Kombination
aus Zahlen und Buchstaben neben dem schablonierten Logo eines dreizackigen weißen
Sterns in einem Kreis zu sehen war.
Ich
brauchte mein Interface nicht, um zu wissen, dass es sich um eine Bombe handelte
– oder vielmehr eine Granate.
Thermalgranate
Ein Sprengkörper (Replik)
Eine Hochtemperatur-Ladung. Erzeugt bei der
Detonation eine starke Explosion mit Temperaturen von bis zu 4000 °C.
Ferngesteuerte Zündung. Kann mithilfe des
eingebauten elektronischen Timers ausgelöst werden.
Das
sah doch mal nach einer nützlichen Waffe gegen die Viecher hier aus. Dummerweise
ließ sie sich nur einmal benutzen. Ich steckte die Granate wieder in die Tasche
und achtete darauf, den Klettverschluss gut zu schließen.
Aber
mehr hatte ich auch nicht dabei. Weder Ausweise noch Notizbücher – nichts, das
mir etwas über den letzten Nutzer meines Wirtskörpers verriet. Vermutlich hatte
er einen Rucksack mit seinen persönlichen Habseligkeiten bei sich gehabt, der
irgendwo zurückgelassen worden war – entweder an der Stelle, an der er den Tod
gefunden hatte, oder an Bord des Heliflugzeugs. Was seinen Helm anging, so
hatte ich diesen auf dem Weg hierher weggeworfen.
War
das alles? Nein, noch nicht. Ich spürte, dass sich unter der Weste und dem
Overall etwas gegen meine Brust drückte. Nachdem es mir mit etwas Mühe gelungen
war, eine Hand hineinzustecken, zog ich eine Kette hervor, die um meinen Hals hing
und an der zwei weitere Objekte befestigt waren: ein Siegelring aus einer
seltenen leuchtend blauen Legierung und eine Plastikkarte.
Der
Ring war definitiv ein Andenken – wahrscheinlich etwas, das der Familie des Soldaten
schon lange Zeit gehörte. Auf der Innenseite befand sich eine Inschrift in
einer auf Latein basierenden Sprache, die stark ausgeblichen und kaum noch
leserlich war. Das Siegel stellte den bereits bekannten Kopf des schnaubenden
Wolfs dar.
Die
Karte schien hingegen wesentlich neuer zu sein. Sie bestand aus hartem Plastik
und hatte eine Öse, damit man sie sich um den Hals hängen konnte; zudem konnte
ich den dünnen Umriss eines Mikrochips darin ertasten. Der dreizackige Stern
war auf der einen Seite der Karte abgebildet, auf der anderen prangte das Bild
eines Schlüssels über einen Profilfoto, von dem mich ein blonder junger Mann
mit rosigen Wangen angrinste. Unter dem Foto war sein Name eingeprägt: Sven Greyholm.
Der
war ich nun also. Sven Greyholm, Codename Grey, ein junger blonder Wikinger,
dessen toter Körper zum Wirt für meine Inkarnation geworden war. Bei dem Namen
klingelte es bei mir nicht; dennoch musste ich die Karte behalten, da es sich
dabei vermutlich um eine Art elektronischen Schlüssel handelte.
Es
war sinnlos, sich hier noch länger aufzuhalten. Ich musste die Stadt verlassen,
die offensichtlich schon vor sehr langer Zeit aufgegeben worden war und in der
es nun von unangenehmen Kreaturen wimmelte. Da ich bereits auf eine
organisierte und gut bewaffnete militärische Gruppe gestoßen war, musste es jedoch
da draußen noch Überreste der Zivilisation geben, die über fortschrittliche
Technologien und Fluggeräte verfügte. Das schürte in mir die Hoffnung, dass sie
auch Antworten auf meine Fragen haben könnten.
Vorsichtig
und darauf bedacht, durch die Fenster nicht gesehen zu werden, durchsuchte ich
den schäbigen Raum nach allem, was ich benutzen konnte. Aber ich fand nichts. Rein
gar nichts. Klaffende Löcher spickten die Außenmauern, dicke Schichten aus
zuckenden Flechten überzogen die Müllberge. Die Wände des Raums waren schwarz
von Schimmel, auf dem Boden befanden sich Pfützen einer widerlichen,
abgestandenen Flüssigkeit, in denen es von Mikrofauna wimmelte. Alles, das
sterben oder verwesen konnte, hatte dies längst getan. Zwei Dinge fielen mir
ins Auge: ein Wasserreiniger und eine Nahrungseinheit – die beide irgendwann einmal
aus ihren Verankerungen gerissen worden waren. Tiefe Furchen bedeckten die
Wände und sahen verdächtig nach Krallenspuren aus. Aus diesem Raum war alles
entfernt worden, was sich irgendwie nutzen ließ.
Ich
hörte draußen ein Rascheln, das verdächtig nach Schritten klang. Gebückt huschte
ich zum Fenster und spähte hinaus.
Zwei
Personen bewegten sich mit der geräuschlosen Anmut von Katzen die Straße
entlang. Ich erkannte ihre Uniformen sofort, die der meinen glichen. Auch die
Kämpfer hatte ich schon einmal gesehen: Es waren der stämmige Mann und die
junge Frau mit dem langen dunklen Pferdeschwanz, die im »Ei« mit den Spritzern
der Dunkelheit kontaminiert worden waren. Offensichtlich hatten sie es
geschafft, dem Scolopendra und dem Rock zu entgehen, und folgten nun meiner Spur.
Zum
zweiten Mal, seitdem ich im Sarkophag zu mir gekommen war, gingen die Alarmsirenen
in meinem Inneren los und jaulten wie eine läufige Katze: Feind, Feind, der FEIND ist nahe!
Der
rote AR-Rahmen tauchte ein weiteres Mal vor mir auf:
Ein kontaminierter ???
Ein totes menschliches Wesen.
Kontaminationsstufe: 1
????
Warnstufe: Rot
Als
hätten sie meinen Blick gespürt, blieben sie beide gleichzeitig stehen und
drehten den Kopf. Meine neue Binokularsicht ermöglichte es mir, sie genau in
Augenschein zu nehmen.
Das
waren keine Menschen, jedenfalls jetzt nicht mehr. Ihre Ausrüstung war
angesengt, ihre Körper wiesen Spuren schwerer Verbrennungen auf. Die Augäpfel
der Frau sahen pechschwarz aus, ihr gleichgültiges Gesicht war mit Venen aus
schwarzen Blutgefäßen überzogen, sodass ihre hübschen Züge einer entsetzlichen Maske
glichen. Die entblößten Hände des Mannes sahen genauso aus. Mit diesen Kreaturen,
denen längst nichts Menschliches mehr innewohnte, konnte man nicht
argumentieren; sie gehorchten Befehlen, die ihnen ein anderes Wesen erteilte –
ein Alien.
Fast
so, als wollte er meinen Verdacht bestätigen, hob der Mann seine Waffe und
schoss auf das Fenster, durch das er meinen Umriss erblickt haben musste. Ich
weiß nicht, welche Art von Munition er benutzte – Nadeln oder normale Kugeln –,
aber sie bohrten sich in den Beton des Fensterbretts und sorgten dafür, dass
Brocken von der Decke auf mich herabrieselten.
Sie
hatten mir eindeutig den Krieg erklärt. Die Jagd nach mir war im Gange. Die beiden
trotteten auf den Eingang des Gebäudes zu.
Ich
hatte keine Angst; stattdessen versuchte ich, meine Chancen abzuwägen und mich für
die logischste Strategie zu entscheiden. Dann rannte ich auf die Tür zu und nahm
schnell eine Position ein, aus der ich den gesamten Korridor im Blick und ein
klares Schussfeld hatte.
Sofort
hob ich die Waffe und richtete sie auf die Lücke in der Wand, durch die die
beiden »Jäger« wahrscheinlich kommen würden. Nach wenigen Sekunden tauchten sie
auch schon auf. Der Mann trat als Erster hindurch. Es gelang mir, ihn viermal zu
treffen, bevor er auch nur das Feuer erwidern konnte.
Ich
hatte ihn nicht einmal verfehlt. Sein schwerer Körper zuckte jedes Mal, wenn
ihn eine Nadel durchbohrte. Dennoch kam der kontaminierte Mann weiter auf mich
zu und wurde nicht einmal langsamer.
Ob
ich die Granate in meiner Gürteltasche benutzen sollte?
Nein.
Dafür war es noch zu früh. Ich besaß nur eine und musste sicherstellen, dass ich
beide Gegner damit ausschalten konnte. Ich lief auf meinen anvisierten Fluchtweg
zu. Die »Jäger« eröffneten das Feuer, und Betonstücke aus der Wand, neben der
ich eben noch gestanden hatte, prasselten auf mich ein. Ihre Reaktionszeit war nicht
gerade beeindruckend, doch ihre Waffen besaßen eine weitaus bessere Durchschlagskraft
als mein Nadelgewehr.
Im
Nebenraum klaffte ein großes Loch im Boden. Ich rutschte hindurch, hielt mich an
einer hervorstehenden Stahlstrebe fest und sprang aus drei Metern Höhe auf den
Boden, wo ich recht geschickt auf den Füßen landete. Mein Körper schien sich an
diesen und ähnliche Tricks zu erinnern; anscheinend hatte Grey, wer immer der Mann
auch gewesen war, derartige akrobatische Einlagen des Öfteren eingelegt. Die Beweglichkeit,
Kraft, Gelenkigkeit und Koordination meines Körpers machten den Anschein, als
wären sie ausgiebig trainiert worden.
Ich
eilte durch den Korridor zum Ausgang, rannte eine mit glitschigem blauem Moos
überwucherte Treppe hinunter und stieg durch ein Fenster, an dessen Rahmen noch
Überreste der Scheibe hingen. Dann stand ich auf der anderen Seite des Gebäudes.
Wenn es mir gelang, die nächste Straßenecke zu erreichen, konnte ich versuchen,
im Labyrinth der Stadt unterzutauchen.
Das
Geräusch zerberstenden Glases in meinem Rücken gab mir zu verstehen, dass ich
mich beeilen musste. Ich sah mich im Laufen um und erhaschte einen Blick auf
die Frau, die aus einem Fenster im zweiten Stock sprang und mit der Anmut eines
Pumas am Boden landete. Sie hielt ihre Waffe über dem Kopf, die lange,
glänzende Klinge eines schmalen einschneidigen Schwerts ohne Parierstange. Allein
die Tatsache, dass sie keine Fernkampfwaffe bei sich trug, rettete mir in
diesem Augenblick das Leben.
Ich
schoss zweimal auf sie und traf sie in eine Schulter und die Hüfte. Beim Aufprall
zuckte sie zusammen und ging auf ein Knie, doch an ihrer Kleidung zeichnete
sich nicht ein Blutstropfen ab. So langsam hatte ich den Eindruck, dass die
kontaminierten Kreaturen jeglichen Schmerz und Schaden komplett ignorierten –
jedenfalls veränderte sich der ungerührte Ausdruck ihres geschwärzten Gesichts nicht
im Geringsten.
Im
nächsten Augenblick tauchte ihr Partner auch schon in einer Staubwolke auf und
jagte hinter mir her. Er war mit etwas bewaffnet, das an ein Sturmgewehr
erinnerte, und eröffnete sofort das Feuer. Die Geschosse ließen Funken von der verrosteten
Karosserie des Wagens aufstieben, hinter dem ich Deckung gesucht hatte.
Trotzdem
hatte mir mein kleiner Sprung einen Vorsprung von gut hundertachtzig Metern
verschafft. Allerdings schienen die beiden kein Problem zu haben, mit mir
Schritt zu halten, und jagten an den zerstörten Autos und überwucherten
Bürgersteigen vorbei hinter mir her.
Ich
rannte planlos auf eine freie Fläche vor mir zu und kam endlich auf einem großen
Platz an, der früher einmal eine wichtige Verkehrskreuzung gewesen sein musste.
Nun
hatte ich jedoch ein altes Schlachtfeld vor mir. Mehrere abgebrannte
Militärfahrzeuge standen in der Mitte und erinnerten an reglose schwarze
Monster. An mehreren Stellen war der Asphalt aufgerissen und ragte rings um die
Granattrichter gen Himmel. Haufen zertrümmerter Autos türmten sich mehrere
Stockwerke hoch, als hätte ein Riese versucht, sich einen Weg zu bahnen. Die Gebäude
rings um den Platz waren praktisch geschleift worden, und nur die Ruinen der Erdgeschosse
erinnerten noch an ihre Existenz.
Unter
meinen Füßen zerbarsten knirschend Knochen. Auf dem Weg hierher hatte ich dank
meines frisch verbesserten Sehvermögens bereits die unzähligen Knochensplitter und
sogar Skelette in unterschiedlichen Zerfallsstadien bemerkt – aber diese
Kreuzung und die angrenzenden Straßen waren derart mit Knochen bedeckt, als
hätte eine ganze Armee hier ihr Ende gefunden.
Die
zerbrochenen Geschütze mehrerer Kampffahrzeuge zeigten in drei verschiedene
Richtungen, als wären ihre Besatzungen bei dem Versuch gestorben, einen Feind
zurückzuhalten, der von allen Seiten auf sie einstürmte.
Der
blaue Rahmen tauchte wieder auf:
Tarantel
Kampffahrzeug
Herkunft: Utopia
Irreparabel beschädigt
Die
unzähligen Krater auf der Kreuzung hatten sich in kleine Teiche verwandelt, der
aufgerissene Straßenbelag war mit bläulich-grünen Büschen bedeckt, deren Äste
an Stacheldraht erinnerten. Sie überwucherten die Skelette der ehemaligen
Tarantel-Besatzung, umhüllten sie wie gewaltige Kuppeln mit dicken Zweigen, die
sich über dem Asphalt krümmten und Tausende von langen, biegsamen Ranken in
alle Richtungen ausbildeten.
Meine
Intuition warnte mich bereits, bevor ich überhaupt realisierte, was los war. Dann
bemerkte ich die seltsamen Umrisse im Dickicht der Büsche: Halbskelette, von Zweigen
umgeben, eine Bewegung inmitten der Ranken, die sich von den geschwärzten
Überresten der Fahrzeuge erstreckten. Dort war eindeutig etwas, daher wirbelte
ich zur Seite und änderte die Richtung.
Meine
beiden Verfolger kamen näher. Die Frau sprang von einem Wagendach zum nächsten
und war in ihrer unmenschlichen Anmut fast schon bewundernswert. Der Mann
rannte, ohne erneut auf mich zu schießen.
Sie
machten sehr viel Lärm. Das war keine gute Idee.
Sobald
sie auf die Kreuzung kamen, schien alles in Bewegung zu geraten. Die stacheligen
schwarzen Ranken schossen auf sie zu – und auch auf mich – wie die Tentakel
eines Riesenkraken. Die dicken, gewundenen Äste der Pflanzen wirbelten durch
die Luft.
Ein
neuer scharlachroter Rahmen erschien rings um mein Sichtfeld.
???
A-Morph
Typ: Unbekannt
Warnstufe: Tödlich
???
Meine
Intuition hatte recht behalten. Die Büsche erwiesen sich als Falle, als Schlingen,
die eine Monsterpflanze ausgelegt hatte, die im Schutz der uralten Panzer
lebte. Wäre ich nur wenige Schritte weiter auf sie zugegangen, hätte ich auch zu
ihren Opfern gezählt. Ich hatte Glück gehabt, mein selbstmörderischer Lauf über
die Kreuzung hatte nicht sehr viel Aufmerksamkeit erregt, und das aus zwei
Gründen: Erstens, weil zwei rennende Personen mehr Krach machen als eine, und
zweitens, weil mich mein Bauchgefühl dazu bewogen hatte, die Richtung zu
wechseln, bevor es zu spät war.
Meine
beiden Verfolger bekamen hingegen die volle Ladung ab. Sie waren nicht nur bis
auf die Kreuzung gelaufen, der Mann hatte darüber hinaus auch noch das Feuer
eröffnet. Das erwies sich letzten Endes als ihr Untergang, da sich der Zorn der
Monster auf sie konzentrierte, während ich nur von einem kleinen Bruchteil der
Tentakel attackiert wurde.
Ich
zückte im Rennen mein Messer, aber die verdammten Ranken waren unglaublich
schnell. Sie holten mich ein, als ich die Kreuzung schon beinahe verlassen
hatte. Eine schlang sich um mein Bein und zog sich zusammen, eine zweite legte
sich um meine Schulter.
Der
Schmerz in meinem gefesselten Fußknöchel hätte mich beinahe gelähmt. Mit einem
heftigen Ruck schleuderte mich dieses dornige Mistgewächs zu Boden und schleifte
mich mühelos mehrere Meter mit sich. Zum Glück konnte ich die zentimeterdicken,
harten Äste mit meinem Messer durchtrennen; die rasiermesserscharfe Klinge
glitt durch den Tentakel, der meine Schulter festhielt, danach machte ich mit
zwei gut gezielten Stichen kurzen Prozess mit dem an meinem Bein. Humpelnd rannte
ich um mein Leben, denn es wäre wahrlich mein Tod gewesen, hier noch eine
Sekunde länger zu verweilen.
Warnung! Sie wurden vergiftet!
Nehmen Sie schnellstmöglich das
entsprechende Gegengift!
Meine
beiden Verfolger hatten nicht so viel Glück. Mir blieb zwar nicht die Zeit, ihren
Überlebenskampf zu beobachten, aber als ich im Rennen über die Schulter blickte,
stellte ich fest, dass beide in mehreren Schichten der stacheligen Ranken
gewickelt waren, die nun einen dicken, undurchdringlichen Kokon bildeten. Die Triebe
verflochten sich dazwischen und schufen kabelartige Seile, an denen sie die Kokons
in die Luft hoben und zu der massigen Kreatur schafften, die vor Vorfreude bebte
und die baumstammartigen Fortsätze durch die Luft schwang.
Immer
mehr Tentakel erhoben sich aus dem zerborstenen Asphalt. Dieses Monster war
gewaltig! Der sichtbare Teil über dem Boden konnte kaum mehr als ein Drittel
seiner eigentlichen Größe ausmachen.
Der
Schmerz in meinem Knöchel ließ nicht nach. Ich humpelte mit jedem Schritt stärker
und blieb schließlich stehen, um den stacheligen Zweig zu entfernen, der mein
Bein noch immer umklammerte und seine Dornen tief in mein Fleisch gebohrt
hatte. Mein ganzer rechter Unterschenkel war von den Dornen malträtiert worden,
und mein Stiefel füllte sich langsam mit Blut.
Das
war ganz und gar nicht gut. Diese Monster hatten bestimmt auch einen
überragenden Geruchssinn. Sie würden der Spur aus frischem Blut folgen und mich
im Nullkommanichts gefunden haben.
Ich
ließ mich gegen einen Müllhaufen fallen, hob das Hosenbein hoch und starrte die
riesige blau-rote Wunde an meinem Bein sprachlos an. Nachdem ich sie großzügig
mit dem Blut-Stopp-Spray eingesprüht hatte, das sofort Wirkung zeigte, hörte
der Schmerz dennoch nicht auf. Die Wundränder hatten eine sehr ungesunde blaue
Farbe angenommen. Inzwischen spürte ich in dem Bein so gut wie gar nichts mehr;
die Pflanze musste mir eine Art Gift injiziert haben.
Panisch
suchte ich in dem Erste-Hilfe-Set nach der Spritze und der blassblauen
Kartusche mit dem Gegengift, verpasste mir eine Dosis und konzentrierte mich
auf meinen Körper, um herauszufinden, ob es wirkte.
Was
zum Teufel tat ich denn da? Das war doch überhaupt nicht nötig. Genau zu diesem
Zweck gab es doch das Interface! Konnte ich darüber nicht meine sämtlichen Körperfunktionen
überwachen?
Ich
öffnete den Status und wählte die Transformation aus, um mir mein 3D-Bild
anzusehen. Es bestätigte meinen Verdacht: Mein Knöchel pulsierte rot. Als ich
ihn anstarrte, erschien eine Nachricht:
Leichter Schaden an der Hautschicht Ihres
rechten Fußknöchelns. Die Blutung wurde gestoppt.
Warnung! Ihr rechter Knöchel ist vorübergehend
gelähmt. Ursache: ??? (nicht identifiziertes Neurotoxin)
Das
Gegengift hatte also nicht gewirkt. Rasch injizierte ich mir noch eine Dosis. Nichts
passierte.
Inzwischen
war ich bis fast zur Taille gelähmt. Ich starrte meine 3D-Projektion an und
beobachtete, wie sich das vom Gift erzeugte grüne Netz mit erschreckender
Geschwindigkeit in meinen Blutbahnen ausbreitete. Mein Interface warnte mich,
dass es sich um eine tödliche Dosis handelte. Na, vielen Dank auch. Was sollte ich
denn jetzt machen?
Als
ich versuchte, mich wieder aufzurappeln, sackte ich sofort wieder zu Boden. Das
Lustige war, dass ich mich kaum mehr als fünfhundert Meter vom Versteck des
Monsters entfernt hatte.
Mir
stand kalter Schweiß auf der Stirn. Ich konnte kaum noch atmen. Mein Herz raste.
Kurz
darauf setzten die ersten Zuckungen ein. Mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Ich
zermarterte mir das Gehirn, um eine Lösung zu finden, aber es schien
aussichtslos zu sein. Nichts von all dem, was ich bei mir hatte – meine Ausrüstung,
mein Interface, meine neu gewonnenen Fähigkeiten – konnte mich jetzt noch
retten.
Hieß
es nicht, es wäre gar nicht so schlimm zu sterben? So ein Unsinn! Ich hatte
eine Heidenangst. Vor allem, wenn man bis zum Ende bei Bewusstsein war und
genau wusste, was passierte, aber rein gar nichts dagegen unternehmen konnte,
war es das Entsetzlichste, was man sich nur vorstellen kann.
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