Thursday, September 24, 2020

Der Okkultist von Oliver Mayes


Saga Online-1
Der Okkultist
von Oliver Mayes




Das Buch wird am 12. November veröffentlicht

Ein Charakter wird erstellt

Damien trat aus der einst von Kultisten heimgesuchten Höhle, nur um festzustellen, dass sein Schicksal besiegelt war. Durch eine Lücke zwischen den Bäumen konnte er sehen, wie die Sonne langsam hinter den weit entfernten Bergspitzen verschwand. Falls es ihm nicht gelingen würde, Concoret vor Einbruch der Dunkelheit zu warnen, würde es verheerende Folgen haben.

Er setzte seinen Rucksack auf und rannte auf den Wald zu. Das dumpfe Dröhnen seiner Plattenstiefel betonte die ansonsten unheimliche Stille. Er hatte seine Quest abgeschlossen, eines der vielen Kultisten-Verstecke in der Region gefunden und ihre Anzahl dezimiert. Doch unter den Habseligkeiten der Gefallenen hatte er ein Sendschreiben gefunden. Es handelte sich um die Befehle ihres Dunklen Meisters, den nahegelegenen Ort zu infiltrieren und die Seelen der Unschuldigen zu sammeln, während sie schliefen.


Die Befehle würden an diesem Abend ausgeführt werden.

Damien lief noch schneller. Seine Atmung beschleunigte sich und passte sich seinen Schritten an. Wenn das sein einziges Problem gewesen wäre, hätte er vielleicht eine Lösung gefunden. Aber unglücklicherweise hatte er seiner Mutter versprochen, erst Saga Online zu spielen, nachdem er seine Schulaufgaben erledigt hatte, und sie erwartete ihn in 15 Minuten zum Abendessen.

Es wäre zwar schrecklich, wenn Concoret den Kultisten zum Opfer fallen würde, aber es wäre noch bedeutend schlimmer, wenn seine Mutter ihn auf seinem Bett vorfinden würde – in seiner Unterwäsche und mit dem VR-Headset auf dem Kopf. Falls sie ihn erwischen würde, bevor er in Concoret angekommen war, würde sie unglaublich wütend sein.

Damien verlangsamte sein Tempo ein wenig, während er sein Statistikfenster öffnete, um seine heutigen Fortschritte zu überprüfen.


Benutzername: Damien Arkwright

Charakter: Scorpius

Klasse: Krieger

Level: 28

Gesundheit: 854/1.200

Ausdauer: 536/950

Attribute:

Stärke: 116, Beweglichkeit: 72, Intelligenz: 37

Konstitution: 120, Durchhaltevermögen: 95, Weisheit: 37

Attributpunkte: 5

Erfahrung: 1.893/29.000


Während des Kampfes hatte er gelevelt und fünf neue Attributpunkte erhalten. Er widerstand der Versuchung, sie Beweglichkeit zuzuweisen, weil er dadurch einen kleinen Geschwindigkeitsboost erhalten würde, und verteilte sie stattdessen auf Stärke, wo sie nützlicher wären. Damiens Attribute bestimmten, was er in Saga Online tun konnte und was nicht. Daher musste er ihre Verteilung ernst nehmen.

Es waren auf alle Fälle interessantere Kriterien, ihn zu beurteilen, als sein Central-Union-Profil: männlich, Kaukasier, 16 Jahre, Einzelkind, ein Elternteil mit alleinigem Sorgerecht, Online-Schulgeldklasse B, Haushaltseinkommensstufe D, Krankenversicherungsstufe D. In die Schulgeldklasse B zu kommen, war harte Arbeit gewesen, aber die übrigen Informationen sagten wenig über Damien selbst aus. Sie bezogen sich stattdessen auf die Umstände seiner Geburt. Er zog die Statistik seines Charakters der seiner eigenen Person vor, vor allem, weil er Einfluss darauf gehabt hatte. Während er seine eigenen Einstellungen nicht hatte individuell einrichten können, hatte er die Entwicklung seines Charakters unter Kontrolle.

Damien kannte sich mit der Erstellung eines Charakters aus. Er wusste, dass die Ausrichtung von Charakteren schnell in deren Zerstörung enden würde, wenn man die Eigenschaften nicht sorgfältig wählte. Daher wusste er nur zu genau, dass es keine gute Wahl gewesen war, seine Schulaufgaben nicht zu erledigen.

Damien schloss das Statistikfenster und zwang sich, schneller zu laufen. Die letzte Quest hatte unverschämt lange gedauert. Die Kultisten praktizierten zwar dunkle Magie, doch sie waren nicht das Problem gewesen. Ihre Stoffgewänder und niedrigen physischen Attribute waren kein großer Schutz gewesen, und sie hatten nur die Hälfte ihrer Zauber wirken können, bevor Damien seine eigene, besondere Magie eingesetzt und ihnen sein Schwert in die Luftröhre gestoßen hatte. Für immer zum Schweigen gebracht. Nein, die Kultisten zu besiegen, war leicht gewesen. Das Problem waren die Kreaturen gewesen, die sie beschworen hatten.

Damien hoffte, nie mehr einem Kobold begegnen zu müssen. In all den Jahren, in denen er bereits gespielt hatte, war er noch nie einem Feind begegnet, der so vollkommen unberechenbar war.

Kobolde waren wilde, starrköpfige Knirpse. Die personifizierte Wut, die auf eine umfangreiche Lobotomie folgte. Solange sie unter der Kontrolle von Kultisten waren, verhielten sie sich mehr oder weniger so, wie man es erwarten würde: Sie kratzten, bissen, sprangen umher und knurrten. Nachdem Damien ihre Meister getötet hatte, hatte es jedoch den Anschein gehabt, als ob ein geistig gestörter Gott einen Würfel mit Millionen von Seiten gerollt hätte, um zu entscheiden, was sie als Nächstes tun sollten.

Einer von ihnen hatte Damiens Fackel gestohlen, sich angezündet und die Krallen in sein Bein geschlagen, um sich wie eine Klette an sein Bein zu klammern, und unverständlich geschrien, bis er gestorben war. Das hatte sowohl Damien als auch seiner Ausrüstung erheblichen Schaden zugefügt. Außerdem war er gezwungen gewesen, zum Eingang des Dungeons zurückzukehren, um eine neue Fackel zu finden. Ein anderer Kobold war in die Höhle geflohen und bösartig hinter jedem zweiten Stein hervorgesprungen, um Damien gegen das Schienbein zu treten.

Doch die Erfahrung mit der Kreatur, die Damien am schnellsten hatte erledigen können, war mit Abstand die ekelhafteste gewesen: Ein besonders sturer Kobold hatte sich seinen Weg an die Decke erkämpft und versucht, seine Notdurft auf Damiens Kopf zu verrichten. In dem Moment, als etwas vor seine Füße geplumpst war und ihn veranlasst hatte, nach oben zu schauen, waren alle Zweifel, die er an der Realitätsnähe von Saga Online gehabt hatte, ein für alle Mal verschwunden.

Damien schüttelte sich bei der Erinnerung an den Vorfall. Es geschah ihm wahrscheinlich ganz recht, weil er wegen seines Alters gelogen hatte. Unkenntlich gemacht oder nicht, einen Koboldhintern hatte er sich nicht erhofft, als er angegeben hatte, 18 oder älter zu sein. Positiv gesehen, war der Stunt letztendlich nach hinten losgegangen, als der gegen das Schienbein tretende Kobold auf der Schweinerei ausgerutscht war.

Wegen des Widerstands der Kobolde hatte die Quest eine volle Stunde gedauert, 20 Minuten länger, als Damien geplant hatte. Und als er gedacht hatte, dass sie vorbei wäre, hatte Saga Online ihm diesen zeitbegrenzten Event angeboten.

Damien stöhnte beim Laufen und dachte über seine Alternativen nach. Sollte er vermeiden, dass seine Mutter im realen Leben ein wenig ärgerlich würde, oder verhindern, dass mehrere Hundert Leute in der virtuellen Realität ermordet würden? Irgendwie hatte er das Gefühl, ihr die Situation zu erklären, würde nicht viel helfen.

„Entschuldige, Mama. Ich habe gesagt, es würde nicht wieder vorkommen, aber es war sehr wichtig, weil ich das Leben von mehreren Leuten retten musste, und wenn ich die Sache nicht zu Ende gebracht hätte, hätte ich mir für nichts und wieder nichts fast von einem Kobold auf den Kopf kacken lassen.”

Nein, das würde das Problem wahrscheinlich noch verschärfen anstatt es zu lösen.

Ein Blick auf die Uhr am Rand seines HUDs bestätigte, dass die Zeit immer noch schneller verging, als ihm lieb war.

Unvermittelt hielt er vor einer Lichtung an. Es war sinnlos. Er würde es nicht schaffen. Es wäre besser, sich auszuloggen und nach dem Abendessen zu versuchen, die Leute zu retten.

Außerdem ist es ein virtueller Ort, dachte er und verzog das Gesicht, aber eine sehr reale Mutter. Er seufzte und öffnete das Ingame-Menü. Es überlagerte sein Sichtfeld mit transparentem Blau, der einzige Hinweis auf fortschrittliche Technologie in der sonst rigorosen Fantasy-Umgebung des Spiels. Concoret würde noch da sein, wenn er zurückkehren würde. Wahrscheinlich.

Damiens Besorgnis schwand, während er durch die Menüoptionen scrollte. Sein Headset, ein Neuronen-optimierender Optik-Booster, las seine Ingame-Bewegungen und -Absichten zu gleichen Teilen, um den gewünschten Scrolling-Effekt zu erzielen. Er wollte gerade die Logout-Taste bedienen, als das Menü plötzlich unscharf wurde und ein Fenster darüber eingeblendet wurde.


Einladung zum Voice-Chat: Mobius46, Gamer-ID 000046, A/D


Damien fluchte innerlich. Es war sein Handler von Mobius Enterprises. Er warf einen flüchtigen Blick auf die Uhr und entschied, dass er gerade noch genug Zeit hatte, den Anruf anzunehmen. Danach würde er sich GANZ BESTIMMT ausloggen. Er nickte kurz und hörte gleich darauf einen Ping. Sie waren verbunden.

„Hallooooo! Wie geht’s, äh, wie geht’s, wie steht’s?” Damien hörte das Rascheln von Papier am anderen Ende. „Damien! Alles klar bei dir, Kumpel?”

Für einen Moment erwog Damien, konstruktives Feedback zu seiner Erfahrung mit den Kobolden zu geben, doch er entschied sich dagegen. Er könnte später einen detaillierteren Bericht abgeben.

„Mir geht’s gut, Kevin. Wie ...?

„Ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet. Ähm, hör zu. Was würdest du dazu sagen, gegen einen Mob anzutreten, den wir in der Beta-Version testen müssen? Du wirst die allererste Person sein, die gegen ihn kämpfen kann! Ist das nicht cool? Ich lade dir die Datei gerade hoch.”

Damien widerstand dem Impuls, den Anruf zu beenden und auszuloggen. Diese Angelegenheit war viel ernster als seine Quest. Er konnte es sich nicht leisten, diesen Typen zu verärgern. Er hatte es nur Kevin zu verdanken, dass er das Spiel überhaupt spielen konnte.

Kevin war ihm vor einem Monat zugewiesen worden, als Damien sich für das Beta Testing von Saga Online registriert hatte. Es war zwar auf einem privaten Server ohne andere Spieler und er konnte nur in zwei Zonen spielen, doch es war trotzdem jede Menge Inhalt. Kevin hatte ihn mit dem Spiel ausgestattet und ihm außerdem sogar ein so treffend bezeichnetes NOOB-Headset beschafft, als er gehört hatte, dass Damien keins besaß.

Verglichen mit den anderen Sachen, die Mobius Enterprises produzierte, war es einfache Technologie, überstieg aber trotzdem die finanziellen Mittel einer Familie der Haushaltseinkommensstufe D. Das Headset war das modernste Spielgerät, das Damien je besessen hatte und wohlmöglich je besitzen würde. Im Gegenzug für den Luxusartikel musste Damien Elemente kommender Spielinhalte testen.

So sehr Damien auch unter Stress stand, er musste zugeben, dass Kevin seinen Respekt verdiente – auch wenn er oft Damiens Namen vergaß.

„Tut mir leid, Kevin, aber meine Mutter wartet auf mich. Ich ha...”

„Nein, nein, nein, tu mir das nicht an!”

Damien gab auf. Er hatte Kevin noch nie so beunruhigt erlebt. Er atmete schwer und es hörte sich an, als ob er gleich eine Panikattacke erleiden würde.

„Kevin, was ist los?”

Kevin holte tief Luft, bevor es in einer wirren Welle der Hysterie aus ihm herausbrach.

„Na gut, na gut. Es tut mir leid. Ich bin dir gegenüber nicht ganz ehrlich gewesen. Ich habe um 18:30 Uhr eine Livesendung des Unternehmens und ein Typ, ein Streamer, hatte versprochen, teilzunehmen. Doch vor ein paar Minuten hat er abgesagt. Es werden viele Leute kommen, um sich den Kanal anzuschauen, und ich habe niemanden, der die Lücke füllen kann. Ihr beiden seid die einzigen Kontakte, die ich im Moment online habe, Damien. Wenn du mir nicht hilfst, bin ich geliefert. Die Werbung, die Vorbereitung und die Arbeit, die ich in den Mob investiert habe – es wäre alles umsonst gewesen. Sie werden mir das Projekt wegnehmen und es jemand anderem geben. Sie werden mich übergehen und ich werde nie wieder ein anspruchsvolles Projekt erhalten. Bitte!”

Damien erstarrte, als er in seinem peripheren Blickfeld die Uhr sah. 18:27 Uhr. Aber es spielte keine Rolle. Die Sendung würde um 18:30 Uhr beginnen und falls er Kevin helfen würde, würde er sowieso zu spät zum Abendessen kommen.

„Ich muss meiner Mutter Bescheid sagen. Ich werde mich ausloggen und zurückkommen, bevor ...”

„Dazu ist nicht genug Zeit, Damien. Ich muss die Daten jetzt gleich auf dein Headset hochladen und du musst online sein. Bitte bleib hier!”

Damien sah noch einmal auf die Uhr. 18:28 Uhr. Dieser Mann hatte ihm die Gelegenheit gegeben, ein Spiel jenseits seiner kühnsten Träume zu testen. Nun legte er seine Karriere in Damiens Hände. Oh, Mann. Er wusste nicht, wer von ihnen es mehr bereuen würde.

„Also gut. Geh es mit mir durch, Kevin.”

Über sein Headset hörte er das Klackern von Tasten, und kurz darauf erschien ein Download-Symbol im Menü.


Erhaltene Datei: spin2win

Downloaden? Ja/Nein


Damien konzentrierte sich auf die Auswahlbox und nickte, woraufhin das Download-Symbol in der oberen rechten Ecke erschien. Ein Terabyte in drei Minuten.

Der Nutzer Mobius46 möchte dich in die „Testzone” teleportieren.


Akzeptierst du? Ja/Nein


Mit einem einzigen Nicken seines Kopfes verschwand die Spielwelt um ihn herum und eine Ladeanimation erschien. Einige Sekunden später landete Damien auf den Füßen. Da er keine Zeit gehabt hatte, sich auf die Landung vorzubereiten, verlor er das Gleichgewicht und fiel hintenüber. Ein guter Start.

Leise fluchend stand er auf und sah sich die Umgebung an. Er stand in der Mitte einer enormen unterirdischen Arena. Sie wurde von zahlreichen leuchtenden, weißen Kugeln erhellt, die über dem geschlossenen Platz schwebten. Dicht gepackter, goldener Sand auf dem Boden sorgte für eine trittsichere Oberfläche, aber Damien konnte keine Ausgänge sehen. Die auffälligsten Merkmale der Arena waren vier riesige Steinsäulen, die bis hoch zur Decke ragten und so breit waren, wie mehrere Männer.

Kevin unterbrach seine Untersuchung. „Ich habe dich auf dem Bildschirm, Damien. In einer Minute sind wir live. Bist du bereit?”

Damien öffnete sein Menü und prüfte den Fortschritt des Downloads. Noch zwei Minuten.

„Der Download ist noch nicht abgeschlossen.”

„Keine Panik. Ich stelle dich erst vor, und dann fangen wir an. Nachdem der Download abgeschlossen ist, brauchst du ihn nur von deinem Menü aus aktivieren und der Mob wird erscheinen.

Damien knirschte mit den Zähnen. Hatte er Kevin nicht klargemacht, dass sie keine Zeit verschwenden durften?

„Beeil dich lieber. Wenn ich nicht zum Abendessen erscheine, zieht meine Mutter den Stecker heraus.”

Kevin kam ins Stottern, als Damiens Problem auf einmal auch zu seinem Problem wurde. „Aber ... das kann sie nicht machen. Du sollst das Spiel langsam verlassen. Die Software auszuschalten, während sie noch läuft, kann negative Nebeneffekte ...”

„Das brauchst du mir nicht zu sagen! Ich wollte ihr Bescheid sagen, aber du hast mich davon abgehalten. Jetzt weißt du, warum.”

Damien ging zu einer Säule hinüber, nahm seinen Rucksack ab und warf ihn achtlos auf den Boden. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Säule und verschränkte die Arme.

„Stell alles ein und hoffe auf das Beste. Wir haben höchstens ein paar Minuten.

Kevin stieß ein jämmerliches Klagen aus. Damien konnte ihn nicht sehen, aber er konnte sich Kevins verzweifeltes Händeringen lebhaft vorstellen.

„Der Feed soll mindestens eine halbe Stunde dauern!”

Damien zuckte die Schultern. Er konnte nichts daran ändern.

„Dann sollten wir lieber loslegen.”

Am anderen Ende der Leitung gab es eine lange Pause.

„Okay, ich habe eine Idee. Ich glaube ... ” Papier raschelte. „Ja, ich glaube, das könnte klappen. Ich schicke dir die Life-Feed-Anfrage. Er erlaubt allen, zuzuschauen, was du machst. Sie können alles durch deine Augen sehen, also benimm dich!”

Auf Damiens Bildschirm erschien ein neues Fenster, dass bedeutend länger war als das vorige. Es waren die Geschäftsbedingungen.

„Es ist eine Vereinbarung, einen Live-Stream zu machen. Scrolle einfach bis ans Ende und akzeptiere. Diese Dinger liest sowieso niemand ... aber sag ja niemandem, dass du das von mir gehört hast.”

Damien musste ein Lachen unterdrücken. Er blätterte durch mehrere Seiten, bevor er an die bekannte Checkbox „Akzeptieren/Ablehnen” am Ende kam.

Kevin atmete erleichtert auf. „Gut gemacht, Damien. Wir haben es gerade rechtzeitig geschafft.”

Die Uhr sprang auf 18:30 Uhr und die Chatbox wurde plötzlich lebendig.


TwinkyWinky2047: Erster!

CactusLover: Hi!

Vargus: Was geht, Noobs?

Naughtylus: Zweiter!

Robodozer: Erster!

Robodozer: Oh, verdammt, lol

OccumsAxe: Lol, Fail

Enlsdkfislde: He, Leute, seht euch jeden Tag um 20 Uhr Sagarama an.

EvilAye: Verpiss dich, Bot.

Showtaymuuuu: Dritter!


Mehr und mehr Nutzer erschienen in der Chatbox und die Nachrichten strömten so schnell herein, dass Damien keine Zeit hatte, eine zu lesen, bevor die nächste eintraf. Ein Strom nutzloser Informationen, die nie gelesen werden würden. Innerhalb weniger Sekunden hatten sich 3.562 Leute zugeschaltet und es wurden immer mehr. Damien war wie benommen. Das hatte er nicht erwartet.

„Guten Abend”, verkündete Kevin mit einer Stimme, die plötzlich sehr zuversichtlich klang, „und herzlich willkommen zur heutigen Folge von ‚Die Saga geht weiter‘.”

Damien blieb der Mund offen. Er liebte die Sendung. Diese Sendung. Mein Gott, dachte er und ließ die Arme sinken. Ich bin das Highlight des offiziellen Kanals von Saga Online. Alle sehen mir zu. Verdammt.

„Heute haben wir Damien alias Scorpius dabei, ein Beta-Tester, der seit einem Monat die Kriegerklasse auf einem privaten Testserver von Saga Online spielt. Damien, winke mal allen zu. Du bist live vor laufender Kamera!”

Nervös hob Damien eine Hand, bevor er innehielt. Wenn es wie in den Folgen war, die er gesehen hatte, sahen die Zuschauer aus seiner Perspektive zu. Er drehte die Hand um und winkte sich verlegen selbst zu. Es gab eine Vielzahl von Reaktionen in der Chatbox, denen Damien nicht folgen konnte, doch er erkannte ein paar „Hallos” und einige oberflächliche „Was geht, Noob?”.

„Scorpius hat sich ganz kurzfristig bereiterklärt, für Aetherius einzuspringen, der in letzter Minute abgesagt hat.”

Während der Chat seinem Unmut Ausdruck gab, wurde Damiens Schock noch größer.

Ich springe für Aetherius ein? Er steht an der Spitze der Rangliste des Streamer-Wettbewerbs!

Beim Streamer-Wettbewerb wurden Spieler dazu aufgefordert, ihr Gameplay aufzuzeichnen und es auf ihre Profilseiten von Saga Online hochzuladen, um Stimmen von Fans zu erringen. Der Sieger würde 100.000 reale Credits erhalten.

Plötzlich unterbrach ein Gedanke seine Sternstunde. Augenblick mal. Wenn dieser Kampf ursprünglich auf Aetherius abgestimmt worden ist, gegen welche Art von Mob muss ich dann kämpfen?

„Heute kämpft Damien gegen ein neues Boss-Monster, das später ins Kernspiel aufgenommen wird.”

Verdammt.

„Um ehrlich zu sein, selbst Aetherius hätte gegen dieses Ding einen schweren Stand.”

Neinneinneinneinnein ...

„Tatsächlich hat er nach einer kurzen Beschreibung seines Gegners so große Angst bekommen, dass er lieber abgesagt hat. Ich nehme an, wenn man einen Ruf zu verteidigen hat, kämpft man nur gegen Feinde, die man besiegen kann.” Wenn in Saga Online die Kommunikationsmethode des Sich-vor-Angst-in-die-Hose-pinkelns verfügbar gewesen wäre, hätte Damien reichlich kommuniziert. Doch wie die Dinge lagen, schwieg er.

„Ich habe Damien nicht eingeladen, weil ich hoffe, dass er gewinnen wird. Ich hoffe nur, dass er den Mut hat, eine gute Show zu liefern. Selbst wenn”, Kevin räusperte sich, „falls er scheitert, wird er in die Gaming-Geschichte eingehen.”

Kevins Ton wurde ernst, als er sich direkt an Damien wandte.

„Es tut mir leid, dass ich nicht mehr Zeit hatte, dich vorzubereiten. Du kannst dieses Monster wahrscheinlich nicht besiegen, aber jemand muss gegen es antreten, damit wir es in Aktion sehen können, und du bist der Einzige, den wir haben. Bitte, Damien, tust du es für mich? Für alle? Ich würde dir einen ganz großen Gefallen schulden.”

Damiens Gedanken schwankten hin und her. An dieser Show teilzunehmen, war ein Wunschtraum, aber er war noch nicht bereit. Nicht nur, dass er auf einem niedrigen Level war und fast nichts über seinen Gegner wusste – jeden Moment könnte der Strom seines Gerätes abgeschaltet werden. Es gab so viele Variablen, dass er sich nicht konzentrieren konnte. In den wenigen Sekunden, die auf Kevins Bitte folgten, hatten die Zuschauer den Chat mit ihren eigenen Apellen überschwemmt. Ermutigungen und ... na ja, es gab eben immer Spielverderber.


5ubzer0: Das schaffst du, Damien. Stich ihm seine verdammten Augen aus!

BootyliciousBarb: Na los, Damien, für die Krieger!

Naughtylus: HIER KOMMT EIN NEUER HERAUSFORDERER!

CactusLover: Ich hab mir extra die Eier rasiert x_x

Polymorpheus: Lol, Aetherius Noob, Damien OP. Mach ihn fertig.

Vargus: Lol, er stirbt ... ‚öffnet Popcorn‘ ... Das wird ein Spaß.


Damien öffnete sein Menü und scrollte zu seinem neu erhaltenen Downloads-Tab. Dort befand sich die Datei „spin2win”. Es war, als ob er auf einem Pulverfass sitzen würde. Ein kurzer Blick auf die Kopfzeile der Chatbox informierte ihn, dass über 10.000 Leute gespannt darauf warteten, was er tun würde.

Der Druck war enorm groß, aber Damien stand hinter seiner Entscheidung. Er hatte Kevin seine Hilfe zugesagt, bevor er erfahren hatte, dass er keine Chance hatte, zu siegen. Der einzige Grund, jetzt auszusteigen, wäre seine Angst. Er überlegte kurz, ob es ein ausreichender Grund wäre, Kevin hängenzulassen. Die Antwort hätte nicht eindeutiger sein können. Mit einem konzentrierten Blick und einem Nicken aktivierte er spin2win. Unter seinen Füßen begann ein leises Grollen, während die Chatbox vor begeisterten Kommentaren explodierte.

Kevins Stimme übertönte die Vibration. „Ich wusste, dass du mich nicht im Stich lassen würdest! Okay, beschäftige ihn. Ich werde uns etwas Zeit gewinnen.”

Das leise Grollen war zu einem ohrenbetäubenden Donnern geworden und die gesamte Arena bebte, als ob sie von einem Erdbeben heimgesucht würde. Damien taumelte und streckte die Arme aus, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und bemühte sich, nicht hinzufallen. Er beugte die Knie, zog sein Schwert und sah sich nervös um. Wo war der Feind? Das Grollen verstummte. In dem stillen Moment wurde Damien bewusst, was Kevin gerade gesagt hatte.

„Kevin? Was meinst du mit ‚Zeit gew...‘”

Bevor Damien seine Frage beenden konnte, explodierte die Decke. Tausende von Steinfragmenten, manche größer als Damien, flogen durch die Arena. Viele der leuchtenden Kugeln, die als einzige Lichtquellen dienten, wurden durch das umherfliegende Geröll zum Erlöschen gebracht. Ein Klumpen so groß wie eine Faust sauste über Damiens Kopf hinweg und blieb in der Säule hinter ihm stecken.

Angesichts der apokalyptischen Kraft, die am Werk war, brach das übrige Dach schnell ein. Eine klaffende Wunde in der Mitte der Decke markierte den Grund der Explosion. Irgendetwas hatte sie hart genug getroffen, um sie mit einem Schlag zu durchbrechen. Ein Ring aus Feuer umgab das riesige Loch wie einen Meteoriten, der sich durch die Erdatmosphäre gebrannt hatte. Es war jedoch kein Meteorit, denn Meteoriten hatten keine Gesundheitsbalken.

Eineinhalb Sekunden nach der ersten Explosion krachte das echte Highlight der Show auf den Boden und ließ alles andere in einem Umkreis von 10 Metern in Dampf aufgehen. Die Schockwelle warf Damien gegen die Säule und hielt ihn hilflos und mit ausgestreckten Armen und Beinen zwei Meter über dem Boden fest. Als seine Gliedmaßen gegen die Säule schlugen, war ein groteskes Knacken zu hören. Sein Schwertarm war unter dem Ellbogen gebrochen. Da er seine Waffe nicht greifen konnte, prallte sie scheppernd von der Säule ab und wirbelte außer Sichtweite.

Benommen fiel Damien wie ein Sack zu Boden. Sein Gesundheitsbalken war um ein Drittel gesunken, und das war die gute Nachricht. Seine Ohren klingelten und er war entwaffnet worden, aber er wusste immer noch nicht, gegen was er kämpfte. Er sah nach oben, um es herauszufinden, und wünschte sich sogleich, es nicht getan zu haben.

In der Mitte des rauchenden Kraters, umgeben von Glasscherben, die entstanden waren, als der Sand überhitzt worden war, befand sich der mächtigste Gegner, dem Damien je in diesem oder allen anderen Spielen begegnet war. Auf einem Bein kniend hatte er eine obszön große, gezackte Klinge vor sich in den Boden gestoßen: Teutates, der Wahnsinnige Tyrann.

Er trug ein silbernes Kettenhemd, das immer noch rot glühte. Nur seine Taille lag frei, denn seine Bauchmuskeln deuteten darauf hin, dass eine Rüstung nicht unbedingt notwendig war. Teutates erhob sich zu seiner vollen Größe und zog sein Schwert mit einer Hand aus dem Boden, bevor er Damien ins Visier nahm. Das Gesicht des Gottes war zwar durch seinen Helm verdeckt, doch Damien wusste genau, dass er beobachtet wurde.

Ein rotes Symbol in Form eines bedrohlichen Auges hatte sich zu den Debuffs gesellt, die er in seinem Kampf-HUD bereits als Angst und Gelähmte Gliedmaße erkannt hatte. Er konzentrierte sich kurz auf das Auge und wurde mit dem Namen und der Beschreibung des Debuffs belohnt: Im Auge der Götter – alle Attribute um 20 % reduziert. Selbst Teutates‘ Blick besaß Stärke.

Vom sandigen Boden aus war es schwer zu sagen, aber Damien schätzte, dass Teutates etwa zweieinhalb Meter groß sein musste. Sein Schwert war noch einen halben Meter länger.

Mit seinem gesunden Arm griff Damien verzweifelt hinter sich und tastete blind nach seinem Rucksack. Währenddessen ließ Teutates ein derart unvorstellbar schreckliches Gebrüll ertönen, dass sein äußerer Rand eine erkennbare Gestalt annahm. Sie hob Damien hoch und warf ihn gegen die Säule, die er bereits gut kannte. Sand und Scherben zwangen ihn, sein Gesicht abzuwenden.

Positiv gesehen, steckte der Rucksack, nach dem er gesucht hatte, nun fest in seinem Kreuz. Negativ gesehen, war seine Gesundheit um die Hälfte gesunken, und der Kampf hatte noch nicht einmal begonnen.

Die Zuschauer äußerten ihre Meinung hinsichtlich Damiens Aussichten in der Chatbox.


CactusLover: Jo, er stirbt.

Vargus: Habe ich doch gesagt.

Dedpewl: LANDUNG EINES SUPERHELDEN!!!!

Naughtylus: @_@ glhf

BootyliciousBarb: Ich hoffe, du trägst deine braune Hose.

Polymorpheus: Pwned

Akejfnioegnne: He, Leute, seht euch jeden Tag um 20 Uhr Sagarama an.

5ubzer0: Das schaffst du ... warte, vergiss es.


Da Damien jetzt in Kontakt mit seinem Rucksack war, hatte er Zugriff auf sein Inventar. Durch seinen Willen zwang er seinen einzigen Heiltrank in seine wartende linke Hand, entkorkte ihn mit den Zähnen und goss sich die bittere Flüssigkeit so schnell wie möglich in die Kehle. Eine Wärme brannte in seinem Bauch, bevor sie sich in seine Gliedmaßen ausbreitete. Sein rechter Arm schnappte wieder an seinen Platz und heilte. Seine Gesundheit füllte sich vollkommen. Der Debuff Gelähmte Gliedmaßen verschwand, aber Angst und Im Auge des Gottes blieben. Es waren anhaltende Effekte und es würde mehr als ein Trank nötig sein, um sie loszuwerden.

Das Klingeln in seinen Ohren hörte auf, nur um durch ein Klingeln der konventionelleren Art ersetzt zu werden. Kevin hatte beschlossen, jemanden anzurufen, und musste sein Gerät auf Freisprechen geschaltet haben, sodass der gesamte Stream mithören konnte. Damien war zu abgelenkt, um zu bemerken, was vor sich ging, aber eine nörgelnde Stimme in seinem Hinterkopf bestand darauf, dass es keine gute Nachricht war. Sein Verdacht wurde bestätigt, als der Anruf beantwortet wurde.

„Hallo?”

„Hi, mein Name ist Kevin Bants. Ich arbeite für Mobius Enterprises. Spreche ich mit Cassandra Arkwright?

Es gab eine kurze Pause, bevor Cassandra in einem kühlen Ton antwortete: „Cassandra Brades, aber, ja.”

Damien riss die Augen auf. Kevin, du Vollidiot. Damien öffnete den Mund, um genau diese Meinung auszudrücken, als er von einer Bewegung in der Mitte der Arena in die virtuelle Realität zurückgeholt wurde.

Teutates drehte sich mit ausgestrecktem Schwert schnell auf der Stelle. Als seine Geschwindigkeit sich erhöhte, bildete sich ein Mini-Zyklon um ihn herum, der herumliegende Steine und Sand aufnahm, bis Teutates von einer dichten Wand von sich drehendem Material umgeben war. In einem unmöglichen Bogen traf ein Blitz aus dem klaren Himmel auf den Boden in seiner Nähe und wirbelte noch mehr Sand auf, der wiederum von dem Wirbelsturm aufgenommen wurde.

Als er seine volle Kraft erreicht hatte, stürzte Teutates sich auf Damien und brachte den lokalisierten Tornado mit sich. Damien sprang auf die Füße und warf sich gerade noch rechtzeitig zur Seite, bevor ein dumpfes Klirren zu hören war, das Teutates‘ Zusammenstoß mit der Säule signalisierte.

„Ich würde mich gerne kurz mit Ihnen über Damien unterhalten, wenn Sie nichts dagegen haben.”

„Er kommt gleich zum Abendessen. Eigentlich müsste er schon hier sein. Soll ich ihn schnell holen?”

Damien hielt seine Hände über den Kopf, während er auf den Todesstoß wartete. Er kam jedoch nicht. Nach ein paar Sekunden drehte er sich um, um herauszufinden, warum er noch nicht gestorben war. Teutates hatte sein Schwert tief in die Säule gestoßen und nun steckte es fest.

„Nein! Nein, das ist nicht nötig, Frau Brades. Ich wollte mit Ihnen sprechen.”

Teutates knurrte Damien an, bevor er sich der Säule zuwandte. Mit beiden Händen packte er das Heft des Schwertes und machte sich bereit, es herauszuziehen. Das rote Auge verschwand von Damiens Debuff-Liste. Falls er etwas unternehmen wollte, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt.

„Aha. Was ist der Grund Ihres Anrufs? Hat Damien etwas Falsches getan?”

„Ganz und gar nicht! Damien ist eine große Hilfe gewesen, und ich möchte Ihnen nur sagen, dass Sie einen großartigen Sohn haben.”

„Vielen Dank. Das ist nett von Ihnen, aber ich weiß immer noch nicht, warum Sie anrufen. Gibt es etwas, das ich wissen sollte?”

Damien musste sich unbedingt seinen Rucksack holen. Er blickte zum Fuß der Säule hinüber, wo er ihn zurückgelassen hatte, und seine Zuversicht sank. Teutates stand mit seinem linken Fuß darauf. Er hätte genauso gut versuchen können, einen Berg anzuheben. Ohne seinen Rucksack und sein Schwert, das irgendwo hingeflogen war, würde Damien versuchen müssen, sich unbewaffnet im Kampf zu behaupten.

Teutates zerrte und seine gezackte Klinge rieb gegen den Stein, als er sie die die ersten Meter herauszog. Was auch immer Damien tun wollte, er hatte nicht viel Zeit. Eilig ging er um den Mob herum und stellte sich hinter ihn. Sicherlich musste er irgendeine Schwäche haben, die Damien ausnutz…

Dann entdeckte er sie. Teutates‘ Glieder waren in Rüstung gehüllt. Alle außer einem. Seine Beinschienen endeten an den Oberschenkeln, und zwischen diesen Oberschenkeln war durch weiches Leder ein vorstehender Wulst zu sehen. Er war nicht besonders detailliert ausgeführt und Damien dachte bei sich, dass Teutates ungefähr so gut ausgestattet war, wie eine Actionfigur, aber es war klar, was der Wulst darstellen sollte.

Damien hatte Jahre damit verbracht, Die Schwachpunkte von Feinden zu finden. Er ließ sich keine Gelegenheit entgehen. Ohne zu zögern positionierte er sich, machte drei gemessene Schritte vorwärts und legte sein ganzes Gewicht hinter seinen von schwerer Rüstung geschützten, rechten Fuß.

Teutates atmete scharf ein und taumelte leicht. Eine winzige Menge seines Gesundheitsbalkens verschwand, um Damiens Erfolg anzuzeigen.

Die Zeit stand still.

Unweigerlich starrte Teutates die verantwortliche Person an. Der Debuff des roten Auges erschien wieder in Damiens Statusbalken.

„Hallo? Kevin?”, fragte Cassandra. „Sind Sie noch dran? Hallo?”

Damien schürzte die Lippen. Er hatte sein Möglichstes getan, aber es sah so aus, als ob es von nun an abwärts gehen würde. Wenn er schon einen schrecklichen Tod sterben müsste, wollte er wenigstens das Beste daraus machen.

„Ent…schuldigung”, sagte Damien bestimmt und bemühte sich, nicht zu stottern. „Du stehst auf meinem Rucksack. Kannst du deinen Fuß anheben?”

Teutates blickte zu seinem Fuß und dem Rucksack hinunter, der unter ihm lag. Dann blickte er wieder hoch. Der Debuff „Rotes Auge” verschwand und erschien wieder in Damiens HUD.

Unter anderen Umständen hätte Damien gelacht. Er grinste Teutates entschuldigend an und seine Mundwinkel zuckten.

„Meine Mutter wartet mit dem Abendessen auf mich, aber zuerst hätte ich gerne meinen Ruck…”

Teutates schleuderte seinen linken Arm herum und traf Damien mit einer fürchterlichen Rückhand in der Seite. Zuerst brach Damiens Arm. Dann brachen seine Rippen und sein Brustkorb sank zusammen. Sein Körper wickelte sich um Teutates‘ Unterarm, als ob er aus Modelliermasse gemacht wäre. Am Ende des Schwungschlags wurde Damiens schlaffer Körper durch die Luft katapultiert.

Nach 25 Metern beschleunigte sich sein Flug immer noch, nach 50 Metern erreichte er seine Endgeschwindigkeit und fand ein jähes Ende, als er in die Wand an der anderen Seite der Arena krachte, die 75 Meter weit entfernt war.

„Kevin? Ist das mein Sohn, den ich da gerade gehört habe? Was geht da vor sich?”

Kevin sammelte sich. „Äh, ja, das war Damien. Er hilft mir gerade bei etwas und ich habe gehofft, dass …”

„Oh! Jetzt verstehe ich, worum es geht. Er spielt wieder dieses verdammte Spiel, nicht wahr? Ich habe ihn eindringlich gebeten, nicht zu spielen, bevor er seine Hausaufgaben erledigt hat. Aber hört er auf mich? Natürlich nicht. Jetzt weiß ich auch, warum er zu spät zum Abendessen ist. Unglaublich!”

„Frau Brades, es tut mir sehr leid. Es ist mein Fehler. Bitte machen Sie Damien deswegen keine Vorwürfe. Er wollte mir …”

„Halten Sie mich nicht zum Narren! Wen ich beschuldige und wen nicht, ist meine Sache. Auf Wiederhören, Kevin. Bitte kontaktieren Sie meinen Sohn nicht noch einmal.”

Existenz bedeutete Schmerzen. Damiens Statusbalken bestand aus einer Sammlung seltsamer Symbole. In der Wand eingeschlossen prüfte er sie kurz und entschied, dass mindestens eines von ihnen innere Blutungen anzeigen musste. Das hätte erklärt, warum sein bereits gefährlich niedriger Gesundheitsbalken immer noch sank.

Er versuchte, sich aus der Wand zu befreien, doch er gab auf, als seine Gliedmaßen vor Schmerz protestierten. Wenn er gewusst hätte, wie sich dieser Kampf entwickeln würde, hätte er in seinem Menü die Schmerzeinstellungen deaktiviert. Im Moment waren sie auf die Hälfte eingestellt, was bedeutend mehr war, als er aushalten wollte.

Er blickte zu Teutates hoch und konnte gerade noch sehen, wie er die enorme Säule mit dem Fuß umstieß und sein Schwert befreite. Das rote Auge erschien zum letzten Mal ganz oben auf Damiens Statusbalken. Der Angst-Debuff verschwand, als Damien den wütenden Gott sah und mit den Augen rollte.

„Na gut, dann gib mir meinen Rucksack eben nicht zurück.” Er hielt inne, um Blut zu husten. Die purpurrote Flüssigkeit spritze auf den Sand unter ihm. „Aber es war nicht nötig, dich wie ein Mistkerl zu benehmen.”

„Damien, hier ist Kevin. Tut mir leid, ich habe deine Mutter angerufen, aber das Gespräch ist nicht so gut gelaufen, wie ich gehofft hatte.”

Teutates begann erneut, sich zu drehen, um den episch ungleichen Kampf zu beenden. Trotz allem musste Damien lachen.

„Ja, Dummkopf, ich habe es gehört. Damit hast du mir keinen Gefallen getan. Hol mich hier raus. Ich bin erledigt. Gutes Spiel, gut gemacht und der ganze Schei…”

Pieeeeeep!

„Du bist noch immer live, Damien. Bitte keine Flüche. Ich kann dich nicht herausholen. Wenn der Kampf vorüber ist, setzt sich die Testzone zurück und du erstehst sofort wieder auf, aber zuerst musst du oder Teutates sterben.”

Um Teutates herum schlugen abermals Blitze auf dem Boden ein. Es würde nicht lange dauern, bis er Damien wieder angreifen und den Kampf beenden würde. Damien fand, dass er für einen Tag genug gelitten hatte. Er tat das Einzige, was ihm übrigblieb.

„Menü.”

Er scrollte mit den Augen und blinzelte, um zu klicken, da er seine Finger nicht bewegen konnte. Auf diese Weise stellte er die Schmerzeinstellungen auf null. Sein gesamter Körper wurde herrlich gefühllos.

„Lass dir lieber etwas einfallen, um mich für diese Sache zu entschädigen, Kevin. So wollte ich meinen Montagabend nicht verbringen.”

„Das werde ich, Damien. Versprochen. Du hast sehr gute Arbeit geleistet. Ich bin dir was schuldig.”

Teutates stolperte vorwärts. Nun würde es schnell vorbei sein. Was für eine Erleichterung. Die Klinge zischte durch die Luft und kam mit jeder Drehung näher. Wenige Sekunden vor dem Ende erstarrte er plötzlich auf der Stelle.

Stechende Kopfschmerzen brannten sich den Weg in Damiens Bewusstsein und er schrie vor sehr realen Schmerzen. Die Ränder und Farben der Testzone verliefen wie in einem nass gewordenen Bild. Dann wurde alles schwarz.

Damien griff sich mit beiden Händen – seinen realen, nicht gebrochenen Händen – an den Kopf und öffnete immer noch schreiend die Augen. Seine Mutter starrte zu ihm hinunter. Eine Hand lag an der Hüfte, in der anderen hielt sie sein NOOB-Headset. Verwirrt wunderte Damien sich, warum das rote Auge nicht in seinem Statusbalken erschien.

Die Zeit für einen Bosskampf in der realen Welt war gekommen.

 


Ein Charakter wird gelöscht



Das Abendessen verlief schweigend. Mutter und Sohn saßen sich in der kleinen Küche am Tisch gegenüber.

Cassandra aß nicht. Ihr Teller stand unberührt vor ihr, während sie Damien mit verschränkten Armen anstarrte. Das NOOB-Headset lag in der Mitte des Tisches zwischen ihnen, doch es war alles andere als interessanter Gesprächsstoff.

Damien stopfte sich den Rest der Nudeln in den Mund und bemühte sich dabei, einen Würgereiz zu unterdrücken, denn er wollte verhindern, dass seine Mutter eine Pause nutzen könnte, um ihren Kommentar abzugeben. Dann spielte er seine Karte.

„Danke für das Abendessen.”

Er stand auf und trug seinen Teller und Löffel zum Bio-Geschirrspüler. Vorsichtig stellte er sie hinein und machte sich dann schnurstracks auf den Weg zu seinem Zimmer.

„Setz dich.”

Damien sah sie an und verzog das Gesicht. Cassandra blickte ihn ruhig an. Sie neigte leicht den Kopf und deutete auf den Stuhl, von dem Damien gerade aufgestanden war. Das einzige Geräusch, das zu hören war, war das gedämpfte Klingeln von Damiens Essbesteck im Bio-Geschirrspüler, als er analysierte, wie es am besten gereinigt werden sollte.

Damien gab auf. Mit einem tiefen Seufzer trottete er zu seinem Stuhl zurück und fiel hinein. Da er den eindringlichen Blick seiner Mutter nicht erwidern konnte, starrte er stattdessen auf ihre Schulter. Cassandra entfaltete die Arme und legte eine Hand auf das NOOB-Headset.

„Hast du deine Schulaufgaben erledigt?”

Damien starrte weiter auf ihre Schulter, als wäre sie die interessanteste Schulter der Welt. Schließlich wurde die Stille so unangenehm, dass Damien sich gezwungen sah, sie zu füllen.

„Noch nicht ganz, aber es ist nur noch ein Fach übrig und ich habe noch viel Z…”

Cassandra schlug mit der anderen Hand auf den Tisch und Damien zuckte zusammen. Seine schlecht gewählten Worte verklangen ungehört. Cassandra nahm die Hand schnell vom Tisch und rieb sie an ihrem Knie. Damiens Schuldgefühle wurden stärker. Sie war zu schwach für solche dramatischen Gesten.

Wie aufs Stichwort begann ihr Überwachungsarmband zu piepen, das sie vom Krankenhaus erhalten hatte. Es hatte ihren erhöhten Herzschlag festgestellt. Mit geübter Leichtigkeit steckte sie die Hände in die Taschen ihrer Jacke. Mit der einen zog sie ihre Tablettendose heraus, mit der anderen eine kleine Injektionskapsel.

Zuerst benutzte sie die Kapsel. Sie stach sie unterhalb des Armbands in ihren linken Unterarm. Dann schraubte sie die Tablettendose auf, schüttete sich drei Tabletten in die Hand und warf sie sich ohne viel Aufhebens in den Mund.

Jetzt bereits drei Tabletten, bemerkte Damien bedrückt. Die Dosis erhöhte sich ständig. Die beiden verfolgten das Ritual – eines von drei Intervallen jeden Tag – stillschweigend. Sie sprachen nur über Cassandras Herzschwäche, wenn es unbedingt notwendig war. Das Überwachungsarmband verstummte ebenfalls, als es die Medikamente in ihrem Blut feststellte. Die Spannung wurde nur von einem leisen Zischen des Bio-Geschirrspülers unterbrochen, als er die gewählte Mischung von Spülmittel über Damiens Teller und Löffel sprühte.

Wieder überkamen ihn Schuldgefühle.

Cassandra schraubte die Dose wieder zu und ließ sie und die Injektionskapsel am Tischrand liegen, bevor sie ihre Hand ausstreckte und das NOOB-Headset erneut leicht berührte.

„Wir hatten eine Vereinbarung, Damien. Zuerst die Schulaufgaben, dann das Spiel. Erinnerst du dich? Du hast zugestimmt. Du hast gesagt, dass du verstanden hast.”

Damien wusste zunächst nichts darauf zu sagen. Sie hatte recht. Er hätte mit seinen Aufgaben beginnen sollen, sobald seine Lehrveranstaltungen beendet waren, sie nach dem Abendessen beenden und danach spielen sollen. Aber er hatte sich seit 9 Uhr morgens Lehrveranstaltungen online angesehen und seine Langeweile hatte ihn dazu verführt, sein Vergnügen vorzuziehen, obwohl er genau gewusst hatte, dass es ihm wenig Zeit lassen würde, die Aufgaben zu erledigen.

Damien hatte verschiedene Möglichkeiten. Er hätte sich entschuldigen können. Er hätte zugeben können, dass er nach acht Stunden Online-Unterricht müde gewesen war und wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er hätte Zugeständnisse machen können.

Aber er tat nichts von alldem. Irgendein blödsinniger, tierischer Instinkt trieb ihn dazu, gegen die wahrgenommene Ungerechtigkeit seiner Situation zu kämpfen. Er hatte seit dem Morgen ununterbrochen gelernt. Er hatte eine Pause verdient.

Damien starrte wieder auf die Schulter seiner Mutter und weihte sich dem Untergang.

„Ich wollte meine Aufgaben zuerst machen, aber Kevin hat angerufen und mich um Hilfe bei einer Online-Präsentation gebeten. Ich wollte mich ausloggen und dich um Erlaubnis bitten, aber er hat gesagt, dass es zu lange dauern würde. Ich wusste sowieso, dass du in mein Zimmer kommen und mir das Headset abziehen würdest. Übrigens, vielen Dank.”

Damien rieb sich über den Kopf, wo bei jedem Pulsschlag immer noch ein dumpfer Schmerz pochte. „Ich werde für den Rest des Abends Kopfschmerzen haben, was das Beenden meiner Hausaufgaben besonders interessant machen wird.”

Cassandra starrte ihn einfach an. Damien bewegte seine Blickrichtung fünf Zentimeter nach rechts und sah in ihre stechenden, blauen Augen. Sie hatten einen sehr müden und trotzdem einen sehr, sehr wütenden Ausdruck. Sie durchschauten ihn und schienen jeden seiner Gedanken lesen zu können.

Es war nicht nur die Wut, die es ihm schwer machte, sie anzusehen. Ihre Haut zog sich straff über ihr Gesicht. Sie verlor immer noch Gewicht und nahm nichts davon wieder zu. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen. Ihr früher fülliges, scheinend schwarzes Haar war dünn und an einigen Stellen ausgefallen. Damien wünschte, dass diese Auseinandersetzung enden würde, und wäre es nur, damit seine Mutter essen könnte.

Doch sie starrte ihn noch immer an. Damien starte widerspenstig zurück.

„Du hast also bereits gespielt, als Kevin dich angerufen hat?”

Damiens Augen flatterten und seine Entschlossenheit war erschüttert. Er sah weg. Vorher hatte sein Schweigen Widerstand bedeutet. Nun bedeutete es seine vernichtende Niederlage.

„Das habe ich mir gedacht.”

Der Bio-Geschirrspüler betonte das Schweigen erneut, als die Trockenstufe für das Besteck mit leisen Summen einsetzte.

„Damien, sie mich bitte an.”

Zögernd begegnete er ihren Augen. Überrascht bemerkte er, dass sie weicher geworden waren. Sie biss sich auf die Unterlippe, wie immer, wenn sie gezwungen war, eine schwierige Entscheidung zu treffen.

„Es ist schwer für mich, Damien. Du bist noch nicht erwachsen, doch du bist auch kein Kind mehr. Ich möchte dich respektvoll behandeln, um dir zu zeigen, dass du jetzt ein junger Mann bist und nicht nur mein kleiner Junge.”

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Obwohl sie Damien gebeten hatte, sie anzusehen, musste er wegschauen. Er starrte auf den Boden zwischen seinen Füßen und kämpfte selbst gegen die Tränen. Er wollte all dies vergessen. Er wollte sein Spiel spielen und so tun, als ob alles in Ordnung wäre, als ob seine Mutter gesund und froh und sein Leben perfekt wäre. Natürlich. So hatte diese ganze Sache ja überhaupt erst angefangen.

Obwohl Cassandras Augen feucht waren, lief keine einzige Träne ihre Wangen hinunter und wider Erwarten brach ihre Stimme ebenfalls nicht. Ihre Krankheit hatte sie zwar schwer mitgenommen, doch sie war stark.

„Die Einstufungsprüfungen beginnen in drei Wochen. Wenn du eine gute Ausbildungsstelle haben willst, ohne dafür bezahlen zu müssen, musst du dich erst für Online-Schulgeldklasse A qualifizieren. Danach musst du die Prüfungen bestehen. Das heißt viel Arbeit und nicht mehr viel Zeit. Dadurch erhältst du die Chance auf ein gutes Leben, ein besseres Leben, als ich dir bieten kann. Es tut mir leid, Damien, wirklich, ...” Sie ergriff das NOOB-Headset und zog es langsam auf ihre Seite des Tisches neben ihre Medikamente. „Aber ich muss alles tun, was in meiner Macht steht, um sicherzustellen, dass du es schaffst. Morgen werde ich es Kevin zurückschicken …”

Damien öffnete den Mund, seine Augen wurden groß. Abwechselnd blickte er sehnsüchtig vom Headset zu seiner Mutter.

„Mama, bitte, …”

„… und werde ihm sagen, dass du ihm erst wieder helfen kannst …”

„… es tut mir leid. Du hast recht, ich habe einen Fehler gemacht …”

„… nachdem die Einstufungsprüfungen abgeschlossen sind.”

Die Worte waren gesprochen worden und es war vorbei. Es gab nichts, dass das Resultat noch ändern könnte. Damien konnte sich nicht helfen. Er wusste, dass es hoffnungslos war, aber die Worte kamen trotzdem aus ihm heraus.

„Die Tests, die ich für Mobius ausführe, sind sowieso in einer Woche beendet. Ich kann danach lernen!”

„Die Einstufungsprüfungen sind wichtiger. Kevin sollte sich von jemandem helfen lassen, dessen Zukunft nicht auf dem Spiel steht. Streite nicht mit mir über diese Sache. Ich habe meine Entscheidung getroffen.”

Damien starrte sie an. Seine Lippen bewegten sich, doch kein Ton kam heraus. Nun blickte Cassandra zu Boden.

Nach einem Klappern war ein Klingeln zu hören, als der Bio-Geschirrspüler die gereinigten Utensilien an ihren Platz stellte.

Damien war hin und her gerissen. Er hatte nicht gewusst, dass es möglich war, gleichzeitig Scham und Wut zu empfinden. Er stand auf, um in sein Zimmer zu gehen, und hoffte, es zu schaffen, bevor seine Wut die Oberhand gewinnen würde. Er war zu langsam. Er ergriff die Klinke, doch bevor er die Tür öffnen konnte, war ihm etwas Verletzendes eingefallen, das er sagen konnte.

„Weißt du überhaupt, wie viel Glück ich gehabt habe, als Tester für die Beta-Version akzeptiert zu werden? So ein Glück werde ich nie wieder haben. Es ist das erste und letzte Mal, dass ich Mobius‘ Technologie benutzen kann, und du nimmst mir diese Chance.”

Cassandra blickte nicht auf. Sie saß gebeugt auf dem Stuhl. Ihre Hände lagen in ihrem Schoß, eine Hand massierte die andere. Sie sah so klein aus. Nach einer langen Pause atmete sie tief ein und seufzte dann gequält. Mit dem übrigen Atem äußerte sie zwei Worte, die kaum mehr als ein Flüstern waren.

„Ich weiß.”

Gleich nachdem Damien seinen Teil gesagt hatte, hätte er viel darum gegeben, seine Worte zurücknehmen zu können. Aber es war wie es war. Er zauderte noch einen Moment ohne die richtigen Worte zu finden, bevor er sein Zimmer betrat und seine Mutter allein in der Küche zurückließ.

Er musste sich sehr anstrengen, um die Tür nicht zuzuschlagen, aber wenigstens das gelang ihm. Mit geschlossenen Augen und geballten Fäusten stand er dahinter. Er wusste, dass alles, was seine Mutter gesagt hatte, richtig war, doch das half nicht viel. Saga Online war das einzige gewesen, auf das er sich jeden Tag hatte freuen können, und nun war es weg.

Seine Wut verzerrte sich zu Selbstmitleid. Er ging zwei Schritte, warf sich auf sein Bett und vergrub sein Gesicht im Kissen. Das Schlimmste war, dass Damien das Spiel nie dringender gebraucht hatte, als jetzt. Die Ironie ging an ihm vorbei, die Überheblichkeit nicht. Er rollte auf den Rücken und betrachtete die Decke.

Selbst wenn alles gutgehen und er eine annehmbare Ausbildungsstelle finden würde, würden einige Jahre vergehen, bevor er genug Geld verdienen würde, um davon leben zu können. Saga Online war auf seine Vergangenheit beschränkt worden. Gegen Teutates zu kämpfen und zu sterben war seine letzte Handlung gewesen.

Plötzlich richtete Damien sich auf. Die Livesendung war inzwischen beendet, aber er könnte sich die Wiederholung ansehen. Er sprang vom Bett, ging an seinen Schreibtisch, wischte auf dem Monitor nach rechts, um seine Notizen über die frühe Politik des 21. Jahrhunderts zu speichern, und klickte dann auf die Home-Taste.

Die Startseite von Mobius Enterprises öffnete sich sofort. Der Tab von Saga Online befand sich befand sich weit oben, direkt unter dem Tab, der VR-Hardware aufführte. Damien drückte mit dem Finger darauf und sogleich füllte Teutates‘ Gestalt den Bildschirm. Sein Herz setzte für einen Moment aus, bevor sein Gehirn ihm versicherte, dass es ein Bild war und er sich beruhigen konnte. Es war ein Standbild von Teutates kurz nach seinem Aufprall, als er im Krater gekniet und sein Schwert im Boden gesteckt hatte. Damien wurde von einem schmerzlichen Déjà-vu-Erlebnis überwältigt. Das Bild war von seiner Perspektive aus aufgenommen worden, als er mit einem gebrochenen Arm im Sand gelegen hatte. Unter dem Bild stand in einer gezackten Schrift mit goldenen Buchstaben:


TEUTATES, DER KRIEGERCHAMPION DES HIMMELS, IST ANGEKOMMEN. KLICKE HIER, UM SEINEN ERSTEN AUFTRITT IN VOLLER LÄNGE ZU SEHEN.


Gehorsam klickte Damien auf den Link, und der Stream lud. Es waren 25 Minuten in einer ständigen Schleife, und er schaute ab der 22. Minute zu. Ohne Vorwarnung dröhnte Kevins Stimme aus dem Monitor. Damiens Hand schoss nach vorn, er griff nach dem Lautstärkeregler und drehte heftig daran, um den Ton stummzuschalten. Dann stellte er ihn vorsichtig lauter, bis Kevins Stimme hörbar statt ohrenbetäubend war.

Die Kamera schwenkte auf Damien, der schüchtern zu Teutates hinaufblickte, als er ihn höflich um seinen Rucksack bat. Die Testzone hatte den gesamten Kampf gespeichert und erlaubte Kevin, ihn im Nachhinein aus jedem Blickwinkel bis ins kleinste Detail zu analysieren.

„… Hauptangriff ist der Wirbelwind, aber es gibt verschiedene andere Angriffsmöglichkeiten, die in seine KI kodiert worden sind, wie wir hier sehen können.”

Damiens öffnete erschrocken den Mund, als er sich durch die Arena und in die Wand fliegen sah. Es war schwierig, das Gefühl zu beschreiben. Während die meisten Menschen ihre traumatischen Momente nur in ihrem Bewusstsein rekonstruieren konnten, sah er es in Farbe, UHD-Grafik und Surround-Sound. Er legte eine Hand auf die Brust, um zu überprüfen, dass nichts gebrochen war. Während er sich versicherte, dass er noch ganz war, erschien außer Kevins eine weitere Stimme, die Damien nicht gleich erkannte.

„Na gut, dann gib mir meinen Rucksack eben nicht zurück. Aber es war nicht nötig, dich wie ein Mistkerl zu benehmen.”

Damien starrte ungläubig auf den Bildschirm. Klang er wirklich so? Aber vor allem: Hatte er das wirklich gesagt? In dem Moment war es ganz selbstverständlich aus seinem Mund gekommen, aber als er jetzt zuschaute, wie er es gesagt hatte, hatte er das Gefühl, einer anderen Person zuzuschauen. Lieber Himmel, er war ein knallharter Typ. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem breiten, unkontrollierbaren Grinsen.

„Der Stream dauert noch ein paar Minuten, aber wir haben die Aufnahmen so oft durchgesehen, dass es nichts mehr gibt, das ich noch hinzufügen könnte. Ich möchte die Gelegenheit nutzen und mich bei Damien dafür bedanken, dass er diese Show möglich gemacht hat. Er hat sich sowohl im Spiel als auch im realen Leben in eine gefährliche Situation begeben, damit wir dieses Update in vollen Zügen genießen können. Falls du gerade zuschaust, Damien, vielen Dank. Das war euer Host Kevin Bants mit einer ganz besonderen Folge von ‚Die Saga geht weiter‘, wie ihr mir sicher zustimmen werdet.”

Damien fühlte sich besser. Selbst wenn er Saga Online nie wieder spielen würde, war er im Internet unsterblich gemacht worden. Unter seinem eigenen Namen! Er gönnte sich einen Moment, um sich im Glanz seines Ruhms zu sonnen. Der Stream begann wieder von vorn.

„Guten Abend und herzlich willkommen zur heutigen Folge von ‚Die Saga geht weiter‘.”

Damien hielt ihn an. Er wollte die Erfahrung kein weiteres Mal durchleben. Er zog seinen Daumen und Zeigefinger zusammen, um das Video zu verkleinern, weil er sich die Kommentare darunter ansehen wollte. Zuerst sah er die Anzahl der Aufrufe. Ein unfreiwilliger, hoher Heulton fand seinen Weg durch seine Stimmbänder.


Derzeitige Zuschauer: 58.973

Ansichten insgesamt: 873.422


Er war nicht nur berühmt. Er hatte sich viral verbreitet. Seine Mutter hatte ihm erst vor 45 Minuten das Headset abgezogen, und das Video hatte bereits mehr Traffic generiert als Sim Cities 2074. Damien starrte auf die Zahlen und konnte kaum glauben, was er sah. Die Zahl der „Derzeitigen Zuschauer” bewegte sich zwischen 55.000 und 60.000, aber die „Ansichten insgesamt” stiegen sprunghaft an.

Während Damien unbeweglich dasaß, überschritten die Ansichten die Marke von 900.000 und stiegen kontinuierlich weiter in Richtung der sagenhaften Millionengrenze. Er schüttelte sich, wandte sich von den Zahlen ab und konzentrierte sich auf die Kommentare. Sie waren von oben nach unten in der Reihenfolge ihrer Popularität aufgelistet.


Ignatius: ER HAT IHM IN DIE EIER GETRETEN! DAS KANN DOCH NICHT WAHR SEIN! XD

BlackKnight: Das war SUPER! Teutates ist ultrakrass! Damien hat Respekt dafür verdient, dass er gegen eine derart schreckenerregende Kreatur angetreten ist.

CactusLover: Ich will Revanche! Nächsten Monat die zweite Runde von Damien gegen Teutates. Aetherius kämpft gegen den Sieger! Gebt mir ein Upvote, wenn ihr der gleichen Meinung seid!

VintageMintage: Schade, dass wir den Kampf zwischen Aetherius und Teutates nicht zu sehen bekommen haben, aber ich verstehe, warum er sich nicht mit diesem MONSTER in eine Arena stecken lassen wollte. Hut ab vor Damien. RIP xoxo

ArmsWavingWildlyWithWildlyWavingArms: Mach Platz, David, der neue Held ist da: #Damien gegen Goliath


Damien schwirrte der Kopf. Das änderte alles. Vielleicht war seine Zeit bei Saga Online doch noch nicht vorbei. Er würde Kevin fragen müssen, ob er nach seinen Prüfungen das Headset zurückbekommen könnte, aber angesichts dieser großen Aufmerksamkeit konnte er sich nicht vorstellen, dass Kevin ablehnen würde.

Außerdem hatte Kevin ihm persönlich gedankt UND gesagt, dass er ihm einen Gefallen schulden würde. Offensichtlich würde es sich nicht nur für ihn lohnen, Damien spielen zu lassen, sondern für alle Beteiligten. Vielleicht könnte Damien sogar seinen eigenen Kanal erstellen!

Eilig gab er den ersten fünf Kommentaren ein Upvote, lehnte sich zurück und strahlte. Er würde seiner Mutter später von dieser Entwicklung erzählen, aber fürs Erste gab es nur eine Sache, die er tun konnte, um sein Verhalten wiedergutzumachen.

Er schloss die Seite von Saga Online und wandte sich dem Quellenmaterial für die Hausaufgaben zu, die er noch fertigstellen musste.

Seine Augen überflogen die eng geschriebenen Zeilen und scannten sie automatisch, ohne die Informationen aufzunehmen. Es war kein Wunder, dass er sich eingeloggt hatte, ohne seine letzte Aufgabe beendet zu haben. Sie war stumpfsinniger als das Abwaschwasser des Bio-Geschirrspülers. Die Entstehung der CU war nicht gerade sein Lieblingsfach. Jedes Mal, wenn er dachte, dass er es verstanden hatte, wechselte das Lesematerial zu einem neuen, doch ebenso todlangweiligen Kapitel in der Geschichte der Central Union.

Dieser spezielle Auszug beschrieb detailliert die Umstände, die eine grenzenlose Panamerikanische Allianz erforderlich machten: Bedrohungen der nationalen Sicherheit, die zu einer spaltenden Politik führten, eine ineffiziente Verteilung öffentlicher Ressourcen rechtfertigten, zu einem rapiden Verfall der Verantwortlichkeit derjenigen in Machtpositionen führten, und von beklagenswert veralteten Bildungssystemen und ungeregelten Informationsverteilungsplattformen unterstützt wurden.

Die letzten beiden Faktoren verschärften zusätzlich eine ungesunde Obsession für den Kult des Individuums, der in einem unverhältnismäßig starken Schwerpunkt auf das Besiegen anderer statt des gemeinsamen Gewinnens mündete. Dieser Schwerpunkt war wiederum das Ergebnis phlegmatischer, raffgieriger, einfallsloser Problemlösungstechniken angesichts dessen, was für die Menschen der Epoche wie ein völlig undurchschaubarer Wirrwarr ineinandergreifender, selbstverherrlichender, unanfechtbarer sozialer Normen ausgesehen haben musste.

So jedenfalls hieß es in den Lehrbüchern.

Hinterher war man immer schlauer.

Damien erreichte das Ende der Seite, die mit einem Zitat abschloss, das besagte: „Ein gemeinsames Interesse ist die mächtigste Kraft im Universum. CU wird es zum Wohle der Menschheit neu ausrichten”, bevor er feststellte, dass er nur etwa 25 % von dem behalten hatte, was er gelesen hatte. Er schüttelte den Kopf und begann noch einmal von vorn. Es würde eine Weile dauern, bis er sich beruhigen und sich konzentrieren könnte.

Daher hörte er sofort, als das Überwachungsarmband seiner Mutter zu piepen begann. Er runzelte die Stirn. Sie hatte gerade erst ihre Medikamente eingenommen, es war zu früh für eine weitere Dosis.

Dann hörte er ein Krachen in der Küche, und das harmlose Piepen wurde zu einem dringenden Alarm.

Damien sprang auf, sein Stuhl fiel knallend zu Boden. Er riss die Zimmertür auf und sah zu seinem Entsetzen, wie sich sein schlimmster Albtraum vor ihm entfaltete. Cassandra lag zwischen dem Tisch und dem Bio-Geschirrspüler auf dem Rücken. Ihr Teller war zerbrochen, der unberührte Hühner-Nudeltopf war auf dem Boden verstreut. Sie starrte mit glasigen Augen an die Decke, ihre Brust hob und senkte sich, während sie verzweifelt ihre Taschen durchsuchte.

Damiens Augen schnellten zum Tisch, auf dem die Tabletten und die Injektionskapsel lagen. Er ergriff sie, bevor er sich neben seiner Mutter hinkniete. Die Ärzte hatten ihm gesagt, was er in dieser Situation tun musste, doch der Schock betäubte seine Sinne.

Er nahm dem Arm seiner Mutter und stach das Injektionsgerät unterhalb des Handgelenks hinein, wie er es bei ihr schon tausendmal gesehen hatte. Nichts passierte. Damien drehte es zu sich und bemerkte, dass es leer war. Sie hatte keine neue Kapsel eingesetzt, seit sie es das letzte Mal benutzt hatte.

„Damien, sieh mich an.”

Er nahm Blickkontakt mit ihr auf und seine Panik wurde noch größer. Obwohl Cassandra das Atmen immer noch schwerfiel, kämpfte sie nicht mehr dagegen an. Nun lächelte sie, was ihm noch mehr Angst machte. Kraftlos nahm sie seine Hand in ihre und drückte sie.

„Es ist nicht deine Schuld. Ich habe dich sehr lieb.”

Damien biss die Zähne so fest zusammen, dass er das Gefühl hatte, sie würden jeden Moment zerbrechen. Seine Mutter hatte beschlossen, auf dem Küchenfußboden zu sterben, und machte sich mehr Sorgen um ihn als um sich selbst.

„Rede nicht so”, sagte er mit zitternder Stimme, als er den Verschluss am Injektionsgerät abtastete. „Du wirst nicht sterben.” Der Verschluss klickte und die leere Kapsel sprang heraus, fiel auf den Boden und rollte weg. Unter dem lähmenden Druck hatte Damien nicht vorausgedacht.

„Mama, wo sind die Kapseln? MAMA!” Er erhielt keine Antwort. Ihre Augen flatterten und ihr Kopf rollte zur Seite, als sie das Bewusstsein verlor. Das Warnsignal des Armbands wurde lauter und schriller.

Damien war auf sich allein gestellt.

Der Rettungsdienst würde bald hier sein, alarmiert durch das von Cassandras Armband gesandtem Signal, doch ohne sofortige Behandlung würden sie vielleicht zu spät kommen. Damien rannte in das Schlafzimmer seiner Mutter und riss die Schublade Nachttischs auf. Sie fiel krachend zu Boden, bevor er fieberhaft ihren Inhalt leerte. Wo waren sie? Das Warnsignal war ihm in das Schlafzimmer gefolgt, drang gnadenlos in sein Bewusstsein und übertönte jeden vernünftigen Gedanken.

Aus seinem Augenwinkel heraus entdeckte er sie. Die kleine Metalldose stand unscheinbar auf Cassandras Kommode. Auf dem Weg zum Nachttisch war er an dem verdammten Ding vorbeigelaufen. Er griff danach und lief in die Küche zurück. Mit zitternden Händen versuchte er, die Dose zu öffnen, während Tränen seinen Blick verschleierten.

Es hatte nur einige Sekunden gedauert, aber es fühlte sich an, als ob er Stunden gebraucht hatte. Der Verschluss öffnete sich und die meisten Kapseln fielen heraus und verstreuten sich überall auf dem Fußboden. Frustriert schrie er auf und verschwendete eine kostbare Sekunde, um seine Mutter anzusehen.

Cassandra war bewusstlos, aber sie war am Leben. Bei jedem Atemzug rang sie qualvoll nach Luft. Nur zuzusehen war schmerzhaft. Ihre Augen zuckten schnell und waren gerade weit genug geöffnet, dass er das Weiß unter den Lidern erkennen konnte. Ihr Gehirn erhielt nicht genug Sauerstoff.

Damien nahm schnell eine Kapsel und legte sie in das Injektionsgerät. Er hielt es in seiner geschlossenen Faust, die er langsam über ihrem schlaffen Körper erhob, und versuchte, sich auf das vorzubereiten, was er gleich tun würde. Es war viel zu spät, um ihr die Dosis in den Arm zu spritzen. Das Medikament würde ihr Herz nicht rechtzeitig erreichen. Mit einem einzigen, ängstlichen Schluchzer stieß Damien das Injektionsgerät durch die Bluse in ihre Brust.

Cassandras Körper bäumte sich auf und ihr Rücken wölbte sich. Ihre Fingernägel kratzten über die Fliesen, als ihre Hände sich zu Fäusten ballten. Damien konnte nichts anderes tun als abzuwarten. Das metallische Heulen des Armbands ließ nach und wurde wieder zu einem unterbrochenen Piepen, während Cassandra Körper sich entspannte.

Sie atmete und ihre Augen zuckten nicht mehr. Sie öffneten sich jedoch nicht.

Damien zog das Injektionsgerät heraus und warf es zur Seite. Er fragte sich, ob er sie durch seine Bemühungen vielleicht eher getötet hatte, als wenn er den Dingen ihren natürlichen Lauf gelassen hätte.

Er hielt ihren Kopf in seinem Schoß und wurde schließlich von Angst überwältigt.

Bevor er wusste, was er tat, heulte er vor Schock und Furcht. Jedes Mal, wenn er aufhörte, füllte der kalte, elektronische Ton die Stille und er versuchte erneut, sie mit seinen eigenen, verzweifelten Schreien zu übertönen. Innerhalb weniger Minuten wurde er wieder zu einem Kind.

So fanden die Sanitäter ihn. So ließen sie ihn zurück, als sie seine Mutter wegbrachten, und er fragte sich, ob die Dinge vielleicht einen anderen Lauf genommen hätten, wenn er nur so stark gewesen wäre wie sie.



Das Buch wird am 12. November veröffentlicht

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