Level Up: Knockout
von Dan Sugralinov und Max Lagno
Vorbestellung: https://www.amazon.de/dp/B07RF9C1V4
Veröffentlichung am 1. August 2019
Kapitel 1. Die Halluzination
„Früher
war ich auch ein Abenteurer, aber dann habe ich einen Pfeil ins Knie bekommen.“
Skyrim
OBWOHL
Mike
Björnstad Hagen zum Teil skandinavischer Abstammung war, besaß er so viel
Ähnlichkeit mit einem Wikinger wie ein Chihuahua mit einer Dänischen Dogge. Er
hatte eine Reihe von Spitznamen wie „Heulsuse Mikey“, „Micker-Mikey“, „Mikey,
das Weichei“ oder sogar „Hey, du Schwanzlutscher!“ Niemand hatte ihn jemals
„Mr. Hagen“ genannt.
Das
einzige Mal, dass das beinahe passiert wäre, war bei einem Termin in seiner
Bank, als Hagen versuchte, einen Hypothekenkredit aufzunehmen. „Tut mir so
leid, Mr. Hagen, aber Ihr Kreditantrag ist abgelehnt worden“, sagte der Mann
hinter dem Tresen, ohne auch nur zu versuchen, sich sein selbstgefälliges
Grinsen zu verkneifen.
Mike
hätte ihm mit Vergnügen die Fresse poliert, wenn er nur gewusst hätte, wie man
kämpft.
Ein
eigenes Heim ... Der Traum von einem eigenen Haus, einem, das er mit seiner
süßen Jessie teilen könnte, war alles, wofür er drei Jahre lang gearbeitet
hatte. Dann hatte Jessica ihn für so einen Rohling von einem Lastwagenfahrer
aus Arizona verlassen – oder aus Texas? Nicht, dass das jetzt noch eine Rolle
gespielt hätte.
Was
allerdings eine Rolle spielte, war, dass Hagen in den darauffolgenden fünf
Jahren mit niemandem mehr ausgegangen war, und der Grund war sicherlich nicht,
dass er sich nach Jessica verzehrte – das war nicht der Fall. Vielmehr lag es daran,
dass ihn niemand jemals interessant genug fand, auch nicht Sheila, das
mürrische, von oben bis unten tätowierte Goth-Chick, das im Laden gegenüber
arbeitete. Der Laden verkaufte Comics und Hagen war oft dort, um neue Ausgaben
von Rat Queens und Extremity zu kaufen.
Bei
einer Gelegenheit hatte Mike in Chuck‘s Bar ein paar zu viel getrunken und
genug Mut aufgebracht, um sie ins Kino einzuladen – in irgendeinen Film aus der
Avengers-Reihe. Damals hatte
Hagen, der sich mutig und allzu selbstsicher fühlte, die Verwegenheit besessen,
zu verkünden: „Schätzchen, wie wäre es, wenn du deinen Luxuskörper vom coolsten
Typen der Nachbarschaft ausführen lässt?“
Sheila
war völlig entgeistert. „Cool? Ausgerechnet du?“ Dann kam die altbekannte
Phrase: Er der letzte Mann auf Erden, sie absolut abgeneigt, selbst unter solchen
Umständen auch nur die kürzeste Zeit mit ihm zu verbringen.
Mike
hatte nicht abgewartet, bis sie den Satz beendet hatte. Von der Erkenntnis
getroffen, dass er abgewiesen worden war, hatte sein Gehirn sofort seinen
Standardbewältigungsmechanismus gestartet, den Hagen schon in der Grundschule
entwickelt hatte, als er in der Schulcafeteria unter einem Hagel von
Essensresten als Missgeburt beschimpft worden war: „Nichts Böses sehen, nichts
Böses hören.“
Es
war ihm kaum gelungen, seine Beine zu bewegen, die sich wie Fremdkörper anfühlten,
doch er verließ den Comicladen und kehrte nie wieder zurück. Von da an musste
er seine Comics online bestellen, etwas das, wie jeder weiß, ganz und gar nicht
dasselbe ist.
Hagen
machte Sheila keine Vorwürfe. Doch wie hätte er ihren Laden je wieder betreten
können? Das wäre die schlimmste Demütigung, die man sich vorstellen könnte.
Dann
war da der Abend, an dem er von der Arbeit nach Hause kam – ein Freitag direkt
nach Thanksgiving. Wobei ein Familienfeiertag für Hagen ein Tag wie jeder
andere auch war. Er hatte seinen Vater nie kennen gelernt und seine Mutter war
vor einigen Jahren gestorben.
Hagens
Mutter war der einzige Mensch in seinem Leben gewesen, den er jemals wirklich
geliebt hatte. Manche hätten ihre Liebe vielleicht als erdrückend bezeichnet,
doch Baby Mikey konnte das nicht so sehen. Schließlich war sie seine Mutter –
und außerdem seine Freundin und der interessanteste Gesprächspartner weit und
breit.
Jessie
hatte versucht, diese Rolle für sich zu beanspruchen – eine Zeitlang schien das
von Erfolg gekrönt –, doch dann verließ sie ihn. Als Hagen nach diesem ersten
„Ausflug ins Leben“, wie sein Onkel Pete es ausgedrückt hatte, zu seiner Mutter
zurückkehrte, war diese bereits todkrank. Die Ärzte sagten, ihre Behandlung
hätte eine dreißigprozentige Erfolgschance, aber sie hatten sowieso kein Geld,
um die Behandlungskosten zu bezahlen. Außerdem hätten sie dazu nach
Philadelphia gemusst. Wie hätte das gehen sollen? Seine Arbeit und sein Zuhause
hätten ihm das nie erlaubt. Und auch alle anderen nicht.
Hagens
Mutter starb unter furchtbaren Schmerzen, und er verbrachte ihre letzten Tage
bei ihr, hielt ihre Hand und schaffte es nicht, die Tränen zurückzuhalten.
Die
ersten Jahre nach ihrem Tod war er damit beschäftigt, sich von Neuem im Leben
zurecht zu finden. Er gewöhnte sich ans Kochen und versuchte, seine Kleider
selbst zu waschen und rechtzeitig aufzuwachen – alles mit wechselndem Erfolg.
Die Mutter, die sich stets um ihren Sohn gekümmert hatte, war nicht mehr da. Es
gab niemanden, der ihren Platz hätte einnehmen können. Also beschloss Hagen zum
zweiten Mal in seinem Erwachsenenleben, etwas für sich zu tun (das erste Mal
war, als er mit Jessie zusammengezogen war.)
Er
würde nicht aufgeben. Er würde nicht an dem Druck zerbrechen. Er würde sich
keine spezifischen Ziele setzen, sondern mit dem Strom schwimmen, doch er würde
definitiv am Leben bleiben.
Also
gelang es ihm schließlich irgendwann, damit klarzukommen. Mutters Küche wurde
durch chinesisches Fastfood ersetzt. Einmal die Woche ging Hagen zum
Waschsalon, und der Wecker weckte ihn jeden Morgen. Das Leben schien sich
normalisiert zu haben, doch er vermisste seine Mutter immer noch sehr.
Sein
einziger Verwandter, von dem er wusste, war Onkel Pete, Moms älterer Bruder.
Onkel Pete war bei der US-Armee gewesen. Er hatte an Feldzügen im Irak und in
Afghanistan teilgenommen Die wenigen Male, die er Hagen und seine Mutter
besucht hatte, hatte er alles getan, was er konnte, um ein männliches Vorbild
zu sein und bei der Erziehung seines Neffen zu helfen, doch ohne jeden Erfolg.
Also hatte Onkel Pete beschlossen, sich nicht mit Details aufzuhalten, sondern
nur die drei Grundregeln durchzusetzen, die er als wichtig für jeden Mann
erachtete: Zu lernen, sich zu behaupten, seiner Mutter zu helfen und nicht
herumzujammern, egal, in welcher Lage.
Er
scheiterte bei allen dreien.
Hagen
wurde bei jeder Art von körperlichem Schmerz hysterisch und gab lieber auf oder
rannte sofort weg, statt „sich durchzusetzen“, obwohl er immer davon geträumt
hatte, kämpfen zu lernen wie Mighty Mouse – Demetrious Johnson, der
Fliegengewichts-Champion in der UFC. Ja, genau der Ringer, dem es trotz seiner
Größe von unter 1,60 m und seines Gewichts von unter 60 kg gelungen
war, elfmal Champion zu werden.
Der
arme, kümmerliche Hagen stellte sich oft vor, er wäre Johnsons wahrer Erbe. Die
Heulsuse Hagen. Körpergröße 1,59 m. Gewicht gerade mal 56 kg. Und
trotzdem ein UFC-Champion! Ein schlechter Witz.
Seiner
Mutter helfen? Oh, das war dermaßen langweilig. Computerspiele spielen oder
Comics lesen machte so viel mehr Spaß. Und es war ja nicht so, dass seine
Mutter je etwas Derartiges von ihrem Kind verlangt hätte.
Und
was das Jammern betraf – Hagen versuchte, so gut er konnte, sich zu
beherrschen, aber ohne großen Erfolg. Was konnte er dagegen tun, dass seine
erste Reaktion auf einen verletzenden Kommentar immer schon Tränen gewesen
waren? Jetzt war Hagen fast dreißig, doch manchmal sah er sich immer noch nicht
in der Lage, sie zurückzuhalten. Wenn er nur an diesen blöden Kunden mit seinem
verdammten Laptop dachte – ein gewisser Mr. Goretsky. Hagen war in dem Laden
für digitale Geräte, in dem er arbeitete, der Einzige, der Ahnung von Computern
hatte. Jedes Mal, wenn Mr. Goretsky sich beim Surfen auf illegalen Pornoseiten
mal wieder einen Virus eingefangen hatte, gab es nur einen, der das in Ordnung
bringen konnte: Baby Mikey. Und Mr. Goretsky hatte seine Fähigkeiten „Selbstherrlichkeit“
und „Arschloch“ auf ein Level gesteigert, das ausreichte, um Hagen jedes
einzelne Mal die Schuld für den Virus zuzuschieben.
Also
nahm Mr. Goretsky, als er an jenem Freitag wieder mal in den Laden kam, auch
diesmal kein Blatt vor den Mund. Zusätzlich zu der Tatsache, dass sein Atem
nach Zwiebeln und Knoblauch stank, weswegen sich Hagen beinahe übergeben
musste, warf er auch noch mit Kraftausdrücken um sich. Die gemäßigtsten Worte,
die er benutzte, waren „blöder Freak“ und „pickliges Arschloch“, doch er ließ
sich noch viele andere Beinamen und Eigenschaften einfallen. Es
muss Spaß machen, den knallharten Typen zu markieren, wenn man 1,80 groß ist
und Unterarme hat, die dicker sind als meine Beine,
dachte Hagen und spürte, wie der Damm brach und ihm die Tränen über die Wangen
liefen. Alles in allem war es nicht sein bester Tag, Freitag hin oder her.
Völlig
aus dem Konzept gebracht steuerte Hagen direkt Chuck‘s Bar an. Sein oberstes
Ziel war es, einen Zustand der Volltrunkenheit zu erreichen, das zweitoberste
war von der Hoffnung befeuert, gegen alle Erwartung ein Mädel aufzureißen. Egal
wen. Solange sie nur feucht genug war, dass er ihn reinstecken konnte. Er hatte
sogar eine geeignete Kandidatin ausgemacht, die auf einem Barhocker saß und
puren Whiskey in sich reinkippte, als gäbe es kein Morgen. Doch er brachte
nicht den Mut auf, sie anzusprechen, obwohl er es fest vorhatte. Und als er
seinen Hintern endlich vom Stuhl hochbekam, war es schon zu spät. Die besagte
Dame lachte schallend über den dummen Witz eines blasierten Blödians in einem
extrem vulgären Anzug mit Krawatte.
Also
pumpte sich Hagen mit Fusel voll und steuerte nach Hause, während er in
Selbstmitleid badete. In seiner Junggesellenbude verbrachte er einige Zeit
damit, auf der PlayStation seinen Lieblings-MMA-Fighter zu zocken und sich
dabei vorzustellen, wie er dieses Arschloch Goretsky windelweich prügelte. Danach
sah er sich im Kabelfernsehen eine Weile lang ein Horror-B-Movie an, bis er
einfach bewusstlos wurde.
Gegen
Mitternacht wachte er auf und musste pissen.
Und
da fing alles an.
Der
Abstand zwischen dem Sofa und seinem Bad betrug normalerweise fünf Schritte –
schließlich wohnte er in einer billigen Mietwohnung – doch Mike schaffte es
trotzdem, auf dem Weg zu stolpern. Für besonders behände hatte er sich ja noch
nie gehalten, aber einen völlig ebenen Boden zu überqueren, um ins Badezimmer
zu gelangen, war noch nie ein Problem gewesen, egal, wie betrunken er war.
Als
er jedoch diesmal vom Sofa aufstand und in Richtung Klo lief, schien die Welt
kurz auszusetzen. Hagen hatte das Gefühl, ein paar Sekunden lang im Nichts des
Universums zu hängen, ohne jede Schwerkraft, ohne Gerüche, Geräusche, Licht und
ohne, dass Luft in seine Lungen eindrang oder sie verließ.
Er
war sich nicht einmal seiner eigenen Existenz bewusst. Absolute Dunkelheit schien
ihn zu umhüllen.
Als
die Welt um ihn herum zurückkehrte, führte sein Körper eine Reihe Befehle aus,
die sein Gehirn in Panik erteilte: Sein Zwerchfell verkrampfte sich, seine Arme
begannen zu rudern und seine Beine versuchten schließlich, einen Schritt nach
dem anderen zu machen. Das Ergebnis war, dass Hagen zu Boden stürzte, sich
dabei das Kinn ziemlich übel aufschürfte und sich beinahe die Zunge abbiss.
Er
brauchte eine Weile, bis er sich zum Aufstehen durchringen konnte. Er verspürte
einen heftigen Schwindel von der Sorte, der jedem wohlvertraut ist, der schon
einmal mehr Alkohol getrunken hat, als er bei sich behalten kann. Weiße Punkte
tanzten vor seinen Augen, die sich zu seltsamen Symbolen ähnlich den Runen in Predator
– Upgrade formten. Hagen erstarrte und versuchte,
sich nicht zu übergeben. Er legte sich auf den Rücken, schloss die Augen und
wartete, bis die weißen Punkte sich nicht mehr so chaotisch bewegten, aber das
brachte nichts.
Er
versuchte, sie wegzublinzeln, und dann, sie mit den Händen wegzureiben, doch
die leuchtenden Punkte waren eindeutig nicht physischer Natur. Etwa zehn
Minuten später verschwanden sie.
Hagen
gelang es, wieder zu Atem zu kommen. Dann stand er vorsichtig auf und machte
ein paar zögernde, bedachtsame Schritte, damit seine Füße ihn auf dem Weg zu
dem Geschäft, das ihn ursprünglich geweckt hatte, nicht wieder im Stich ließen.
Zurück
in seinem Zimmer zog er sich aus, wobei er seine Kleider auf dem Boden
verstreute, und schlief ein.
* * *
ER
ERWACHTE am nächsten Morgen und fühlte sich völlig
ausgedörrt. Es war Samstag, also musste er nicht zur Arbeit.
Hagen
streckte sich, bis seine Gelenke knackten, und ging dann zum Kühlschrank. Mit
wenigen Schlucken stürzte er eine Tüte O-Saft hinunter und überlegte, ob er zum
Supermarkt gehen sollte, um ein paar Vorräte zu besorgen.
Er
setzte sich an seinen Küchentisch, der zur Hälfte unter Computerteilen wie
Grafikkarten, RAM-Speicherkarten und Ethernet-Karten verschwunden war. Da wurde
ihm klar, dass etwas nicht stimmte. Und das lag nicht an den Kopfschmerzen von
den sechs Gläsern Bier, die er gestern Abend getrunken hatte.
In
seinem Gesichtsfeld war etwas, das wie ein Desktop-Symbol aussah, und es ging
nicht weg. Er hatte es nach dem Aufwachen bemerkt, aber zunächst angenommen,
dass er nur etwas im Auge hatte oder etwas an seinen Wimpern hing – vielleicht
ein Fussel.
Mike
blinzelte, aber der Fussel blieb. Wenn überhaupt, schien er noch größer
geworden zu sein. Er dachte, er müsse sich das Gesicht waschen, also ging er
ins Bad.
Während
Mike sich etwas Wasser ins Gesicht spritzte, beschloss er, sich zu rasieren.
Das machte er nicht oft – schließlich gab es keinen Grund, Zeit damit zu
verschwenden, sich das Gesicht mit einem Rasierer abzuschaben. Warum also sollte
er es heute tun? Allein der Impuls überraschte ihn.
Er
gab etwas Rasiergel auf seine Hand und rieb es sich ins Gesicht, während er
sich im Spiegel betrachtete.
Da
traf ihn die Erkenntnis. Über seinem Kopf mit dem lichter werdenden, hellen
Haar schwebten zwei Textzeilen. Sie sahen aus wie etwas, das man in einem
verdammten Computerspiel erwarten würde.
Mike
„Heulsuse“ Hagen
Alter:
29
Level:
1
Hagen
fuhr mit der Hand durch die Luft über seinem Kopf, das Gesicht voller Schaum.
Seine Hand glitt durch den Text, ohne dass er einen Widerstand spürte. Erlaubte
sich irgendwer einen Spaß mit ihm? Sorgfältig sah er sich den Spiegel an, fand
aber keine Hinweise darauf, dass dieser manipuliert worden sein könnte.
Doch
was konnte es dann sein? Eine Halluzination?
Plötzlich
hatte Mike einen morbiden Gedanken, der ihn vor dem Spiegel zurückweichen ließ.
Seine Beine gaben unter ihm nach, und er sackte zu Boden.
Konnte
das Krebs sein? Die Sorte, die seine Mutter gehabt hatte?
Und
was würde dann passieren? Er war noch nicht einmal dreißig. Es war ihm in
seinem Leben bisher nicht wirklich gelungen, irgendwelche wertvollen
Erfahrungen zu machen und die Freuden kennenzulernen, die es bringen konnte. Er
hatte gedacht, dass das alles noch vor ihm lag – dass er genug Zeit haben
würde, um so stark zu werden wie Mighty Mouse.
Und
was war mit den Frauen? Er hatte nie jemanden außer Jessie gehabt. Der Gedanke,
dass seine Zeit abgelaufen war und er bis zum Ende seines Lebens, das offenbar
nur sehr kurz werden sollte, nie wirklich mit jemandem vertraut sein würde,
brachte Hagen dazu, stumm zu weinen.
Dann
begann er, unkontrolliert zu schluchzen – seine Mutter war nicht mehr da, um
ihn zu umarmen und zu trösten, und er hatte das Gefühl, als fließe sein Leben
zusammen mit seinen Tränen aus ihm heraus. Er verfiel in einen dunklen,
depressiven Zustand. Hagen verspürte nicht mehr den Wunsch, irgendetwas zu tun,
also wusch er sich nur die Tränen und den Schaum ab, rieb sich das Gesicht mit
einem Handtuch trocken und ging wieder ins Bett. Er schloss die Augen und blieb
liegen, bis der Abend hereinbrach, unfähig, einzuschlafen oder aufzustehen.
Lange
nach Sonnenuntergang wurde Hagen klar, dass er nicht mehr so liegenbleiben
konnte. Sein Körper war taub, seine Muskeln sehnten sich schmerzlich nach
Bewegung und sein Gehirn hatte endlich von Gedanken an den drohenden Tod auf
seine Urtriebe umgeschaltet: Durst, Hunger und die reine Lebenslust. Sein
Wunsch, am Leben zu bleiben, brachte ihn dazu, die Zähne zusammenzubeißen, und
er beschloss, herauszufinden, was eigentlich los war.
Er
stand aus dem Bett auf und starrte in die Dunkelheit seines Apartments. Immer
noch war am Rande seines Gesichtsfelds ein dreidimensionales Objekt zu sehen,
egal, wohin Hagen schaute. Es war, als würde er einen Film in 3D anschauen, nur
dass er keine 3D-Brille trug.
Er
fokussierte seinen Blick auf das Objekt, das sofort reagierte. Das bis dahin
flache Symbol rotierte wie eine von einer Katzenpfote angetippte
Christbaumkugel und verwandelte sich in einen Würfel mit der Silhouette eines
menschlichen Kopfes auf jeder Seite. Von einem bestimmten Blickwinkel aus sah
er Hagen sogar richtig ähnlich.
Der
junge Mann streckte die Hand nach dem Würfel aus. Als würde dieser seine
Einladung annehmen, schwebte er auf seine Handfläche zu und wurde größer. Hagen
berührte ihn mit den Fingerspitzen und spürte eine Art Widerstand. Der Würfel
blinkte und verwandelte sich in ein Fenster. Selbst, wenn es nur eine
Halluzination war, war sie schon erstklassig.
Das
Fenster, das erschienen war, zeigte einen Hagen in 3D in Sport-Shorts und mit
nacktem Oberkörper. Es war ein lächerlicher Anblick. Er war dünn mit
herausstehenden Rippen, doch der Ausdruck auf seinem Gesicht spiegelte pure
Boshaftigkeit wider. Unter Hagen war eine Textanzeige. Der aktive Tab bestand
aus zwei Spalten. In der ersten stand:
Mike
„Heulsuse“ Hagen
Alter:
29
Level:
1
LP:
4000 Pkt.
Kämpfe/Siege:
0/0
Gewicht:
55,8 kg
Körpergröße:
159 cm
Mike
las sich den Text durch und studierte jede Zeile. Wenn er auf eine Zeile
fokussierte, öffnete sich ein Pop-up mit einer Meldung, die deren jeweilige
Bedeutung erklärt. Außerdem gab es Zusatzinfo zur ersten Zeile – seine Nationalität,
sein Geburtsort und seine aktuelle Adresse.
Das zweite
Pop-up erklärte, wie man sein Level steigern konnte. Erfahrung erhielt man im
Kampf, egal welcher Art. Ob Straßenkampf oder Trainings-Match, alles zählte
irgendwas. Die einzige Bedingung war, dass der Gegner volljährig sein musste. Man
brauchte so viele Siege, wie man auf dem aktuellen Level hatte, um zum nächsten
aufzusteigen. Niederlagen brachten keine EP, es gab aber auch keinen Abzug
dafür. Ein Sieg über einen stärkeren Gegner brachte schnellere Fortschritte,
aber es gab keine Information darüber, wie viel schneller genau.
Die
zweite Zeile schien körperliche Werte anzuzeigen.
Hauptwerte:
Stärke:
1
Geschicklichkeit:
2
Ausdauer:
4
Hagen
sah sich die gesamte Liste an und konzentrierte dabei seine Aufmerksamkeit der Reihe
nach auf jeden Eintrag.
Der
Stärkewert entspricht 10 % des Gesamtdurchschnitts menschlicher Stärke.
Er
beeinflusst den Schaden, den man verursacht.
Der
Geschicklichkeitswert entspricht 10 % des Gesamtdurchschnitts menschlicher
Geschicklichkeit.
Er beeinflusst
die Treffsicherheit deiner Angriffe und deine Chancen, denen deines Gegners
auszuweichen.
Der
Ausdauerwert entspricht 10 % des Gesamtdurchschnitts menschlicher
Ausdauer.
Er
beeinflusst deine Lebenspunkte sowie deren Regeneration und bestimmt, wie
schnell dich körperlicher Aktivitäten erschöpfen.
Alle
diese Werte machten deutlich, dass Hagen sehr schwach war – zehnmal schwächer
als jeder durchschnittliche Mensch, fünfmal weniger geschickt und zweieinhalb
mal weniger ausdauernd. Doch das war ihm schon klar, seitdem er ein kleiner
Rotzbengel gewesen war. Erzähl mir was Neues,
dachte er.
Das
Wichtigste war, dass er nur einen einzigen Sieg über einen beliebigen Gegner
brauchte, um auf Level 3 zu gelangen. Mit jedem Level-up würde Hagen einen
Fähigkeitenpunkt sowie einen Punkt für seine Werte erhalten, mit dem er seine
Stärke, Geschicklichkeit oder Ausdauer steigern konnte.
Fähigkeitslevel
konnten also auch auf andere Weise außer durch Training gesteigert werden, und
um seine Stärke zu steigern, brauchte er nicht zwingenderweise ein
Fitnessstudio.
Als
er das alles verarbeitet hatte, wechselte er zum zweiten Tab.
Dieser
war offenbar inaktiv und zeigte nur die Silhouette eines kämpfenden Hagen.
Ohne
nachzudenken, tippte Mike sie an, und sah eine Reihe von Symbolen, die
verschiedene Fähigkeiten abbildeten. Es gab: Faustschlag, Aufwärtshaken, Lowkick,
Mittel-Kick, Highkick, Clinchen und Grappling. Alle Symbole waren grau, und
darüber wurde jeweils ein Schloss angezeigt. Das einzig Farbige war das für den
Faustschlag. In seiner unteren rechten Ecke wurde über einem grünen Symbol die
Zahl 1 angezeigt.
Hagen
konzentrierte sich darauf. Eine Sprechblase mit einer Meldung öffnete sich
darüber.
Faustschlag:
Level 1
Schaden:
100
Du
musst diese Fähigkeit öfter nutzen, um sie zu steigern
Darunter
befand sich eine Fortschrittsleiste, die auf 2 % stand.
Das
alles war viel zu detailliert für eine durch Anspannung ausgelöste
Halluzination. Am Rande seines Bewusstseins registrierte Hagen, dass er sich am
Montag von einem Arzt würde untersuchen lassen müssen. Jedenfalls konnte das
nicht schaden.
Einer
plötzlichen Eingebung folgend nahm Hagen etwas ein, das er für eine Kämpferpose
hielt, und boxte in die Luft. Mit der Rechten, dann mit der Linken, dann die
Rechte, dann wieder die Linke. Er versuchte sich an einer Art Schattenboxen,
führte etwa hundert Schläge aus, stolperte über ein Gamepad, das zu seinen
Füßen lag, und war schließlich verschwitzt und erschöpft. Allerdings war es das
wert: Die Fortschrittsleiste hatte 3 % erreicht.
Bis
spät in die Nacht boxte Hagen weiter in die Luft und machte nur Pause, um zu
essen oder zur Toilette zu gehen. Sein niedriger Ausdauerwert machte sich voll
bemerkbar – er ermüdete schnell. Am linken Rand seines Gesichtsfeldes unter dem
Symbol mit seinem Gesicht, wo sein aktuelles Level (also 1) angezeigt wurde,
sah er auch die Werte für LP und Vitalität.
Vitalität
war das, was ihm ständig ausging. Schließlich war er so erschöpft, dass er kaum
noch die Fäuste heben konnte. Die Lebenspunkte waren ebenfalls völlig real. Das
fand Michael heraus, als er gegen die Wand schlug. Er spürte einen stechenden
Schmerz in seiner Hand. Die Systemmeldung unten sagte ihm, dass er
100 Schadenspunkte erlitten hatte, und seine LP-Leiste war geschrumpft.
Bis
Mitternacht hatte Hagen seine Fähigkeit „Faustschlag“ auf Level 2
gesteigert. Flammen schlugen aus seinen Fäusten. Auch wenn sie nur virtuell
sein mochten, wirkten sie doch erschreckend real. Sie wärmten seine Hände,
verbrannten ihn aber nicht, also hatte Mike nicht einmal Zeit, in Panik zu
geraten. Er schwitzte am ganzen Körper und starrte voller Entzücken auf seine
Hände. Langsam erstarben die Flammen.
Dann
erschien direkt vor seinen Augen eine Systemmeldung.
Glückwunsch!
Du hast ein neues Fähigkeitslevel erreicht!
Name
der Fähigkeit: Faustschlag
Hagen
öffnete das Fenster mit seinen Werten, um nachzusehen, ob sein Fähigkeitslevel
tatsächlich gestiegen war.
Faustschlag:
Level 2
Schaden:
200
Du
musst diese Fähigkeit öfter nutzen, um sie zu steigern
Der
Levelaufstieg ermöglichte es ihm also, mehr Schaden zu verursachen.
Das
war unglaublich!
Mike
war so aufgeregt wie jeder Gamer, der je in einem Computerspiel seinen
Charakter gelevelt hatte. Die Strahlen der aufgehenden Sonne drangen bereits
durch die Lücke zwischen seinen Vorhängen, und da stand er, boxte unerbittlich
in die Luft und war sauer, dass er weitere hundert Faustschläge benötigen
würde, um erneut ein Level aufzusteigen. Zweihundert Schläge machten ein
Prozent Wachstum seiner Fähigkeit aus. Das erste Level hatte nur einhundert
gebraucht. Für den dritten waren dreimal so viele nötig.
Das
waren jedoch nicht die einzigen Features des Systems, wie er den neuen Gast in
seinem Kopf insgeheim nannte. Mitten in der Nacht war er völlig ausgehungert
aufgewacht. In seinem Kühlschrank befand sich rein gar nichts Nahrhaftes, also
musste er bei einem Pizzaservice bestellen, der rund um die Uhr geöffnet hatte.
Schließlich benötigte sein unterversorgter Körper dringend ein paar Kalorien.
Also bestellte Mike gleich zweimal Pizza Mexicana und fiel darüber her wie eine
Katze über einen Topf Sahne, sobald er die Tür hinter dem Pizzaboten
geschlossen hatte.
Als
er mit dem Essen fertig war (und er hatte bis zur letzten Olivenscheibe restlos
alles verputzt, sogar die Reste des Belags, die auf dem Boden der Schachtel
klebten), erhielt er eine weitere Systembenachrichtigung:
Aufgenommene
Kalorien: 2.536. Proteine: 210 g. Fette: 170 g. Kohlenhydrate: 360 g.
Der
Hunger-Debuff, der irgendwo oben rechts in seinem Gesichtsfeld geschwebt war,
war verschwunden. Dafür hatte er jetzt einen neuen: Schlafentzug. Dieser senkte
seine Vitalität um 25 %.
Bis
zum Morgen hatte der Schlafentzugs-Debuff Level 2 erreicht, sodass seine
Vitalität um 50 % reduziert war. Mike ermüdete schneller und musste mehr
Pausen machen, um sich zu regenerieren. Bei Sonnenaufgang, als die
Fortschrittsleiste für den Faustschlag 67 % erreicht hatte, sprang der
Schlafentzug plötzlich auf Level 4, was die Vitalität um 99 % reduzierte.
Zusätzlich erhielt Hagen einen weiteren Debuff namens Erschöpfung. Dieser
senkte keinen seiner Werte. Doch er stoppte die Regeneration der Vitalität völlig.
Also musste er schließlich schlafen.
Hagens
Enttäuschung darüber hielt sich in Grenzen. Sein ganzer Körper schmerzte, seine
Arme waren taub, und seine Augen voller Sand. Er schlief ein, sobald sein Kopf
das Kissen berührte.
Kapitel 2. Guten Tag, Mr. Goretsky!
„Die
Welt ist erfüllt von Leid, und dann stirbst du.“
GTA
Vice City Stories
AM
MONTAG ging Hagen zur Sprechstunde, um dem Arzt
von seinen unerklärlichen Halluzinationen zu berichten. Der Arzt brummte eine
Weile verblüfft vor sich hin und schickte ihn dann zum MRT. Es zeigte keine
pathologischen Befunde in Hagens Gehirn. Deswegen lautete die Diagnose des
Arztes „Stress durch Überarbeitung“. Er verschrieb Hagen ein mildes
Beruhigungsmittel und empfahl ihm, sich mal eine Auszeit von der Arbeit zu
nehmen.
Seine
Arbeitgeber hatten nichts dagegen – es war das erste Mal seit drei Jahren, dass
Mike Urlaub nahm, also hatte er plötzlich drei ganze Wochen frei. Als Hagen den
Laden verließ, sah er Mr. Goretsky, der erfolglos nach seinem Notebook suchte. Ich würde Ihnen wirklich
raten, in den nächsten drei Wochen keine illegalen Seiten aufzurufen,
dachte er, von purer Schadenfreude erfüllt.
Eine
Systemmeldung erschien in der Luft direkt über Goretsky.
Greg
„der Büffel“ Goretsky
Alter:
38
Level:
4
LP:
22000
Kämpfe/Siege:
9/6
Gewicht:
113,9 kg
Körpergröße:
192 cm
Hölle
und Teufel!, war das Erste, was Mike durch den Kopf
schoss. Fünfmal so viele LP wie ich!
Goretskys
Ausdauer lag bei 16. Die anderen Werte konnte Hagen sich nicht mehr ansehen. Er
versuchte, das Fenster mit dem Profil des riesigen Mannes zu öffnen, aber das
System lieferte ihm nur immer wieder dieselbe, unverständliche Nachricht:
Das
aktuelle Level deiner Fähigkeit „Erkenntnis“ ist zu niedrig, um die
angeforderte Information aufzurufen!
Diese
Fähigkeit war ihm noch nicht untergekommen, aber er beschloss, später definitiv
mehr darüber herauszufinden.
Mike
sah jetzt schon, dass er gegen den Mann keine Chance hatte. Selbst mit seinem verdoppelten
Schaden müsste er einem Gegner wie ihm mindestens um die achtzig Faustschläge
verpassen, was schlicht unmöglich war.
„Da
steckst du also, kleiner Scheißer!“
Hagen
war so in Gedanken versunken gewesen, dass ihm gar nicht aufgefallen war, dass
Mr. Goretsky ihn schließlich entdeckt hatte. Er ragte drohend vor Mike auf, der
aus reiner Gewohnheit die Schultern einzog, und grinste ihn schief an. „Schwing
deinen Arsch und gib mir meinen Laptop zurück, du Trottel!“
Hagen
versuchte, einen möglichst freundlichen Gesichtsausdruck aufzusetzen. „Guten
Tag, Mr. Goretsky!“
„Wenn
du meine Geduld auch nur noch drei Minuten auf die Probe stellst, wird der Tag
für dich nicht mehr gut! Gib mir sofort meinen Laptop zurück! Diesmal schauen
wir ihn uns genau an, um zu sehen, wie gut du ihn repariert hast!“
„Ich
bin im Urlaub, Mr. Goretsky. Bitte wenden Sie sich mit Ihrem Problem an einen
meiner Kollegen.“
Hagen
dachte weiter darüber nach, wie weit er seinen Faustschlag hochleveln müsste,
um einen Riesen wie den Büffel mit einem einzigen Schlag umzuhauen. Mathe war
schon immer eine von Mikes Stärken gewesen, also konnte er es sofort
ausrechnen: Er müsste auf Level 160 kommen, was bei einem täglichen
Training von zwölf Stunden in etwa zehn Jahre dauern würde. Allerdings basierte
diese Rechnung auf seinem aktuellen Stärke-Level, und der konnte ja auch
gesteigert werden ...
„He,
du kleiner Geek! Ist dein Hirn abgestürzt? Muss ich dir das Licht ausknipsen,
um dich neu zu starten, Schnarchnase?“
Hagen
wurde sich seiner Umgebung wieder bewusst und sah, dass Goretskys Gesicht nur
wenige Zentimeter von seinem eigenen entfernt war. Zusammen mit der
Schimpftirade bekam er eine volle Ladung Speichel auf die Nase ab.
Automatisch
wischte Hagen sich übers Gesicht. Andere Verkäufer und ein paar Kunden traten
hinzu, als sie das Geschrei hörten, aber niemand hielt es für nötig,
einzugreifen, auch wenn sie die Szene mit einiger Sorge verfolgten. Jemand holte
den Geschäftsführer.
Mike
nahm die Reste seines Selbstwertgefühls zusammen und sagte mit vor Erniedrigung
bebender Stimme: „Entschuldigung, Mr. Goretsky, aber Sie sollten aufhören, mich
ständig zu beleidigen. Genau genommen bin ich momentan kein DigiMart-Angestellter,
da ich im Urlaub bin. Bitte wenden Sie sich an einen meiner Kollegen.“
„Bist
du echt so blöd? Das ist mir scheißegal!“, spuckte Goretsky. „Du arbeitest
hier, ich hab dir meinen Laptop gegeben. Also bist du derjenige, der ihn
reparieren muss, und du bist dafür verantwortlich!“
„Entschuldigung,
Mr. Goretsky“, sagte Lexie, die leitende Vertriebsmitarbeiterin. „Darf ich Ihnen
helfen?“ Sie nahm den Büffel am Arm. „Geben Sie mir einfach Ihre Quittung und
ich hole Ihnen umgehend Ihr Gerät.“
Der
Büffel sah Lexie anerkennend an und grinste. Dieser Personalwechsel gefiel ihm
offensichtlich.
„Du
hast Glück, dass in deinem Laden so kesse Mädels arbeiten, du Lahmarsch“, waren
die an Hagen gerichteten Abschiedsworte des Büffels.
Lexie
machte eine kaum merkliche Geste in Mikes Richtung, während sie den Kopf wandte
und den ungehobelten Kunden wegführte, damit Mike gehen konnte. Hagen nickte
zurück und ging zum Ausgang. Das Blut stieg ihm ins Gesicht und in die Ohren.
„Nichts
davon wird jemals, jemals gut ausgehen“, murmelte er vor sich hin.
Es
war wirklich Pech, dass der Gipfel seiner Demütigung mit Lexies Ankunft
zusammengefallen war. Sie war die einzige Kollegin, die Hagen nie wie ein Stück
Scheiße behandelt hatte. Sie schätzte ihn für seine Fähigkeit, in kürzester
Zeit jeden Fehler an jedem Computer zu entdecken, fand immer ein freundliches
Wort für ihn und lobte ihn für seine Arbeit. Sie war drei Jahre jünger als er,
aber schon eine leitende Vertriebsmitarbeiterin. Und auch noch richtig hübsch.
Zu schade, dass er bei ihr keine Chance hatte.
Und
doch vergaß er Lexie sofort, als er draußen war. Hagen hatte jetzt ein Ziel,
digital und leicht zu verstehen.
Sein
größter Wunsch war es, kämpfen zu lernen – dieser Wunsch war sogar noch stärker
als seine Gefühle für Jessie bei ihrer ersten Verabredung. Eigentlich ging es
ihm nicht einmal so sehr ums Kämpfen selbst. Das würde nämlich schmerzhaft
werden. Was er wirklich wollte, war, jeden Gegner mit einem einzigen Schlag
ausschalten können, ohne dass der Kampf zu lange dauerte. Genau wie dieser irische
Landfahrer Mickey in dem Guy-Ritchie-Film. Schließlich war seine Ausdauer nicht
die beste. Hagen stellte sich vor, wie Goretsky ihm eins auf die Nase gab, und
schauderte.
Nach
der Nacht, die Mike damit verbracht hatte, seine Fähigkeit „Faustschlag“ zu
steigern, wachte er erst spät am Nachmittag auf. Er war völlig erschöpft, denn
jeder Muskel seines untrainierten Körpers schmerzte. Seine Laune hingegen war
unerwartet gut. Er versuchte, die Fähigkeit zu steigern, doch sein Körper
reagierte mit intensivem Schmerz. Mike wusste nicht, was er tun sollte, also
studierte er das Interface näher.
Er
rollte wild mit den Augen, als er ein paar Symbole bemerkte, die er zuvor nicht
gesehen hatte. Er starrte sie an und beförderte sie per Drag & Drop in
den Benutzerbereich. Eines davon war mit „Programm-Features“ beschriftet. Als
Hagen es öffnete, wurde ihm Folgendes angezeigt:
Augmented
Reality!7.2 Home Edition
Copyright
© First Martian Company, Ltd. 2101-2118
Alle
Rechte vorbehalten
Registrierter
Nutzer: Michael Björnstad Hagen.
S/N
S2L-7702B-1412010
Einzelnutzerlizenz
für ein Jahr
Kontoart:
Premium
Aktivierungsdatum:
24.04.2018, 09:00
Ablaufdatum:
24.04.2019, 08:59
Eine
Google-Suche brachte weder etwas über die First Martian Company noch über die „Augmented
Reality!“-Plattform zutage. Doch Hagen
brauchte nicht lange, um das Ganze zu kapieren. Er hatte zu viele Comics
gelesen, um von so etwas überrascht zu sein. Es war ziemlich offensichtlich: Irgendwie
hatte er ein Augmented-Reality-Interface aus der Zukunft erhalten. Wie genau
das vor sich gegangen war, war im Moment nicht wichtig. Mike konnte sich gut
vorstellen, dass jeder Erdling im 22. Jahrhundert über ein solches
Interface verfügen würde. Wenn man nach dem Namen der Firma ging, die es
entwickelt hatte, würde wohl auch jeder Marsianer eines haben.
Das
Wichtigste war, dass auch die Zeit kostbar war, soviel war ihm klar. Er würde
jeden einzelnen Tag voll ausnutzen müssen, um seinen Traum zu verwirklichen.
Etwa
eine Stunde lang erkundete er den Tab „Einstellungen“, um das Interface genau
so zu konfigurieren, wie er es haben wollte. Es gab jede Menge cooler
Funktionen, darunter einen eingebauten Wecker, der einen in der leichtesten
Schlafphase, wenn das Aufwachen am wenigsten stressig war, sanft weckte, sowie
einem alle möglichen Daten im Überblick anzeigte. Dabei handelte es sich um
einige sehr nützliche Dinge: die Uhrzeit, die Herzfrequenz, die
Außentemperatur, die seit dem Aufwachen verbrauchten Kalorien und vieles mehr,
was man theoretisch auf dem Smartphone nachsehen konnte, doch mit dem Augmented-Reality-Interface
war das so viel einfacher.
Außerdem
legte Mike sich auch die Fortschrittsleisten der wichtigsten Werte in sein
Gesichtsfeld, nämlich Stärke, Geschicklichkeit und Ausdauer. Er verbrachte etwa
eine halbe Stunde mit Schattenboxen, versuchte dabei, den Schmerz zu
ignorieren, und bemerkte, dass auch diese Werte gestiegen waren. Nicht so schnell
wie die Fähigkeit „Faustschlag“, aber immerhin.
Den
meisten Erfolg hatte er mit der Ausdauer. Hagen bemerkte, dass sie während des
Trainings am schnellsten anstieg, wenn er mit seinem Durchhaltevermögen an
seine Grenzen stieß – wenn er nach Atem rang und darum kämpfen musste, den
Schmerz in seiner Brust und das Gefühl der Schwere in seinen Schultern zu
überwinden.
Es
gab zwei weitere Haupt-Icons: „Auf Updates prüfen“ und „Technischer Support“,
aber immer, wenn er eines davon antippte, bekam er folgende Fehlermeldung:
Verbindung
mit Update-Server nicht möglich.
Server
ist nicht verfügbar.
Bitte
überprüfen Sie Ihre Verbindungseinstellungen für den Universal Infospace.
Universal
Infospace? Ernsthaft? Ein Internet der Zukunft?
Als
Hagen damit fertig war, das Interface zu erkunden, wandte er sich wieder seinem
Training zu. Er stellte am Fernseher einen Musikkanal ein und fuhr damit fort,
seinen unsichtbaren Gegner, den er sich als Goretsky vorstellte, windelweich zu
prügeln. Das hielt er durch, bis er spät nachts einen Zustand völliger
Erschöpfung erreicht hatte. Er duschte und verschlief den Tag. Wahrscheinlich
wäre er nicht einmal aufgewacht, wenn jemand sein Bett angezündet hätte.
Das
war sein Sonntag. Am Montag ging er zur Sprechstunde und setzte dann sein
Schattenboxen zu Hause fort, um so schnell wie möglich voranzukommen. Den Dienstag
verbrachte er auf die gleiche Weise. Am Mittwochabend machte Hagen einer
plötzlichen Eingebung folgend eine Entdeckung.
Er funktionierte
eines seiner Sofakissen zu einer Art Boxsack um, indem er es anstelle des
ziemlich geschmacklosen Bilds eines Gorillaweibchens im Abendkleid mit Hut an
einen Haken in der Wand hängte. Der Titel des Bildes lautete Sonnenuntergang
an der Atlantikküste, aber es bestand nur aus
kitschigen Rechtecken in psychedelischen Farben. Den Sonnenuntergang konnte
Hagen darin nicht erkennen – nur den Gorilla.
Es
stellte sich heraus, dass seine Fähigkeit wesentlich schneller stieg, wenn er
auf das Kissen statt in die Luft schlug.
Am
Ende desselben Tages steigerte Hagen seine Fähigkeit „Faustschlag“ auf Level 8
und konnte damit 1600 Schadenspunkte verursachen, da seine Stärke schließlich
auch angestiegen war. Da erkannte er endlich, dass es ihm am meisten bringen
würde, wenn er in einem Boxstudio trainieren würde. Gleich die Straße runter
gab es eines, das einem alten Mexikaner gehörte.
* * *
FRÜH
AM SONNTAG MORGEN kam Hagen beim Boxstudio an der Roosevelt
Street an. Mr. Guillermo Ochoa zuckte nicht mit der Wimper, als das mickrige
Jüngelchen sein Studio betrat. Vielmehr blieb Mr. Ochoa selbst, als Hagen seine
Absicht erklärte, im Studio zu trainieren, cool und gelassen. Doch als dieser
kraftlose, schmalbrüstige Hobbit, den man mit einem Strohhalm hätte durchbohren
können, mit seinem unordentlichen, hellen Haar und seinen farblosen, blonden
Augenbrauen und Wimpern verkündete, dass er jeden Tag mindestens zwölf Stunden
trainieren wollte, war das zu viel für den alten Ochoa. Er lachte lauthals los.
Davon
schien sich der junge Mann nicht beirren zu lassen. Er wartete geduldig, bis
der Besitzer des Boxstudios fertig gelacht hatte, und starrte Ochoa aus seinen
himmelblauen Augen direkt und ohne ein Jota Ärger an. Tatsächlich allerdings war er
verärgert. Der alte Mann war siebzig Jahre alt und konnte Menschen recht gut
einschätzen. Der Mexikaner lachte so heftig, dass Rotz aus seiner großen,
gebrochenen Nase schoss. Trotzdem blieb der junge Mann absolut ruhig.
Als
der Alte aufgehört hatte, zu lachen, zog Hagen ein Bündel zerknitterter
Dollarnoten aus seiner hinteren Hosentasche. „Würde das für den ersten Monat
reichen, Mr. Ochoa?“
Der
alte Mann wurde ernst. Er zählte das Geld und nickte. „Das reicht für drei
Monate. Und wenn du mir jeden Abend hilfst, das Studio sauberzumachen, kannst
du ein halbes Jahr lang trainieren.“ Ochoa bot ihm seine Hand an. „Willkommen
in meinem Boxstudio, Junge ... Äh, wie heißt du denn eigentlich?“
„Mikey“,
sagte der junge Mann, während er die Hand des Mexikaners schüttelte. „Aber Sie
können mich Hagen nennen, wenn Sie möchten.“
„Also
dann, Klein-Mikey? In Ordnung. Wann möchtest du anfangen? Wenn du meinst,
dass ...“
„Kann
ich jetzt gleich loslegen?“, unterbrach Hagen ihn.
Der
alte Mann lachte leise. „Jetzt gleich?“
„Ja,
jetzt gleich“, wiederholte der Hobbit.
Ochoa
musterte Mike von Kopf bis Fuß, stieß einen Pfiff aus und zeigte dann mit
ausladender, theatralischer Geste auf das leere Studio. „Das Studio gehört dir,
junger Mann! Die Umkleide ist da entlang.“
Hagen
mochte es sich eingebildet haben, aber es schien ihm, als läge etwas wie
Respekt in der Stimme des Alten. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass
jemand auf diese Weise mit ihm sprach, und es gefiel ihm.
Fünf
Minuten später, nachdem er sich umgezogen hatte, begann Hagen mit enormem
Enthusiasmus, auf den Boxsack einzuschlagen. Die riesigen Hawaii-Shorts, die
bis unter seine Knie reichten, gaben den Blick auf Beine frei, die so dünn
waren, dass man sie mit einer Hand umfassen konnte. Die viel zu großen Ärmel
seines T-Shirts gingen ihm bis zu den Ellenbogen, und seine unbeholfenen
Schläge bewegten den Sack keinen Zentimeter. Nichts außer dem verbissenen
Ausdruck in seinen durchdringenden, blauen Augen hätte irgendjemanden davon
überzeugt, dass der mickrige Klein-Mickey es wirklich ernst meinte.
Also
erbarmte sich Ochoa am Ende des Tages des Jungen und zeigte ihm, wie man
richtig zuschlug.
* * *
AM
ENDE der zweiten Woche im Studio hatte sich Hagens körperlicher
und geistiger Zustand beträchtlich verbessert. Es hatte sich herausgestellt,
dass sein Premium-Konto einen dreifachen Level-Booster für alle Fähigkeiten und
Werte beinhaltete. Das erfuhr Mike unter „Hilfe“. Der virtuelle Assistent war
Siri um Meilen voraus. Er hatte keine Probleme, Sprachbefehle zu erkennen, und
antwortete unverzüglich. So erfuhr Hagen, dass er immer dann eine
Extrafähigkeit bekam, wenn eine Kampffähigkeit ein durch zehn teilbares Level
erreichte. Bei „Faustschlag“ würde er auf Level 10 zum Beispiel eine
50%ige Chance haben, jedes Abblocken seines Gegners aufzuheben. Auf
Level 30 würde das garantiert jedes Mal geschehen.
Das konnte
Hagen aber am Ende der ersten Trainingswoche sowieso selbst feststellen, als
seine einzige Fähigkeit endlich Level 10 erreichte.
Wie
sich herausstellte, gab es neben dem Boxring und dem Boxsack in Ochoas Studio
auch Kurz- und Langhanteln. Am zweiten Tag ließ der alte Mann Hagen damit trainieren
und zeigte ihm ein paar Übungen zum Aufbau verschiedener Muskelgruppen. Ergänzt
durch intensive Gewichthebeübungen ließ dieses Training seine Stärke viel
schneller ansteigen und führte außerdem dazu, dass er einen enormen Appetit
entwickelte.
Hagen
nahm gewaltige Mengen Fleisch und Fisch zu sich. Dann wurde ihm klar, dass er
auch einfach eine Riesendose Proteinpulver kaufen konnte. Seither trank er
jeden Tag zusätzlich zu seinen normalen Mahlzeiten mindestens drei
Protein-Shakes. Durch das Training hatte er ständig Hunger, selbst in der
Nacht. Wenn er aufwachte, machte er sich einen Shake, stürzte ihn hinunter und
schlief wieder ein.
Innerhalb
von zwei Wochen hatte er ein paar Kilo zugenommen und es aus irgendeinem Grund
sogar fertiggebracht, zu wachsen.
Am
Ende seines Urlaubs hatte er folgende Werte:
Mike
„Heulsuse“ Hagen
Alter:
29
Level:
1
LP:
9000
Kämpfe/Siege:
0/0
Gewicht:
61,2 kg
Körpergröße:
162 cm
Hauptwerte:
Stärke:
5
Geschicklichkeit:
4
Ausdauer:
9
Hagen
hatte es geschafft, alle seine Werte zu steigern und fünfeinhalb Kilo
zuzunehmen. Er wurde stärker, und die aufgepeppte Ausdauer steigerte seine
Überlebenschancen, da sie ihm mehr Zeit gab, einen entscheidenden Schlag zu
landen. Der einzige Wert, der nur sehr langsam wuchs, war die Geschicklichkeit.
Er
entdeckte keine neuen Kampfbewegungen, also beschloss er, sich auf das Steigern
seines Faustschlags, der einzigen Fähigkeit in seinem Instrumentarium, zu
konzentrieren. Egal, wie sein Gegner ausweichen würde, Hagens höheres Level würde
es ihm schließlich ermöglichen, blitzschnelle Schläge zu platzieren, denen
keiner entkommen konnte.
Faustschlag:
Level 16
Schaden:
8000
+50 %
höhere Wahrscheinlichkeit, Abblocken zu ignorieren
Du
musst diese Fähigkeit öfter nutzen, um sie zu steigern
Diese
unglaubliche Fähigkeit, Schaden zu verursachen, war das direkte Ergebnis seiner
gesteigerten Stärke. Auf Level 1 konnte Hagen nur 1600 Schadenspunkte
verursachen (hundert Punkte für jedes Level der Fähigkeit). Doch diese 1.600 Punkte
wurden mit fünf multipliziert, und 8.000 Punkte waren schon eine ganze Menge.
Trotz seiner gesteigerten Ausdauer hätte er sich selbst mit einem oder zwei
Schlägen k. o. schlagen können. Sein altes Selbst – das ohne Interface –
hätte er wie eine Fliege zerquetschen können.
An
seinem letzten Urlaubstag ging Hagen zum Besitzer des Studios. „Mein Urlaub ist
zu Ende, Mr. Ochoa. Ich muss wieder arbeiten gehen. Ich werde direkt nach der
Arbeit hierherkommen.“
Der
alte Mann hob die Schultern. „Du kannst kommen, wann immer du willst, Kleiner.“
„Danke,
Mr. Ochoa! Für heute bin ich fertig ...“
„Warte
mal kurz, Kleiner“, unterbrach Guillermo ihn und zeigte in die Ecke des
Studios, wo ein Latino mit ausdruckslosem Gesicht schattenboxte. „Wie wär‘s mit
einem Kampf gegen Juan? Er ist auch ein Anfänger, auch wenn er schon mehr als
ein halbes Jahr herkommt. Aber er macht es nicht so wie du. Er kommt dreimal
die Woche vorbei und lässt das Training manchmal komplett ausfallen. Jeder
andere, den ich hier habe, ist knallhart, und ich finde beim besten Willen
keinen passenden Partner für ihn.“
„Wir
können‘s ja mal versuchen“, meinte Hagen achselzuckend.
Er
inspizierte Juan näher und entdeckte Folgendes:
Juan
Manuel Guerrero
Alter:
26
Level:
3
LP:
13000
Kämpfe/Siege:
7/5
Gewicht:
78 kg
Körpergröße:
183 cm
„In
Ordnung. Warte“, sagte Ochoa und ging zu Mikes zukünftigem Sparringspartner.
Der Typ wird keine leichte Nummer,
dachte Hagen bei sich, als er Juan Guerrero in seine Richtung blicken sah.
Guerrero war stark, mit langen Armen, und anderthalbmal so vielen LP wie Hagen.
Aber irgendwo musste er schließlich anfangen. Er konnte ja wohl kaum alte Damen
auf der Straße verprügeln, um aufzusteigen.
Als
die laufende Runde vorbei war, schickte Ochoa die Sparringspartner aus dem
Boxring und lud Guerrero und Hagen ein, ihren Platz einzunehmen. Sie stießen
die Boxhandschuhe zusammen. Guerrero nickte, Hagen nickte zurück.
„Bereit?
Kämpft!“, gab Ochoa das Startkommando.
Der
Trainingskampf begann.
Guerrero
umkreiste Hagen und versuchte, auf seine linke Seite zu gelangen, blieb aber
auf Abstand. Ob er sich nähern sollte? Er könnte einen Treffer kassieren.
Sollte er darauf warten, dass sein Gegner angriff? Würde es in diesem Fall
möglich sein, den Schlag zu blockieren oder ihm auszuweichen?
Hagen
umkreiste seinen Gegner weiter und versuchte, ihm stets das Gesicht zuzuwenden,
während der andere seinerseits im Kreis lief. Er wartete auf seine Chance. Eine
Gelegenheit, einen Schlag zu platzieren, der seine einzige Chance in diesem
Kampf darstellen konnte.
„Los
doch!“, rief Ochoa in dem Versuch, die Kämpfer zu motivieren. „Kämpft! Macht
schon!“
Hagens
Gegner wagte einen Angriff. Er blieb ständig in Bewegung, um den anderen
Kämpfer zu verwirren. Doch dann kam der Moment, als Hagen klar wurde, dass er
zuschlagen musste. Intuitiv führte er einen Schlag gegen das Gesicht des
Angreifers, ohne sich überhaupt bewusst zu sein, was er tat, und versuchte,
Guerreros Schlag gleichzeitig mit seiner Linken abzublocken. Er spürte den
Boxhandschuh des anderen Mannes beinahe seinen berühren, doch dann verloren sie
den Kontakt.
Verursachter
Schaden: 8.000 (Faustschlag)
Der Block
deines Gegners wurde aufgehoben
Später
sollte Mike die nächste Szene ein paar Nächte hintereinander in Zeitlupe immer
wieder in seinen Träumen erleben. Da ist er, wie er zuschlägt, da die Faust,
die mitten durch den schlecht ausgeführten Gegenschlag zur Abwehr hindurchgeht
und dann Guerrero direkt auf den Kiefer trifft. Der Kopf seines Gegners
schnellt erst nach oben und hinterlässt dabei eine Spur Schweißtropfen in der
Luft, dann heben die Füße des Mannes ebenfalls vom Boden ab.
Auf
diese Weise fand Hagen heraus, dass es immer zu einem Knockout kam, wenn sein
Schlag einen Schaden von mehr als 50 % der LP seines Gegners verursachte.
Genau das geschah mit Guerrero. Er war in der Tat ausgeknockt.
Hagen
für seinen Teil war vor unglaublicher Freude fast überwältigt. Das war besser
als jeder Orgasmus. So reagierte das System auf seinen ersten Levelaufstieg.
Er
stand inmitten einer Lichtsäule, die für alle außer ihn unsichtbar war. Was
Ochoa sagte, hörte er nicht. Er sah jedoch deutlich folgende Systemmeldung:
Glückwunsch!
Sie haben Ihren Gegner in einem fairen Kampf besiegt!
Ein
Sieg über einen Gegner mit höherem Level als Ihrem verdoppelt die erhaltenen
EP!
Ihr
Level steigt um +2!
Aktuelles
Level: 3
Neu
verfügbare Systempunkte für Haupteigenschaften: 2
Neu
verfügbare Systempunkte für Kampffähigkeiten: 2
Als
er an diesem Abend zu Bett ging, verteilte Hagen mithilfe des virtuellen
Assistenten die Systempunkte auf Stärke und Geschicklichkeit. Zuerst wollte er
sie beide auf Stärke legen, aber es stellte sich heraus, dass es tödliche
Folgen haben konnte, einen Wert um mehr als einen Punkt auf einmal zu steigern.
Das System gab eine entsprechende, deutliche Warnung aus.
Warnung!
Wir haben eine ungewöhnliche Steigerung deiner Eigenschaft „Stärke“
festgestellt: +1 Pkt.
Dein
Körper wird zur Anpassung an den neuen Wert (6) entsprechend deiner Metabolismus-
und Chronotropie-Werte restrukturiert.
Erforderliche
Änderungen: beschleunigtes Wachstum von Muskelgewebe, Sehnen und Bändern.
Außerdem
stand dort einiges über die Anhebung von intramuskulären Kreatinphosphat- und
Glykogen-Werten, über interne Mechanismen, intramuskuläre Koordination und so
weiter. Allerdings fand sich ganz unten eine deutliche Warnung:
Warnung!
Die Restrukturierung
deines Körpers erfordert eine erhebliche Menge an Nährstoffen. Wir empfehlen dir
dringend, ein Minimum von 280 g tierischem Protein, 1.400 g
Kohlenhydraten und 90 g tierischem Fett zu dir zu nehmen, um Gesundheitsschäden
zu vermeiden. Ein Mangel an Nährstoffen kann zu einem Versagen der
Körperfunktionen führen.
Warnung!
Künstliche
Steigerung von Eigenschaften um mehr als 1 Pkt. auf einmal ist streng
untersagt! Es besteht höchste Lebensgefahr!
Eine
ähnliche Systemmeldung und Warnung folgten, als er einen zusätzlichen Punkt auf
Geschicklichkeit legte:
Warnung!
Wir haben eine ungewöhnliche Steigerung deiner Eigenschaft „Geschicklichkeit“
festgestellt: +1 Pkt.
Dein
Körper wird zur Anpassung an den neuen Wert (5) entsprechend deiner neuen
Motorik- und Koordinationswerte restrukturiert.
Erforderliche
Änderungen: Restrukturierung deines zentralen Nervensystems und
Elastizitätssteigerung von Muskelgewebe, Sehnen, Bändern und Gelenken.
Auch
dieser Meldung folgte die Warnung bezüglich möglicher Lebensgefahr – sowie der
Rat, so viel Protein, Fett und Kohlenhydrate wie möglich zu essen und
ausreichend zu trinken.
Also
verschlang Hagen im Laufe der nächsten zwei Stunden eine riesige Menge
Brathähnchen und ein paar Pizzas und spülte sie mit viel Limo und Wasser
hinunter.
Während
er aß, wurde ihm auf einmal klar, dass er keine Angst mehr hatte, gegen Mr.
Goretsky zu kämpfen. Da sein Stärkewert gestiegen war, konnte er 9.600 Schadenspunkte
verursachen, was nahezu ausreichte, um den Büffel k. o. zu schlagen,
da die erforderliche Punktzahl 50 % von dessen LP betrug.
Dann
sank er mit einem Lächeln ins Land der Träume. Morgen würde ein neuer Tag
beginnen – der erste Tag vom Rest seines Lebens.
Er
würde weiter trainieren und hochleveln und schließlich an einem MMA-Wettkampf
teilnehmen, und dann ... Wer weiß? Vielleicht würde er eines Tages stolz
seinen Meistergürtel hochhalten.
Doch
das würde noch dauern. Und morgen ...
Hagen lächelte noch mal. Morgen würde er endlich Lexie fragen, ob sie
mit ihm ausgehen wollte.
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