Nächstes Level Buch 2
Held
von Dan Sugralinov
Prolog
Was für
ein schrecklicher Traum! Überall Einsen und Nullen … Und ich dachte, ich sähe
eine Zwei …
Futurama
„OKAY, ICH WERDE es anders formulieren. Wie hast du sie
umgebracht?“
„Da war dieser kleine Junge … er ist erstickt.
Es ist einfach passiert! Und dann war da ein Mädchen … sie ist ebenfalls
gestorben … verblutet …“
Der Knall eines Pistolenschusses macht mich
beinahe taub. Die Kugel wirft den korrupten Regierungsbeamten zu Boden. In
meinen Ohren summt es laut. Nur schwach höre ich Vickys Fluchen. Sie wirft die
Pistole von sich.
„Mistkerl, Mistkerl, Mistkerl! Oh, wie ich
sie alle hasse!“
Gleb Grechkin, eine bekannte Gestalt in der
Kulturabteilung des Rathauses, windet sich auf dem Boden. Offensichtlich hat er
es nicht sehr eilig abzukratzen. Seine Wunde ist nicht lebensgefährlich und
seine Vitalität befindet sich noch immer im grünen Bereich, obwohl der Debuff
durch die Blutung ihre Wirkung entfaltet und den Kinderschänder seiner
Gesundheit beraubt.
„Heilige Scheiße, Vick – was hast du bloß
angestellt?“
„Er ist Abschaum, verstehst du das denn
nicht? Er verdient es nicht, am Leben zu bleiben!“
„Aaaah!“, stöhnt er. „Dafür werdet ihr
bezahlen! Ich werde euch auslöschen! Ooooh!“
„Das reicht jetzt – wach auf!“ Ich greife
Vicky bei den Schultern und schüttele sie, um sie zur Vernunft zu bringen.
„Lass uns gehen!“
„Wohin sollen wir denn gehen? Wir müssen
die Sache erst zu Ende bringen!“
Ihre Einstellung bereitet mir ein wenig
Sorge, aber der Text über ihrem Kopf verrät mir, dass ihr Buff durch Wut und
berechtigten Zorn anhält. Ich nehme sie bei der Hand und ziehe sie zur Tür. Nur
um sicherzugehen, stecke ich auch die Waffe ein.
Ich öffne den Kofferraum von Grechkins
Geländewagen und halte Ausschau nach einem Schlauch und einem leeren
Benzinkanister. Vicky untersucht die anderen Autos, und ich fülle derweilen
Benzin aus dem Tank in den Kanister.
„Hier, ich habe noch einen gefunden.“ Vicky
reicht mir einen weiteren leeren Benzinkanister.
Es dauert eine Weile, bis beide gefüllt
sind. Dann nehme ich sie und gehe zurück in Grechkins Haus.
Grechkins hat sich hinter dem Sofa
versteckt. Eine blutige Spur markiert seinen Pfad. Kaum habe ich das Zimmer
betreten, schüttelt er sich und murmelt etwas.
Mir fällt etwas ein. Ich fluche, greife in
meine Tasche und ziehe das Taschentuch hervor, dass ich dem korrupten „Dimedrol“[1] entwendet habe, Grechkins
bestem Freund. Ich gieße ein wenig Wodka darauf und wische damit die Pistole
sauber. Vicky nimmt das Taschentuch und geht nach draußen, um unsere
Fingerabdrücke im Wagen von Wheezie und Zak zu entfernen. Das sind die beiden
Drogensüchtigen, die Vicky und mich auf Befehl von Dimedrol in einer dunklen
Seitengasse überfallen und entführt haben. Im Kofferraum ihres Wagens haben sie
uns hierhergebracht.
„Was macht ihr denn?“, fragt Grechkin. Er
betont jedes Wort, und seine Aussprache noch immer klar. „Ich kann meine Beine
nicht mehr fühlen. Was ist bloß los mit mir?“
Ich betrachte das Profil dieses
schändlichen Nichts von einem Menschen, den die mysteriöse Benutzeroberfläche
in meinem Kopf bereits zum Tode verurteilt hat.
Level des sozialen
Status: -1,
meldet mir das System.
Dieses Level hat zu einem dramatischen
Abfall seiner sämtlichen Eigenschaften geführt. Die Debuffs, die er erlitten
hat, sind auch nicht gerade dazu gedacht, seine Energie zu steigern. Sein
Stoffwechsel befindet sich tief im roten Bereich, seine Mobilität ist praktisch
nicht-existent. Sobald er all seine Verbrechen gestanden hatte,
deklassifizierte ihn das System, brachte seinen sozialen Status in den
negativen Bereich und stellte mir die System-Quest, den Kinderschänder zu
eliminieren.
Genau das werde ich jetzt tun.
Ich höre jemanden stöhnen, aber es ist
nicht Grechkin. Wheezie streckt seinen mit Blut überströmten Kopf in die Höhe.
Sein Fuß zuckt. Er ist noch am Leben, aber ich bin noch nicht in der Stimmung,
ihn zu töten. Er kann am Leben bleiben … wenigstens einstweilen.
Ich werfe einen Blick auf die Wanduhr über
der Tür. Es ist lange nach drei Uhr früh. Ich halte mich vom Kamin fern, in dem
ein Feuer brennt, und gieße Benzin über Körper, Möbel und den Billardtisch. Den
zweiten Kanister leere ich auf der Veranda, im Flur draußen und auf der Treppe
in den ersten Stock. Mit dem Rest lege ich einen Pfad zum Ausgang.
Dann kehre ich ins Wohnzimmer zurück, halte
die Waffe im Taschentuch, platziere sie in Zaks Hand.
„Bitte, lasst mich nicht hier liegen!“,
fleht Grechkin. „Ich zahle euch eine Million Dollar … In bar! Bitte …“
Ich lasse die leeren Kanister im Haus
stehen, greife mir das Feuerzeug von der Sofalehne und betrachte noch einmal
den Ort unseres Albtraums.
Dann gehe ich hinaus. Vicky stellt sich
neben mich und lehnt den Kopf gegen meine Schulter.
Auch wenn es vielleicht keine Hölle gibt – wir
werden Grechkin seine ganz persönliche Hölle bereiten, hier auf diesem Planeten
Erde, in diesem speziellen lokalen Abschnitt unserer Galaxie.
Zur Hölle mit allem! Soll es lichterloh
brennen!
Aus dem Augenwinkel heraus nehme ich einen
Schatten wahr, der plötzlich auftaucht.
Das Letzte, das ich höre, sind mehrere
Schüsse, dann verliere ich das Bewusstsein, Vickys Schrei noch im Ohr.
Warnung! Gewaltsame
Aktivierung der heldenmütigen Fähigkeit Zeitschummel nach dem Tod des
Benutzers!
Datenbanksicherung
wird erstellt …
Protokolle werden
gelöscht …
Betriebsspeicher des
Benutzers wird gelöscht …
Neustart in 3 … 2 … 1
…
Erweiterte
Realität!-Plattform. Home Edition
ICH KONNTE NOCH immer die rauchigen, tiefroten Flammen
sehen, die sich in meine Netzhaut eingebrannt hatten; ich roch noch immer den
metallischen Geruch von Blut und hörte jemanden schreien; und ich schmeckte
Benzin und feuchte Erdkrumen in meinem Mund, als ich aufwachte.
„Phil! Ich bin wieder zu Hause!“ Vickys
fröhliche Stimme klang durch den Flur und weckte mich aus meinem Albtraum.
Sie kam ins Schlafzimmer, beugte sich über
mich und küsste mich.
„Vicky … Süße …“ Ich rieb mir die Augen und
streckte mich. Alle Knochen schmerzten. Dann konnte ich mich nicht länger
zurückhalten – ich griff nach ihr und zog sie an mich. Oder vielmehr über mich.
Lachend ließ sie sich in meine Umarmung
hineinfallen. Ich hielt sie fest, rollte unter ihr hervor und auf sie, stützte
mich dabei auf den Ellbogen ab.
„So früh hast du mich nicht zurückerwartet,
was?“ Vicky lächelte schelmisch. „Ich dachte, du würdest deine Freiheit
genießen! Vielleicht nicht mit anderen Frauen, aber ich war sicher, du würdest
dich über das Wochenende mit deinen Freunden treffen.“
„Nein, ich hatte dich noch nicht erwartet.
Und nein, ich wollte nicht meine Freiheit genießen. Du weißt genau, ich hasse
ausschweifende Wochenenden. Ich war am Morgen joggen, habe anschließend ein
wenig Marktforschung betrieben, um ein paar Dinge herauszufinden, dann hatte
ich meinen Boxunterricht und mein Krafttraining. Am Abend war ich so erschöpft,
dass ich beim Lesen von einem von Dr. Ichak Adizes‘ Büchern eingeschlafen bin.
Seine Texte sind so entspannend, ich bin glatt darüber eingedöst.“
Sie brachte mich mit einem Kuss zum Schweigen
und wühlte sich mit einer Hand unter mein T-Shirt.
„Warum hast du …“, begann ich. Ich wollte
wissen, warum sie so früh von ihren Eltern zurück war – sie hatte das gesamte
Wochenende dort verbringen wollen –, aber schlagartig verließ alles Blut mein
Gehirn und ließ sich anderswo nieder, und die nächste Viertelstunde lang hatte
ich nicht den geringsten Wunsch, ihr irgendwelche Fragen zu stellen.
Endlich lagen wir ausgepumpt nebeneinander.
Ich versuchte, die Überreste meines Traums zu erhaschen, konnte mich jedoch
lediglich an ein paar einzelne Bilder erinnern. Der Wald, ein Keller, Regen,
ein paar Erzschurken, und meine völlige Hilflosigkeit.
Dann fiel mir die unvollendete Frage von
vorhin wieder ein. „Was hat dich denn dazu gebracht, früher zurückzukommen als
geplant?“
„Ach, weißt du … Wir saßen alle beim
Abendessen, haben uns unterhalten, meine Eltern, mein Bruder und meine Tochter
…“ Sie hielt inne, erinnerte sich. „Und auf einmal hatte ich das Gefühl, ich
müsste dich sofort sehen. Ich hatte ganz unerklärliche Angst, dich zu
verlieren. Zuerst wollte ich dich nur anrufen, aber mein Vater beschloss,
Nachtfischen zu gehen, und meine Mutter hatte ihre eigenen Pläne. Also habe ich
Xena einen Gutenachtkuss gegeben und mich ins Auto gesetzt. Ich hatte es so eilig,
vor dem Einbruch der Dunkelheit anzukommen, dass ich beinahe einen Unfall
gebaut hätte. Der Wagen ist plötzlich ins Schleudern geraten und auf die
Gegenfahrbahn, gerade als ein weißer Land Cruiser vorbeirauschte …“ Ganz
nüchtern sprach sie weiter, als ob nicht sie es sei, der das passiert war.
„Dann kam ich in die Wohnung, hörte dich im Schlaf keuchen, und sofort ging es
mir besser!“
Ihr Bericht traf mich tief. Ich zog sie an
mich. Das war meine Empathie-Eigenschaft, die sich da auswirkte – ich konnte
beinahe physisch den möglichen Verlust und etwas wahrhaft Schreckliches spüren,
das uns hätte zustoßen können, und es dann zum Glück doch nicht tat.
Eine Weile lang lagen wir schweigend da.
Dann hob Vicky den Kopf von meiner Brust und sprang auf. Ich erhob mich
ebenfalls und folgte ihr ins Bad. Dabei konnte ich die Augen nicht von ihrem
wohlgerundeten Hinterteil lösen.
Zusammen stiegen wir unter die Dusche. „Wie
wäre es mit Abendessen?“, schlug Vicky vor. „Meine Mutter hat mir jede Menge
Pasteten mitgegeben.“
„Frittiert?“
„Nein, sie hat sie mir roh eingepackt …“
Mit dem Schwamm schlug sie nach mir. „Es gibt Ei und Zwiebeln, Kohl und
Kartoffeln.“
„Ich hab‘ ja nur gefragt!“ Ich duckte mich,
um dem nächsten Hieb auszuweichen. „Ich sende ihr meinen Dank! Okay, okay – ich
gebe auf!“
Ihre Reaktion war verständlich; sie hatte
es satt, sich von mir Vorträge über gesunde Ernährung anhören zu müssen. Aber
was sollte ich denn tun? Jedes Mal, wenn ich bei einer Portion Pommes herzhaft
zugriff, überschüttete mich das System mit Warnungen und Debuffs! Der
Benutzeroberfläche zufolge erhöhte jede einzelne Fritte das Risiko einer
Krebserkrankung und ungesunder Cholesterinwerte. Ich hätte das ja nun einfach
ignorieren können, aber wenn ich dann zusehen musste, wie meine Gesundheit ein
Tausendstel von einem Prozent sank, nahm mir das jede Freude am Genuss solcher
Dinge.
Während Vicky sich anzog, zerkleinerte ich
Gemüse für unser Abendessen. Nur so konnte ich die Wirkung von fettem Essen
neutralisieren, dank des Systems.
Vicky betrat die Küche. „Hör mal, Phil –
meine Mutter fragt mich ständig nach dir aus. Ich würde ihr ja gern etwas
erzählen, aber was soll ich denn sagen? Ich kann ihr ja wohl kaum erklären,
dass du so ein netter, zuverlässiger, intelligenter Junge bist, und dann die
Bombe deiner Arbeitslosigkeit platzen lassen. Sollen wir meine Eltern
vielleicht nächstes Wochenende gemeinsam besuchen? Es wird langsam Zeit, dich
ihnen vorzustellen.“
Meinen Eltern hatte Vicky sehr gut
gefallen. Als wir vor ein paar Wochen zusammen in ihrer Wohnung aufgetaucht
waren, hatten sie zuerst nicht gewusst, was sie sagen sollten; schließlich
hatten sie mich ohne Begleitung erwartet. Aber sobald die erste Überraschung
nachgelassen hatte, hatte meine Mutter sie sofort mit Freundlichkeit überschüttet.
„Steht nicht einfach so vor der Tür herum –
kommt rein!“
„Darf ich euch Vicky vorstellen?“, hatte
ich erklärt. „Wir sind zusammen. Kennengelernt haben wir uns bei der Arbeit.
Vicky, das sind …“
„Ich bin Kira, die Schwester dieses
Schwachkopfs“, war mir Kira ins Wort gefallen und hatte Vicky stürmisch umarmt.
„Komm rein, keine Förmlichkeiten. Fühl dich wie zu Hause!“
Es war alles hervorragend gelaufen. Der
Gedanke, ihre Eltern zu treffen, erfüllte mich allerdings mit Sorge.
Noch während ich darüber nachgrübelte,
wechselte Vicky zu einem anderen unangenehmen Thema. „Hör mal, was hast du denn
jetzt vor? Wie sieht dein Zeitplan aus? Bist du sicher, du willst dich nicht
doch mal bei White Hill, Ltd. bewerben? Ich kenne deren Personalchef. Die sind
verdammt große Vertriebshändler in ihrem Bereich, aber ihre Handelsvertreter
bleiben meistens nicht lange, also sind sie immer auf der Suche nach neuen
Leuten. Wie wäre es, wenn du es dort einmal versuchst? Selbst ein ganz
durchschnittlicher Handelsvertreter verdient dort ein ganz anständiges Gehalt,
und du bist ein verdammt guter. Ich könnte mal mit denen reden …“
„Bitte, Süße, fang nicht schon wieder damit
an. Ich weiß, du bist es gewohnt, dich nur auf dich selbst zu verlassen – also
erlaube mir doch bitte, das Gleiche zu tun. Ich habe eine Geschäftsidee und bin
sicher, die wird funktionieren. Aber ich muss noch eine Menge vorbereiten,
damit ich einen guten Start hinlegen kann. Schließlich betreibe ich diese ganze
Marktforschung nicht nur zum Vergnügen …“
„Aber du sprichst nie darüber! Warum kannst
du mir denn nicht einfach sagen, was du vorhast? Liegt es vielleicht daran,
dass du noch gar keine Idee hast? Oder versuchst du, dich selbst ebenso zu
beschummeln wie mich?“
„Ja, ich habe eine Idee“, setzte ich an.
Das Klingeln meines Handys unterbrach mich.
„Warte, ich beantworte nur schnell den
Anruf“, sagte ich.
Ich schaute auf das Display meines Handys.
Nun sieh mal einer an, wer mich da anrief – Alik, in voller Lebensgröße! Ich
hatte ihn schon eine Weile nicht mehr gesehen und auch nichts von ihm gehört;
nicht mehr, seit ich ihm meine alte Wohnung überlassen hatte.
Vicky nickte verständnisvoll und machte
sich an den Abwasch. Ich ging auf den Balkon, damit das Geräusch des laufenden
Wassers mich nicht störte.
„Ich muss Sie etwas fragen, Herr Panfilov“,
überfiel Alik mich sofort. „Wie sieht es mit Ihrer Firma aus? Wann fällt der
Startschuss?“
Mir wurde klar, er war schon halb
beschickert. „Momentan kann ich nicht sprechen. Es kann jetzt jede Woche
losgehen. Ich rufe dich an.“
Im Hintergrund hörte ich das Lachen einer
Frau, dann flüsterte er: „Es geht jeden Augenblick los! Und du wirst meine
Sekretärin!“
Wieder an mich gerichtet, sprach er in
normalem Ton weiter: „Herr Panfilov? Sorgen Sie dafür, dass alles seine Ordnung
hat. Wenn nicht …“
„Okay“, erklärte ich. „Ich habe keine
Ahnung, wo du bist, und wer noch da ist, aber ich schlage vor, du trennst dich
von ihr und rufst mich später wieder an. Ende und aus.“
Ich legte auf. Sein nahezu herablassender
Ton gefiel mir ganz und gar nicht. Ich blieb auf dem Balkon, wartete darauf,
dass er zurückrief.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Vicky aus
der Küche. „Wer war es denn?“
„Alles in Ordnung. Es dauert nicht lange.“
Ich wartete ein paar Minuten. Endlich
leuchtete das Display wieder auf und zeigte Aliks breites Grinsen. Das Foto
hatte ich für sein Profil in meinem Adressbuch von ihm geknipst.
„Ich bin jetzt allein, Phil, wie verlangt“,
sagte er in seiner normalen Stimme. „Was gibt’s?“
„Du sagst mir besser, mit wem du dich
gerade besäufst. Was wolltest du von mir?“
„Ähm, tut mir leid, wenn ich dir auf die
Nerven gegangen bin. Heute ist mein freier Tag, also bin ich mit ein paar Jungs
von der Arbeit einen trinken gegangen. Und da ist dieses Mädchen, Irina … Ich
glaube, ich mag sie.“ Alik hielt inne, ersichtlich unwillig, weiterzusprechen.
„Und?“
„Nun, ich habe ihr gesagt, dass ich
demnächst meinen Job kündige und meine eigene Firma aufziehe. So, als ob ich
dein Partner wäre. Sofort hat sie mich bedrängt, sie will unbedingt mitmachen.
Und ich …“
„Aha. Ich möchte dich um etwas bitten.
Bevor du irgendjemandem etwas versprichst, solltest du das zuerst mit mir
erörtern. Sonst kommt nichts dabei heraus. Einverstanden?“
„Natürlich. Tut mir leid, Phil. Du darfst
nicht denken, dass ich besoffen bin. Ich hatte nur ein paar Bier. Ich werde mir
jetzt Irina schnappen, und dann gehen wir zu mir.“
„Wo wohnst du jetzt?“
„Ich habe eine Wohnung ganz in der Nähe der
Arbeit angemietet. Sie ist ziemlich heruntergekommen, aber wenigstens ist sie
billig, insgesamt nur fünftausend[2]. Hör mal – soll ich
meinen Job jetzt kündigen? Und die Jungs ebenfalls?“
„Welche Jungs?“
„Na, meine Jungs – die Kerle, die dich
beinahe zu Brei geschlagen hätten, erinnerst du dich? Tarzan und die anderen
beiden? Sie arbeiten für mich. Und wir haben alle eine Kündigungsfrist von
einem Monat, die wir noch abarbeiten müssen.“
„Lass deine Jungs ruhig weiterarbeiten –
sie arbeiten ja bereits für dich. Aber du kannst nächsten Montag kündigen, ich
werde bald deine Hilfe brauchen. Es wird uns etwa einen Monat kosten, alles auf
die Beine zu stellen.“
„Jawohl, Boss! Und tut mir leid, dass ich
dich gestört habe. Trag mir das nicht nach!“ Er legte auf.
Meinen Berechnungen zufolge sollten drei
Wochen reichen, um alle Vorbereitungen für meine kleine Firma abzuschließen.
Ich hatte eine Menge Pläne, aber am Ende ließen die sich mit drei wesentlichen
Punkten zusammenfassen: Die Statistiken für meine physischen Leistungen über
den Durchschnitt heben, meinen Erkenntnislevel verbessern und auf den Abschluss
der Optimierung warten. Anschließend konnte ich mit dem Geschäft loslegen.
Beginnen wollte ich mit einer einzigen
Aktivität: Dem Eröffnen einer Personalvermittlungsagentur. Es war besser, sich
auf eine Sache zu konzentrieren, statt sich mit zu vielen Dingen zu verzetteln.
Außerdem verfügte ich bereits über zwei beeindruckende Erfolgsgeschichten, Alik
und Fettwanst. Und sobald unsere Agentur sich erst einmal einen Namen gemacht
hatte, konnte ich das Angebot nach und nach um andere Dienste erweitern.
Allerdings spielten noch zwei weitere
Faktoren eine Rolle. Zum einen hatte ich noch keine Ahnung, welche Vorteile
mich auf dem nächsten Erkenntnislevel erwarteten. Man wusste ja nie –
vielleicht konnte ich plötzlich verborgene Schätze mit einem simplen Blick auf
eine Landkarte finden, oder sogar neue Plutoniumvorkommen. Und zum zweiten
würde ein reicher Strom an Arbeitssuchenden mir ermöglichen, die besten
Mitarbeiter für meine eigene Firma abzuschöpfen.
Ich ging zurück zu Vicky. Sie hatte uns
bereits Tee eingegossen und saß am Küchentisch, die Füße hochgestellt, die Arme
um die Knie geschlungen, und betrachtete sehr interessiert etwas auf dem
Display ihres Handys. Als ich hereinkam, schaute sie mich fragend an.
„Das war Alik“, beantwortete ich ihre
stumme Frage. „Er hat mich dasselbe gefragt wie du – wann es endlich mit meinem
Unternehmen losgeht.“
„Alik? Wer ist denn das?“
Oh ja – die beiden waren sich bisher ja
noch nicht über den Weg gelaufen; es hatte sich noch keine Gelegenheit ergeben.
„Nur ein Freund“, erwiderte ich. Ich hatte
keine Lust, ihr irgendwelche Einzelheiten zu berichten. „Er wird mir in der
Firma aushelfen.“
Sie schien nicht sehr überzeugt, sagte
jedoch nichts. Ihr Profil in meiner Oberfläche meldete mir eine leicht
verschlechterte Laune und ein gestiegenes Interesse.
„Du wirst ihn bald kennenlernen“, erklärte
ich. „Und was meine Firma betrifft …“ Ich lachte. „Ich habe nicht nur eine
Idee, sondern ich weiß auch schon genau, wie ich das Geschäft anfangen und
weiterentwickeln muss. Ich bitte dich nur um ein wenig Geduld. Du wirst nicht
enttäuscht sein, das kann ich dir versprechen.“
„Phil, ich mache mir nur Sorgen um dich,
verstehst du das denn nicht? Ich kapiere einfach nicht, was in deinem Kopf vor
sich geht. Und ich habe Angst, dass du wieder in deinen alten Lebensstil
zurückfällst.“ Sie senkte den Blick.
„Schau mir in die Augen, Süße“, drängte
ich. Ich legte die Hand aufs Herz. „Ich schwöre dir bei allem, das mir heilig
ist: Dieser Gedanke liegt mir absolut fern! Ich setze einen Plan um, und dieser
Plan wird unserer kleinen Familie Erfolg bringen!“
Ein Funke Überraschung leuchtete in ihren
Augen auf. Sie lächelte. „Sind wir wirklich eine Familie?“
„Ja, das sind wir. Und nächstes Wochenende
werden wir deine Eltern besuchen, wie du es vorgeschlagen hast.“
„In dem Fall …“, bemerkte sie verschmitzt,
als ob ihr ein Gedanke gekommen wäre.
Plötzlich senkte sie den Kopf, ließ sich
die Haare übers Gesicht fallen, dann stand sie auf und breitete die Arme vor
sich aus. Es wirkte so, als ob sie die Szene mit Samara aus dem Horrorfilm Ring nachspielen würde. „Pass nur auf! Das uralte Böse ist in mir
erwacht! Und es will dich!“
* * *
AUCH WENN IN meiner Beziehung alles gut lief – für meine
Strategie des Aufstiegs in den Leveln konnte ich dasselbe leider nicht
behaupten. Alles, was ich in zwei Wochen erreicht hatte, waren ein Level 13 im
sozialen Status und +1 jeweils für Stärke und Beweglichkeit sowie +2 für
Durchhaltevermögen. Wie geplant, hatte ich die drei Systempunkte in die
Wahrnehmung (+2) und die Intelligenz (+1) gesteckt.
Auch wenn ich nun vielleicht klüger
geworden war – aufgefallen war mir das nicht. Meine verbesserte Wahrnehmung
allerdings hatte meine Welt sofort heller und farbenfroher erscheinen lassen.
Meine Sehfähigkeit lag nun bei 20/20, und mein Gehör war ebenso ausgezeichnet
wie mein Geschmackssinn. Ich konnte ohne Mühe zwischen verschiedenen Sorten Tee
und Kaffee unterscheiden, die vorher für mich alle gleich geschmeckt hätten.
Man muss sich das nur einmal vorstellen – bisher hatte ich den grässlichen
löslichen Kaffee ebenso genossen wie richtigen Kaffee aus frisch gemahlenen Bohnen!
Ja, und was meine Sehfähigkeiten betraf, so
hatte ich vorher am Nachthimmel ohne meine Brille gerade einmal den Polarstern
erkennen können. Jetzt jedoch … jetzt bereitet es mir ein ganz besonderes
Vergnügen, den Himmel und die verschiedenen Konstellationen zu studieren. Wie
zerbrechlich dieser Planet Erde doch war, und wie unbedeutend die Menschheit!
Vielleicht stimmte es sogar, diese Geschichte mit den höherrangigen Rassen, die
Tausende von Lichtjahren entfernt lebten und uns aufsuchten, wer wusste das
denn schon? Und vielleicht gab es tatsächlich diese rätselhaften Vaalphor, die
verdächtig wie Dämonen aus einem Horrorfilm aussahen.
Ich hatte eine ganze Weile lang die
Systempunkte nicht angerührt, die mir für meinen Fortschritt in den Leveln
verliehen worden waren. Insgesamt verfügte ich nun über fünf Punkte. Es wäre
nicht sehr klug gewesen, sie jetzt zu investieren. Schließlich kostete es
normalerweise nicht viel, in den unteren Leveln aufzusteigen. Deshalb hatte ich
beschlossen, auf das Ende der Optimierung meiner Lernfertigkeiten zu warten,
die insgesamt dreißig Tage in Anspruch nahm. Danach konnte ich die gesamten
verfügbaren Punkte ebenfalls in die Lernfähigkeiten stecken. Wenn ich alles
richtig berechnet hatte – ich klopfte dreimal auf Holz –, würde ich
anschließend wahrscheinlich in der Lage sein, mir neue Fertigkeiten in wahrhaft
kosmischer Geschwindigkeit anzueignen, und das Gleiche galt für die
Verbesserung meiner bereits bestehenden Fertigkeiten. Das war dann fast wie in
World of Warcraft … Ich musste nur noch zehn Tage warten, bis die
30-Tages-Frist abgelaufen war.
Momentan sah mein Profil wie folgt aus:
Philip “Phil” Panfilov
Alter: 32
Derzeitiger Status:
arbeitslos
Level des sozialen
Status: 13
Klasse: Buchleser.
Level: 8
Geschieden
Kinder: keine
Haupteigenschaften:
Stärke: 9
Beweglichkeit: 7
Intelligenz: 20
Durchhaltevermögen: 9
Wahrnehmung: 11
Ausstrahlung: 14
Glück: 10
Mit ihrem Level 8 hatte meine Fertigkeit im
Buchlesen die Fertigkeit Empathie mittlerweile überholt. Heutzutage las ich allerdings
keine Vertriebshandbücher mehr. Stattdessen wählte ich Sachbücher, die für
meine Fertigkeiten relevant waren. Durch praktisches Ausprobieren hatte ich
bereits herausgefunden, dass theoretische Kenntnisse über eine bestimmte
Fertigkeit – ob es sich dabei nun um das Boxen handelte oder das Verkaufen –
die Geschwindigkeit mächtig erhöhten, in der ich in den Leveln aufsteigen
konnte. In Martha Stewarts Kochbücher hatte ich mich bisher noch nicht
vertieft, aber die standen ganz oben auf meiner Liste. Ein hohes Level im
Kochen ermöglichte mir bestimmt, Essen zuzubereiten, das mir eine Menge Buffs
verpasste.
Wäre das nicht klasse, eine große Schüssel
Borschtsch[3] in dem Bewusstsein zu
leeren, dass mir das +2 Stärke und drei Stunden lang 30 % mehr Zufriedenheit
verschaffte?
Verglichen mit der Zeit, als ich noch mit
Yanna zusammenlebte, kochte ich heutzutage weit häufiger. Dadurch war ich
bereits ein weiteres Level aufgestiegen.
Wenn Vicky bei der Arbeit war,
konzentrierte ich mich auf das Gewinnen von Erfahrungspunkten. Wir standen
gemeinsam auf, frühstückten und unterhielten uns dabei über unsere Pläne für
den Tag oder einen Film, den wir am Abend zuvor gemeinsam gesehen hatten. Wenn
sie zur Arbeit ging, begab ich mich in das ziemlich heruntergekommene Fußballstadion
in der Nähe. Die Tore waren schief und ohne Netz, und der Rasen wurde von
gelblichem Unkraut nahezu erstickt.
Um den Fußballplatz herum lag eine
Aschenbahn, auf der streckenweise bereits wieder Gras wuchs. Hier lief ich
meine Runden und versuchte, Tempo und Ausdauer zu steigern. Jeder Tag brachte
mir einen Bruchteil mehr Fertigkeit ein, und das Laufen fiel mir zunehmend
leicht.
An einem schönen Morgen stellte ich
plötzlich fest, dass ich mich bereits in meinem achten Kilometer befand – und
ich war nicht einmal außer Puste! Kein Teil meines Körpers protestierte gegen
die Anstrengung. Hätte mich jemand angerufen, ich hätte mich ganz normal mit
ihm unterhalten können, und er hätte nicht einmal bemerkt, dass ich am Joggen
war. Ich hatte es auf drei weitere Punkte gebracht und nun Level 5 erreicht.
Nachdem ich erst einmal erkannt hatte, dass
mich die Erholung nur wenig Zeit kostete – dank meines wunderbaren
systemimmanenten Verstärkers –, begab ich mich jeden Tag ins Fitness-Studio.
Und zu meinem Boxunterricht. Auch wenn meine Stärke nicht so rasch zunahm wie
zu Beginn, fehlten mir doch nur noch weniger als 20 % bis zum menschheitlichen
Durchschnittslevel von 10. Das entsprach einer Woche Training.
Ich hatte auch eine neue Fertigkeit
erworben – Athletik. Anders als in The
Elder Scrolls III – Morrowind, wo die Athletik den Charakter nur beim
Laufen und Schwimmen unterstützt, nutzte mein Spielsystem sie als
Wettkampffähigkeit. Mit anderen Worten – diese Fertigkeit war der Beweis, dass
das System mich nun als einen richtigen Athleten betrachtete (wenn auch einen
Amateur), und nicht länger als Schlappschwanz.
Zugegeben, ich hatte auch längst begonnen,
mich tatsächlich wie ein Athlet zu fühlen. Meine Waschbrettbauch war zwar noch
immer unter einer Fettschicht versteckt, aber viel war von diesem Fett nicht
mehr übrig. Wenn ich noch einmal aus alter Gewohnheit meine Brille aufsetzte,
nur um zu überprüfen, ob die zunehmende Wahrnehmung meine Sicht tatsächlich
verbessert hatte, blieb sie nicht mehr auf meiner Nase sitzen. Mein Gesicht war
so viel schmaler geworden, sie rutschte einfach immer wieder herunter. Kira
behauptete, ich sähe auf einmal viele Jahre jünger aus. Nur mein noch immer
stark gerundeter Bauch erinnerte weiter an meine alte Figur. Er hing mir zwar nicht
mehr über den Gürtel, war jedoch noch immer sichtbar, solange ich ihn nicht
einzog.
Alik würde staunen, wenn er mich zu Gesicht
bekam. Das letzte Mal hatte ich ihn am Tag seines Auszugs aus der alten Wohnung
gesehen. Ich war vorbeigekommen, um zu überprüfen, ob er alles in einem
ordentlichen Zustand hinterlassen hatte. Er hatte mich nicht enttäuscht – die
Wohnung blitzte und blinkte, und er hatte sogar ein paar Dinge repariert. Meine
ehemalige Vermieterin fand nur einen Grund zur Beschwerde – die Krallenspuren,
die Boris im Sofa hinterlassen hatte. Angesichts des ehrwürdigen Alters dieses
Möbelstücks wurden wir uns insofern jedoch rasch über eine kleine Summe
Schadensersatz einig.
An diesem Tag hatte ich im Hof auch
Fettwanst getroffen. Er hatte sich gewaltig verändert. Vielleicht nicht so sehr
äußerlich, aber seine Vitalität war gewaltig angestiegen, ebenso wie seine
Laune. Der feste Job hatte ihm zu mehr Disziplin verholfen und seine Frau
beruhigt – ihr eingebauter Nörgel-Modus war inzwischen deaktiviert. Alles
zusammen hatte seine Zufriedenheit erhöht, den ehemals arbeitslosen Hitzkopf
gewaltig besänftigt und auch seine Gesundheit beträchtlich verbessert.
Auch der Kontakt zu meinen Freunden von der
Arbeit war nicht abgerissen. Für die Woche zuvor hatte ich eine Einladung zur
Geburtstagsparty von Cyril Cyrilenko erhalten, meinem ehemaligen Kollegen bei
Ultrapak. Eigentlich hatte ich Vicky mitnehmen wollen, doch sie weigerte sich
strikt. Sie behauptete, sie fühle sich nach der Sache mit Marina und Dennis
nicht wohl in dieser Runde, also war ich am Ende allein aufgetaucht.
Cyril hatte sich für ein bescheidenes, aber
gemütliches Lokal entschieden, mit eifrigen Kellnern, kaltem Bier, gutem Essen
und hervorragender Livemusik. Insgesamt waren wir zehn Gäste, alles seine
Freunde und Kollegen. Ich kannte keinen der anderem und setzte mich deshalb
zwischen Greg und Marina. Deren Probezeit war fast vorüber, und sie schienen
sich keine großen Sorgen um die Zukunft zu machen. Nachdem Dennis wegen der
sexuellen Belästigung von Marina gefeuert worden war und ich die Firma
verlassen hatte, wollte Pavel beide behalten, zumal ihre Umsatzzahlen
ausgezeichnet waren. Greg war einer dieser Leute, die noch in der Wüste Sand
verkaufen können, und Marina arbeitete sich durch die Liste potenzieller
Kunden, die ich zusammengestellt hatte, und zwar nach dem Motto „Kein Tag ohne
Abschluss“.
Nach der Versöhnung zwischen Greg und
seiner schwangeren Frau Alina schien sein väterlicher Instinkt jäh erwacht zu
sein. Nach wenigen Stunden entschuldigte er sich und begab sich nach Hause.
Marina hatte übrigens einen Begleiter mitgebracht, irgendeinen Typen, der
gerade an seiner Doktorarbeit saß.
Es machte mich glücklich, dass ich in der
Lage gewesen war, meinen Freunden zu helfen und ihren Lebensweg ein wenig zum
Guten zu beeinflussen. Und wer weiß – vielleicht hatten die kleinen Anpassungen
irgendwann ja eine dramatische Auswirkung. Die vielleicht sogar bereits im
Gange war.
Ach, übrigens – das System betrachtete mein
Erscheinen bei der Geburtstagsfeier als sozial bedeutungsvolle Handlung, für
die ich mit Erfahrungspunkten belohnt wurde. Anscheinend wurde es als Tugend
betrachtet, immer zu den eigenen Freunden zu halten, in guten Zeiten ebenso wie
in schlechten.
Von Yanna hatte ich seit der Scheidung
nichts mehr gehört. Obwohl meine Mutter aus mir völlig schleierhaften Gründen
ihre Mutter angerufen und sie gefragt hatte, wie es ihr ging. So war meine
Mutter nun einmal – immer machte sie sich um alle Sorgen. Soweit ich das
verstanden hatte, war die Unterhaltung knapp und kurzangebunden verlaufen und
hatte mit Frau Orlovas Forderung geendet, ihre „Familie in Frieden zu lassen“.
Meine Mutter hatte das voller Verständnis
akzeptiert. Ich hatte all das nur ganz zufällig über meinen Vater
herausgefunden, als wir beide gemeinsam in unser Sommerhaus gefahren waren, um
dort ein Badehaus[4] zu bauen. Die
Gelegenheit hatte ich gleich genutzt, um im Gemüsegarten Unkraut zu jäten. Was
meine landwirtschaftlichen Fertigkeiten auf Level 2 brachte. Außerdem hatte ich
mit einer Handpumpe den gesamten Garten gewässert. Das ist eine Tätigkeit, bei
der kein Training im Fitness-Studio mithalten kann. Meine Muskeln beschwerten
sich bis heute über all die Anstrengung.
An einem Morgen war ich auf dem Rückweg vom
Joggen wieder einmal Herrn Panikoff über den Weg gelaufen, meinem lieben alten
Rentner. Was eine ziemliche Anspannung in mir ausgelöst hatte. Gerade war der
gesamte düstere Vorfall mit Valiadis und Khphor bei mir ein wenig in
Vergessenheit geraten – und nun erinnerte sein Anblick mich wieder daran.
Insgeheim hatte ich befürchtet, es könnte erneut etwas Unangenehmes passieren,
doch meine Befürchtungen hatten sich zum Glück nicht erfüllt. Er hatte mir
lediglich eine neue Quest aufgetragen. Anscheinend hatten ihm seine Kinder
einen Tablet-PC geschenkt, auf dem die App seiner Lieblings-Sportzeitung
bereits installiert war. Nur funktionierte die natürlich nicht, sobald er außer
Reichweite seines WLAN-Netzes geriet. Kaum hatte ich ihn zurück in die Nähe
unseres Gebäudes gebracht, bestand die Netzwerkverbindung wieder und er konnte
die App aufrufen. Was mir weitere 5 Punkte Ansehen bei Herrn Panikoff eintrug,
allerdings nur sehr wenige Erfahrungspunkte.
Ich selbst hatte mir inzwischen ein Laptop
der Mittelklasse angeschafft. Es war perfekt für mein Schreiben und die
Onlinesuche. Es war leicht, besaß einen Breitbildmonitor, und der Akku hielt
ewig. Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, das Gerät in meiner Sporttasche
mitzuführen. So konnte ich auf dem Rückweg vom Fitness-Studio in einem Café
einkehren und ein wenig schreiben. Das hatte sich rasch zu meiner Lieblingszeit
des Tages entwickelt. An ein Manuskript mit Romanlänge musste ich mich erst
noch heranwagen, aber meine Studien und Kurzgeschichten fanden immer ihre
Leserschar und ernteten Likes und Kommentare. Das allein war schon Motivation
genug weiterzuschreiben; von der Tatsache einmal ganz zu schweigen, dass sich
dadurch mein Rang in diesem Portal für Schriftsteller mehr und mehr
verbesserte.
Ich war sogar so weit gegangen, die
Geschichte von Alik und Fettwanst aufzuschreiben, allerdings beide kombiniert
in einer einzigen Person. Dieser Story war ein überraschender Erfolg beschieden
gewesen – sie war unter den am häufigsten gelesenen Kurzgeschichten des Portals
gelandet. Die Leser verlangten lauthals nach einer Fortsetzung. Die ich ihnen
allerdings nicht liefern konnte; die beiden Vorbilder waren zu sehr damit
beschäftigt zu arbeiten und ein weitgehend ereignisloses Leben zu führen. Wenn
das so weiterging, nahm ich womöglich eines Tages eine Science-Fiction-Story in
Angriff, in der dem Protagonisten dieselbe Systemoberfläche eingepflanzt wurde,
über die ich nun verfügte.
Der „Held“ konnte ein nicht sehr
hochgewachsener Kerl sein, der zu viel Angst hatte, um sich auf Auseinandersetzungen
einzulassen. Warum schließlich nicht? Das konnte mit Gewissheit interessant
werden.
Jedenfalls machten meine Fertigkeiten im
Schreiben und in MS Word Fortschritte in der Geschwindigkeit von Knoten, wie
Schiffe – langsam, aber stetig. Das zeigte sich sowohl in deren numerischem
Wert als auch darin, wie ich mich dabei fühlte. Die Worte flossen mir leicht
aus der Feder, meine Finger flogen nur so über die Tastatur, und Ideen tauchten
aus dem Nichts auf. Letzteres wurde so heftig, ich hatte auf meinem Smartphone
sogar eine spezielle Datei angelegt, um sie alle festzuhalten.
Mein veränderter Lebensstil hatte sich
indirekt auch auf meine anderen Fertigkeiten ausgewirkt: Selbstdisziplin (+2),
Selbstkontrolle (+1), Durchhaltevermögen (+2) und langfristige Planung (+1).
Heutzutage fand ich es tatsächlich einfacher, meine eigenen Pläne umzusetzen.
Ich gebot allen Versuchen Einhalt, Dinge zu verschleppen, und wenn ich einmal
feige Momente der Art „Dazu habe ich momentan einfach keine Lust“ erlebte,
setzte ich ihnen sofort ein Ende.
Die weitaus meisten der Erfahrungspunkte,
die ich mittlerweile hatte sammeln können, stammten aus der Verbesserung von
Fertigkeiten und Eigenschaften. Einige allerdings hatte ich erworben, indem ich
Aufgaben erledigte, die ich mir selbst gestellt hatte. Dabei zählte jedes
sportliche Ziel (etwa der Versuch, einhundert Meter weiter zu laufen als am
Vortag), ebenso wie jede Anstrengung, meine Familie bei ihren alltäglichen
Aufgaben zu unterstützen. Als ich meinem Vater im Sommerhaus geholfen hatte,
wurde ich dafür mit satten 500 Erfahrungspunkten belohnt.
Was mich ein wenig ärgerte war, dass ich
mein Erkenntnislevel noch immer nicht hatte verbessern können. Längst hatte ich
es mir zur Gewohnheit gemacht, alles zu identifizieren, das mir begegnete. Das
geschah inzwischen so automatisch, wie man sich in der Straße umdreht, um eine
schöne Frau auch von hinten zu bewundern … Doch es schien einfach nicht genug
zu sein. Der Fortschrittsbalken dieser Fertigkeit war bei etwa 40 % zwischen
den Leveln 2 und 3 eingefroren. Hunderte von Objekten hatte ich mittlerweile
identifiziert, und es hatte mir gerade einmal Bruchteile eines einzigen
Prozents eingebracht.
Das Gleiche galt für die Landkarte der
Benutzeroberfläche. Wann immer ich Martha dazu ausfragte, zwängte ihre Antwort
mich in eine Zwickmühle: Mein Erkenntnislevel reichte nicht aus, um mir die
Antwort auf die Frage zu erschließen, wie ich mein Erkenntnislevel verbessern
konnte … Irgendwie hatte ich die Vorstellung, eine Steigerung erzielen zu können,
wenn ich die Oberfläche zum Nutzen der Gesellschaft einsetzte. Alternativ
konnte die Drosselung des Levels natürlich auch mit meinem sozialen Status
verbunden sein. Allerdings hatte ich keine Möglichkeit, die Richtigkeit dieser
beiden Theorien zu überprüfen.
Immerhin gab es auch gute Nachrichten: Die
größte Verbesserung hatte ich, abgesehen vom Joggen, beim Boxen erreicht (+3) –
was mich insgesamt auf Level 4 hob.
Hauptfertigkeiten und
-fähigkeiten:
Lernfertigkeiten: 3 (eine primäre Fertigkeit, die sich
derzeit in der Optimierung befindet: +4)
Lesen: 8
MS Word: 7)
Empathie: 7
Computerfertigkeiten: 7
Verkaufen: 6
Kommunikationsfertigkeiten: 6
Kreatives Schreiben: 6
Fertigkeiten in der russischen Sprache: 6
Joggen: 5
Intuition: 5
Kochen: 5
Online-Suche: 5
MS Excel: 5
Boxen: 4
Beharrlichkeit: 4
Entscheidungsfindung: 4
Nahkampf: 4
Selbstdisziplin: 4
Selbstkontrolle: 4
Verführung: 4
Fertigkeiten in der englischen Sprache: 3
Langfristige Planung: 3
Tippgeschwindigkeit: 3
Manieren: 3
Autofahren: 2
Fahrradfahren: 2
Führung: 2
Marketing: 2
Kartenlesen: 2
Öffentliches Reden: 2
Angeln: 2
Landwirtschaft: 2
Überzeugungskraft: 2
…
Athletik: 1
…
World of Warcraft spielen: 8 (eine sekundäre
Fertigkeit, die sich derzeit in der Optimierung befindet: −8)
Systemfertigkeiten:
Erkenntnis: 2
Optimierung: 1
Heldenmut: 1
Verfügbare
Systemfertigkeitspunkte: 5
Was allerdings das Geld betraf, das ging
mir langsam aber sicher aus. Nachdem ich die drei Monatsmieten für die neue
Wohnung überwiesen und mir das Laptop gekauft hatte, musste ich ja immer noch
meinen Boxunterricht bezahlen – und ab und zu wollte ich Vicky einfach stilvoll
ausführen.
Ich hatte einen gewissen Betrag für
schlechte Zeiten zurückgelegt. Den wollte ich jedoch nicht angreifen, sondern
war fest entschlossen, meine finanzielle Disziplin zu verbessern. Geld ausgeben
ist einfach; es sparen und vermehren hingegen sehr viel schwerer.
* * *
DIE ZWEITAUSEND, DIE ich meinem Boxtrainer
für jede Stunde zu zahlen hatte, gingen verdammt ins Geld. Wenn ich mit dem
bisschen, das mir noch zur Verfügung stand, weitertrainieren wollte, musste ich
mich der Boxgruppe anschließen, um die Kosten zu verringern.
Deshalb wandte ich mich nach dem Unterricht
an meinen Trainer. „Herr Matov, ich muss mit Ihnen reden.”
“Was ist denn?” Er schaute auf seine Uhr,
war offensichtlich in Eile. „Also gut, aber mach es kurz.“
„Als ich das erste Mal hier war, haben Sie
sich geweigert, mich in die Boxgruppe aufzunehmen, erinnern Sie sich noch? Aber
was glauben Sie – bin ich jetzt gut genug? Bin ich bereit für die Gruppe?“
Er runzelte die Stirn. „Ich werde es dich
wissen lassen, wenn du bereit bist. Meiner persönlichen Meinung nach hinkst den
anderen noch immer ziemlich hinterher. Du würdest sie in ihrem Training
bremsen. Du hast gewaltige Fortschritte gemacht, da stimme ich dir zu. Der
Vergleich zwischen dir jetzt und damals ist wie der zwischen Tag und Nacht.
Aber in der Gruppe sind Jungs, die seit ihrer frühen Kindheit trainiert haben,
und du bist noch immer ein Schwächling. Jeder auch nur einigermaßen gute Boxer
kann dich sofort k.o. schlagen.“
„Ja, aber …“
„Ist dir das wirklich ernst? Hör mal, uns
steht ein wichtiges Turnier bevor, und ich habe keine Zeit, dich in der Gruppe
zu verhätscheln. Für dein eigenes Training bezahlen, das ist eine Sache – aber
wenn du mich Zeit kostest, die ich für die Jungs brauche, die wirklich
vielversprechend sind und hart für den Wettkampf trainieren, ist das eine ganz
andere. Das kommt überhaupt nicht in Frage. Mach noch sechs Monate weiter, und
dann sehen wir mal.“
„Aber ich habe nicht das Geld für weitere
sechs Monate! Ich kann Sie noch ein paar weitere Sitzungen bezahlen, und danach
muss ich entweder aufgeben, oder mich einem anderen Fitness-Studio
anschließen.“
„Bedeutet das, du stellst das individuelle
Training ein?“
„Ich fürchte ja. Mehr als für zwei weitere
Stunden kann ich nicht bezahlen. Aber ich will das Boxen nicht aufgeben.“
„Jetzt hör mal, ich muss los – wichtige
Leute warten auf mich. Ich trainiere zwei Gruppen – die eine montags, mittwochs
und freitags, und die andere dienstags, donnerstags und samstags. Beide
beginnen um neunzehn Uhr. Komm einfach mal vorbei, und wir schauen, wie du dich
machst. Wenn du nicht mithalten kannst, schmeiße ich dich hinaus, und fertig.
Melde dich am Empfang an und zahle den Mitgliedsbeitrag. So, und jetzt muss ich
mich beeilen. Wir sehen uns!“
Er ließ mich stehen. Ich überlegte, wie ich
das alles in meinem Zeitplan unterbringen konnte. Die Wochenenden wollte ich
mir freihalten, um mit Vicky ausgehen zu können. Also musste es wohl die Gruppe
werden, die jeden Montag, Mittwoch und Freitag trainierte.
In diese Gedanken versunken, begab ich mich
in den Umkleideraum. Irgendein Saftsack rauschte an mir vorbei und stieß mich
dabei an.
Er schwang herum. „Ist dir der Flur etwa
nicht breit genug? Wenn du willst, kann ich dich gerne ein bisschen kleiner
machen.“
Ich beschloss, keine große Sache daraus zu
machen. „Tut mir leid. Ich war mit den Gedanken ganz woanders.“
„Yuri!“, brüllte jemand aus der Boxhalle.
„Wir warten alle auf dich! Setz deinen Arsch in Bewegung!“
„Ich komme ja schon!“, brüllte Yuri zurück.
Dann wandte er sich wieder mir zu. „Hör mal, bist du der Kerl, der mit Matov
trainiert?“
„Ja. Na und?“
„Aha – ich kapiere. Du bist also der Knabe
reicher Eltern, der sich jeden Tag Privatstunden leisten kann. Wie wäre es zur
Abwechslung mit einem kleinen Sparring mit mir?“
„Nein danke.“
„Wie du willst. Wir sehen uns …
Schlappschwanz.“ Er lachte und verschwand in der Halle.
Ja, natürlich … Nicht mit mir! Er hatte im
Boxen Level 7 erreicht. Im Vergleich dazu war mein Level 4 gar nichts.
Ich rief auf dem Smartphone meinen Kalender
auf. Ohne den hätte ich meinen strengen Zeitplan niemals einhalten können und
wüsste im Zweifel nicht einmal, was für ein Wochentag es war. Ah – heute war
Mittwoch. Was bedeutete, Yuri trainierte in der Gruppe, der ich mich eigentlich
hatte anschließen wollen. Nein, Boxunterricht inmitten solch unfreundlicher
Grobiane, danach stand mir wirklich nicht der Sinn.
Ich revidierte also meine Entscheidung und
begab mich zum Empfang. Dort legte ich mein magnetisches Spindarmband auf die
Theke.
Eine zierliche Blondine mit dem Namen Katja
nahm es an sich und gab mir meine Karte. „Bist du fertig für heute, Phil?“ Sie
schenkte mir ein strahlendes Lächeln. „Wie ist es gelaufen?“
„Alles bestens, danke. Hör mal, Katia, ich
werde das Einzeltraining bei Matov einstellen und mich seiner Gruppe
anschließen. Kannst du mich für Dienstag, Donnerstag und Samstag eintragen?“
„Einen Augenblick. Wann fängst du in der
Gruppe an?“
„Nächste Woche. Am Wochenende bin ich
unterwegs, und diese Woche möchte ich den Einzelunterricht abschließen, wenn
das möglich ist.“
„Natürlich“, erwiderte sie und tippte etwas
in den Computer ein. „Also, Boxtraining am Abend. Der Kurs beginnt um neunzehn
Uhr. Du darfst nicht zu spät kommen, sonst lässt Matov dich nicht mitmachen.“
„Ich weiß“, lächelte ich. Eine Minute zu
spät, und ich hatte verloren ...
„Willst du gleich bezahlen? Es kostet
viertausend pro Monat.“
„Ich fürchte, so viel habe ich nicht bei mir.
Ich bezahle direkt vor dem Gruppentraining.“
„In Ordnung. Bis dann!“
* * *
WIEDER ZU HAUSE, begrüßte mich Boris, die weibliche Katze,
und beschwerte sich bitterlich. Ihr Miauen war gefüllt mit Katzenflüchen. Ich
war den ganzen Tag unterwegs gewesen; wahrscheinlich hatte sie mich vermisst.
Oder vielleicht war sie auch nur hungrig.
„Darf ich mich wenigstens umziehen, bevor
ich dich füttere?“, bat ich. „Meine Klamotten sind total durchnässt!” Es
regnete mächtig draußen.
Sie ließ mich jedoch nicht in Ruhe, strich
weiter um meine Beine.
Meine Unterhaltungen mit Boris – und vorher
auch mit Richie der Töle – entsprachen wahrscheinlich nicht dem Muster, den
eine geistig völlig gesunde Person gezeigt hätte. Mir ist sehr wohl bewusst,
wie naiv und dumm es ist, in jeder Person und jedem Tier ein menschliches Wesen
zu sehen, aber ich konnte nun einmal nicht anders.
Ich öffnete den Küchenschrank. Das Regal,
auf dem ich das Katzenfutter aufbewahrte, war leer. Ich hatte wieder einmal
vergessen, neues zu kaufen. Es drängte mich, sofort loszustürzen, doch ich
zögerte; ich wollte nicht schon wieder nass werden.
„Trink einfach Milch“, wies ich die Katze
an.
Entgegen der üblichen Auffassung war Boris
auf Milch überhaupt nicht scharf. Ich habe keine Ahnung, warum sie gewerblich
hergestelltes Katzenfutter und Fleisch vorzog. Vielleicht versetzten die Firmen
das Katzenfutter mit irgendetwas, um die Tiere süchtig danach zu machen. Heute
allerdings war sie so hungrig, dass sie sich sogar über die Milch hermachte.
Ich wollte sie jedoch nicht weiter
enttäuschen und rief daher Vicky an.
„Ich bin bald bei dir“, erklärte sie.
„Klasse – ich freue mich schon. Kannst du
mir einen Gefallen tun und mir etwas mitbringen?“
„Klar. Was brauchst du?“
„Kaffee und Katzenfutter.“
„Kein Problem. Küsschen! Wir sehen uns
gleich!“
Für ein wenig Unterhaltung im Hintergrund
stellte ich den Fernseher an. Dann schälte ich mich aus meinen nassen Klamotten
und warf sie in die Waschmaschine. Plötzlich hörte ich eine sehr dringende und
ängstliche Stimme aus dem Gerät kommen.
„Fahndungsaufruf! Gesucht wird Joseph
Kogan, ein sechsjähriger Junge. Er wurde zuletzt gesehen im örtlichen
Einkaufszentrum in … An Kleidung trägt er … Bitte melden Sie sich beim Such-
und Rettungsteam …“
Das war genau das Einkaufszentrum, das ich
häufig nutzte! Rasch ging ich zurück ins Wohnzimmer, um ja keine wertvollen
weiteren Informationen zu versäumen: das Bild des Jungen, sein Geburtsdatum …
Beschreibung und Größe. Jetzt verfügte ich über ausreichend HIDD-Punkte.
Ich öffnete die Systemlandkarte. Er war am
Leben, hielt sich jedoch außerhalb der Stadt auf, irgendwo im Nordosten.
Ich zoomte hinein, um mir das Haus näher zu
betrachten. Es sah nicht gerade wie eine vornehme Villa aus. Ich erblickte
Außengebäude und einen eingezäunten Hof. Neben dem Haus parkte ein weißer
Geländewagen. Bewegung konnte ich keine erkennen; doch der Marker des Jungen
zitterte auf der Karte, was bedeutete, er bewegte sich langsam im Haus herum.
Ich holte ein Lexikon aus dem Regal und
griff mir ein robustes uraltes Nokia-Handy, das ich dahinter versteckt hatte.
In einem etwas dubiosen Shop nahe einer Unterführung, der Handys reparierte,
hatte ich für genau diese Zwecke gleich mehrere dieser antiken Stücke erworben.
Ich zog mich an, steckte Mobiltelefon, Akku
und eine SIM-Karte in die Tasche und ging nach draußen, nachdem ich ein
Uber-Taxi bestellt hatte.
Um nicht gleich wieder nass zu werden,
wartete ich im Eingang. Nach etwa fünf Minuten fuhr ein ziemlich mitgenommener
alter Lada vor. Der Fahrer hatte recht schlechte Bewertungen auf Uber, und kaum
waren wir losgefahren, wurde mir auch sofort klar warum. Er legte umgehend mit
einem wahren Redestrom los und beschwerte sich über alles und jeden.
„Himmel, ich habe das Auto gerade erst
gewaschen, und jetzt regnet es in Strömen! Ich werde ewig brauchen, um diese
ganzen schmutzigen Fußabdrücke wieder aus den Teppichen zu entfernen!“
Ich lachte mitfühlend – was er jedoch als
Angriff gewertet haben musste.
„Passt Ihnen irgendwas nicht?“, blaffte er.
„Ich sitze in meinem eigenen Wagen und kann tun und lassen, was ich will! Wohin
soll’s gehen?“
„Ich habe das Ziel beim Buchen angegeben“,
erwiderte ich leicht verärgert. Ich war gerade dabei, eine Suchanfrage zu
formulieren, und er lenkte mich ab.
„Ist es so schwer, mir die Frage zu
beantworten?“
„Nein, natürlich nicht. Vernadsky-Straße
306.“
„Welcher Vernadsky ist das denn – der
Geowissenschaftler?“, prahlte er mit seinen Kenntnissen.
„Keine Ahnung. Vielleicht.“
„Diese jungen Leute heutzutage! Keiner
kennt mehr die Geschichte seines Heimatlandes! Als ich noch jung war …“
In meiner Tasche vibrierte mein normales
Handy. Es war Vicky.
„Wohin bist du denn verschwunden?“, lachte
sie. „Hast du dich entschlossen, das Katzenfutter doch selbst zu kaufen? War
Boris zu ungeduldig, auf mich zu warten?“
„Nein, ich schaue mir nur ein Büro an“,
improvisierte ich. „Es ist ein gutes Angebot, das will ich mir nicht entgehen
lassen.“
„Nein – wirklich? Toll! Okay, ich warte auf
dich, du kannst mir später alles erzählen. Ich werde uns etwas zum Abendessen
kochen. Ich liebe dich!“
„Ich dich auch.“ Ich steckte das Handy
wieder ein.
„Ein Büro will er sich anschauen!“,
murmelte der Fahrer halblaut. „Heutzutage ist doch jeder ein Geschäftsmann. All
diese iPhones, Büros, Unternehmen … Wohin man auch blickt – nichts als
Kommerz!“
Ich versuchte, seine Beschwerden
auszublenden. Inzwischen war ich weit genug gekommen, um das zu tun, was ich
vorgehabt hatte, als ich die Wohnung verließ und mich wieder in den Regen
hinausbegab.
Ich steckte Akku und SIM-Karte ins Nokia
und schaltete es ein. Dann tippte ich eine SMS-Nachricht ein:
Sie können den
vermissten Jungen Joseph Kogan in einem Haus neben der nordöstlichen
Schnellstraße finden, 30 Kilometer außerhalb der Stadt. Die exakten Koordinaten
sind …
Die SMS schickte ich an die beiden Nummern
des Such- und Rettungsteams. Anschließend nahm ich die SIM-Karte wieder heraus,
zerbrach sie, entfernte den Akku, öffnete das Fenster einen Spalt und warf
alles hinaus auf die Straße.
„Ist Ihnen zu warm?“, fragte der Fahrer und
warf einen missbilligenden Blick auf das offene Fenster.
„Mir? Ja, es ist ein wenig stickig hier drin.
Ach, und ich habe meine Meinung geändert, ich werde nicht mehr in die
Vernadsky-Straße fahren. Können Sie mich zu einer anderen Adresse bringen?“
Nach meiner Lüge Vicky gegenüber musste ich
nun das Fundament für meinen späteren Bericht legen. Also suchte ich hastig auf
der Landkarte nach angebotenen Geschäftsräumen. Ich verfeinerte die Suche:
weniger als fünfzig Quadratmeter, Sicherheitsdienst und Reinigungskräfte in der
Miete mit inbegriffen, in unmittelbarer Nähe meiner Wohnung, Miete zwischen …
Ich fand eine geeignete Gewerbeimmobilie
nur sechs Häuserblocks von meiner Wohnung entfernt. Ich googelte die Adresse
und rief die Nummer an, die auf der Website angegeben wurde, doch niemand nahm
ab.
Ach, egal. Selbst wenn in der Verwaltung um
diese späte Stunde niemand mehr war, konnte ich mir das Gebäude doch wenigstens
anschauen. Dann hatte ich Vicky auch etwas zu berichten.
Also, auf zum neuen Ziel!
Der Fahrer meckerte vor sich hin. Ich
schaute hoch.
„Hallo?“, schnauzte er ungehalten. „Also
wohin jetzt?“
„Chekhov-Straße 72, bitte.“
Kaum hatte ich mich zurückgelehnt, in dem
Versuch, mich zu entspannen, klingelte mein Handy erneut.
Die Nummer wurde nicht angezeigt. Eine
Weile lang schaute ich auf das Display und überlegte, ob ich den Anruf annehmen
sollte oder nicht. Ich hatte keine Angst vor Fremden; das war es nicht. Aber im
Augenblick hatte ich keine Lust, mich mit dem Polizeiermittler Igorevsky zu
unterhalten, der möglicherweise der Anrufer war.
Am Ende wurde mir jedoch klar, nicht zu
wissen, wer mich da anrief, das war schlimmer als eine mögliche Unterhaltung
mit einem Polizeibeamten.
Auch dem Fahrer gefiel mein Zögern
überhaupt nicht. „Gehen Sie nun endlich dran, oder was?“
Ich meldete mich.
„Hallo – Sie haben gerade diese Nummer
angerufen“, erklärte eine männliche Stimme.
„Das stimmt. Spreche ich mit jemandem vom
Chekhov-Gewerbezentrum?“
„Ja – worum geht es?“, war die Antwort,
sehr ungeduldig vorgebracht. „Was wollten Sie?“
„Ich habe Sie wegen eines Büros angerufen,
das Sie zu vermieten haben. Kann ich mir die Räume jetzt gleich einmal
anschauen?“
„Was hatten Sie sich denn vorgestellt?“,
fragte er, sofort ganz geschäftsmäßig. „Wie groß?“
„Um die fünfzig Quadratmeter.“
„Ja, wir haben da etwas, das ich Ihnen
anbieten kann. Aber ich werde das Büro in einer halben Stunde verlassen.
Glauben Sie, Sie schaffen es bis dahin?“
„Ich werde in etwa zehn Minuten da sein.“
„Gut. Ich treffe Sie beim Eingang.“
Vorgestellt hatte er sich mir zwar nicht,
er schien jedoch glücklich über einen potenziellen neuen Mieter zu sein. Auch
meine Laune war gestiegen. Der ursprüngliche Grund für meinen Anruf bei ihm –
mein Wunsch, Vicky mein plötzliches Verschwinden plausibel zu machen – war
bereits in den Hintergrund getreten. Jetzt wollte ich unbedingt das Büro sehen,
in dem ich möglicherweise meine Firma auf die Beine stellen würde. Was, wenn es
mir tatsächlich gefiel?
Der Fahrer fuhr vor dem Gewerbezentrum vor.
Er hielt direkt am Bordstein, statt auf den Parkplatz zu fahren.
„Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend“,
erklärte ich, ganz aufrichtig. Er konnte etwas Positives wirklich gut
gebrauchen.
Ohne sich die Mühe einer Erwiderung zu
machen, fuhr er mit quietschenden Reifen davon, kaum dass ich die Tür
geschlossen hatte.
Ich schaute mich gründlich um. Der
Parkplatz war nahezu leer; von zwei schäbigen Autos einmal abgesehen, die auf
den für die Verwaltung bestimmten Plätzen standen.
Das fünfstöckige Verwaltungsgebäude aus den
Zeiten der Sowjetunion war ebenso viereckig wie hässlich. Eine riesige Treppe
mit sich lösenden Fliesen führte zu den Eingangstüren. Zwei Blumenbeete
flankierten den Eingang, und entlang eines Zaunes verlief eine ungepflegte
Hecke. Eine massige Markise aus Beton ragte aus der Fassade hervor. Darauf
verkündeten unaufdringliche Buchstaben aus Vinyl, dass man es hier mit dem
Chekhov-Gewerbezentrum zu tun hatte.
Ich stieg die Stufen hinauf und lehnte mich
gegen die schwere Holztür.
Im Gebäude begrüßte mich der typische
Bürogeruch. Die Eingangshalle hatte die Aura der Regierungsgebäude aus der
Sowjetzeit bewahrt, komplett mit der lokalen Version des Maxwellschen Dämonen:
Eine alte Dame am Empfang, die hinter einem schwächlichen Schreibtisch saß, auf
dem ein uraltes Telefon mit Wählscheibe stand. Ihresgleichen entschied
normalerweise darüber, wer berechtigt war, das Allerheiligste zu betreten.
Obwohl sie offensichtlich gerade dabei gewesen war einzudösen, war sie doch
sofort ganz Aufmerksamkeit. Meine Ankunft schien einen Reflex in ihr ausgelöst
zu haben.
„Was glauben Sie wohl, wohin Sie gehen?“,
fragte sie voller Kampfeslust, die mein Überschreiten einer unsichtbaren
Schwelle ausgelöst haben musste.
„Guten Abend! Tut mir leid, ich kenne Ihren
Namen nicht.“ Meine Empathiefertigkeit gab mir den richtigen Ansatz ein.
Solange ich Respekt für ihr Alter zeigte, war alles in Ordnung.
„Ich bin Tante Ira.“
„Entschuldigen Sie bitte, Tante Ira, ich
bin hier wegen eines Büros, das ich vielleicht anmieten möchte. Als ich vorhin
angerufen habe, hat man mir gesagt, ich könnte gleich vorbeikommen, um mir die
Räume anzuschauen.“
„Und wer hat Ihnen das gesagt? Wissen Sie,
wie spät es ist? Es ist niemand mehr hier!“
„Es war ein Mann, aber er hat seinen Namen
nicht genannt.“
„Kommen Sie morgen wieder vorbei“, erklärte
sie ungnädig und fügte leise hinzu: „Ich bin doch eine faule Ziege – ich hätte
die Türen verschließen sollen.“
Sie grummelte weiter vor sich hin und
beschwerte sich über alle möglichen Sorten von Leuten, die hier „zu jeder
Tages- und Nachtzeit aufkreuzten“. Ich wählte erneut die Nummer. Noch bevor es
klingelte, hob sie plötzlich die Hand und rief aus:
„Herr Gorelik! Sie sind noch hier?“
„Das bin ich“, erwiderte ein Mann, der in
Begleitung einer Frau die Treppe herunterkam. „Tu mir einen Gefallen, Tanta
Ira, und gib wenigstens vor, nicht zu schlafen.“
„Gott bewahre!“, verkündete die alte Dame
mit einer weiteren Handbewegung.
Der Mann ließ seine Begleiterin stehen und
kam zu mir, mit energiegeladenen Schritten. „Hatten Sie mich wegen des Büros
angerufen?“
„Ja, wir haben gerade miteinander
telefoniert. Mein Name ist Phil Panfilov.“
„Stephan Gorelik. Ich bin der Manager.“
Seine Begleiterin – eine füllige falsche
Blondine, deren Haare sich zu festen Löckchen dauerwellten – gesellte sich zu
uns. „Sind wir fertig, Steve? Ich muss los. Mein Mann hat schon mehrfach
angerufen.“
„Ja, vielen Dank, Frau Frolova“, erwiderte
Gorelik mit einem leichten Lächeln. „Ich weiß Ihre Hilfe mit dem Papierkram
wirklich zu schätzen.“
„Keine Ursache“, sagte sie errötend und
verschwand.
Gorelik schaute ihr nach. Ich studierte
währenddessen sein Profil:
Stephan Gorelik
Alter: 46
Derzeitiger Status:
Manager
Level des sozialen
Status: 6
Klasse: Angler. Level:
5
Verheiratet
Ehefrau: Maria Gorelik
Kinder: Vasily, Sohn.
Alter: 25
Vorstrafen: ja
Ansehen:
Gleichgültigkeit 0/30
Interesse: 58 %
Angst: 14 %
Laune: 49 %
Dass sein Interesse an mir recht hoch war,
verstand sich von selbst. Wenn man Gebäude mit leeren Räumen verwaltete, die
sich nicht von selbst unterhielten, war jeder neue Mieter ein Triumph. Seine
eher durchschnittliche Laune konnte durch den langen Arbeitstag erklärt werden,
und vielleicht hatte er auch keine Mittagspause gehabt. Aber wieso hatte er
Angst? Wovor? War es vielleicht die Furcht der Aufdeckung seines Seitensprungs?
Möglich war das.
Ich wollte seinen Angstlevel nicht dadurch
erhöhen, dass ich auf seinen geöffneten Hosenstall starrte, also sagte ich
nichts.
„Kommen Sie, schauen wir uns die Räume an“,
erklärte er.
Wir stiegen die Stufen hinauf. „Was für
eine Art Unternehmen haben Sie denn?“
„Eine Personalvermittlungsagentur.“
„Wie viele Mitarbeiter?“ Er keuchte vor
Anstrengung.
„Momentan nur ich selbst“, entgegnete ich
und ergänzte dann, nachdem ich sein Erstaunen bemerkte: „Der offizielle Start
steht erst noch bevor.“
Es ging in den dritten Stock. Mein Auge
fiel auf die allgegenwärtigen Hinweise auf die Brandvorschriften an der Wand
neben einem Feuerlöscher. Zu beiden Seiten der Treppe erstreckte sich ein
langer Gang.
„Nach rechts“, ächzte Gorelik.
Er hielt vor einer Metalltür an, die in
einem fröhlichen Hellblau gestrichen war. Was zugegeben nicht sehr
professionell wirkte.
„In dem Büro haben bisher ein paar Typen
gesessen, die Multi-Level-Marketing betrieben haben“, erklärte er. „Sie haben
Make-up, Parfum und so etwas verkauft. Sie hatten großen Erfolg, deshalb sind
sie ins Stadtzentrum umgezogen.“
Er wühlte sich durch die Schlüssel an einem
großen Bund, fand den richtigen, schloss auf und bat mich hinein. „Kommen Sie.“
Eine schwache Welle der Aufregung erfasste
mich, als ich den Raum betrat. Hinter mir schaltete der Manager die Beleuchtung
ein. Kaltes Neonlicht breitete sich aus.
„Es wurde gerade ein neuer Teppichboden
verlegt“, erklärte er. „Die Jalousien sind ebenfalls neu. Die bisherigen Mieter
haben sogar ein paar Schreibtische und Stühle hiergelassen, als Mietzahlung.
Wenn Sie eine Festnetzleitung brauchen, müssen Sie die neu anschließen lassen.“
„Und Internet?“
„Das wird gleichzeitig mit der
Festnetzleitung angeschlossen. Wir haben einen Dauervertrag mit den Anbietern,
das geht alles innerhalb von vierundzwanzig Stunden über die Bühne. Insgesamt
sind das etwas unter fünfzig Quadratmeter. Der Preis ist vierhundertsechzig
Rubel[5] pro Quadratmeter.” Er
zog ein Handy hervor und rechnete schnell etwas aus. Insgesamt sind das
dreiundzwanzigtausend Rubel[6] im Monat. Wenn Sie
für einen längeren Zeitraum im Voraus bezahlen, kann ich Ihnen einen Rabatt
einräumen.“
„Über welchen Zeitraum sprechen wir? Und
wie hoch ist der Rabatt?“
„Wenn Sie für das erste Vierteljahr gleich
bezahlen, kann ich auf zwanzigtausend pro Monat heruntergehen.“
„Nun, ich muss darüber erst noch
nachdenken.“
„Tun Sie das – aber lassen Sie sich nicht
zu lange Zeit. Es gibt viele, die nach verfügbaren Räumen fragen, und dieses
Büro ist das beste, das wir haben. Sollen wir uns vielleicht noch andere Büros
anschauen? Etwas günstigere vielleicht?“
Ich wanderte im Raum umher und hatte dabei
ein Auge auf all die Kleinigkeiten, die repariert oder erneuert werden mussten.
Die Wände waren stellenweise ein wenig schäbig, ein paar der Fußbodenleisten hatten
sich gelöst, auf dem Boden befand sich ein großer Ölfleck, und ein Fenster ließ
sich nicht öffnen.
„Eine gründliche Reinigung kostet sie
zweitausend Rubel“, bemerkte der Manager. „Und für einen neuen Anstrich müssen
Sie noch einmal mit demselben Betrag rechnen.“
Ich bedankte mich für den Tipp und meinte
das aufrichtig. Angesichts meines Lebensstils während der letzten Jahre war
ich, was Putzen, Anstreichen und Dekorieren betraf, ein blutiger Anfänger.
Sobald ich mich entschlossen hatte, würde ich allerdings erst einmal mit Alik
reden. Vielleicht kannte er jemanden, der das alles übernehmen konnte.
„Möchten Sie sich jetzt noch ein anderes
Büro anschauen?“ Der Manager hatte es auf einmal eilig. „Ich muss wirklich
gehen.“
„Ja, bitte – nur zum Vergleich.“
Zehn Minuten später waren wir wieder auf
dem Weg nach unten. Die anderen Räume hatten mich überhaupt nicht beeindruckt.
Um ehrlich zu sein, hatten sie mich sogar geradezu schockiert.
Eines der Büros war seit den Zeiten der
Sowjetunion nicht renoviert worden. Der Parkettfußboden war eingesunken, die
Wände waren bis in Schulterhöhe in einem schrecklichen Dunkelblau gestrichen,
die Fensterrahmen waren lose und bröckelten. Ein anderes Büro war zu groß und
ein drittes zu klein. Letzteres erinnerte mehr an eine Besenkammer. Nachdem ich
das gesehen hatte, beschloss ich, wegen des ersten Büros noch ein wenig zu
feilschen.
„Also, das ist alles, was Sie mir anbieten
können?“, fasste ich zusammen.
„Nein, es gibt da noch ein Büro hier im
dritten Stock und vier weitere im vierten.“
„Lassen Sie mich raten – die befinden sich
in einem noch schlechteren Zustand als die Räume, die ich bereits gesehen habe?
Das gesamte Gebäude ist wirklich nicht sehr gut in Schuss.“
„Nun, sehen Sie, der Eigentümer ist nicht
bereit, etwas in eine Renovierung zu investieren“, klagte er. „Er besteht
darauf, dass die Mieter das selbst übernehmen. Und Sie wissen ja, wie die
Mieter heutzutage sind – die meisten können kaum das Geld für die Miete
zusammenkratzen und zahlen oft genug auch noch zu spät.“
„Nachdem Sie also so viele leere Räume
haben, die Ihnen gar nichts einbringen, wie wäre es, wenn Sie mit dem Preis für
das erste Büro noch ein wenig heruntergehen? Sie wissen, welchen Raum ich
meine?“
„Wie soll ich denn noch weniger Miete
verlangen? Das ist doch schon weit unter Marktpreis! Zwanzigtausend für ein so
schönes Büro! Und alles ist inklusive – Strom, Heizung, Reinigung, und sogar
der Sicherheitsdienst!“
Ich lachte. „Meinen Sie mit
Sicherheitsdienst etwa die alte Dame am Empfang?“
Er grinste bitter. „Es liegt ganz bei
Ihnen. Mehr kann ich Ihnen nicht entgegenkommen.“
„Also ich würde sagen, das Büro ist nicht
mehr als dreihundert Rubel pro Quadratmeter wert. Wenn ich einmal die kürzliche
Renovierung, den Reinigungsdienst und den Sicherheitsdienst in Form der alten
Dame berücksichtige, halte ich fünfzehntausend Rubel pro Monat für angemessen.“
„Wie bitte – fünfzehntausend?“ Er war
sichtlich verärgert. „Ein so großartiges Büro mit Nebenkosten, Reinigung und
Sicherheitsdienst kann einfach nicht weniger als neunzehntausend Rubel im Monat
kosten! Und zwar bei vierteljährlicher Zahlung, drei Monate im Voraus!“
Am Ende einigten wir uns auf
siebzehntausendfünfhundert. Gorelik räumte mir eine Frist von einer Woche ein,
um mir die Sache zu überlegen, und versprach, das Büro gegen Hinterlegung einer
symbolischen Anzahlung für mich zu reservieren.
Eigentlich war ich längst entschlossen.
Überlegen musste ich mir nur, wie ich die etwa siebenhundertfünfzig Dollar für
das erste Vierteljahr beschaffen konnte.
In meinem ursprünglichen Plan hatte ich
eine solche Vorauszahlung nicht vorgesehen. Außerdem war ich naiverweise davon
ausgegangen, ihn überreden zu können, die erste Miete erst zum Monatsende
zahlen zu müssen. Bis dahin hatte ich gehofft, die ersten Kunden bereits
gefunden und ein wenig Geld verdient zu haben. Je intensiver ich mir jedoch die
feineren Details meiner Idee betrachtete, umso mehr wurde mir klar: Wenn ich
Glück hatte, kam ich in den ersten Monaten wahrscheinlich null auf null heraus,
und zwar mit und ohne den Vorteil, den meine Systemoberfläche mir verschaffte.
Das war der Grund, aus dem ich den
Startschuss meiner Firma noch immer hinauszögerte. Ich redete mir ein, ich
müsste einfach noch ein wenig in den Leveln aufsteigen.
Das System registrierte selbstverständlich
die neue Aufgabe und trug sie gleich in meine Liste ein:
Das Geld für die Miete
finden, den Mietvertrag unterschreiben und dem Chekhov-Gewerbezentrum die
ersten drei Monatsmieten zahlen. Frist: 1. Juli.
Ich gab Gorelik die zweitausend Rubel, auf
die wir uns als Vorschuss für die Reservierung des Raums geeinigt hatten. Das
Geld verschwand sofort in seiner Tasche, was seine Laune beträchtlich
verbesserte.
Zurück im Erdgeschoss, schrieb ich mir
seine Handynummer auf und verabschiedete mich von ihm. Auf dem Weg zur Tür
konnte ich noch hören, wie er die Sicherheitsoma dafür gewaltig herunterputzte,
eine gewisse Veronica ins Gebäude gelassen zu haben, die anscheinend eine
hartnäckige Nichtzahlerin war.
„Aber das war ich doch gar nicht!“, widersprach
die alte Dame erbost. „Das war während der Schicht der alten Tamara!“
Auf dem Heimweg fiel mir der vermisste
Junge wieder ein. Ich schaute auf die Karte. Er war, in einem Krankenwagen, auf
dem Weg zurück in die Stadt. Hervorragend! Ich hoffte, er hatte alles relativ
unbeschadet überstanden.
Allerdings wurde ich das bohrende Gefühl
nicht los, dass mit ihm nicht alles in Ordnung war.
Wer das Glück hat,
einen frommen und weisen Tochtermann oder Schwiegersohn zu bekommen, der hat
einen Sohn gefunden. Wer aber nicht, der hat auch die Tochter verloren.
Democritus
NACH DER
ANKUNFT in Vickys Heimatstadt
spazierten wir zuerst in dem Hof herum, in dem sie ihre Kindheit verbracht
hatte. Alles daran war niederdrückend; selbst mein alter Hinterhof mit Yagoza
und seinen Saufkumpanen wirkte im Vergleich zu dem mit Müll vollgestopften Hof
dieses alten Hauses geradezu lebhaft und farbenfroh.
Nicht einmal
Bäume wuchsen hier. In den Zweigen eines kränklich wirkenden Strauchs hatte
sich eine Plastiktüte gefangen, die im Wind raschelte.
Die gesamte
Stadt mit ihrer Bevölkerung von weniger als zwanzigtausend strahlte graue
Depression aus. Während der wenigen Stunden, die wir hier verbrachten,
berichtete mir Vicky, dass die jungen Leute jede Gelegenheit nutzten, um den
Ort zu verlassen, sobald sie die Schule beendet hatten. Sie ließen sich in den
großen Städten nieder und holten ihre Eltern zu sich. Deshalb sank die
Bevölkerungszahl der Stadt ständig. Neu hinzu zogen vorwiegend Leute aus den
ehemaligen sowjetisch-asiatischen Republiken.
Niemand kam
heraus, um uns zu begrüßen. Wir stiegen die Treppe zum fünften Stock des
heruntergekommenen Fertighauses hinauf, das aus den Zeiten Kruschevs
zurückgeblieben war. Mit jedem Schritt wurde Vicky verzagter. Es war
offensichtlich, die Beziehung zu ihren Eltern war nicht gerade die
warmherzigste. Allerdings beteten sie ihre Enkelin Xena an; inzwischen die
einzige Verbindung zwischen Eltern und Tochter.
Vickys
Niedergeschlagenheit erwies sich als ansteckend. Ich machte mir mehr und mehr
Sorgen um den Ausgang dieser Begegnung. In Gedanken zählte ich bereits all die
Gründe auf, aus denen ich ihnen nicht gefallen konnte. Ich hatte weder einen
Job noch ein eigenes Haus, ich besaß kein Auto, und um dem allen die Krone
aufzusetzen, war ich auch noch geschieden. Die Liste setzte sich fort – aber
ich beschloss, alles bis zum Ende durchzustehen und mich von meiner besten
Seite zu zeigen.
Kaum hatten
wir die Wohnung betreten, wurde es auch schon schmerzhaft offensichtlich:
Niemand hier freute sich, mich zu sehen. Alles deutete darauf hin – die
Kurzangebundenheit der Begrüßung durch die Eltern, das unfreundlich gemurmelte
„Hi“ von ihrem Bruder Victor, und nicht zu vergessen, meine Oberfläche, die mir
für mein Ansehen von allen dreien Abneigung
meldete.
Ich wurde zum
„Warten“ in das Zimmer des Bruders geschickt, während sich Vicky in der Küche
mit ihrer Tochter und ihren Eltern unterhielt. Victor versteckte sich, ganz zuvorkommender
Gastgeber, sofort hinter seinem Computer und spielte weiter Counter Strike. Im Laufe der nächsten
Stunde tauschten wir ein paar belanglose Phrasen aus. Dann rief man uns zum
Mittagessen.
Wir saßen alle
dichtgedrängt um einen Tisch herum und warteten darauf, dass „Tante“ Toma die Pelmeni[7] servierte.
„Du arbeitest
also nicht, richtig?“, stellte „Onkel“ Alexey grimmig fest und stach mit der
Gabel in eine der Pelmeni.
„Papa, habe
ich dir nicht erzählt, dass Phil seine eigene Firma aufzieht?“, mischte sich
Vicky ein.
„Du solltest
den Mund halten, wenn die Männer reden!“, wies Tante Toma ihre Tochter zurecht.
„Am besten
gehst du mit Xena spazieren“, schlug Onkel Alexey vor. „Wir machen in der Zeit
ohne dich weiter.“
Vicky und ich
hatten eine ganze Weile mit der Diskussion verbracht, wie ich ihre Eltern
ansprechen sollte. Am Ende hatten wir uns auf Tante Toma und Onkel Alexey
geeinigt. Formell als Herr und Frau Koval wollte ich sie nicht anreden. Sie
Mama und Papa zu nennen, wäre aber ja nun zugegeben ein wenig zu früh gekommen.
Mit Onkel und Tante blieb alles nett und neutral.
Ohne ein Wort
zu sagen, erhob sich Vicky vom Tisch und ging, Xena die Jacke anzuziehen. Xena
war übrigens die einzige, die mich freundlich empfangen hatte. Wir hatten
sofort eine gemeinsame Basis gefunden und uns über ihre
Lieblings-Zeichentrickfilme unterhalten, noch bevor ich allen vorgestellt
worden war und mich zurechtfinden konnte.
Mit Vickys
Eltern und ihrem Bruder war die Sache ganz anders verlaufen. Ihr Vater war ein
Mann aus der Arbeiterschicht, der sein ganzes Leben damit verbracht hatte, sich
den Arsch für ein Bauunternehmen aufzureißen. Stabilität und Zuverlässigkeit
waren für ihn die entscheidenden Tugenden. Ihre Mutter arbeitete als
Buchhalterin in derselben Firma und stand vollständig hinter den Ansichten
ihres Mannes. Die beiden hatten nie aufgehört, Vicky das Scheitern ihrer
ersten, erfolglosen Ehe vorzuwerfen. Sie hatte praktisch den ersten Mann
geheiratet, der um ihre Hand angehalten hatte. Nach Meinung der Eltern hatte
sie eine völlig unvernünftige und falsche Wahl getroffen. Vickys derzeitiger
Status als geschiedene alleinerziehende Mutter schien ihnen eine besondere
Freude zu bereiten – getreu dem Spruch: „Ich habe es dir doch gesagt!“
„Iss!“,
verlangte Onkel Alexey. „Das sind echte Pelmeni. Toma hat den gesamten Morgen
damit verbracht, sie zu kochen. Die Füllung haben wir gestern Abend
vorbereitet. Frischere Pelmeni kannst du nirgendwo finden. Los, gieß ein wenig
saure Sahne darüber! Das ist echte Sahne – nicht das dünne Zeug, das sie euch
in der Stadt verkaufen. Iss!“
„Ich esse ja,
danke. Die Pelmeni schmecken wirklich hervorragend!“
„Bediene
dich!“ Unvermittelt kam er zu seinem anfänglichen Thema zurück. „Also, wie war
das mit dem Job? Nach dem, was Vicky uns erzählt hat, hast du in der Firma
nicht einmal einen Monat durchgehalten.“
„Und warum
hast du dich von deiner Ex-Frau getrennt?“, erkundigte sich Tante Toma, die
gerade weitere Salate und Vorspeisen auf den Tisch stellte.
Ich wendete
meine Aufmerksamkeit ihr zu, blickte dann wieder zu ihrem Mann und überlegte,
welche Frage ich wohl als erste beantworten sollte. Der Vater entschied für
mich.
„Nun lass ihn
mal in Ruhe, Toma! Setz dich und hör auf, eine solche Hektik zu verbreiten!“
Sie ließ sich
auf der Kante eines Stuhls nieder. Beide schauten mich nun an und warteten auf
eine Antwort.
„Momentan habe
ich keinen Job. Ich habe in Vickys Firma gekündigt, weil ich meine eigene Firma
gründen möchte. Ich habe vor …“ Ich füllte meinen Mund mit Pelmeni, um Zeit zu
gewinnen, als mir plötzlich einfiel, dass Vickys Vater für meine Idee einer
Personalvermittlungsagentur bestimmt nichts übrighatte.
„Und was genau
hast du vor?“
„Nun,
Geschäfte eben.“
„Ja, krumme
Geschäfte“, kicherte der junge Victor, während er sich weiter den Mund
vollstopfte. Er schien der Einzige zu sein, dem die bedrückende Atmosphäre
nichts ausmachte.
Vickys Vater
verpasste ihm einen hörbaren Schlag gegen den Hinterkopf. „Halt die Klappe und
hör zu, wenn die Erwachsenen sich unterhalten!“
Victor senkte
den Kopf über den Teller. Seine Ohren hatten sich rot gefärbt, und seine Laune
war dank der Demütigung durch seinen Vater in der Anwesenheit von Fremden
mächtig gesunken.
„Also, um was
für eine Art von Geschäften wird es sich handeln?“
„Geschäfte im
Dienstleistungssektor“, antwortete ich ausweichend.
„Und was ist
das? Willst du Erdnüsse im Kino verkaufen?“ Onkel Alexey gab nicht nach. „Oder
anderen Leuten den Arsch abwischen?“
„Nein, es geht
mehr um Angebot und Nachfrage.“
Er wischte
seine Unzufriedenheit mit dieser Antwort mit einem Lachen beiseite und
arbeitete sich weiter durch seine Pelmeni. Mein Ansehen bei ihm war zum
geringstmöglichen Wert an Abneigung gesunken. Ein weiterer Schnitzer
meinerseits, und ich hatte es mit unverdünnter Feindseligkeit zu tun.
Ich spürte
genau, mir stand mit Vickys Eltern keine leichte Aufgabe bevor. Der
fünfzigjährige Alexey durchbohrte mich mit seinen Blicken und zog die buschigen
Augenbrauen in die Höhe. Er wirkte wahrhaft beeindruckend. Inzwischen wusste
ich auch, von wem Vicky ihren wohlgeformten Körper geerbt hatte. Er war ein
hochgewachsener Mann, knapp zwei Meter groß, mit Armen, die ersichtlich an
harte Arbeit gewöhnt waren. Mein möglicher zukünftiger Schwiegervater saß
kerzengerade da, als hätte er einen Stock verschluckt, und überragte alle
anderen am Tisch wie ein Riese aus einem Märchen. In seiner schwieligen Pranke
wirkte die Gabel wie ein Spielzeug. Es kostete mich alle Selbstbeherrschung,
die ich aufbringen konnte, nicht zuerst beiseite zu schauen.
„Nun gut“,
brummte er. „Du hast dich sehr klar ausgedrückt. Soll heißen, überhaupt nichts
ist klar. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob du überhaupt selbst weißt, was du
willst. Du willst Vicky nur aufs Glatteis führen.“
„So etwas
solltest du wirklich nicht sagen, Onkel Alexey“, verteidigte ich mich. „Ich
habe schon alles genau geplant. Vicky wird es an nichts fehlen. Ich rede nur nicht gerne über unerledigte
Dinge. Sobald ich alles auf die Beine gestellt habe, spreche ich darüber und
erzähle dir gern alles – aber nicht vorher. Momentan wäre das noch ziemlich
sinnlos.“
Er lachte.
„Aber klar doch … Das kannst du deiner Großmutter erzählen! Na, meinetwegen –
belassen wir es einstweilen dabei. Aber was für eine Art Mensch bist du? Erzähl
uns ein bisschen über dich selbst. Was für eine Ausbildung hast du? Wer sind
deine Eltern? Und Vicky hat berichtet, du warst schon einmal verheiratet?“
„Ja. Ich habe
meine erste Frau online getroffen. Sie war damals noch auf dem College.“
Victor spitzte
die Ohren, offensichtlich interessiert. Tante Toma verdrehte den Hals, damit
ihr ja kein Wort entgehen konnte. Plötzlich sprang sie auf.
„Warte eine
Sekunde, Phil! Ich schenke uns erst den Tee ein, dann kannst du weiterreden.“
Sie war eine
zerbrechliche, zierliche Frau, zwei Jahre jünger als ihr Mann, vor dem sie
sichtlich Angst hatte, den sie jedoch auch grenzenlos respektierte. Sein Wort
war ihr Befehl. Was sie allerdings nicht davon abhielt, sich in unsere
Unterhaltung einzumischen.
Sie machte
einen ziemlichen Wirbel mit Wasserkessel und Teekanne, goss kochendes Wasser
über die Teeblätter und schnitt die Torte auf, die wir mitgebracht hatten. Ich
hatte meinen Teller geleert und dankte ihr für das leckere Essen. Ihre Pelmeni
waren wirklich ein Gedicht. Dabei spürte ich durchgehend den abschätzenden
Blick meines potenziellen Schwiegervaters auf mir.
Deshalb konnte
ich die Meldung über eine Quest zunächst nicht lesen, die plötzlich in meinem
Blickfeld aufgetaucht war; er hätte mir bestimmt etwas angemerkt. Also
minimierte ich das Fenster und verschob das auf später.
„Papa, schauen
wir uns jetzt Fußball an?“, fragte Victor. „Kroatien spielt gegen Argentinien.“
Sein Blick wanderte zu mir. „Interessierst du dich für die Weltmeisterschaft?“
„Oh ja, das
wäre toll.“
Er lächelte
und nickte befriedigt.
Dein Ansehen bei Victor Koval hat sich
verbessert!
Derzeitiges Ansehen: Gleichgültigkeit 5/30
„Über Fußball
können wir später reden“, beschied ihn Onkel Alexey. „Komm schon, Mutter – setz
dich. Berichte uns weiter über dich, Phil.“
„Meine Eltern
sind gute Menschen“, erklärte ich. „Mein Vater ist Feuerwehrmann und meine
Mutter Lehrerin.“
Dein Ansehen bei Herrn Alexey Koval hat
sich verbessert!
Derzeitiges Ansehen: Abneigung 20/30
Dein Ansehen bei Victor Koval hat sich
verbessert!
Derzeitiges Ansehen: Abneigung 5/30
Ich kämpfte
gegen die Versuchung an, die Systemmitteilungen zu betrachten, die vor meinem
mentalen Auge aufleuchteten. Es hätte mir gar nicht gefallen, wenn Vickys
Eltern zu dem Schluss gekommen wären, ich würde schielen oder ihren Blicken
ausweichen. Die Berufe meiner Eltern hatten jedenfalls in ihren Augen Bestand,
also musste ich einfach auf dieselbe Weise weitermachen, ohne dabei zu lügen.
„Was
unterrichtet deine Mutter denn?“, wollte Victor wissen.
„Russisch und
Literatur. Inzwischen sind beide allerdings pensioniert.“
„Sie sind also
Rentner“, schlussfolgerte Alexey weise.
„Und man muss
sich doch nur mal die Renten anschauen, die heutzutage gezahlt werden!“, rief
Tante Toma aus. „Geradezu lächerlich! Aber du hilfst ihnen ja sicherlich, nicht
wahr?“
„Ja, ich
versuche zu tun, was ich kann“, erwiderte ich und dachte dabei an meine
Unterstützung im Sommerhaus. Ich hatte nicht direkt gelogen. Dennoch plagte
mich ein schlechtes Gewissen, denn sie hatte natürlich auf finanzielle Hilfe
angespielt. „Ich habe auch noch eine ältere Schwester. Sie arbeitet in einer
Bank. Sie …“
„Ist sie
verheiratet?“, unterbrach mich Tante Toma. „Deine Schwester, meine ich?“
„Sie ist
geschieden und alleinerziehend“, berichtete ich willig in dem Versuch, ihre Neugier
zufriedenzustellen. „Ihr Sohn ist etwas jünger als Xena.“
Trotz meiner
Antwortbereitschaft gefielen die ganzen direkten Fragen mir überhaupt nicht.
Ich hatte das Gefühl, im Rahmen meiner Bewerbung als zukünftiger Schwiegersohn
einem knallharten Vorstellungsgespräch unterzogen zu werden.
„Nun los,
erzähl weiter“, drängte Onkel Alexey. „Du bist ja nun kein junger Hüpfer mehr.
Was hast du bisher mit deinem Leben angefangen?“
„Man muss sich
ja nur mal unsere Vicky anschauen“, mischte Tante Toma sich erneut ein. „Wer
hätte das gedacht, dass sie mal Karriere in der Stadt macht! Und jetzt ist sie
sogar stellvertretender Direktor in einer Fabrik!“
„Stellvertretender
Direktor?“, widerholte ich unwillkürlich.
„Natürlich!
Das musst du doch wissen, wo ihr zusammengearbeitet habt!“ Sie schüttelt den
Kopf voller Unglauben über meine Naivität.
„Jetzt gib ihm
endlich die Chance, über sich selbst zu reden!“, schnauzte Vickys Vater sie an.
„Okay, ich
sage kein Wort mehr.“ Sie machte eine Fingerbewegung über ihrem Mund, als würde
sie einen Reißverschluss schließen.
Victor hatte
sich die ganze Zeit mit Torte vollgestopft. Nachdem gerade keiner auf ihn
achtete, hatte er ein Drittel des Kuchens bereits vertilgt. Zumindest im Essen
war er rekordverdächtig schnell!
Was den
„stellvertretenden Direktor“ betraf, so musste ich mich insofern unbedingt mit
Vicky absprechen, damit ich nichts Falsches sagte und ihre Seifenblase zum
Platzen brachte.
Ihre Eltern
warteten noch immer auf meine Erwiderung. Ich nahm all meinen Mut zusammen und
begann.
„Ich habe
Wirtschaftswissenschaft studiert und den Abschluss gemacht. Allerdings habe ich
nach einem Praktikum in diesem Sektor nicht mehr gearbeitet. Ich habe mich
gewissermaßen treiben lassen. Sie kennen doch sicher den Spruch – Scheiße geht
nicht unter, sie schwimmt immer obenauf?“
Ich erblickte
den schwachen Hauch eines Lächelns, das um die Lippen des Mannes spielte. Er
wusste ein wenig Selbstherabwürdigung offensichtlich zu schätzen.
Meine nächsten
Worte wählte ich mit so großem Bedacht, als ob ich mich in einem Minenfeld
bewegen würde. „Eine gewisse Zeit war ich im Verkauf tätig.“
Onkel Alexey
verzog das Gesicht. „Als Verkäufer in einem Laden?“
„Nein, nicht
direkt. Ich habe nicht hinter der Theke gestanden, sondern bin herumgereist und
habe Waren und Dienstleistungen angeboten.“
Sarkastisch
kniff er die Augen zusammen. „Waren und
Dienstleistungen?“
„Ja – je
nachdem, für welche Firma ich gerade gearbeitet habe, Onkel Alexey.
Satellitenschüsseln sind Waren, und eine Werbeanzeige für solche Schüsseln in
einer Zeitung aufgeben, das ist eine Dienstleistung. Ich war darin allerdings
nicht sehr erfolgreich. Deshalb bin ich nach einer Weile zum Schreiben
gewechselt.“
„Und was hast
du geschrieben?“, fragte Vickys Mutter überrascht.
Ich verstand
ihre Überraschung nur zu gut – schließlich hat man nicht alle Tage einen echten
Schriftsteller am Tisch. „Keine Bücher, Tante Toma. Ich habe Artikel für
verschiedene Websites und Unternehmen verfasst.“
Nachdem die
beiden mich endlich nicht mehr unterbrachen, berichtete ich den Rest in einem
Schwung, wobei ich allerdings meine Spielsucht unerwähnt ließ. „Damit habe ich
ebenfalls nicht sehr viel verdient. Deshalb hat meine erste Frau Yanna mich am
Ende verlassen, nachdem sie es vier Jahre lang durchgehalten hat, immer in der
Hoffnung, ich würde mich endlich zusammenreißen und etwas Richtiges auf die
Beine stellen. Allerdings, wie das Leben so spielt – das ist erst passiert,
nachdem ich sie verloren hatte. An diesen Tag – es war im Mai – erinnere ich
mich noch immer sehr gut. Ich fühlte mich, als ob ich gegen eine Wand gelaufen
wäre. Also bin ich auf den Balkon marschiert und habe mir mein gesamtes
bisheriges Leben gründlich durch den Kopf gehen lassen. Die Frage, was ich
damit angefangen hatte, musste ich ehrlicherweise mit „Nichts!“ beantworten. Im
letzten Winter bin ich zweiunddreißig geworden, und was hatte ich dafür
vorzuzeigen? Ich hatte keinen Job, kein eigenes Haus, nicht einmal Kinder, und
nun war auch noch meine Frau weggelaufen! Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie
miserabel ich mich gefühlt habe. Ich war am Boden zerstört.“
Tante Toma
lehnte ihre Wange gegen die Hand und lauschte mir mit offenem Mund. Meine
Geschichte nahm sie total gefangen. Noch immer rührte sie mit der anderen Hand
den Zucker in ihrem Tee, der sich längst aufgelöst haben musste. Onkel Alexey
knirschte stumm mit den Zähnen. Selbst Victor saß wie angewurzelt da, ein Stück
Torte im Mund.
Jetzt kam es
darauf an, meine gesamte Ausstrahlung einzusetzen. Plus sämtliche
Kommunikationsfertigkeiten, die ich besaß, versetzt mit einem kräftigen Schuss
Empathie.
„Es war, als
ob in meinem Kopf plötzlich ein Schalter umgelegt worden wäre. Sofort habe ich
damit begonnen, morgens zu joggen, ich habe umgehend einen Job gefunden, mich
in einem Fitness-Studio angemeldet und mit Krafttraining und Boxen begonnen.
Was die Arbeit betraf, so lief alles hervorragend; Vicky kann euch das
bestätigen. Ich war ein erfolgreicher Handelsvertreter. Unser Chef hat mir
einen hohen Bonus ausgezahlt und wollte unbedingt, dass ich bleibe. Aber ich
hatte bereits beschlossen, mein eigener Chef sein zu wollen.“ Ich verwendete
dieses Klischee, um sicherzustellen, dass es in ihren Köpfen haften blieb.
„Gestern habe ich ein Büro gefunden. In zwei oder drei Wochen werde ich offiziell
loslegen; je nachdem, wie schnell ich die Firma eintragen kann. Um es
zusammenzufassen – ich habe mich am Riemen gerissen und die Kurve gekriegt.“
Die
Totenstille wurde unterbrochen durch Tante Tomas Teelöffel, der klirrend zu
Boden fiel. Während ich auf die Antwort der beiden – oder wenigstens eine
stimmige Reaktion – wartete, nahm ich einen Schluck von dem starken Tee, um mir
die Kehle anzufeuchten.
In dem
Augenblick meldete sich Vicky aus dem Flur.
„Wir sind
zurück! Habt ihr Philys Verhör beendet?“
„Phily?“
Victor verdrehte die Augen und gab ein durch seinen Stimmbruch getrübtes
Teenagerkichern von sich.
„Oma, ich habe
Durst!“, erklärte Xena, als sie in die Küche kam, in der wir saßen.
Tante Toma
sprang auf, um ihr Wasser einzugießen. Victor erhob sich ebenfalls vom Tisch.
„Danke, Mama – das Essen war großartig. Papa, kann ich jetzt gehen und weiter
am Computer spielen?“
„Du setzt dich
sofort wieder hin!“, donnerte Vickys Vater. „Wir sind noch nicht fertig. Und
Victoria, du kommst sofort her. Das betrifft auch dich.“
Xena trank ihr
Wasser und Victor überließ seiner Schwester seinen Stuhl. Sie setzte sich und
blickte besorgt in die Runde.
„Also“, fasste
Onkel Alexey zusammen, „Victoria, ich habe deinem Liebhaber zugehört und
nachgedacht. Er kann gut reden, es macht richtig Spaß, ihm zuzuhören. Aber ich
habe kein Vertrauen in ihn. Du bist jetzt eine erwachsene Frau und warst
bereits einmal verheiratet. Es ist also deine Entscheidung, wie du dein Leben
lebst. Aber eines will ich klarstellen – erwarte nicht, dass wir dir unseren
Segen zu deiner Beziehung mit diesem faulen Bummler geben!“
„Nein, das
werden wir nicht!“, bekräftigte Tante Toma und nickte dabei eifrig. „Also bitte
uns besser gar nicht erst darum. Wir sind von ihm nicht überzeugt, und du
solltest das ebenfalls nicht sein.“
Vickys Vater
schlug mit der Faust auf den Tisch. „Du hältst die Klappe, Tamara! Deine
Meinung interessiert hier niemanden!“ Seine verärgerte Stimme strotzte vor
Überzeugung, als würde er ein unumstößliches Urteil verkünden. „Ein verdammter Handelsvertreter! Und nennt sich selbst
Geschäftsmann! In seinem Alter besaßen deine Mutter und ich bereits unser
eigenes Heim! Wir hatten ein Auto, und ein Sommerhaus! Dir hat es an nichts
gefehlt, und Victor war bereits unterwegs. All das haben wir selbst geschafft,
deine Mutter und ich! Wir haben unser gesamtes Leben lang hart gearbeitet und
uns nicht einmal darüber beschwert! Und was ist dieser Kerl da? Arm wie eine
Kirchenmaus! Er versucht, sich aus der Scheiße herauszugraben, in die er sich
selbst gebracht hat, indem er sich von dir aushalten lässt! Ich wette, du bist
es auch, die ihm diesen Job überhaupt erst verschafft hat! And dann haben deine
Chefs erkannt, was für ein elendes Großmaul er ist, und ihn auf die Straße
gesetzt! Glaubst du etwa den ganzen Mist, den er erzählt? Oder lügst du, um ihn
zu schützen? Du solltest mit deinem Kopf denken, und nicht mit deiner Muschi!
Genau darauf baut er doch! Er will, dass du dich in ihn verknallst und ihn
heiratest, damit er sich anschließend von dir durchfüttern lassen und sich nun
bei dir wie vorher bei seiner Ex-Frau ins gemachte Nest legen kann! Er hat
gesehen, du bist hübsch, du hast einen guten Job und eine eigene Wohnung, und
deshalb hat er seinen Charm bei dir eingesetzt. Mehr ist es nicht. Hier soll er
sich jedenfalls nie wieder blicken lassen!“
Den letzten
Satz brachte er ganz langsam und ruhig vor, was seinen Worten zusätzliches
Gewicht verlieh. Es war spürbar – er sagte das nicht einfach nur so, sondern er
hatte es sich gut überlegt. Er war ein Mann, der alles auf seine eigene Weise
durchdachte und zu Entscheidungen kam, die endgültig waren.
Dein Ansehen bei Herrn Alexey Koval hat
sich verringert!
Derzeitiges Ansehen: Feindseligkeit 10/30
Dir wurde ein kritischer Schaden zugefügt: verbale Verletzung
- 50 % Geist
- 50 % Selbstvertrauen
Ich schloss
die vernichtenden Systemmitteilungen und startete einen letzten Versuch, die
Dinge wieder in Ordnung zu bringen, die nicht in Ordnung zu bringen waren.
„Onkel Alexey …“
Er schüttelte
energisch den Kopf, wollte nichts mehr hören. „Ich habe alles gesagt, was zu
sagen ist“, sagte er leise und bestimmt. „Verlass sofort meine Wohnung!“
Langsam erhob
ich mich, konnte nicht glauben, was da gerade geschah. Beinahe wäre ich zu
Boden gesunken. Ich fühlte mich wie im Fieber und mir war übel. Ich stand kurz
vor einer Ohnmacht. Meine Sicht verschwamm. Am liebsten hätte ich mir den
Nebelschleier aus den Augen gewischt.
Die Meldung
über mein verringertes Ansehen bei Vickys Mutter schloss ich, ohne sie auch nur
zu lesen. Sie würde ohnehin allem zustimmen, das ihr Mann sagte oder tat.
Vicky saß
kerzengerade da und stützte meinen Ellbogen. Sie starrte vor sich hin und sagte
in einer tonlosen, mechanischen Stimme:
„Phil, warte.
Xena, hol deine Sachen. Wir fahren nach Hause.“
„Was soll denn
das jetzt?“, protestierte ihre Mutter. „Das geht ja wohl nicht an, dass das
Kind mit einem fremden Mann unter einem Dach leben muss! Das ist ein Skandal!“
„Mama!“, rief
Vicky aus. Eine Träne rollte ihr über die Wange.
„Ich bin jetzt
dreißig Jahre lang deine Mutter gewesen. Ich gebe dir Xena nicht. Du kannst sie
zurückhaben, sobald du dich von ihm getrennt hast. Es sind ohnehin Schulferien,
also muss sie sich nicht in der Stadt aufhalten. Hier ist die Luft weit besser,
und das Essen ebenfalls.“
„Mama, bitte,
weine nicht“, versuchte Xena Vicky zu trösten.
Vicky gab ihr
einen Kuss auf die Wange und stand auf. Sie trat ihren Stuhl beiseite und zog
mich zur Tür.
„Vick, einen
Augenblick!“, versuchte ich sie aufzuhalten.
Sie entriss mir
ihre Hand. „Ich warte im Wagen auf dich.“
Mit diesen
Worten verließ sie die Wohnung.
Ich konnte ihr
nicht folgen; nicht ohne zuvor auf die verleumderischen Anschuldigungen ihres
Vaters zu reagieren. Ich wusste sehr wohl, jedes weitere Wort von mir konnte
als lahmer Rechtfertigungsversuch gewertet werden, aber ich wollte die Wogen
ein wenig glätten und keine Brücken hinter mir abbrechen.
„Es steckt ein
wenig Wahrheit in dem, was du gerade gesagt hast“, erklärte ich. „Ich werde
mein Verhalten nicht schönreden. Momentan kann ich dir ohnehin noch nicht das
Gegenteil beweisen. Aber die Zeit wird kommen, in der du erkennst, wie sehr du
dich geirrt hast. Ich danke euch beiden für eure Gastfreundschaft. Tante Toma,
deine Pelmeni sind wirklich ein Gedicht! So gute habe ich noch nie gegessen.“
Niemand
erwiderte etwas. Vickys Mutter drehte mir demonstrativ den Rücken zu und
stapelte mit viel klirrendem Getöse die Teller aufeinander. Mein ehemals
möglicher zukünftiger Schwiegervater rollte sich eine selbstgedrehte Zigarette
und ignorierte mich vollständig.
„Also schön.
Ich wünsche euch alles Gute.“
Taumelnd (was
war bloß mit mir los?) begab ich mich in den Flur und zog meine Schuhe wieder
an. Victor war der Einzige, der hinauskam, um sich von mir zu verabschieden.
„Zu schade,
dass du nun das Fußballspiel versäumst“, flüsterte er. „Es beginnt in einer
Stunde, und ihr seid mindestens zwei, drei Stunden unterwegs.“
„Vielleicht
schaffe ich es zur zweiten Halbzeit. Wir sehen uns, Victor. Es war nett, dich
kennengelernt zu haben. Und spiel nicht zu viel Counter Strike. Behalte die Verbindung zur realen Welt.“
Er grinste und
wir gaben uns die Hand.
Leise schloss
ich die Tür hinter mir und verließ die gastfreundliche Behausung. Stolpernd
schaffte ich es zwei Stockwerke hinunter, bevor meine Beine nachgaben und ich
die Wand entlang zu Boden glitt. Ich fühlte mich schwach und lethargisch. War
das etwa die Folge des kritischen verbalen Treffers?
Ich öffnete
erneut alle Mitteilungen, die ich bereits geschlossen hatte, und las sie aufmerksam.
Aha! Nein, mit
dem kritischen Treffer hatte es nichts zu tun, sondern mit der System-Quest,
die ich ignoriert hatte. Es war das erste Mal, dass ich es erlebte, wie ein
System ganz plötzlich selbst Quests erstellen konnte. Um dem Ganzen die Krone
aufzusetzen, war die Beschreibung der Aufgabe auch noch endlos:
Alarm: System-Quest!
Familienbande I
Dies ist der erste Teil einer Quest-Kette
betreffend die Familie Koval.
Du musst ihr Vertrauen und ihr Wohlwollen
gewinnen und dein Ansehen bei allen Familienmitgliedern zu mindestens
Freundlichkeit steigern.
Derzeitiges Ansehen:
Bei Victorias Vater, Herrn Alexey Koval:
Feindseligkeit 25/30
Bei Victorias Mutter, Frau Tamara „Toma“
Koval: Feindseligkeit 10/30
Bei Victorias Bruder Victor: Feindseligkeit
10/30
Belohnung:
Erfahrungspunkte: 2.000 Punkte
Ansehen bei Victoria „Vicky“ Koval: 30
Punkte
Derzeitiges Ansehen:
Seelisches Ansehen: Freundlichkeit 25/30
Emotionales Ansehen: Liebe 1/1
Strafen:
Ansehen bei Victoria „Vicky“ Koval: -20
Punkte
Derzeitiges Ansehen:
Seelisches Ansehen: Freundlichkeit 25/30
Emotionales Ansehen: Liebe 1/1
Erfahrungspunkte: -2.000 Punkte
Warnung! Eine Verringerung deines Ansehens
bei einem Familienmitglied bis hinab zur Feindseligkeit führt zu einem
Scheitern der Quest!
In dieser
Mitteilung waren meine alten Ansehenswerte aufgeführt. Ich hatte das
unangenehme Gefühl, genau zu wissen, was in den nächsten Systemmitteilungen
stehen würde, die ich noch nicht geöffnet hatte. Trotzdem las ich sie.
Alarm: System-Quest – Familienbande I.
Quest gescheitert!
Dein Ansehen bei Victoria „Vicky“ Koval hat
sich verringert!
Derzeitiges Ansehen:
Seelisches Ansehen: Freundlichkeit 5/30
Emotionales Ansehen: Liebe 1/1
Verlorene Erfahrungspunkte: 2.000 Punkte
Derzeitiger Level: 13. Fehlende Erfahrungspunkte bis zum
nächsten Level des sozialen Status: 8.700/14.000
Autsch! Das war verdammt hart. So „belohnte“
das System den Benutzer also für gescheiterte Quests und verlorene
Erfahrungspunkte, mit Schwindelgefühl und Übelkeit? Na gut – das beruhte wohl
auf der Methode „Zuckerbrot und Peitsche“, nahm ich einmal an. Von dem
Zuckerbrot hatte ich bereits reichlich genossen, und nun bekam ich eben das
erste Mal die Peitsche zu spüren.
Um ehrlich zu
sein, wollte ich diese Erfahrung auf keinen Fall wiederholen. Mein Zustand
lässt sich am besten durch den Vergleich mit einem extremen Fall von
Alkoholvergiftung kombiniert mit Fieber und hohem Blutdruck wiedergeben. Konnte
das System tatsächlich die biochemischen Vorgänge in meinem Körper steuern?
Hatte es womöglich irgendeine eklige Substanz hergestellt und mir in den
Blutkreislauf gespritzt? Eine Art Gift vielleicht?
Was ich
ebenfalls sehr merkwürdig fand, das war die Aufschlüsselung des Ansehens in
seelisches und emotionales Ansehen. Bei Yanna hatte es diese Unterscheidung
nicht gegeben, und auch nicht bei Kira und meinen Eltern, wenn ich es mir recht
überlegte. Bei ihnen gab es nur einen einzigen Wert, Liebe 1/1, und fertig. Was steckte denn bloß hinter dieser
Aufspaltung? Vielleicht war das ein neuer Ansatz, den eine gestiegene
Wahrnehmung mir eingebracht hatte? Aber ich hatte Level 3 doch noch gar nicht
erreicht! Oder war das System in der Lage, selbstständig dazuzulernen, und
konnte nun die feineren Details der menschlichen Beziehungen unterscheiden?
Dazu musste
ich unbedingt Martha befragen. Momentan war das alles reine Theorie.
Ich kämpfte
mich wieder auf die Füße und wankte weiter die Treppe hinunter. Dabei hielt ich
mich eisern am Geländer fest, um nicht wieder zu stürzen. Ich fühlte mich noch
immer schrecklich, doch das System schien anderer Meinung zu sein. Es meldete
mir denselben Debuff, den ich ganz zu Anfang erhalten hatte, als ich gerade
erst damit begonnen hatte, mich mit der Oberfläche zu befassen:
Teilnahmslosigkeit
Dauer: 18 Stunden
Du bist emotional ausgelaugt. Dein zentrales Nervensystem braucht Ruhe. Wir
empfehlen ausreichend Schlaf, eine ausgeglichene Ernährung und ein wenig Sport.
Warnung! Der Zustand der Teilnahmslosigkeit kann leicht zu Depression
führen!
-5 % Zufriedenheit alle 6 Stunden
-1 % Vitalität alle 5 Stunden
-6 % Lebenskraft alle 6 Stunden
-2 % Stoffwechsel alle 6 Stunden
-5 % Selbstvertrauen alle 6 Stunden
-2 % Willenskraft alle 6 Stunden
Ich biss die
Zähne zusammen, klammerte mich an meine letzten Reste Stärke und Willenskraft
und stolperte durch die Haustür auf Vickys Auto zu.
Es war alles
in Ordnung – alles würde sich zum Guten wenden. Wenn ich es mir richtig
überlegte, was war denn eigentlich gerade passiert? Das war nur ein
Missverständnis, weiter nichts. Ich würde jetzt einfach nach Hause gehen, meine
eigene Firma gründen, Alik einstellen und mit der Arbeit beginnen. Die Kunden
würden schon kommen, und das Geld würde hereinströmen. Schon bald konnten wir
uns einen Namen gemacht haben. Und dann konnten Vicky und ich zu ihren Eltern
zurückkehren. Vielleicht würde ich auch meine Eltern und Kira einladen
mitzukommen, um allem mehr Gewicht zu verleihen. Die Hauptsache war jetzt, dass
ich mich zusammenriss und sicherstellte, nicht auch noch das zu verlieren, was
von Vickys Freundlichkeit noch übriggeblieben war.
Wie merkwürdig
– wann zum Teufel hatte ich bloß ihren Respekt verloren? Inzwischen traf ich
täglich so viele Menschen, ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, die
Systemmitteilungen über mein Ansehen zu schließen, ohne sie vorher zu lesen. An
einem Tag hatte ich, ganz in Gedanken versunken, achtlos die Straße überquert,
und wurde sofort mit Meldungen über die Feindseligkeit unzähliger Autofahrer
geradezu überflutet. Das hatte mir die Lust am Lesen genommen. Wahrscheinlich
hatte das dazu geführt, dass ich auch die Mitteilung übersehen hatte, die mich
über mein gesunkenes Ansehen bei Vicky informierte.
Inzwischen
zitterte ich am ganzen Leib wie Espenlaub. Ich schwankte zum Auto, packte den
Griff zur Beifahrertür und riss mehrfach daran, bis mir endlich auffiel: Die
Tür war verschlossen, und niemand im Wagen.
Wo zum Teufel
steckte bloß Vicky?
Dann hörte ich
jemanden schreien.
Du konntest sie mir
nicht nehmen, so sehr du dich auch darum bemüht hast:
Freiheit ist einfach
etwas, das ich in mir trage.
Sergei Shnurov. Freiheit
ICH SCHAUTE MICH um, versuchte Vicky
zu entdecken, doch sie war nirgendwo zu sehen. Ein paar Kinder spielten im
Sandkasten; eine junge Mutter, die auf einer Bank saß, blickte ängstlich nach
links und rechts. Sie musste den Schrei ebenfalls gehört haben.
Auf einmal ging es mir
erheblich besser. Fieber, Schwäche und Übelkeit waren verschwunden.
Wahrscheinlich war die Strafe für die gescheiterte Quest gerade abgelaufen.
Der Schmerz, den die
Peitsche auslöste, war sehr viel stärker als die Freude, die das Zuckerbrot
bereitete. Es bestand genau genommen überhaupt kein Verhältnis zwischen den
beiden Dingen: Das Glück über das Erreichen eines neuen Levels hielt gerade
einmal wenige Sekunden an, während diese Qualen mindestens fünf Minuten
gedauert hatten.
Der Schrei war
definitiv von einer Reihe von Türen am anderen Ende des Wohnblocks gekommen.
Ich schaute mich erneut um und lief dann darauf zu.
Ich hatte das Ende des
Gebäudes bereits erreicht, als mir eine Gruppe von Leuten vor einer der vielen
Eingangstüren auffiel. Kaum hatte ich die Situation analysiert, seufzte ich
auch schon erleichtert auf.
Vicky stand inmitten
anderer Frauen, mit denen sie sich fröhlich unterhielt. Nun, nur scheinbar
fröhlich – ihre Laune war nach dem Besuch bei ihren Eltern noch immer nicht
allzu gut.
„Vicky?“, rief ich.
„Da ist er ja!“,
bemerkte sie zu den Frauen und drehte sich dann zu mir um. „Alles in Ordnung?“
„Ja, alles bestens“,
nickte ich und betrachtete mir ihre Freundinnen.
Auf den ersten Blick
hatte ich deren Alter völlig überschätzt. Jetzt sah ich, sie waren alle in
Vickys Alter, aber schon reichlich abgehärmt. Zwei von ihnen – Irina und Olga –
erinnerten mich mit ihren altmodisch kurzgeschnittenen und dauergewellten
Haaren ein wenig an Schafe. Auch ihre Kleidung entsprach eher der von Frauen ab
vierzig oder sogar älter. Die dritte der Frauen – Natasha – war den Standards
dieses Ortes nach wahrscheinlich eine berückende Schönheit: Sie trug einen
Trainingsanzug in neonpink und hatte die langen, rabenschwarzen Haare zu einem
Pferdeschwanz zusammengefasst. Ihre Lippen waren künstlich mit Botox
aufgespritzt, ihre Augenbrauen zu kräftig nachgezeichnet, und sie verfügte über
den wächsernen Teint einer Instagram-Puppe.
Alle drei Frauen
zeigten hohe Werte, was das Interesse an mir betraf. Das von Natasha war mit 60
% am höchsten. Ich durfte jetzt, angesichts Vickys Neigung zur Eifersucht, auf
keinen Fall etwas falsch machen.
„Okay, Mädels, wir
müssen los“, sagte sie zu ihren Freundinnen. „Wir sehen uns!“
„Warte mal eine
Sekunde, Vic!“, hielt Natasha sie mit einem Schmollmund zurück. „Willst du uns
nicht wenigstens deinem Verlobten vorstellen? Bitte?“
„Sie hat recht, Vic“,
nickte Olga. „Das ist nur höflich!“
Vicky nickte ihr
Einverständnis.
„Ich bin Phil“,
stellte ich mich nun selbst vor. „Und ihr müsst Vickys Freundinnen sein.“
„Ich bin Natasha“,
sagte die Dunkelhaarige lässig.
„Olga … Irina …“,
echoten die beiden Schafe.
„Habe ich mir das nur
eingebildet, oder hat eine von euch gerade geschrien?“, fragte ich. „Es war
ziemlich laut. Deshalb bin ich gleich hierhergelaufen; ich dachte, jemand tut
Vicky etwas an.“
„Als ob!“, kicherte
Natasha. „Wenn sie will, wird sie mit allen fertig. Sie weiß genau, wie man
sich verteidigt. Nein, ich war diejenige, die geschrien hat. Obwohl, schreien
würde ich das nicht gerade nennen … Ich habe mich nur so sehr für sie gefreut.
Du hast ihr gerade einen Antrag gemacht, nicht wahr?“ Sie zwinkerte mir zu.
„Ja, das hat er“, antwortete
statt meiner Vicky. „War das jetzt genug Vorstellung? Wir müssen aufbrechen.“
„Wieso hast du es denn
so eilig?“, wollte Natasha wissen. „Nur wegen des Streits mit deinen Eltern?
Wir dachten, du bist das ganze Wochenende hier? Lass uns einfach zu mir gehen.
Ich lebe allein, da kann dir niemand auf die Nerven gehen. Wir können etwas
trinken und uns unterhalten, um uns besser kennenzulernen. Ich habe noch etwas
Martini im Haus. Wie wäre es damit?“
Auch ohne meine
Intuitionsfertigkeit wäre mir klar gewesen, das war keine gute Idee. Unter
anderem von meiner Erfahrung mit Vicky her wusste ich längst: Ein solch
erhöhtes Interesse an einem Fremden des anderen Geschlechts ist nie gut. Und
nachdem Natasha entweder Vickys beste Freundin oder ihre Erzfeindin war, musste
ich genau aufpassen, was ich tat.
Allerdings hatte ich
wegen des Verlaufs des Besuchs bei ihren Eltern ein schlechtes Gewissen Vicky
gegenüber, deshalb überließ ich ihr die Entscheidung. Wenn sie mit ihren
Freundinnen gehen wollte, war das in Ordnung; wenn nicht, fuhren wir einfach
nach Hause.
Ich hatte jedenfalls
bereits beschlossen, das gesamte Wochenende mit ihr zu verbringen. Die letzten
Wochen hatte ich jede Minute damit verbracht, mich an meine eigenen Grenzen zu
bringen, voller Angst, auch nur eine einzige Sekunde auf etwas anderes zu
verschwenden als das Verbessern meiner Level. Daher fühlte ich mich jetzt
komplett ausgelaugt. Es würde mir guttun, eine Weile lang an etwas ganz anderes
zu denken.
Auf einmal fielen mir
ein paar Einkaufstüten auf, die auf einer Bank standen.
„Sind das deine?“,
fragte ich Olga. „Soll ich sie hoch in deine Wohnung tragen?
Sie wirkte
verängstigt. „Oh nein, das ist in Ordnung. Ich schaffe das schon.“
„Ihr Mann ist verdammt
eifersüchtig“, erklärte Irina. „Er schlägt dich zuerst zu Boden und stellt erst
anschließend Fragen.“
„Oh, da hast du dir ja
einen richtigen Ritter in schimmernder Rüstung geangelt!“, schwärmte Natasha.
„Kann ich mir den mal ausborgen? Ha, ha – das war nur ein Scherz!“
„Ja, klar – träum
weiter“, bemerkte Vicky giftig und ignorierte, dass es scherzhaft gemeint
gewesen war. Ihre Stimme hatte sich verändert, war rauer, selbstbewusster
geworden, und erinnerte nun ein wenig an die eines Straßenjungen. „Danke für
die Einladung, aber wir müssen wirklich losfahren.“
„Nun schau sich das
einer an!“ Natasha stemmte die Hände gegen die Hüften. „Ganz die Großstadtdame,
was? Die Nase hochgetragen, und nicht nur die Nase. Bist du dir inzwischen etwa
zu fein dafür, deine Freundinnen aus der Schulzeit zu besuchen? Sie hat einen
vornehmen Job in einem großen Unternehmen, ein Auto und eine eigene Wohnung,
und jetzt heiratet sie auch noch einen Geschäftsmann! Was hast du bloß
angestellt, um das zu verdienen? In der Schule hast du nie etwas gelernt, ums
Verrecken nicht! Wo bleibt denn da die Gerechtigkeit? Manchen Leuten fällt eben
alles in den Schoß!“
„Halt die Klappe!“,
sagte Olga leise. „Fang gar nicht erst an!“
„Natasha, bitte
nicht“, unterstützte Irina sie.
„Also meinetwegen soll
sie ruhig weitermachen“, meldete sich Vicky zu Wort. „Lass sie doch sagen, was
sie zu sagen hat! Es liegt ja auf der Hand, was sie damit andeuten will. Aber
wer ist sie denn schon, dass sie sich ein Urteil erlauben kann?“
Sie drehte sich zu mir
um und drückte mir den Autoschlüssel in die Hand. „Geh und warte im Wagen!“
Alle drei Frauen
schauten mich an.
Aha, so sah die Sache
also aus! Mir wurden auf einen Schlag die Augen geöffnet.
Sobald Vicky wieder
mit ihren alten Freundinnen zusammen war, wurde aus dem netten Mädchen von
nebenan schlagartig die Alphazicke in unserer gerade zusammenwachsenden
Familie.
Ohne ein Wort zu
sagen, nahm ich ihr den Schlüssel ab. „Nett, euch kennengelernt zu haben,
Mädels“, verabschiedete ich mich von ihren Freundinnen. „Wir sehen uns.“
„Gleichfalls“,
antwortete Natasha für alle. „Tschüss, Phil!“
Auf dem Rückweg zum
Auto fragte ich mich, ob ich mit meinem Heiratsantrag nicht ein wenig zu
voreilig gewesen war. Wie sich gerade gezeigt hatte, kannte ich die wahre Vicky
überhaupt nicht. Hatte ich mich etwa zu sehr auf die Ansehenswerte des Systems
verlassen? Liebe 1/1 – ja, klar …
Aber was war denn eigentlich Liebe anderes als ein bestimmter biochemischer
Prozess im Körper? Vielleicht eine gewisse seelische Bindung? Auf jeden Fall
war romantische Vernarrtheit ja nun nicht unbedingt Liebe.
Mein Vater hatte mir
immer die Bedeutung eingetrichtert, die es hat, genau hinzuschauen, bevor man
einen Sprung wagte. Sobald eine Entscheidung nach einem solchen gründlichen
Blick aber erst einmal getroffen war, zog man sie auch durch. Nach dieser
Maxime lebte er. Angesichts meiner Neigung zur Impulsivität, meines explosiven
Charakters und meiner Unfähigkeit vorauszudenken war ich sein genaues
Gegenteil. Er hätte gewiss mindestens die nächsten beiden Jahre damit
verbracht, alle verfügbaren Szenarien zu überprüfen. Nach einer Entscheidung
für eine mögliche Partnerin hätte er dann weitere zwei oder drei Jahre
gebraucht, um zu überprüfen, ob sie für ihn auch tatsächlich die Richtige war.
Den Berichten zufolge waren meine Eltern bereits drei Jahre miteinander
befreundet gewesen, bevor sie ihr erstes Date hatten. Und die romantischen
Verabredungen setzten sich noch ein weiteres Jahr fort, bevor mein Vater ihr
endlich einen Antrag machte.
Tja, in dieser
Hinsicht war ich meinem Vater überhaupt nicht ähnlich. Bis zum heutigen Tag
hatte nichts in und an Vicky Unbehagen in mir ausgelöst. Sie schien ein guter
und treuer Freund, eine vertrauenswürdige Verbündete, eine leidenschaftliche
Liebhaberin und eine hervorragende Hausfrau. Außerdem hatte sie versprochen,
mir eine gute Ehefrau zu sein.
All das stimmte
tatsächlich – und hatte bis zu diesem Augenblick das vage, bislang noch völlig
undefinierte Gefühl überwogen, dass irgendetwas in unserer Beziehung nicht ganz
in Ordnung war.
Ich setzte mich ins Auto
und schaltete das Radio ein. Ohne dem fröhlichen Geplapper des DJs zu lauschen,
versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen und herauszufinden, was denn jetzt
eigentlich bei ihren Eltern gerade passiert war.
Hätte all das vor
wenigen Monaten stattgefunden, als ich noch nicht diese komische
Benutzeroberfläche im Kopf hatte, hätte ich ganz anders reagiert. Ich hätte
meine Erfolge maßlos übertrieben, ohne zu zögern in den schönsten Farben
ausgemalt, was ich alles erreicht hatte, so fragwürdig es auch war, und alles
getan, um mich bei ihren Eltern einzuschmeicheln. Ohne Zweifel hätte ich sie
auch schamlos belogen, wenn die Situation das erfordert hätte.
Damals hätte ich eine
ganze Menge Dinge ganz anders angefangen. Wahrscheinlich hätte ich Vicky auch
nicht nach der ersten miteinander verbrachten Nacht ins Kino eingeladen.
Doch jetzt, mit dieser
seltsamen Software im Kopf, schien ich genau das zu tun, was ich immer hatte
tun wollen, ohne diesen Wunsch jemals umzusetzen.
Ehrlich, korrekt und
mitfühlend zu sein, das ist nur in Träumen einfach. Wir sehen uns gerne als
Menschen mit diesen Eigenschaften, und genau auf diese Weise versuchen wir
auch, einige unserer eher fragwürdigen Handlungen zu rechtfertigen. Wir lügen,
um „keinen Staub aufzuwirbeln“, wir entschuldigen uns halbherzig, wenn wir
nicht nur Fremden, sondern auch den Menschen, die wir lieben, hartnäckig unsere
Hilfe verweigern. Schrittweise erweitern sich die Grenzen der Lüge, mit der wir
begonnen haben, während wir ungestraft immer dreister werden – oder einfach
Angst haben, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Wir leben mit Partnern
zusammen, die wir nicht lieben, wir gehen jeden Morgen zu einer Arbeit, die wir
hassen, wir schmeicheln unseren dämlichen Chefs. Und besitzen am Ende noch die
Frechheit, uns selbst so zu „lieben“, wie wir sind.
Das Hauptziel einer
jeden Lüge sind jedoch unweigerlich wir selbst. Wir belügen uns selbst, im
Kleinen wie im Großen. Wir geben uns das Versprechen, morgen zu erledigen, wozu
wir heute keine Lust haben. Wir kündigen an, dass wir bald ein neues Leben
beginnen werden, ohne damit je anzufangen. Wir hören mit dem Rauchen auf, nur
um kurz darauf die nächste Zigarette anzuzünden. Wir stellen das Trinken ein,
und greifen dennoch zur Flasche, denn es gibt ja immer eine Gelegenheit, etwas
zu begießen. Wir beschließen, endlich Sport zu treiben und „gute“ Bücher zu
lesen, doch stattdessen bleiben wir auf dem Sofa liegen, vertieft in
Schundliteratur, die Namen der Heldinnen und Helden rasch vergessen und ersetzt
durch neue aus dieser Fantasiewelt. Wir nehmen uns fest vor, nur ganz schnell
einmal die Feeds in den sozialen Medien zu überprüfen, und verbringen
anschließend Stunden dort, immer in der Hoffnung auf diese winzigen Dosen der
virtuellen Glückshormone wie Likes und Kommentare.
Und das ist ja auch
nur unser gutes Recht, nicht wahr? Wir alle studieren und arbeiten hart, und
manche von uns müssen auch noch ein Haus unterhalten. Wir werden müde. Wir
brauchen schließlich Erholung. Außerdem, jeder tut genau dasselbe. Wenn man
einmal alles bedenkt, geht es uns doch gut, oder?
Aber dieses Hamsterrad
verbirgt ein bedrückendes Gefühl der Selbsttäuschung. In den seltenen
Augenblicken der Hellsichtigkeit geben wir es zu und legen neue Aufgabenlisten
an, lesen Artikel über Selbstmotivierung, zählen Kalorien, packen unsere
Sporttasche, drucken uns eine Liste der 100 besten Bücher aller Zeiten aus, in
der besten Absicht, sie alle zu lesen; wir hören mit dem Rauchen auf, finden
einen neuen Job, absolvieren Kurse und Seminare. Dann berichten wir über all
das in den sozialen Medien und ersetzen die wunderbaren Erwartungen eines neuen
erfolgreichen Lebens mit weiteren mikroskopischen Injektionen von Glück, die
wir aus mehr Likes für unsere Beiträge über das neue Leben ernten, das wir
beginnen wollen.
Ich kannte besser als
viele andere die hässliche Wahrheit all dieser großartigen unerfüllten Pläne
und energiegeladenen Neuanfänge, die zum Scheitern verurteilt sind.
Es hatte der Bewertung
durch eine unparteiische außerirdische Software bedurft, um mich selbst so zu
sehen, wie ich wirklich war, statt als den imaginären Phil, für den ich mich
gehalten hatte. Wie heißt es doch so schön schon in der Bibel? Du wurdest
gewogen und für zu leicht befunden …
Was bedeutete, dass
mein heutiger Anfall idiotischer Ehrlichkeit bei Vickys Eltern seine Ursache in
meinen jüngsten Erfahrungen mit der Oberfläche hatte. Hätte ich die Mitteilung
über die System-Quest sofort gelesen, wäre ich womöglich umgeschwenkt und hätte
ihnen Lügen erzählt, wer weiß. Zumindest hätte ich mich nicht so naiv Fremden
gegenüber geöffnet. Aber jetzt war es passiert, die Katze war aus dem Sack.
Das Merkwürdige war,
ich hatte das sichere Gefühl, ich hätte auch dann nicht gelogen, wenn ich von
der Quest gewusst hätte. Früher oder später wäre die Wahrheit doch
herausgekommen, und ich wollte keine Familie auf Lügen, Halbwahrheiten und
Übertreibungen aufbauen. Ehrlichkeit ist immer der beste Weg, und zwar auch die
Ehrlichkeit sich selbst gegenüber.
Als ich Natashas
Schrei gehört hatte, hatte ich zunächst vermutet, dies sei Teil einer
unglaublichen neuen Entwicklung, die auf das Programm zurückzuführen war. Ich
hatte gedacht, ich hätte Vickys Stimme erkannt und mir vorgestellt, sie würde
von irgendwelchen Raufbolden angegriffen. Und insgeheim gehofft, ich könnte zu
ihrer Verteidigung meine neuerworbenen Kampfkünste einsetzen. Natürlich würde
ihr Vater alles beobachten und seine Meinung über mich ändern. Anschließend
schüttelte er mir die Hand, lud mich erneut in seine Wohnung ein, und am Ende
sahen wir uns alle gemeinsam das Fußballspiel an.
Meine eigene Naivität
und mein Glaube an Märchen brachte mich zum Lächeln.
Der Hof schien
verlassen. Es war Freitagabend, aber die Sonne stand noch immer hoch am Himmel.
Heute war der längste Tag des Jahres. Wenigstens fühlte er sich für mich so an.
Ich hatte ein Leben geführt, das mich an den Film Und täglich grüßt das Murmeltier erinnerte. Aufstehen, joggen,
trainieren, lesen, Fertigkeiten verbessern, ein schnelles Abendessen und ein
wenig Entspannung mit Vicky, und schon lag ich wieder im Bett. Die einzelnen
Tage verflogen so schnell, ich registrierte es gar nicht richtig; es kam mir
vor, als würde ich direkt nach dem Aufstehen schon wieder ins Bett fallen.
Der heutige Tag
allerdings zog sich endlos in die Länge und schien kein Ende zu finden.
Ich schaute auf die
Uhr. Inzwischen hatte ich bereits eine halbe Stunde auf Vicky gewartet. Ich
stieg aus, verschloss den Wagen und machte mich auf die Suche nach ihr, um
herauszufinden, ob alles in Ordnung war.
Auf halbem Weg zu dem
Ort, an dem sie mit ihren Freundinnen zusammengestanden hatte, kam sie mir
entgegen. Sie ging rasch, den Kopf und die Schultern gesenkt. Es war deutlich
zu sehen, sie war in keiner guten Stimmung.
„Vicky, ist alles in
Ordnung?“, fragte ich.
Sie schaute auf und
nickte, begab sich dann zum Wagen. Schweigend folgte ich ihr.
Auf der Rückfahrt
sagte sie kein Wort. Auf all meine Fragen und Versuche, eine Unterhaltung in
Gang zu bringen, reagierte sie lediglich einsilbig. Am liebsten hätte ich sie
in Ruhe gelassen, beschloss jedoch, einen letzten Versuch zu wagen.
„Hör mal, was hat es
denn damit auf sich, dass du stellvertretender Direktor einer Fabrik bist? Hat
dein Vater damit etwa Ultrapak gemeint?“
„Warum fragst du? Hast
du etwa ein Problem damit?“
„Es ist nur … All
seine Anschuldigungen beruhten auf dieser kleinen Unwahrheit, das ist alles.“
„Ach ja, wirklich?
Waren sie das? Und ich dachte, du selbst hättest dich als nutz- und
arbeitslosen Versager bezeichnet? Ich glaube nicht, dass das irgendetwas mit meinem
Job zu tun hatte.“
Das von jemandem zu
hören, den ich liebte, traf mich tief. Doch ich unterdrückte den aufsteigenden
Zorn. Sie hatte nur ausgesprochen, was die Wahrheit war, oder zumindest, was
sie für die Wahrheit hielt – wie auch immer ich darüber dachte.
„Ich habe ja nur
gefragt“, verteidigte ich mich. „Glaubst du wirklich, ich bin ein Versager?“
„Ich glaube überhaupt
nichts – lass mich einfach in Ruhe!“ Sie überholte einen anderen Wagen. Ich
sagte nichts, bis sie das Manöver abgeschlossen hatte.
Sie war total
angespannt; ihre Finger umklammerten das Lenkrad so heftig, dass ihre Knöchel
sich weiß gefärbt hatten. Ich spürte, sie war nicht bereit zu reden. Ihr Profil
zeigte mir, sie hatte Angst. Der Wert lag bei 14 %. Das war nicht allzu viel,
aber dennoch … War es die Angst eines Autofahrers mit wenig Übung auf der
Straße? Oder die Furcht vor einem möglichen Streit zwischen uns?
„Okay, reden wir nicht
über mich“, setzte ich erneut an. „Warum sind deine Eltern so sicher …“
„Sei still. Bitte! Je
mehr du sagst, desto schlimmer machst du die Sache.“
„Vicky, wenn wir in
solchen Augenblicken die Luft nicht bereinigen können, wie sollen wir dann
zusammenleben?“
„Was willst du denn
hören?“, fragte sie gleichgültig und lehnte sich im Sitz zurück.
Ich erinnerte mich
daran, was ihr Vater über ihre erfolgreiche Karriere gesagt hatte, über ihr
Auto und ihre Wohnung. Und ich dachte an Natashas Vorwürfe.
Dann fiel mir ein, was
Vicky mir selbst berichtet hatte: „Ich
bin seit drei Jahren bei Ultrapak. Angefangen habe ich als Büromanager, und
dann haben sie mich in die Personalabteilung versetzt.“
So sehr ich auch
versuchte, es zu ignorieren – irgendetwas passte hier ganz und gar nicht
zusammen. Wie kann es sich ein Büromanager in nur drei Jahren leisten, eine Eigentumswohnung
zu kaufen? Laut ihrem Vater hatte sie das alles ja ganz allein bewerkstelligt,
und vorher hatte sie, wie sie mir selbst geschildert hatte, eher am Hungertuch
genagt.
„Belügst du deine
Eltern, um zu erklären, wie du dir deine eigene Wohnung leisten kannst?“,
fasste ich meinen Verdacht in einem Satz zusammen.
„Ich habe sie nicht
belogen“, widersprach sie. „Für sie ist ein Personalmanager eine große Sache.
Er entscheidet schließlich, wer eingestellt wird und wer nicht.“
„Personalmanager? Aber
dein Vater hat gesagt, du seist stellvertretender Direktor.“
„Und wenn ich ihnen
das erzählt habe – na und?“, blaffte sie wütend. „Was hat das denn mit allem zu
tun? Damit tue ich niemandem weh. Sie fühlen sich großartig, weil ihre Tochter
es geschafft hat! Meine gesamte Kindheit über haben sie mich ständig
herumgeschubst. Sie haben sich mir gegenüber schrecklich benommen, als ich ein
Kind war. Und jetzt sind sie stolz auf mich. Reicht dir das als Erklärung?
Außerdem geht das niemanden etwas an! Und am allerwenigstens dich!“
Dein Ansehen bei Victoria „Vicky“ Koval hat
sich verringert.
Derzeitiges Ansehen:
Seelisches Ansehen: Gleichgültigkeit 25/30
Emotionales Ansehen: Liebe 1/1
Wie war denn das
möglich? Wie konnte jemand einem Menschen gegenüber gleichgültig sein, den er
liebte? Was für eine Art Liebe war denn das bitte?
Das erste Mal
zweifelte ich die Angemessenheit des Bewertungssystems dieses mysteriösen
Programms an. Was wusste denn auch schon ein herzloser künstlicher Verstand über
den explosiven Cocktail an menschlichen Gefühlen, wenn er sich immer auf die
Daten verlassen musste, die er aus dem universellen Infospace heruntergeladen
hatte? Das musste ja dazu führen, dass alles viel zu sehr vereinfacht wurde.
Oder vielleicht reichte nur meine Erkenntnis noch nicht aus, um den Sinn
dahinter zu durchschauen.
Ich ließ Vicky in
Frieden. Den Mut, sie über die Höhe ihres Gehalts und etwaige weitere
Einnahmequellen auszufragen, die ihr den Erwerb einer Eigentumswohnung
ermöglicht hatten, brachte ich einfach nicht auf. Es herrschte bedrückendes
Schweigen im Wagen. Endlich wiegte mich das Rauschen der Reifen aus dem Asphalt
in den Schlaf.
Ich wurde jäh
wachgeschüttelt. „Steig aus. Wir sind da.“
Ich kletterte aus dem
Auto und wartete darauf, dass sie mir folgte. Doch stattdessen kurbelte sie das
Seitenfenster herunter. „Ich fahre in meine Wohnung“, erklärte sie
unfreundlich, dann legte sie einen Schnellstart hin und ließ mich im Hof
stehen.
Lange Zeit stand ich
da, unentschlossen, ob ich ein solches Verhalten akzeptieren konnte. Was sollte
ich denn jetzt bitte tun? Sollte ich sofort versuchen, mich wieder mit ihr zu
versöhnen? Oder war es besser, sie eine gewisse Zeit in Ruhe zu lassen?
Mir war das Herz
schwer. Ich fühlte mich hundsmiserabel.
Das Programm spielte
verrückt, erstellte neue Aufgaben und löschte sie wieder:
Mich mit Vicky versöhnen
Vicky zurückgewinnen
In Vickys Wohnung gehen
Mit Vicky reden
Die Probleme mit Vicky lösen
Mich von Vicky trennen
Am Ende waren alle
Aufgaben, in denen ihr Name vorkam, wieder verschwunden, und es blieb nur die
Arbeit übrig, das Geld für die Büromiete aufzubringen.
Ich begab mich in
meine Wohnung, kochte ein einfaches Abendessen, mehr und mehr davon überzeugt,
dass ich wirklich zu voreilig gehandelt hatte. In diesem speziellen Stadium
meines Lebens hatte ich langsam wirklich mehr als genug von all den Gefühlen
und Beziehungen. Ob Vicky und ich nun wieder zusammenkamen oder uns trennten –
in jedem Fall würden meine Anstrengungen in dieser Hinsicht mich viel zu viel
Zeit und Energie kosten. Ihr Stil bestand ersichtlich darin, mich zuerst ganz
nah an sich heranzuholen und dann wieder fortzustoßen. Das war nichts als die
pure Manipulation, und ab sofort würde es bei mir nicht mehr funktionieren.
Das zweite Mal in
diesem Monat – das erste Mal war ihre unbegründete Eifersucht auf Marina
gewesen – beschloss ich, die Sache ruhig angehen zu lassen und einfach
abzuwarten, wie die Dinge sich entwickeln würden. Wenn sie wollte, konnte sie
jederzeit wieder zu mir zurückkommen. Und wenn sie keine Anstrengungen in
dieser Richtung unternahm, war es klar, wo ihre Prioritäten lagen.
Das Programm
unterbrach meine Überlegungen und belohnte mich mit 2.000 Punkten für eine
sozial bedeutungsvolle Handlung. Wofür war das denn? Ich las die aktuellen
Verbrechensberichte. Methodisch arbeitete ich mich durch die lokalen
Nachrichten im Portal unserer Stadt. Dabei stolperte ich über die Meldung, dass
der sechsjährige Joseph Kogan gefunden worden war. Um die laufende Untersuchung
nicht zu gefährden, wurde der Name seines Entführers nicht genannt.
Irgendetwas an dem
Bericht weckte eine vage Erinnerung an meinen früheren Albtraum über einen
pädophilen Beamten.
Ich verbrachte die
gesamte Nacht damit, das Konzept für meine Agentur zu Papier zu bringen.
Momentan sah ich den
Verkauf zumindest im Anfangsstadium als Haupteinnahmequelle. Ja, es war genau
dieselbe Tätigkeit, die ich bei Ultrapak ausgeübt hatte. Ich verfügte zwar
nicht über meine eigenen Warenlager oder meine eigene Logistik, aber sehr wohl
über das, was heutzutage in der Welt am meisten zählte: Informationen. Mit
variierenden Suchfiltern konnte ich herausfinden, wer etwas brauchte und
welchen Preis er bereit war, dafür zu bezahlen. Anschließend musste ich
nachforschen, wer genau das anzubieten hatte.
Das waren simple
Handelsgeschäfte; der Art, die Vickys Vater mit dem Verkauf von Erdnüssen im
Kino gleichgesetzt hatte. Es umfasste weiter Vermittlungsdienste und das
Zusammenbringen von großen Anbietern mit ebenso großen Käufern.
Der soziale Zweck
meines Unternehmens war und blieb derselbe: eine Personalvermittlungsagentur.
Millionen konnte ich damit zwar keine verdienen, aber dafür drei Fliegen mit
einer Klappe schlagen. Das konnte mir ein anfängliches Einkommen verschaffen,
mir erlauben, Erfahrungspunkte zu sammeln, und vor allem würden ich – oder
vielmehr meine Agentur – sich einen Namen machen und Ansehen gewinnen.
Anschließend konnten
wir uns an größere Geschäfte wagen, wie etwa die Vermittlung von leitenden
Angestellten für führende Marken. Die wertvollste Ressource jeder Firma ist ihr
Personal. Wie hatte Genosse Stalin (möge er in der Hölle schmoren!) doch so
treffend einmal gesagt? „Arbeitskräfte
sind der Schlüssel“. Das hätte in meinem Fall nicht zutreffender sein
können.
Sobald meine Agentur
erst einmal bekannt geworden war, würde das Geld schon fließen. Womöglich
begann ich dann damit, eine Sportabteilung hochzuziehen. Das kam allerdings nur
in Frage, wenn ich meine Lizenz für das Programm irgendwie verlängern konnte.
Ich konnte mich auf die Suche nach Talenten im Fußball, Eishockey, Tennis,
Boxen und in anderen Sportarten begeben. Auch konnte ich mich um sozial
schwache Kinder aus benachteiligten Familien oder solchen mit alleinerziehenden
Eltern und aus Waisenhäusern bemühen und sie mit verständnisvollen Trainern
oder Sportschulen zusammenbringen, damit sie gefördert werden konnten.
Ein solcher Ansatz
konnte auch in anderen Bereichen funktionieren. Wie viele talentierte Künstler,
Schriftsteller, Sänger, Tänzer oder Schauspieler schmachten in der
Vergessenheit? Nur wenige schafften es, bekannt zu werden.
Und dann waren da ja
auch noch die medizinische Diagnose, die Suche nach vermissten Personen, die
Kopfgeldjagd, das Aufspüren gefährlicher Verbrecher, eine Detektei … Es gab
viele Dinge, die ich aufziehen konnte – allerdings nicht allein.
Wie wäre es, wenn ich
die ursprüngliche Agentur lediglich als Sprungbrett nutzte? So konnte ich
Finanzmittel beschaffen und ein Team der besten Köpfe in den
vielversprechendsten Wissenschaften zusammenstellen. Und dann …
Energisch rief ich
mich zur Ordnung und stellte meine Tagträumerei ein. Es hatte keinen Sinn, so
weit im Voraus zu planen. Dennoch legte ich eine Liste der Dinge an, die eine
nähere Untersuchung wert waren: erweiterte Realität, der universelle Infospace,
Biotechnologien, Blockketten-Technologien, Wetware … Ich konnte zum Beispiel
ein internationales Unternehmen gründen, die besten Kräfte in verschiedenen
Feldern wählen, und ein paar gute Investoren auftun (was dank meiner Oberfläche
ein Leichtes war).
All diese
Möglichkeiten nahmen mir den Atem.
Das Einzige, was ich
brauchte, war Zeit. Aber die Uhr tickte für den Ablauf meiner Lizenz.
Verdammt! Warum hatte
ich bloß all diese kostbare Zeit verschwendet? Zum Beispiel damit, die Beziehung
zu Vicky zuerst aufzubauen und anschließend zu zerstören? Oder wie ein
kopfloses Huhn herumzulaufen und jedem Hinz und Kunz Verpackungsmaterialien zu
verkaufen? Oder zu boxen? Oder Stunden im Stadion im Kreis herumzulaufen wie
ein Esel am Mühlstein? Oder meine Fertigkeiten in Kochen und Landwirtschaft zu
verbessern?
Die Erkenntnis meiner
eigenen Dummheit war ernüchternd.
In drei Tagen war
endlich die laufende Optimierung abgeschlossen, was meine Lernfertigkeiten auf
Level 7 brachte. Noch immer verfügte ich über fünf Systempunkte, die ich mir
bei meinen jüngsten Verbesserungen in den Leveln aufgespart hatte. Ich war fest
entschlossen, sie ebenfalls in meine Lernfertigkeiten zu investieren. Das
brachte mich auf Level 12, mit einer Fertigkeitsentwicklungsrate von 450 %.
Dazu kam noch der Bonus von 50 % für die Entwicklung primärer Fertigkeiten, und
ich war bei 500 % angelangt. Das konnte ich dann noch einmal mit dem
Statistikverstärker multiplizieren, den mein Premium-Konto mir verschaffte, und
der die aus dem Einsatz von Fertigkeiten gewonnenen Erfahrungspunkte
verdreifachte. Was am Ende 1.500 % ergab. Das bedeutete, ich konnte jede
Fertigkeit fünfzehn Male schneller erwerben als normale Menschen.
Ich könnte mich sogar
dazu entschließen, eine bislang noch völlig unentwickelte Fertigkeit anzugehen,
wie etwa das Fußballspielen, eine Schießsportart oder eine fremde Sprache, ein
paar Tage an der Verbesserung arbeiten und sehen, wie schnell sie vor sich
ging. Und falls das funktionierte …
Bei dem Gedanken
verzogen meine Lippen sich zu einem Lächeln. Möglicherweise würde sich dies
jetzt als die verrückteste Zeit sowohl für meine Spielerfahrung als auch für
mein wirkliches Leben erweisen.
Außerdem durfte ich
mich ja auch noch auf die Aktivierung der heldenmütigen Fähigkeiten freuen.
Davon abgesehen,
wartete ich konstant auf neue Angebote des Systems, wie ein Kind auf
Weihnachten. Was konnte ich wohl noch alles über den universellen Infospace
erfahren, sobald ich erst einmal das nächste Erkenntnislevel erreicht hatte?
Schon der bloße
Gedanke an all die Belohnungen, die für einen Gamer das Höchste sind, beruhigte
mich und ließ mich die Zukunft – womöglich ohne Vicky – voller Zuversicht
betrachten. Ich schob die Erinnerungen an den misslungenen Besuch bei ihren
Eltern in den Papierkorb meines Gedächtnisses, zusammen mit denen an die ebenso
unlogischen wie unfairen Angriffen ihres Vaters und an Vickys eigenes
merkwürdiges Verhalten.
Und wenn ich sie noch so sehr liebte.
[1]
Dimedrol: Ein Antihistaminikum mit beruhigender Wirkung, das bei russischen
Kriminellen sehr beliebt ist.
[2]
Dies entspricht etwa 75 USD pro Monat, was für russische Verhältnisse extrem
billig ist.
[3]
Borschtsch: Russische Suppe aus roten Rüben.
[4] Ein
Dampfbadehaus ist eine besonders auf dem Land geläufige russische Version einer
Sauna, beheizt mit einem Holzofen. Es
handelt sich dabei um eine kleine einstöckige Holzhütte, die sich meistens in
einiger Entfernung vom Haupthaus befindet, normalerweise im hinteren Bereich
des Gartens, und bevorzugt in der Nähe einer Wasserquelle, wie eines Bachs oder
Flusses.
[5] Etwa 7,00 USD pro Quadratmeter.
[7]
Pelmeni: Russische Teigtaschen, mit Fleisch gefüllt, ein sehr beliebtes
Gericht. Kann fertig zubereitet im Supermarkt gekauft werden. Aber jeder
russische Koch und jede russische Köchin, die etwas auf sich halten, verfügt
über ein eigenes Familienrezept.
Vorbestellung: Amazon
Veröffentlichung am 4. Juni 2019
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