Saturday, March 23, 2019

Spiegelwelt: Der tägliche Grind von Alexey Osadchuk




Spiegelwelt
Der tägliche Grind
von Alexey Osadchuk




Vorbestellung: Amazon
Veröffentlichung am 21. Juni 2019




Für meine geliebte Frau



„Sie müssen verstehen, Herr Ivanenko, dass unsere Bank Sie nicht als potenziellen Kreditnehmer ansehen kann.“ Der Bankangestellte blickte mir mit falschem Mitgefühl in die Augen. Ein Schweißtropfen rann an seiner fetten, sauber rasierten Wange herunter. Der Mann verzog seine dicken, rosa Lippen zu einem butterweichen Lächeln. Seine kleine, weiße Hand, die wohl nie etwas Schwereres als Messer und Gabel gehalten hatte, justierte ständig den Krawattenknoten. Sogar, wenn er sie gelegentlich ballte, konnte ich in seiner fetten Faust ausmachen.
„Warum? Habe ich jemals eine Rate versäumt?“
Meine Frau und ich stellen sicher, dass wir immer Notfallkapital auf unserem Konto haben. Wir nennen es unsere „letzte Reserve“: Wir müssen dieses Geld haben, egal, was auch immer sein mag. Am Ersten jedes Monats bekommt die Bank immer ihr Pfund Fleisch, unter allen Umständen.




„Nein, keineswegs!“ Der Bankangestellte warf seine molligen Hände in die Luft. „Ich wünschte, wir hätten mehr Kunden, die so pünktlich zahlen wie Sie.“
„Was ist dann das Problem?“ Ich berührte meinen Nasenrücken und versuchte, die nicht-existente Brille hochzuschieben.
Die Macht der Gewohnheit. Es hatte die Brille vor zwei Wochen erwischt, als ich zum ersten Mal in meinem Leben ohnmächtig geworden war. Ich war nicht krank, nein. Dem Arzt zufolge war es Erschöpfung (wie er es ausgedrückt hatte). Meine Nerven lagen blank. Zusammen mit all den schlaflosen Nächten war es kein Wunder, dass ich ohnmächtig geworden war. Dabei hatte ich meine Brille zerbrochen, was ausgesprochen blöd war. Nun musste ich ständig die Augen verengen, um überhaupt etwas erkennen zu können. Aber ich konnte mir einfach keine neue leisten. Alles verfügbare Geld war für die Behandlung meiner Tochter bestimmt.
„Sie müssen verstehen“, fuhr der Bankangestellte fort. „Selbst, wenn Sie drei Leben hätten, könnten Sie nie die Summe zurückzahlen, um die Sie uns bitten, schon gar nicht in Kombination mit dem Geld, das Sie uns bereits schulden. Sie haben nichts mehr zu verpfänden. Sie haben keine Verwandten, die als Bürge agieren könnten. Ihr Einkommen ist unterdurchschnittlich. Ihre Frau arbeitet nicht, wenn Sie meine Anmerkung entschuldigen.“ Dieses süße, knuddelige Individuum hielt plötzlich inne, nachdem er wohl etwas Unfreundliches in meinem Blick gelesen hatte.
Ich seufzte schwer, versuchte, mich zu beruhigen, und blickte zur Seite. Jetzt die Kontrolle zu verlieren, wäre fatal. Dieser Kredit war lebenswichtig für uns. Oder eher für meine Tochter.
Es hatte alles mit Herzgeräuschen angefangen. Dem Arzt zufolge war das völlig normal für eine Dreijährige. Es würde sich auswachsen, hatte er gesagt. Das hatte sich nicht bewahrheitet. Christina war nun sechs, und ihr Herz – ihr zweites Herz – war in einem schlechten Zustand. Ihr eigenes hatte innerhalb eines Jahres aufgegeben.
Um Geld für die Operation zu beschaffen, hatten wir sofort unsere Wohnung und unser Häuschen auf dem Land verkauft. Wir feierten leise, fernab von fremden Blicken, als wir erfuhren, dass es ein Spenderherz für sie gab. Andere hätten uns vielleicht verurteilt. Ein Spenderherz bedeutete, dass jemandes Kind gerade gestorben war. Menschen, die nie Nächte am Sterbebett ihrer Tochter verbracht haben, werden mich nie verstehen. Ich scherte mich nicht darum, was sie denken könnten. Mich kümmerte nur, dass mein Baby am Leben war.
Die Operation hatte in Deutschland stattgefunden, durchgeführt von einem Team von Top-Chirurgen an einer Spitzenklinik. Der Arzt hatte uns versichert, dass, wenn das transplantierte Herz angenommen würde, unser Mädchen ein glückliches Leben würde führen können. Mit Freudentränen in den Augen hatten wir ihm geglaubt. Im ersten Jahr hatte sich unser Vertrauen in seine Worte in unseren eigenen Herzen verankert. Christinas Gesundheit hatte sich deutlich verbessert. Sie war nicht mehr kurzatmig. Ihre Nägel waren nun rosa, nicht blau. Mein Mädchen war stark. Die Ärzte versicherten uns, dass ein junger Körper wie ihrer die Krankheit überwältigen würde.
Dann kehrten die Probleme zurück.
Chronische Abstoßung, wurde uns gesagt. Anscheinend war ihr Blut das Problem.
Sie hatten meinem Mädchen eine Herzprothese implantiert, inklusive einer 25 Pfund schweren Batterie, die alle zwölf Stunden aufgeladen werden musste. Uns wurde gesagt, es sei der jüngste medizinische Durchbruch. Eine vorübergehende Maßnahme, während sie ein neues Spenderherz suchten. Falls sie je eines fänden.
Wir hatten bereits eine Woche gewartet, als Dr. Klaus zu uns kam. Er erklärte uns, dass wir nun im „Risikobuch“ standen. Anders ausgedrückt: Sie hatten uns auf die schwarze Liste gesetzt. Christinas Körper hatte das erste Spenderherz abgestoßen, daher fanden wir uns nun am Ende der Warteliste wieder.
Ich werde nie den Schmerz und die Tränen in den Augen meiner Frau vergessen, als sie leise fragte: „Das ist also das Ende, ja?“ Ihre blassen Lippen zählten mechanisch die Anzahl der Extrasystolen der Herzprothese, die laut in der Brust meiner Tochter tickten. Sie hatten uns gewarnt, dass Patienten, die solche Operationen durchlaufen mussten, oft psychopathologische Krankheiten entwickelten. Aber in unserem Fall hatte Christina das Ticken und die leichte Vibration in ihrer Brust anstandslos hingenommen. Sie hatte sogar gescherzt, dass sie nun eine „tickende Herzbombe“ hätte. Aber Sveta – meine Frau – war nicht so stark. Sie überprüfte die Batterie und alle Verbindungen jede halbe Stunde und lag fast die ganze Nacht wach und lauschte dem Klopfen des mechanischen Herzens. Erst, wenn am frühen Morgen die ersten Pfleger kamen, schlief sie trotz der Geräuschkulisse des Fernsehers ein, mit ihrer Hand weiterhin auf der Brust ihrer Tochter.
Dr. Klaus hatte seine Rede beendet, war aber offenbar nicht in Eile, zu gehen. Wir fühlten die Anspannung, wie zwei Hyänen vor der Attacke auf ihre Beute. Gab es doch noch Hoffnung? Laut ihm gab es sie.
Mit jedem Wort weiteten sich die Brauen meiner Frau. Anscheinend hatte ein japanisches Labor vor etwa einem Jahr erfolgreich ein funktionierendes menschliches Herz gezüchtet. Und, was noch wichtiger war, es war erfolgreich in einen Patienten implantiert worden – hier, in dieser Klinik, von Dr. Klaus persönlich. Die Japaner verwendeten die eigene DNA des Patienten, was in unserem Fall eine perfekte Lösung darstellte.
Es war ein Wunder – jenes, das wir so dringend brauchten. Dr. Klaus sprach weiter und beschrieb die komplette Prozedur. Wir hörten ihm zu, in Gedanken bereits bei unserem Baby, gesund und am Leben.
Seine Erwähnung der Kosten brachte uns schnell auf den Boden der Realität zurück. Dr. Klaus hatte bereits Kontakt mit den Japanern aufgenommen. Der gesamte Prozess, von der anfänglichen „Konzeptionsphase“ bis zum gewachsenen Organ, dauerte etwa zwei Monate, plus oder minus eine Woche. Addierte man die Kosten des Eingriffs selbst, inklusive des Transports und der Operation, zu den Krankenhausrechnungen und den unausweichlichen Steuern, sprachen wir von etwa zweihundertfünfzigtausend Dollar. Inklusive jeglicher Rabatte, die sowohl die Japaner als auch die Klinik selbst anboten. Als ich die Preisliste später genauer prüfte, sah ich, dass sie die Profite im Prinzip einfach aufteilten. Ein Herz zu züchten kostete noch etwas mehr als eines zu implantieren.
Hatte uns der Preis schockiert? Ehrlich gesagt: Nein. Wir waren glücklich. Als Dr. Klaus taktvoll den Raum verlassen hatte, um uns Zeit zum Nachdenken zu geben, hatten wir uns weinend umarmt. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir nicht einmal daran gedacht, wo das Geld herkommen sollte. Unser einziger Gedanke war, dass unser Mädchen am Leben bleiben würde. Dieses Stück Stahl, das wie eine Zeitbombe in ihrer Brust vor sich hin tickte, würde verschwinden. Das Bett würde verschwinden. Christina hätte ein richtiges, menschliches Herz! Sie würde leben!
Wir hatten mit der deutschen Klinik den Vertrag über die gesamte Prozedur unterzeichnet. Sie hatten eine DNA-Probe an die Japaner geschickt, doch diese hatten eine Vorauszahlung von fünfzigtausend Dollar verlangt, ehe sie fortfahren würden. Sie hatten zunächst um siebzigtausend gebeten, doch die Deutschen hatten uns geholfen, zu verhandeln. Und sobald wir das Geld auf das Konto der Japaner überwiesen hatten, würde das Herz meines Mädchens zu wachsen beginnen.
Ich hatte alle Papiere unterzeichnet, meine Familie geküsst und den ersten Flug nach Hause genommen. Die Hoffnung verlieh mir Flügel.
Meine Frau Sveta war in der Klinik geblieben. Wir hatten gerade noch genug Geld für drei weitere Wochen im Krankenhaus. Ich musste mich beeilen.
„Herr Ivanenko!“ Der knuddelige Bankangestellte berührte leicht meine Hand. „Ist alles in Ordnung?“
Ich schreckte auf. „Was ist? Entschuldigung ...“
Der Bankangestellte zog seine Hand in einer äußerst femininen Geste zurück. „Ich dachte, Ihnen wäre unwohl.“
„Nun“, sagte ich mit einem Blick auf sein Namensschild, „Herr Antonow, Sie haben keine Ahnung, wie unwohl mir ist. Schon gut.“ Ich schlug auf meine Knie und stand auf. „Dann werde ich wohl gehen.“
„Einen schönen Tag noch“, murmelte er hinter meinem Rücken.
Als ich seinen Arbeitsplatz verließ, fiel mein Blick kurz auf ein farbenfrohes Poster: lachende Gesichter, mittelalterliche Kleidung. Ich las nicht, worum es ging. Ich hatte andere Dinge zu tun.
An der Tür verharrte ich, um sie für eine rundliche Dame aufzuhalten, als ich hörte:
„Herr Ivanenko! Warten Sie bitte!“
Herr Schantarski, der Bankmanager, stand in der Tür seines Büros und lächelte mich an. Ein eindrucksvolles Gesicht, etwas Grau an seinen Schläfen, ein teurer Anzug und gute Schuhe. Alles an ihm sagte, dass dieser 45-jährige Mann absolut glücklich war.
Tja. Ich sollte wirklich mit ihm reden. Man weiß ja nie. Vielleicht konnte er uns helfen.
Schantarski schwang seine Bürotür weit auf. „Bitte kommen Sie herein und nehmen Sie Platz.“ Eine goldene Uhr klimperte an seiner manikürten Hand, als er auf einen weichen Stuhl zeigte. „Möchten Sie etwas Kaffee?“
„Lieber etwas Wasser, danke“, sagte ich, während mein Gehirn auf Hochtouren arbeitete, um in dem kommenden Gespräch mit den passenden Argumenten aufwarten zu können.
„Kaffee für mich, bitte“, teilte er seiner Sekretärin mit, ehe er die Tür schloss, „und etwas Wasser für Herrn Ivanenko.“
Sein teures Rasierwasser stieg mir in die Nase, als er meinen Stuhl umrundete und seinen gewandten Körper in seinen Sitz senkte. Seine lebhaften blauen Augen blickten mich mit Mitgefühl an.
Nicht einmal eine Sekunde lang zweifelte ich daran, dass es echt war.
„Ich bin mir sicher, dass Sie wütend auf mich sind“, lächelte er. „Sie haben wahrscheinlich schon eine passende Verschwörungstheorie dazu entwickelt. Sie müssen denken, dass ich Sie loswerden wollte und einen Angestellten schickte, um sich darum zu kümmern.“
Ich winkte seine Andeutung ab. „Der Gedanke wäre mir nie gekommen. Sie sind zu beschäftigt. Niemand erwartet, dass ein Bankmanager jeden Kunden von vorne bis hinten bedient."
„Ich kann es, wenn mich der Kunde braucht“, grinste er. „Im Westen hat angeblich jeder Kunde Zugang zum Büro des Bankmanagers. Keiner von denen würde sich trauen, Einspruch zu erheben. Hier in Russland leben wir noch im Mittelalter."
Ich lächelte zurück. Da waren wir uns einig. Ich erinnerte mich an eine Bank in Dresden. Ich war dort gewesen, um Geld zu wechseln, und hatte eine alte Frau gesehen, die wie ein Eisbrecher durch den Schalterraum geschritten war, direkt ins Büro des Managers, ohne auch nur zu klopfen. Der Manager war aufgesprungen und hatte einen riesigen Rummel um sie veranstaltet, ihr einen Stuhl angeboten, sie nach ihren Wünschen befragt. Zunächst hatte ich gedacht, dass sie eine Millionärin wäre, doch, nein, mir wurde erklärt, sie wäre eine einfache, pensionierte, alte Dame wie jede andere.
Die Tür wurde geöffnet und die Sekretärin trat mit einer Tasse Kaffee und einem Glas Wasser auf einem Tablett ein.
„Danke“, sagte Schantarski.
„Danke“, echote ich und streckte mich nach dem Glas, das für mich bestimmt war.
„Wenn ich darüber nachdenke“, fuhr Schantarski fort, „habe ich in Europa nie einen Bankmanager mit einer eigenen Sekretärin gesehen, geschweige denn mit einer, die ihm Kaffee macht.“
„Ich auch nicht“, stimmte ich zu.
Wir hielten inne, nippten an unseren Getränken und setzten dann unser Gespräch fort.
„Zurück zum Thema“, meinte Schantarski. „Ich glaube, dass ich Ihnen eine Erklärung schuldig bin. Ich bin gerade vor einer Stunde aus München eingeflogen. Ich hatte kaum Zeit für eine Dusche und ein Frühstück im Stehen. Ich habe meine Familie noch nicht gesehen, sondern bin direkt ins Büro gefahren. Und da sah ich Sie, als Sie gerade auf dem Weg nach draußen waren. Hätte ich nicht von Ihrem Problem gewusst, hätte ich Sie nicht angehalten.“
„Danke. Ich weiß Ihre Sorge zu schätzen.“
„Wir kümmern uns wirklich um unsere Kunden und deren Probleme.“
Da war es, dieses Streben nach allem Westlichen. Er saß hier, gab alte Floskeln wieder und bezog sich auf westliche Arbeitsmoral, während ich mir nicht sicher war, wie er sich in dem Szenario mit der pensionierten Dame verhalten hätte. Ich konnte sehen, dass er versuchte, mir seine eigene Agenda aufzuzwingen. Höchstwahrscheinlich hätte sie es nie an seiner Sekretärin vorbei geschafft. Er war den Luxus einer persönlichen Assistentin zu sehr gewohnt, den er nie erlangt hätte, hätte er tatsächlich im Westen gelebt. Dort hatten nur Spitzenmanager persönliche Assistenten. Das wusste ich aus Erfahrung. Ich war viel gereist und hatte alle möglichen Büros besucht, Bankfilialen eingeschlossen. Ein erfahrener Übersetzer wie ich wird überall gebraucht. Hier saß ich nun diesem kleinen Würstchen gegenüber, das glaubte, es hätte das Recht auf eine eigene Sekretärin und unbeschränkte Vorräte von Kaffee und Brandy ... genug.
Was war heute mit mir los? Ich sollte wirklich aufpassen, was ich sagte. Das alles war nicht meine Angelegenheit. Ich hatte andere Dinge, um die ich mich kümmern musste.
„Danke“, wiederholte ich. „Ich weiß es wirklich zu schätzen.“
Schantarski nahm meine Dankbarkeit auf majestätische Art an. „Sie brauchen also einen Kredit“, sagte er mit selbstgefälliger Miene.
Ich nickte, sagte aber nichts. Direkt aus München, ja klar. Das war doch bloß ein anderer Bär, den er mich aufzubinden versuchte. Er hatte die ganze Zeit in seinem Büro gesessen und mein Gespräch mit dem Angestellten verfolgt. Aber ich war mir noch nicht im Klaren darüber, was er von mir wollte. Ich war arm wie eine Kirchenmaus. Meine Häuser waren verkauft, mein Geld ausgegeben.
„So ist es“, sagte ich schließlich.
„Mein Kollege hat Ihnen unsere Situation erklärt, nicht wahr?“
Ich nickte erneut. Irgendwann hatte sich der Spieß umgedreht. Einen Moment zuvor war ich bereit gewesen, zu jammern und zu betteln. Nun hatte sich etwas geändert. Er brauchte etwas von mir.
Der Gedanke entspannte mich. Ich hatte nichts, das er mir wegnehmen konnte. Es machte mich neugierig.
„Es tut mir furchtbar leid, aber wir entscheiden diese Dinge nicht. Wir befolgen Befehle.“ Er zeigte vielsagend zur Decke.
Ich spielte mit. „Man kann also nichts machen?“
Er zuckte mit den Schultern. Seine kalten blauen Augen blickten in meine. „Wenn Sie einen Bürgen hätten ...“
Darum ging es also! Komm schon, spuck es aus. „Leider habe ich niemanden, der für mich bürgen könnte“, sagte ich. „Außer meiner Frau natürlich.“
„Was ist mit Ihrem Bruder?“
Endlich durchschaute ich seinen kleinen Plan. „Wir haben nicht viel miteinander zu tun.“
Dimitri war nur dem Namen nach mein Bruder. Ich war neun gewesen, als Vater uns verlassen hatte. Ich hatte seinen anderen Sohn erst Jahrzehnte später getroffen. Das Treffen war weder besonders warm noch kalt gewesen – nur unbedeutend. Er hatte mich gefunden. Wir hatten uns getroffen, einander gesehen und uns dann wieder getrennt. Bevor ich gegangen war, hatte er mir gesagt, dass Vater fünfzehn Jahre zuvor gestorben war. Vor seinem Tod hatte er ihn gebeten, mich zu finden und zu treffen. Das war es im Prinzip. Aber ich war neugierig, wie sie von ihm erfahren hatten. Aber warum hätte mich das eigentlich überraschen sollen?
„Wie schade“, fand Schantarski. „Unseren Informationen zufolge ist Ihr Bruder sehr wohlhabend. Er hat eine Wohnung im Zentrum von Moskau und ein großes Landhaus. Mit ihm als Bürgen wäre Ihr Kredit so gut wie sicher.“
In meinem Kopf klickte etwas. Mein erster Impuls war, mir das Telefon zu greifen und ihn anzurufen. Gott sei Dank hatte ich seine Nummer noch! Er hatte sie mir für den Fall der Fälle gegeben. Die Lösung war so einfach!
Dann fühlte ich mich, als hätte mir jemand einen Eimer mit kaltem Wasser über den Kopf geschüttet. Etwas stimmte einfach nicht. Es fühlte sich schlichtweg nicht richtig an. Dachten sie wirklich, ich wäre ein Idiot? Oder dachten sie, dass ich so verzweifelt wäre?
„Leider ist es nicht so einfach“, sagte ich. „Es tut mir leid. Aber ich weiß Ihre Sorge zu schätzen.“
Er sah mich enttäuscht an. Tja. Tut mir leid, Ihnen in die Suppe gespuckt zu haben, mein Herr. Aber ich musste trotzdem meinen Bruder anrufen. Er musste von diesem Gespräch erfahren.
Schantarski erhob sich abrupt, um klarzustellen, dass unser Gespräch vorbei war. Wir schüttelten einander die Hände und ich ging zum Ausgang – nochmals.
Ich brauchte Geld. Ich brauchte es jetzt. Wir hatten sehr wenig übrig, gerade genug, um Christina für zwei weitere Wochen in der Klinik zu behalten. Das war alles, was noch in unserem Bankkonto war. Dann mussten wir noch die fünfzigtausend Dollar für die Vorauszahlung an die Japaner auftreiben. Und noch mehr Geld, um die Klinik zu bezahlen.
Ich taumelte. Zitterte ich? Es sah nicht so aus, als hätte es jemand in der Bank bemerkt. Gut. Mitleid war das Letzte, was ich nun gebrauchen konnte.
Meinen Bruder anrufen. Der Gedanke erfüllte mein Gehirn, bohrte sich hindurch. Das könnte ein Ausweg sein. Bestimmt würde er unsere Situation verstehen. Natürlich würde er das. Ich fragte ihn ja nicht um ein Geschenk. Ich würde arbeiten, um es zurückzuzahlen. Alles, mit Zinsen. Ich würde mir für ihn den Arsch abarbeiten.
Als ich hinaustrat, fiel mein Blick wieder auf das Poster mit den mittelalterlichen Kostümen und glücklichen Lächeln. Ich hielt an. Ich könnte es mir ja zumindest ansehen.
Ich fischte in meiner Tasche nach meiner zerbrochenen Brille. Nur eine Linse hatte meinen Sturz überlebt, doch sie war dabei gesprungen. Wenn mir jemand vor zehn Jahren gesagt hätte, dass ich mir keine neue Brille würde leisten können. Gleichwohl ich es natürlich konnte. Aber ich wollte nicht. Ich konnte auch ohne leben. Jeder Cent, den wir ausgaben, verkürzte Christinas Zeit in der Klinik.
Also, was hatten wir hier?

Die virtuellen Reiche der Spiegelwelt erwarten dich!
Lebe deine geheimsten Träume in einer Welt, in der Schwerter und Magie regieren!
Werde ein großer Zauberer oder ein berühmter Krieger!
Baue dein eigenes Schloss! Zähme einen Drachen! Unterwerfe ein Königreich!
All jene, die verzweifelt, einsam und unsicher sind – die Spiegelwelt bietet euch eine Chance!
Dort könnt ihr beginnen, zu-

Ich las nicht weiter. Was für ein Blödsinn. Seltsam, dass diese lächerlichen Angebote in der Bank aushingen. Seltsam? Moment mal ...
Normalerweise hatten solche glamourösen Angebote immer einen Haken. Dieser Haken war üblicherweise in kleiner, unauffälliger Schrift geschrieben, meistens in Times New Roman. Mal sehen ...
Ah, da war es:

Mega-Industrie-Bank bietet Kredite, um Ihre Arbeit und Konto-Upgrades im virtuellen Spiel Spiegelwelt zu finanzieren.

Was meinten sie denn mit „Kredite, um Ihre Arbeit zu finanzieren“? Logischerweise brauchte das Spiel Programmierer und Web-Designer. Ob sie auch an Übersetzern interessiert wären? Obwohl ... welchen Zweck sollte das haben? Vielleicht würden sie mir Arbeit für ein Gehalt anbieten, na und? Ich brauchte eine enorme Menge Geld und ich brauchte sie jetzt. Das Geld, das noch vom Verkauf unserer Wohnung und unseres Häuschens übrig war, schwand rasch dahin.
Egal. Das Wichtigste zuerst. Ich musste mit meinem Bruder reden und dann konnten wir weitersehen. Ich konnte ohnehin einen gut bezahlten Job brauchen. Um einen Kredit zu bitten, war das Eine, aber irgendwie würde ich ihn dann auch zurückzahlen müssen.
Um ehrlich zu sein, hätte ich mich ohne Zögern für das Wohl meiner Tochter in die Sklaverei verkauft. Aber wer könnte schon einen Nerd-Sklaven wie mich gebrauchen? Bei harter Arbeit würde schon am nächsten Tag mein Herz explodieren.
Ich schritt hinaus auf die Straße und sog die frische Luft in meine Lunge. Dann holte ich mein Handy heraus und durchsuchte meine Kontakte nach Bruder.
Das Freizeichen ertönte. Schon mal ein gutes Omen: die Nummer war noch in Gebrauch.
„Hallo Oleg.“ Dimitris Stimme war so stark und selbstbewusst, wie ich sie in Erinnerung hatte.
„Hi. Woher weißt du, dass ich es bin?“
„Einfach“, lachte er. „Ich habe deine Nummer unter Bruder eingespeichert.“
„Ich schätze, ich sollte glücklich sein, das zu hören“, sagte ich mit einem bitteren Lächeln.
„Das ist deine Entscheidung.“
„Ich habe dich auch unter Bruder eingespeichert.“
„Ich weiß.“
„Wirklich?“
„Ich habe es damals gesehen, als du meine Nummer in dein Telefon eingegeben hast.“
„Ich verstehe.“
Ich holte tief Luft, bevor ich zum Kern des Gesprächs kommen wollte.
Er war schneller. „Du hast Probleme?“
„Das kann man so sagen.“
„Bist du in der Stadt?“
„Ja.“
„Hast du etwas, um meine Adresse zu notieren?“
In kürzester Zeit war ich dort. Ich hatte mir sogar ein Taxi geleistet. Mein innerer Geldzähler rotierte und zog Minuten vom Krankenhausaufenthalt meiner Tochter ab.
Den Arbeitsplatz meines Bruders zu finden war fast zu einfach, zumindest für mich, trotz meines schlechten Sehvermögens. Man musste blind sein, um die bekannten mittelalterlichen Schriften nicht zu bemerken.
Auf dem Schild an der Eingangstür stand:

Spiegelwelt. Terminal #17

Die Tür war von denselben Aushängen flankiert, die ich in der Bank gesehen hatte, doch diese hatten die Größe von Filmpostern.
Ich ging zum Empfang, um einem Wachmann mein Anliegen zu erklären. Er telefonierte, bekam eine Bestätigung über eine Gegensprechanlage und ließ mich mit einer detaillierten Wegbeschreibung durch.
Ich nahm den Lift in den fünften Stock und suchte nach #105. Die völlige Abwesenheit von Schildern verwirrte mich. Nur Nummern. Andererseits, was scherte es mich?
Dimitri erhob sich von seinem Schreibtisch. Wir schüttelten einander die Hände. Seine Hand war trocken und warm. Und stark, wie Vaters. Als ich klein war, hatten sich die Nachbarn immer erzählt, wie er nur so zum Spaß mit den bloßen Händen Nägel verbiegen konnte. Ich war mir ziemlich sicher, dass Dimitri das auch konnte. Ich hingegen war nach Mama geraten – körperlich wie auch mental.
„Du siehst nicht gut aus.“ Er starrte mich mit seinen stahlgrauen Augen an, ohne zu blinzeln. Sein Gesicht war groß und rau. Breite Schultern. Nicht ein Gramm Fett zu finden.
„Danke.“ Ich berührte mechanisch meinen Nasenrücken und rückte die nichtexistente Brille zurecht. „Du kommst wirklich nach Vater.“
„Ich weiß“, sagte er und zeigte auf einen weichen Stuhl. „Los, spuck‘s aus.“
Er hatte noch nie ein Blatt vor den Mund genommen.
Ich begann taktisch. Ich erzählte ihm von meinem Gespräch in der Bank und erwähnte das Wissen des Bankmanagers über seine finanzielle Situation und dessen Vorschlag, ihn als Bürgen einzubeziehen. Dadurch steuerte ich ihn auf die einzige Frage zu, die er ohnehin fragen würde. Was er auch prompt tat.
„Ich werde es mir ansehen. Wofür brauchtest du das Geld?“
Ich hatte meine Geschichte auf dem Weg zu ihm mehrmals durchgespielt und bis jetzt war alles genau nach Plan verlaufen. Ich gab ihm eine kurze Zusammenfassung von Christinas Situation: ihr Herz, Deutschland, die Japaner, ihr Leben ...
Als ich fertig gesprochen hatte, saß Dimitri tief in Gedanken da und blickte aus dem Fenster. Schließlich schien er zu einer Entscheidung zu kommen. Er wandte sich mir zu. „Ich glaube nicht, dass ich dein Bürge sein kann.“
Ich brauchte meine gesamte Selbstkontrolle, um nicht zusammenzubrechen. Schon gut. Ich würde einen anderen Weg finden müssen.
„Aber“, unterbrach er meine Gedanken, „ich kann dir einen Job besorgen.“
Ich seufzte. „Danke. Gott weiß, dass ich einen brauche. Aber um völlig ehrlich zu sein, diese Vorauszahlung ist viel wichtiger …“
„Du verstehst mich nicht“, unterbrach er mich. „Ich werde dir helfen, hier in der Spiegelwelt einen Job zu bekommen, und ich werde für dein Konto zahlen.“
„Nein, warte ...“
Du warte. Hör einfach zu. Sobald Schantarski herausfindet, dass du hier im Glashaus arbeitest – das ist unser Insider-Ausdruck für die Spiegelwelt – wird er dir den Kredit geben. Vielleicht nicht alles, aber ich bin mir sicher, dass er dir mindestens dreißigtausend geben wird.“
„Ja, aber …“
„Du sagtest, du hast noch etwas auf dem Konto, nicht wahr?“
Ich nickte. „Siebentausendzweihundertdreiundzwanzig Dollar und vierunddreißig Cent.“
„Spitze! Addiere dazu die dreißigtausend, die dir die Bank geben wird. Ich lege den Rest drauf. Und ich zahle für dein Konto, das kostet noch mal zwanzigtausend.“
Ich pfiff erstaunt.
„Das ist inklusive meines Rabatts als Angestellter des Unternehmens“, erklärte er. „Das Standard-Paket Tägliches Hamsterrad kostet fünfundzwanzigtausend.“
„Darum bewerben die Banken es wie verrückt!“ sagte ich. „Die Frage ist, ist es das wirklich wert?“
„Was denkst du?" Warum sonst sollte deine Bank alle diese Informationen über mich sammeln?“
„Du bist also auch drin?“
Er nickte.
„Wie funktioniert es?“
Er rieb sein Kinn. „Stell dir eine virtuelle Welt vor, bewohnt von einer Anzahl an Rassen, wo jeder Charakter von einer lebenden Person kontrolliert wird. Die Immersion ist so realistisch, dass du leicht dein echtes Leben vergessen könntest. Stell dir vor, du warst ein Pantoffelheld und Buchhalter und hier im Glashaus wirst du zum besten Schwertkämpfer im ganzen Königreich. Du wählst deinen Körperbau und dein Aussehen. Warst du vorher ein Nerd und Verlierer, bist du jetzt gut aussehend und reich, einer der besten Krieger, der sowohl Eigentum als auch die Aufmerksamkeit des anderen Geschlechts hat. Das einzige Problem ist der Preis des Kontos selbst – aber wie du wahrscheinlich verstehst, ist das für irgendein verwöhntes Vatersöhnchen kein Problem. Und wie sieht es mit Otto Normalverbraucher aus, dessen dreißigtägige Probezeit abgelaufen ist, wo soll der hingehen? Der geht demütig zur Bank. Er ist schon süchtig, verstehst du, und hat Angst, zu verlieren, was er erreicht hat.“
„Das ist verrückt.“
„Nicht wirklich. Eine Geldmaschine, ja. Wir reden hier von Milliarden.“
„Ich verstehe. Aber wie ist das mit einem Job?“
„Das ist kein Problem. Die Spielentwickler haben an alles gedacht. Im Spiel ist alles so komplex wie im echten Leben. Stell dir mal für einen Moment vor, du wärst ein verwöhntes, reiches Balg, das sich ein Konto kauft. Für dich sind das Peanuts. Du erstellst dir also einen Superkrieger-Char. Du kaufst ihm ein Schloss und etwas Land. Reiche Leute investieren übrigens die ganze Zeit in das Spiel. Die Entwickler mussten sogar ein monatliches Limit für Einzahlungen einführen, um eine Inflation abzuwehren. Dein Charakter wächst also beständig, aber du kannst ihn nicht ordentlich hochleveln, wenn du nicht deine Reputationen verbesserst. Davon gibt es einige, wie du dir vorstellen kannst. Um eine Reputation zu verbessern, musst du bestimmte Quests abschließen, was in einhundert Prozent der Fälle bedeutet, ein paar Ressourcen zu sammeln oder etwas anzufertigen. Außerdem ist das immer noch eine Welt, so virtuell sie auch sein mag, in der Straßen gefegt und Pflanzen gegossen werden müssen und so weiter und so fort. Denn wenn dein Schloss oder deine Stadt schmutzig und verwahrlost ist, wird sie ihre Reputation verlieren und mit ihr verlierst du eine gewisse Anzahl an Boni. An Boni gibt es übrigens eine Menge. Genug, dass dir davon schwindelig werden kann. Also, glaubst du wirklich, dass sich dieses verwöhnte, reiche Balg ein Konto kauft, nur, um dann ein Straßenfeger oder ein Stalljunge zu werden? Nein, er heuert stattdessen andere Spieler an, um diese Schmutzarbeit für ihn zu erledigen, und bezahlt sie dafür mit In-Game-Währung, die für echtes Geld eingetauscht werden kann. Im Moment ist der Wechselkurs 1:1. Das bedeutet, ein Goldstück ist einen Dollar wert. Jede Bank der Welt nimmt sie an.“
Ich versuchte, alle diese Information zu verdauen. „Welche anderen Konten gibt es?“
„Es gibt noch Bronze-, Silber- und Goldkonten.“
„Wo ist der Unterschied?“
„Im Preis, im Plan, in der anfänglichen Konfigurierung, in einer ganzen Menge an Dingen.“
„Kannst du näher erläutern?“
"Nun, es gibt den Bronze-Plan. Der kostet fünfzigtausend. Die anfängliche Konfigurierung beinhaltet einen grundlegenden Satz an Ausrüstung. Zugriff auf das Spiel von öffentlichen Modulen. Anders ausgedrückt, beginnst du das Spiel als Bettler. Silber kostet hundertfünfzigtausend. Da installieren sie ein persönliches, virtuelles B-Klasse-Modul in deinem Haus. Dann hast du noch das Recht, deinen eigenen Lehnsherrn auszuwählen. Und dann ist da noch Gold. Eine halbe Million, für die Reichen und Schönen. Das bietet allerlei Boni und Vorteile, inklusive deines eigenen Stücks Land. Dessen Größe kann für eine Zusatzzahlung erweitert werden.“
„Das ist verrückt“, befand ich verblüfft. „Und was hat es mit diesem Tägliches Hamsterrad-Konto auf sich?“
„Tägliches Hamsterrad ist ein Level Null-Konto. Der Spieler kann niemanden töten, kann aber auch nicht sterben. Er ist im Prinzip unsterblich. Diese Art von Konto wurde nur für Arbeit entwickelt. Der Plan schließt den Beruf selbst, ein paar Werkzeuge und Gratis-Zugang zu öffentlichen Modulen mit ein. Oder im Prinzip ist es der Arbeitgeber des Chars, der alles bezahlt, um es seinen Angestellten zu erlauben, sorgenfrei auf seinem Territorium zu arbeiten. Ist es eine Mine oder ein Kornfeld, dann sollte es bereits gesäubert sein, frei von jeglichen potenziellen Mobs. Oh, und noch etwas Wichtiges: Das Fertigkeitslevel des Chars steigt ständig, unabhängig von seinem Level."
„Wie unterscheidet sich das von Bronze?“
„Wie alle anderen normalen Spieler müssen sie bis Level 10 warten, bis sie einen Beruf auswählen können. Sie müssen zudem für ihre Auswahl und ihre Werkzeuge bezahlen. Und ihr Fertigkeitslevel hängt direkt mit ihrem eigenen Level zusammen.“
„Was bedeutet das?“
„Nun, das Spiel hat eine Vielzahl an Ressourcen unterschiedlichen Niveaus, von Null bis Relikt.“
„Ich verstehe. Ein Level 10-Spieler kann keine Relikt-Ressource abbauen.“
„Genau. Und ich sag dir noch mehr: nicht mal ein Level 200-Spieler kann das.“
„Und was ist die Obergrenze?“
„Im Moment gibt es niemanden über Level 300 im Spiel. Der beste Spieler ist Level 285, glaube ich. Sein Name ist Romulus, vom Stahlhemd-Clan. Die meisten Spieler nennen sie einfach nur SH.“
„Mein Gott.“
„Aber das musst du nicht wirklich wissen. Du machst einfach nur deine Arbeit und damit hat es sich.“
„Abgemacht.“
Er blickte auf seine Uhr. „So machen wir es. Ich bringe dich jetzt zu meiner Assistentin. Sie wird dir genau zeigen, wie es funktioniert. Das ist ohnehin ihr Job. Ich meine, sie kann das viel besser als ich. Ich fürchte, ich bin im Moment etwas unter Zeitdruck. In Ordnung?“
Ich nickte. „Danke. Ich weiß das wirklich zu schätzen.“
Zum ersten Mal schenkte er mir ein warmes Lächeln. „Schon gut. Wir sind Brüder, nicht wahr?“







„Oleg, hast du schon mal Videospiele gespielt?“
Dimitris Kollegin Zoriana saß an ihrem Computer und fügte meine Daten in die Unternehmensdatenbank ein. Vorname, Nachname, Geburtsdatum, Sozialversicherungsnummer, der ganze Kram.
Ihr Haar war kurz geschoren und sie trug Ohrringe in der Form von schillernden Schmetterlingen. Intelligente Augen funkelten hinter ihrer Brille. Maximal 20 Jahre alt.
„Zählen Tetris und Panzer-Simulatoren?“, fragte ich.
Sie lächelte, ohne ihren Blick vom Monitor abzuwenden. „Irgendwelche schlechten Angewohnheiten?“
„Nicht, dass ich wüsste.“
Sie tippte weiter. „Gut. Das war's im Prinzip. Jetzt brauche ich nur noch deine Unterschrift.“
„Aber gerne.“
„Nicht so schnell", lächelte sie. "Ich weiß, dass es dir ernst ist. Dimitri hat es mir gesagt. Das ist nicht das Problem. Aber zuerst musst du dich mit dem Inhalt des Spiels vertraut machen. Du musst eine Rasse und einen Beruf wählen.“
„Macht das wirklich einen Unterschied?“, fragte ich.
„Weißt du, Oleg“, Zoriana rückte ihre Brille zurecht und lächelte herablassend, „die Videospiele von heute sind, sagen wir mal, anders als Tetris. Sie sind sozusagen Millionen von Jahren voneinander entfernt.“
Um eine Diskussion abzuwenden, erhob ich die Hände. „Ich gebe auf! Wählen wir eine Rasse aus.“
„Ausgezeichnet. Diese Einstellung gefällt mir. Ich bringe dich mal zu einem Klasse A-Testmodul, damit du es dir selbst ansehen kannst.“
Das Testmodul sah aus wie eine Kreuzung zwischen einem Zahnarztstuhl und – der Gedanke brachte mich zum Lachen – einem dieser Frisörstühle aus den 1970ern, mit einer riesigen, eimerförmigen Schüssel über dem Kopf.
Sie ignorierte meine Belustigung, schritt zu der Maschine und gab Informationen in den Monitor ein, der im „Eimer“ eingebaut war. Vermutlich hatte sie bereits mehr als genug unbeholfene Scherze über die seltsame Form der Maschine gehört.
„Mach es dir gemütlich, Oleg. Der Vorgang wird viel länger dauern, als du vielleicht denkst. Ich schlage vor, dass du vorher zur Toilette gehst.“
Ich schüttelte den Kopf und kletterte in den harten Sitz.
Sie beendete ihre Einstellungen. „Entspann dich“, sagte sie, „und bewege deinen Kopf nicht. Es ist nicht gefährlich. Jetzt schließe die Augen.“
Mit einem leisen Piepsen fuhr der „Eimer“ herunter und bedeckte meinen Kopf bis zum Kinn. Ich fühlte, wie Zoriana meine Hand nahm und meine Finger an eine harte Oberfläche drückte.
„Du kannst die Augen jetzt öffnen. Das Sensorfeld ist an deiner rechten Hand. Der Panorama-Bildschirm ist direkt vor dir. Hast du ein Handy?“
„Ja.“
„Es ist dasselbe Prinzip. Ich lade jetzt die Inhalte hoch. Das ist alles. Ich lasse dich mal alles studieren. Falls du mich brauchen solltest, ist in der rechten oberen Ecke des Bildschirms ein Symbol mit einer Klingel.“
„Ich verstehe. Danke.“
„Bis später.“
Der Programmupload-Balken begann zu wachsen und änderte seine Farbe von gelb zu grün, als sich der Prozentsatz erhöhte. Ich fühlte mich, als würde ich in einem 3D-Kino sitzen. Ich hob sogar meine Hand an und versuchte, das Bild zu berühren.

99 %...
100 %...

Die Lautsprecher explodierten mit einer Fanfare. Ich verringerte die Lautstärke so schnell ich konnte. Im Prinzip war das Ding recht einfach zu bedienen – nicht komplizierter als mein Telefon. Die Oberfläche schmeichelte dem Auge. Das Schriftbild war klar, die Grafik von hoher Qualität. Anscheinend mochten es Menschen, in diesen Maschinen Spiele zu spielen. Wenn sie so viel Geld dafür ausgaben – tatsächlich darin investierten – musste es wohl so sein. Wie auch immer. Bisher war ich nicht beeindruckt.
Egal. Gingen wir es an.
Die Geschichte der Welt kam zuerst. Aber ich hatte kein Interesse an all den Mythen und Chroniken. Sie waren vermutlich vollgepackt mit nutzlosen Informationen, die nur über-enthusiastischen Fantasy-Fans am Herzen lag. Persönlich bevorzugte ich Fakten. Was war das? – Aha, Anleitung für Newbies. Berufe. Klickten wir das doch mal an.
Landwirtschaft, Handwerk, Dienstleistungen ... Na! Jede Kategorie hatte Hunderte von Seiten! Schmied, Straßenkehrer, Stalljunge, Fischer, Kräutersammler, Wasserträger, Abwassersammler, Bauer, Gärtner ...
Ich konnte es kaum glauben. Zoriana hatte recht. Ich würde diesen Ort nicht so schnell wieder verlassen.
Ich klickte auf den Filter: Beliebteste.
Haarstylist, Landschaftsarchitekt, Manager ... Okay ...
Filter: Bestbezahlte.
Nummer Eins auf der Liste der Bestbezahlten war Minengräber. Ich suchte nicht weiter. Dann wurde ich eben Minengräber.
Jetzt die Rasse. Welche waren die beliebtesten für diesen Beruf?
Der riesige Körper von Rassenwahl Nr. 1 erfüllte meinen Bildschirm. Muskeln traten unter grauer, haarloser Haut hervor. Die sehnigen Arme, durchzogen von Venen, hingen ihm bis zu den Knien. Wie eine laufende Schaufel. Wie heißt du denn, mein Hübscher? Ein Höhlen-Horrud. Grundlegende Charakteristiken: Stärke, Geschwindigkeit, Überleben, Verteidigung, Gewandtheit. Bezüglich seiner zusätzlichen Fähigkeiten würde ich mich weiter informieren müssen.

Zusätzliche Fähigkeit: Kraft der Berge
Effekt: +0,5 % zu Stärke mit jedem neuen Fertigkeitslevel
Zusätzliche Fähigkeit: Willenskraft
Effekt: +0,8 % zu Geschwindigkeit mit jedem neuen Fertigkeitslevel.

Dies war mehr oder weniger klar. Der Kerl war stark, aber zu langsam. Zum nächsten. Ein Fels-Rhoggh. Fast identisch, nur etwas kleiner. Etwas weniger Stärke, etwas mehr Geschwindigkeit.
Der nächste in der Liste war der Dunkelgnom. Wie sieht's mit dir aus, Kumpel?

Zusätzliche Fähigkeit: Freier Minengräber.
Effekt: +0,5 % zu Chance, mit einem Schwung der Spitzhacke die doppelte Menge an Ressourcen abzubauen.
Zusätzliche Fähigkeit: Dunkelsicht.
Effekt: +0,1 % zu Chance, mit einem Schwung der Spitzhacke eine Ressource eines höheren Levels abzubauen.

Ihm folgte ein Zwerg mit ähnlichen Charakteristiken. Im Prinzip schienen die meisten Spieler starke und langsame Typen zu bevorzugen. Sie schienen zu denken, dass Geschwindigkeit in Minen unter der Erde keinen Nutzen hatte. Andere entschieden sich für Zwerge und Gnome, deren zusätzliche Fähigkeiten Ressourcen-Boni boten.
Ich sah mir ihre Verträge an. Sie boten drei Arten von Bezahlung an: pro Stunde, im Akkord und nach „gewonnenem Wert“. Was war das denn? Ah, ich verstehe. Dasselbe wie die beiden anderen, nur unter Einbeziehung des Preises der Ressource. Vielleicht sollte ich mich für Akkord plus gewonnenem Wert entscheiden.
Aber wo war ich? Ah, richtig. Ein Zwerg oder ein Gnom? Ich würde definitiv keines der beiden ersten Muskelpakete wählen. Meiner Erfahrung nach hatte zu viel Muskelkraft noch nie ein Problem gelöst.
Ich wiederholte meine Suche und fügte Stärke und Geschwindigkeit zu den Suchcharakteristiken hinzu. Dasselbe in grün. Tja. Dann würde ich mich wohl für einen Zwerg entscheiden müssen. Warum nicht? Seine Charakteristiken waren nicht schlecht. Außerdem waren sie, soweit ich mich erinnerte, Untergrund-Bewohner, eine Rasse von Minengräbern – zumindest, wenn sich die Spielentwickler an die traditionelle Mythologie gehalten hatten.
Ich klickte auf „Einstellungen zurücksetzen“. Kurz warten. Was war denn jetzt?
Ich wiederholte meine Suche. Tatsächlich, wenn ich die Suchergebnisse nach Popularität filterte, bekam ich 124 Suchergebnisse. Aber sobald ich den Filter entfernte, produzierte die Suche 125 Ergebnisse. Dasselbe passierte, wenn ich die Suchergebnisse nach Stärke filterte. Warum? Der Suchfilter schien eine Rasse übersehen zu haben. War das ein Bug? Das sollte nicht passieren, immer war dies ein großes Unternehmen.
Wie sollte ich also die fehlende Rasse finden? Erwarteten sie, dass ich mich durch all die Seiten wühlte? Nein. Es musste einen besseren Weg geben.
Dann kam mir die Idee. Ich filterte die Suchergebnisse nach Seitenansichten. Alles klar. Ich gab 0 in die Seitensicht-Ergebnisse ein und wartete. Da! Aber... sollte das ein Scherz sein?
Das Abbild eines mickrigen, kleinen Mannes erschien auf dem Bildschirm. Er hatte einen zotteligen Bart und zerzaustes Haar. Ich sah ihn mir genauer an. Seine Schultern waren schmal, seine Unterarme hingegen recht kräftig. Er bräuchte nur eine Seemannsuniform mit Hut und Pfeife, um wie die Verkörperung eines wettergegerbten Seefahrers auszusehen.
Seine Haut war leicht grau gefärbt und seine Augen starrten mich unter buschigen Augenbrauen an. Seine Hände waren groß. Irgendwie... passte alles zusammen. Was sollte dieses Drei-Meter-Monster eines Horruds in einer engen, niedrigen Mine tun? Gemeinsam mit dem anderen, dem Fels-Rhoggh, war er dazu verdammt, billiges Erz abzubauen. Und sowohl Zwerge als auch Gnome sahen aus wie auseinander gesägte Schränke mit knielangen Bärten – viel zu breit, um sich in engen Tunneln abzurackern. Selbst, wenn Kreaturen wie diese tatsächlich existiert hätten, müssten sie doch anders ausgesehen haben.
Egal. Es hatte keinen Sinn, mich darüber zu ärgern. Also, wie heißt du denn, mein Freund?

Ein Ennan.

Okay. Und deine Fähigkeiten?

Zusätzliche Fähigkeit: Gerissener Anwender
Effekt: +1 % zu Chance, das Fertigkeitslevel nach jeweils 20 abgebauten Ressourcen zu erhöhen
Zusätzliche Fähigkeit: Echte Helden nehmen Abkürzungen
Effekt: +2 % zu Chance, die Fähigkeit Gerissener Anwender nach jeweils 100 abgebauten Ressourcen um ein Level zu erhöhen

Bedeutete das, dass die zweite Fertigkeit die erste beeinflusste? Anders ausgedrückt, hätte ich also nur eine, weil beide zusammenhingen. Und was die Fertigkeiten anging ... schade, dass ich es nicht ausprobieren konnte.
Ich verbrachte mindestens eine weitere Stunde damit, mehr über die Ennan zu lesen. Als ob das etwas ändern würde.
Ich starrte in sein griesgrämiges Gesicht. „Was sagst du, Kumpel? Sollen wir es ausprobieren?“
Er sagte kein Wort, sondern starrte weiter in den leeren Raum.
Ich überlegte und kalkulierte weiter. Schließlich drückte ich auf Auswählen.

Sie haben den Beruf Minengräber ausgewählt. Bestätigen: Ja/Nein.

Ja.

Sie haben die Rasse Ennan ausgewählt. Bestätigen: Ja/Nein.

Ja.

Bitte geben Sie den Namen ein, unter dem Sie im Spiel bekannt sein möchten.

Oleg.

Es tut uns leid. Dieser Name ist bereits in Verwendung. Möchten Sie einen anderen Namen eingeben?

Gute Frage. Ein kleines Fenster erschien: Ennan-Namensgenerator. Probieren wir es aus. Ich gab Oleg ein und erschauderte vor den Resultaten. Nein ... definitiv nicht ... aber dieser könnte funktionieren. Und dieser? Olgerd ...

Willkommen, Olgerd! Gut gemacht!

Alles klar. Ich klickte auf die Klingel. Zeit, diese Vorrichtung zu verlassen.
Zoriana erschien nach wenigen Minuten. „Ist alles in Ordnung? Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Ich wollte gerade selbst nach dir sehen.“
„Warum?“
„Du sitzt schon seit fast vier Stunden da drin!“
„Nie im Leben! Ich dachte, es waren maximal dreißig Minuten.“
„Ja, klar! Und du hast noch nicht mal zu spielen begonnen. Das war nur ein Testmodul. Jetzt würde ich dich bitten, mir zu folgen.“
„Was meinst du damit, ich habe nicht gespielt?“
Sie warf mir einen seltsamen Blick zu, drehte sich um und ging auf den Ausgang zu. Ich zuckte mit den Schultern und folgte ihr.
Wir kamen zurück ins Büro meines Bruders. Er saß da und starrte nachdenklich auf den Monitor. Die Stille wurde nur vom leisen Summen der Computerkühlung und dem Klicken einer Maus unterbrochen.
Ich saß vor ihm und wartete. Sie nahmen sich selbst ein bisschen zu ernst hier. Keine Ahnung, was all der Wirbel rund um diese Spiegelwelt sollte. Wenn man mich fragte, war das alles nur ein Flohzirkus. Ein teurer noch dazu.
Mein Bruder starrte weiterhin auf meine Ergebnisse. Was stimmte nicht? Was sah er dort?
Er rieb seine Stirn. „Ich sehe, sagte der Blinde.“
„Vater sagte das immer. Sein Lieblingsspruch.“
„So ist es“, stimmte er zu, ohne den Blick vom Monitor abzuwenden. „Er konnte nicht einfach sagen ‚Ich sehe‘, er musste unbedingt ‚sagte der Blinde‘ hinzufügen. Ich habe die Gewohnheit von ihm.“
„Ich auch“, sagte ich.
Er lächelte bitter. „Wir haben viel gemeinsam, findest du nicht auch?“
Ich hielt inne. „Wie geht es deiner Mutter?“
„Sie ist krank. Und deine?“
„Sie ist vor sieben Jahren gestorben.“
„Das tut mir leid.“
Wir schwiegen. Die Maus klickte weiter. Der Kühler verstummte.
„Alles erledigt.“ Dimitri sah endlich zu mir auf. „Ich habe deine Eskapaden in unserer Datenbank abgespeichert. Wo hast du denn den gefunden? Ich wusste nicht mal, dass diese Rasse existiert.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Purer Zufall.“
„Egal. Jetzt steht nur noch die Untersuchung aus, dann können wir dich anmelden. Die ist morgen. Jetzt solltest du gehen und dich etwas ausruhen.“
„Welche Untersuchung?“
„Nur ein paar Tests. Ist obligatorisch. Vorschrift von der Regierung.“
„Ist es so ernst?“
„Ist es. Es gab nach der Veröffentlichung des Spiels gewisse Probleme.“ Er wischte meine stille Frage vom Tisch. „Es ist keine große Sache, wirklich. Das war's für heute. Ich erwarte dich morgen um neun Uhr morgens. Geh jetzt und ruh dich aus.“
Ich kämpfte mich aus dem Stuhl. „Danke, Mann.“ Ich reichte ihm die Hand.
„Nichts zu danken. Ich hoffe nur, dass für dich alles gut ausgeht.“
Ich lächelte und nickte, bevor ich mich zum Ausgang aufmachte. Der Stein war ins Rollen gebracht.
Ich konnte es kaum erwarten, meiner Frau von den Neuigkeiten zu erzählen. Den ganzen Weg zurück in meine Mietwohnung stellte ich mir ihre Augen und ihr Lächeln vor, wenn sie davon erfuhr. Ich musste nur daran denken, dass es alles endlich vorbei war. Wir würden zusammen sein. Sveta würde außerdem glücklich sein, dass mein Bruder und ich uns näher kennenlernten. Ich war schon vierzig, er fünfunddreißig. Wir waren jetzt Erwachsene. Wir mussten verstehen, dass unsere Eltern ihre eigenen Vorstellungen gehabt hatten, die mit uns Kindern nichts zu tun hatten.
Ich konnte den nächsten Tag kaum erwarten. Die Zeit war knapp.


Kapitel Drei



Die Untersuchung war ein Witz. Der Arzt betrachtete mich einmal von oben bis unten und ließ mich ein paar Fragebögen ausfüllen. Dann wurde ich in ein Fitnessstudio gebracht, in dem ich mit Sensoren ausgestattet und angeleitet wurde, Gewichte zu heben, zu laufen und Sit-Ups zu machen. Ich schaffte sogar sechs Klimmzüge. Zoriana beobachtete meine Vorstellung penibel und notierte etwas auf einem Klemmbrett.
Schlussendlich entließen sie mich wieder. Sie brauchten eine weitere Stunde, um die Ergebnisse zu berechnen.
Dimitri betrat das Büro mit einem strahlenden Lächeln. Was feierte er denn? Vielleicht war er auch nur glücklich für seinen Bruder.
"Du hast fünfundzwanzig Punkte erhalten! Gar nicht schlecht. Ich habe fittere Leute gesehen, die nur zwanzig schafften. Da kann man mal sehen, dass es alles nur im Kopf ist!"
"Warum, macht das einen Unterschied?"
"Na ja, erstens, wenn du nicht fünfzehn Punkte geschafft hättest, wärst du disqualifiziert worden."
“Wow. Warum hast du mir das nicht gesagt?"
"Ich konnte nicht. Dafür haben wir sehr strenge Regeln. Das Kleingedruckte. Spontanes Testen. Aber wie auch immer. Alles ist bestens. Ich war mir sicher, dass du es schaffen würdest."
"Ich mir auch, irgendwie. Und zweitens?"
"Zweitens haben die Entwickler eine Regel. Die Test-Punkte sind ein Bonus, der zu den Haupteigenschaften des Spielers hinzugefügt wird. Wenn du dich jetzt einloggst, wirst du neben dem Standard-Initiationspaket auch diese fünfundzwanzig Punkte zur Verfügung haben. Es ist dir überlassen, wie du sie verteilst."
Ich zuckte mit den Schultern. Was sollte ich sagen? Ich hatte keine Ahnung, worauf ich mich hier einließ. Sveta hatte mir gesagt, dass sie die Werbung im Fernsehen gesehen hatte. Die Sache sah legitim aus. Andererseits waren die Tage, als man tatsächlich glauben konnte, was im Fernsehen gesagt wurde, schon lange vorbei. Oder vielleicht sollte ich sagen, dass man es nie glauben konnte.
"Sobald du zum Glashaus kommst, wirst du dir wünschen, dass du mehr Punkte verdient hättest. So geht es jedem. Sie machen sogar Witze darüber. Was ich dir sagen kann, ist, dass man nie zu viele Bonuspunkte haben kann."
Ich zuckte erneut mit den Schultern.
"Na gut", sagte er, "gehen wir es an. Dein Konto ist schon halb fertig. Jetzt musst du nur noch deine Einstellungen bestätigen und es geht los. Noch was. Die tatsächliche Anstellung, das Unterzeichnen des Vertrags und die Ausgabe des Werkzeugs passiert in der Spiegelwelt. Hier können wir deine Entscheidung nicht beeinflussen. Ein kleiner Ratschlag. Behalte die In-Game-Nachrichten im Auge. Versuche, dich nur mit etablierten Spielern abzugeben. Finde einen Weg, einem starken Clan oder einer Gilde beizutreten. Der erste Tag ist maßgebend. Heute wirst du dich von hier einloggen. Nächstes Mal wirst du schon das Modul deines Arbeitgebers benutzen. Dein Ziel ist es, in der Spiegelwelt einen Vertrag an Land zu ziehen. Je länger dessen Dauer ist, desto größer wird der Kredit sein, den sie dir anbieten werden. Und noch eine letzte Sache. Überanstrenge dich nicht. Der menschliche Geist ist ein unvorhersehbares und nur wenig erforschtes Stück Ausrüstung. Alles, was du im Spiel tust, wirkt sich auf deinen Körper aus. So funktioniert es einfach. Erinnerst du dich noch an Vaters andere Redewendung?"
"Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper?"
"Genau. Außer, dass es hier genau umgekehrt ist, mehr oder weniger. Solange dein Geist gesund ist, ist es auch dein Körper. Du wirst sehen, was ich meine. Viel Glück."
Das Modul der GT-Klasse erinnerte an ein horizontales Sonnenbett. Ich zögerte. Ich hatte dieses seltsame Gefühl... es sah zu sehr wie ein Sarg aus.
"Ist alles in Ordnung?"
Ich schreckte auf. Ein junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren sah mich verständnisvoll an. Ich schielte mit zusammengekniffenen Augen auf sein Namensschild.

Andrej
Moduleinheitsaufseher

"Alles ok, Danke", sagte ich. "Mir ist nur etwas schwindlig."
Er lächelte. "Schon gut. Das kommt vor. Viele bekommen im letzten Moment kalte Füße. Und dann kann man sie nicht mal an den Ohren wieder rausziehen. Bitte entfernen Sie Ihre Kleidung und nehmen Sie Ihren Platz ein."
Ich tat, was er sagte. Das warme, Gelatine-artige Bett hüllte meinen Körper ein. Es fühlte sich an, als würde ich in Pflaumengelee liegen.
"Bitte bewegen Sie sich nicht."
Ich erstarrte. Andrej krönte mein Haupt mit einem komplex aussehenden Gerät. "Schließen Sie Ihre Augen."
Ich tat, was er sagte.
"Ich werde bis zehn zählen. Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf..."
Seine Stimme begann sich zu entfernen.
"Sechs..."
Nun musste ich mich anstrengen, um ihn zu hören.
"Sieben. Ach-"
Plözlich Stille, endlos und vollkommen. War ich gerade gestorben? Ich war in völliger Dunkelheit eingehüllt. Nein, das konnte nicht sein. Meine Gedanken waren völlig klar. Ich versuchte, zu sprechen, aber ich konnte nicht. Ich versuchte, irgendwie meinen Kopf zu drehen. Es fühlte sich an, als wäre mein Körper verschwunden.
Mein Blick blieb an einem winzigen weißen Punkt hängen. Ich konzentrierte mich. Er wuchs an. Nun hatte er die Größe eines Tennisballs... einer Untertasse... er kam immer näher, bis er auf die Größe eines Fensters angewachsen war.
Näher.
Das Licht durchflutete mich.
Das Geräusch von fallendem Wasser attackierte meine Trommelfelle. Eine frische Brise berührte mein Gesicht, vermischt mit einem Schleier aus Feuchtigkeit. Mein Körper schüttelte sich. Ich fühlte ein paar Kieselsteine unter meiner offenen Hand. Plötzlich konnte ich sie an meinem ganzen Körper fühlen.
Ich drückte mich vom Boden ab und setzte mich auf.
Allmächtiger Jesus Christus!
Irgendwie hatten sie mich auf magische Weise von ihrem Labor zu diesem wunderschönen Wasserfall transportiert. Die Steine fühlten sich warm an. Ich ließ meine Hand über ein paar Büsche gleiten, die in einem Spalt in der Felswand wuchsen. Dies war einhundert Prozent real. Unmöglich!
Ich nahm einen tiefen Atemzug. Die Luft war süßlich. Bäume raschelten im Wind. Ich konnte Vögel zwitschern hören. Der Wasserfall rauschte vor sich hin.
Ich musste verrückt geworden sein!
Um meine Verwirrung zu verschlimmern, tauchte plötzlich ein 3D-Hinweis vor meinen Augen auf. Ich schreckte auf. Die Buchstaben verblassten und füllten sich dann mit Farbe.

Willkommen in der Spiegelwelt, Olgerd!
Um die Gesamtheit dieser Welt zu genießen, schließe bitte deine Kontoregistrierung ab.
Möchtest du deine Kontoregistrierung jetzt abschließen?
Ja/Nein

Ich konzentrierte mich auf Ja.

Herzlichen Glückwunsch! Registrierung abgeschlossen!
Du hast 15 verfügbare Punkte!
Du hast 25 verfügbare Bonuspunkte!

Das würde warten müssen. Ich hatte es nicht eilig. Ich versuchte, aufzustehen und scheiterte.

Du kannst dich nicht bewegen.
Stärke: 0
Geschwindigkeit: 0

Ah, so funktionierte das also. Ich investierte einen Punkt in jedes der beiden. Mein Körper begann, mir zu gehorchen, doch nur widerwillig, wie in Zeitlupe.
Ich fügte einen weiteren Punkt zu Geschwindigkeit hinzu. Viel besser, aber immer noch zu langsam.
Noch zwei. Ausgezeichnet. Es war ja nicht so, als müsste ich hier herumlaufen. Ich versuchte, etwas herumzugehen. Es fühlte sich okay an.
Jetzt Stärke. Ich hob einen Stein auf, der klein genug war, dass ich meine Hand darum schließen konnte. Gut.
Und dieser von der Größe meines Kopfes? Von wegen! Aber mein Beruf als Minengräber würde einiges an Muskelschmalz verlangen.
Ich fügte einen Punkt zu Stärke hinzu. Ich konnte den größeren Stein immer noch nicht anheben. Noch einen. Ja! Perfekt.
Ausgehend von dem, was ich am Tag zuvor gelesen hatte, musste ich mit den Punkten vorsichtig sein. Falls ich eine Eigenschaft zurück auf null bringen wollte, würde ich die Hälfte der Punkte verlieren, die ich darin investiert hatte. Ich musste also gut darüber nachdenken. Man stelle sich nur vor, wie viele Punkte ich in den Höhlen-Horrud investieren hätte müssen, mit seinem Gewicht? Und hier war ich mit ein paar davongekommen.
Also, was hatten wir denn hier?

Stärke: 3 Pkt.
Geschwindigkeit: 4 Pkt.

Ich hatte noch 33 Punkte übrig. Nicht schlecht.
Ich ging zum Wasser und äugte mein Spiegelbild. Ein Ennan starrte zurück. Er hatte standardmäßig mein Gesicht und meinen Körperbau – ich hatte sichergestellt, die Einstellungen nicht zu ändern. Hier waren wir also! In Lebensgröße und doppelt so hässlich!
Ich berührte das Wasser. Es fühlte sich kühl an, wie man es von Wasser in den Bergen erwarten würde. Wie machten sie das? War es mein Gehirn mit seinem Wissen darüber, wie Wasser sein sollte, das meine Wahrnehmung beeinflusste? Oder war es ein völlig anderer Mechanismus?
Ich betrachtete mein neues Ich ausgiebig. Dann warf ich einen Blick auf die Karte. Sie bot eine hilfreiche Übersicht über alle Siedlungen in der Nähe. Die größte davon, Leuton, war etwa zwei Meilen entfernt. Ich entschloss mich, dorthin zu gehen.
Ich wanderte los: erst entlang eines Pfads, der sich an Felswänden entlang schlängelte, dann durch einen Wald, während ich meinen Kopf ständig hin und her drehen musste, wie ein Fünfjähriger auf seinem ersten Ausflug aufs Land. Ich musste gestehen, die Gegend war beeindruckend. Riesige, steinalte Bäume ragten empor und drohten, mich mit ihrer Masse zu erschlagen. Die zahlreichen Wiesen waren randvoll mit Blumen in allen Farben des Regenbogens. Das Aufgebot an Farben war erstaunlich. Und noch verblüffender war die Authentizität der Welt.
Nach etwa zehn Minuten fühlte ich die erste Erschöpfung. Ich begann zu schnaufen. Meine Beine wurden schwer. Ich hatte rasende Kopfschmerzen. Ich fühlte mich, als hätte ich soeben alleine einen Laster voller Ziegelsteine entladen. Etwas lief hier schief.
Aha! Ich sah es:

Energie: 5/40

Im Grunde hatte ein zehnminütiger Spaziergang fast meine gesamte Energie aufgebraucht. Nicht gut.
Ich setzte mich auf einen großen, umgestürzten Baum, der von dichtem Moos bedeckt war. Zeit, mir das genauer anzusehen. Wo war das noch... aha!

Ausdauer
Effekt: jeder Punkt gibt +20 Energie

Dann mal etwas Mathematik. Zehn Minuten zügiges Gehen kosteten 35 Energie. Hm! Anscheinend war Gehen in dieser Welt ein Luxus.
Ich gönnte mir drei Punkte in Ausdauer. Das gab mir:

Ausdauer, 3
Energie, 12/100

Wow! Schon zwölf? Gerade eben hatte ich doch noch fünf gehabt!
Ich konnte bereits leichter atmen, obwohl meine Beine noch immer schwer waren. Was also bedeutete, dass Sitzen Energie wieder auffüllte. Endlich mal gute Nachrichten!
Na gut, ich würde einfach mit vielen kleinen Pausen reisen müssen. Ja, es würde einiges an Zeit kosten. Aber ich konnte es nicht ändern.
Und so setzte ich meinen Weg fort: sobald ich mich etwas müde fühlte, suchte ich mir ein nettes, gemütliches Plätzchen, um mich zu erholen.
Als ich gerade ein großes Feld überquerte, holte ein farbenfroher Zug von Reitern in glänzenden Rüstungen zu mir auf. Ich hatte mich gerade gesetzt, um mich auszuruhen. Ich hatte keine Ahnung, was sie zum Anhalten verleitet hatte. Vielleicht war es mein zerzaustes Äußeres oder das stumme Staunen in meinem Blick. Wie auch immer.
Der enorme Kopf eines schwarzen Pferdes schwebte über mir und starrte mich mit dunklen Augen an, bereit, mich niederzutrampeln. Das lächelnde Gesicht eines schönen jungen Mädchens strahlte mich von hinter dem Rücken des Pferdes an. Smaragdgrüne Augen, goldene Locken, ein voller Busen, ein kerzengerader Rücken und ein perfekt geformter Körper.
"Sei gegrüßt, oh Wanderer!" Sie hatte eine melodiöse Stimme, kräftig und fröhlich.
"Du verwahrloster Hund! Verbeuge dich, wenn du eine Dame siehst!"
Ein weiteres Pferd erhob sich über mich. Sein Reiter, gerüstet von Kopf bis Fuß, sah ehrfurchtgebietend aus.
"Bitte nicht, Lord Melwas", erklang die Stimme des Mädchens erneut. "Könnt Ihr nicht sehen, dass er ein Neuankömmling ist? Nicht wahr, mein guter Mann?"
Sie schien mich anzusprechen. "Das bin ich. Sie haben absolut recht."
"Das bin ich, meine Dame!" bellte mich der Mann an. "Und dann verbeuge dich so tief du kannst, Bauer!"
Das Pferd des Rüpels schien im Begriff, mich wie eine Walnuss zu zermalmen. "Junger Mann", fuhr ich den Reiter an, "wie können Sie es wagen, so mit mir zu reden!"
Seine schwarzen Augen verengten sich zu Schlitzen. "Oh, ich wage es!" Seine in Stahl gerüstete Hand griff nach seinem Schwert.
“Melwas! Bitte nicht!", erreichte die melodiöse Stimme mein Trommelfell.
"Nur für Euch, Lady Isa." Der Rüpel verlor jegliches Interesse an mir und brachte sein Pferd in Bewegung, was mich in eine dicke Staubwolke hüllte. Mir entfuhr ein Husten.
"Vielen Dank, meine Dame", sagte ich in der ungewohnten Sprechart. "Heute ist mein erster Tag."
"Wir alle hatten unseren ersten Tag hier." Sie schenkte mir ein gewinnendes Lächeln. "Ich sehe, dass du völlig leer bist. Hey, Aragorn!”
Ein weiterer Reiter erschien. Seine Rüstung unterschied sich von der traditionellen Rüstung eines Ritters. Sie war marineblau und überzogen von filigranen Schriftzeichen. Wunderschön.
"Ja, meine Dame." Aragorn neigte seinen Kopf.
"Bitte helft dieser armen Seele." Lady Isa gab ihm einen reizenden Blick.
Der dunkle Ritter lächelte. Ohne ein Wort streckte er mir seine Hand entgegen.
Der gesamte Zug ritt davon und hüllte mich erneut in dreckigen Staub.
Ich begann, mich zu säubern. Ich brauchte eine Weile, um die Systemnachricht zu bemerken, die anscheinend seit einiger Zeit sichtbar gewesen war,

Du hast einen Segen erhalten: Dunkle Hand.
Effekt: +10 zu Energie alle 30 Sekunden.
Dauer: 2 Std.

Ich stand da und blinzelte wie ein Idiot, während sich mein Energiebalken der 100 %-Marke annäherte.
"Nun, Noob, bist du angemessen beeindruckt?" knurrte jemand hinter meinem Rücken.
Ich fuhr herum. Ein wahrhaftiger Höhlen-Horrud stand keine fünf Schritte von mir entfernt. Er war mindestens drei Meter groß. Kräftige Muskeln wanden sich unter seiner dicken grauen Haut. Ich hatte mal ein Nashorn in einem Zoo in Madrid gesehen. Das war genau die Art von Haut, die er hatte.
Im Gesamtbild erinnerte er an einen großen Brocken Steinschlag.
Der Horrud grinste und entblößte seine schiefen Hauer. "Gefällt dir die Aussicht?"
Ich schluckte. Computerbilder anzusehen, während ich diesen blöden Eimer auf dem Kopf trug, war eine Sache. Diesem Monstrum tatsächlich zu begegnen war eine völlig andere.
"Hat's dir die Sprache verschlagen?"
"Äh, Ent-Entschuldigung", stammelte ich.
"Was für ein Noob", knurrte er und fletschte die Zähne. "Noch nie einen Horrud gesehen?"
"Nur in Bildern im Testmodul", gab ich zu.
"Dann ist das dein erster Tag im Glashaus?"
"Eher meine erste Stunde."
"Ah, das ist es also! Ich verstehe. Ein Täglicher Grinder. Ein Minengräber-Kollege! Äh... ein Ennan? Was zur Hölle ist das denn?"
"Woher weißt du das alles?" fragte ich ihn.
"Mein Gott." Der Horrud rollte mit den Augen. "Du bist echt ein Noob, nicht wahr? Konzentriere dich auf den Raum direkt über meinem Kopf."

Name: Grryrsch
Rasse: Höhlen-Horrud
Kontotyp: Täglicher Grind
Level: 0
Beruf: Minengräber
Fertigkeitslevel: 9

"Sehr interessant", sagte ich nachdenklich.
"Freut mich, dich kennenzulernen, Olgerd", brüllte er.
"Freut mich auch, Gr... Grrych...”
"Ich heiße eigentlich Greg." Er winkte mit seiner Eimer-großen Hand.
"Ich bin Olgerd." Ich streckte ihm meine entgegen.
"Keine gute Idee", grinste Greg. "Du riskierst dabei deine Hand. Die Horrud-Rasse ist ziemlich stark."
Ich zog meine Hand schleunigst zurück.
"Richtig so. Also, wohin bist du unterwegs, Olgerd?"
"Nach Leuton. Auf der Suche nach Arbeit."
"Wirklich! Ich auch! Wir können gemeinsam gehen, wenn du willst. Wir könnten über das Spiel reden."
Mit einem Grinsen nickte ich eifrig. Ein echter Glückstreffer. Woher hätte ich wissen sollen, dass die Spiegelwelt so authentisch war?
"Ich sehe, dass du keine Ahnung hast, was für ein cooles Geschenk du gerade bekommen hast", donnerte Greg, während er neben mir her polterte.
"Ich habe von vielen Dingen keine Ahnung."
"Da hast du absolut recht. Die Dunkle Hand ist ein teurer Buff. Normalerweise etwa fünfzig Gold. Ziemlich selten. Perfekt für die Arbeit unter der Erde. Damit kannst du zwei Stunden lang ohne Essen vor dich hin arbeiten. Und das gibt dir noch einen zusätzlichen Platz in deiner Tasche. Wo wir gerade von Essen reden..."
Er griff in seine Tasche und warf etwas in seinen Mund. Ich konzentrierte mich auf den Gegenstand.

Ein Rosiger Apfel
Effekt: stellt 100 Pkt. Energie wieder her

"Wow", sagte ich begeistert.
"Ganz meine Meinung", grinste Greg. "Du bist echt der größte Noob, den ich je gesehen habe."
"Könntest du mir erklären, was Noob bedeutet?"
Er starrte mich an. "Hast du schon jemals was gespielt?"
Nach meiner Erklärung von "Panzer-Spielen" schüttelte er den Kopf. "Du hoffnungsloser Fall. Geh ins Info-Portal und schlag es nach. Darin gibt's alles Mögliche. Es ist das Symbol mit dem Spiegel."
"Hat das Spiel Internetzugang?"
"Nicht in die echte Welt, Nein. Aber es hat sein eigenes Netzwerk."
Ich brauchte nicht lange, um das Symbol mit dem Spiegel ausfindig zu machen. "Das ist Wahnsinn", war alles, was ich sagen konnte, als sich ein Browserfenster direkt vor meinen Augen öffnete.
Lokale Nachrichten, Übersetzer, Wetter, Karten und Apps – tonnenweise nützliche Tools, allesamt herunterladbar und verwendbar. Vorausgesetzt natürlich, man hatte Geld.
"Also?" grinste mein neuer Freund. "Hast du Noob nachgeschlagen?"
Okay. Ich öffnete das Wörterbuch. Tja. Da musste ich zustimmen.
"Greg, du hast gar keine Ahnung, wie recht du hast", sagte ich.
"Wie alt bist du im echten Leben?"
"Fast einundvierzig."
"Ich verstehe. Jetzt wird mir einiges klar. Obwohl man auch sagt, Romulus sei über fünfzig, aber er ist einer der besten Spieler."
"Der von den Stahlhemden?"
“Ha! Du steckst voller Überraschungen. Es ist also nicht alle Hoffnung verloren."
"Und wie alt bist du?"
"Fast zwanzig. Im besten Alter, wie man so schön sagt, LOL."
Ich stellte ihm keine weiteren Fragen. Er schien auch nicht allzu eifrig, mehr preiszugeben. Ich bekam das Gefühl, dass die Leute hier nicht besonders darauf erpicht waren, persönliche Informationen auszutauschen. Ich selbst wollte nicht, dass jeder und deren Großmutter erfuhren, wer ich wirklich war.
"Hast du dich bereits für einen Arbeitgeber entschieden?" fragte Greg.
"Hab ich noch nicht. Warum? Hatte ich diese Option?"
"Ich brech ab mit dir. Bist du sicher, dass du weißt, wie man das Internet verwendet?"
Ja, ich hatte wirklich eine lange Leitung gehabt, wie die Jugend von heute sagte. Der Gedanke, alles zu recherchieren und ein paar Foren zu checken, war mir gar nicht erst gekommen. Es hatte wohl damit zu tun, dass ich durch den Zustand meiner Tochter zu abgelenkt gewesen war. Und um völlig ehrlich zu sein, hatte ich diese ganze Sache auch nicht ernst genommen. Ich hatte nicht erwartet, dass es so... unglaublich beeindruckend sein würde. Schon gut. Ich war mir sicher, dass ich alles irgendwie kapieren würde. Ich musste es kapieren.
"Irgendwelche Ratschläge für mich?" fragte ich.
"Leuton ist kaum eine Stadt, obwohl es die Hauptstadt dieses Clusters ist. Da gibt es keine große Auswahl. Entweder versuchst du es bei der Zwergengilde oder kriechst demütig zum Vater dieses Idioten, der dir fast eine Kostprobe seiner Peitsche des Zorns gegeben hat."
"Mir wurde gesagt, dass Tägliche Grinder niemanden töten und auch nicht getötet werden können."
"Können sie nicht, Nein, aber er hätte dir trotzdem eine damit verpassen können, und das ziemlich hart." Als er das Unverständnis in meinen Augen sah, begann Greg zu erklären. "Er könnte dir eine Verletzungs-Schwächung geben – anders ausgedrückt könnte er dich für einen begrenzten Zeitraum verkrüppeln. Er ist Level 130, seine Peitsche ist also kein Witz. Ein Schlag wäre genug gewesen, um dich auszuschalten. Diese Arten von Waffen erhöhen Zorn – und wir versuchen, Charaktere, die das aufleveln, möglichst nicht zu reizen. Er kann dir eine Verletzung der Klasse 9 verpassen und damit wäre es das gewesen. Die bleiben normalerweise für über vierundzwanzig Stunden aufrecht. Dann musst du all dein Geld für Quacksalber und Heilzauber ausgeben. Der Heiler mit dem höchsten Level in Leuton, den ich kenne, ist sogar der Bürgermeister selbst. Er heilt alle Verletzungen bis hin zu Klasse 7."
"Was machen diese Verletzungen?"
"Üblicherweise ist es ein Minus auf Leben, Energie, Geschwindigkeit und so weiter. Funktioniert gleich wie dein Segen."
"Mein was?"
"Der Segen, ich meine den Buff, den du bekommen hast."
"Ich verstehe. Entschuldigung. Es ist alles etwas verwirrend."
"Egal. Du wirst es mit der Zeit schon begreifen. Immerhin ist es dein erster Tag. Du bist ein großer Junge. Du schaffst das schon."
"Dann ist es also beschlossene Sache. Wir gehen zu den Zwergen. Ich bin irgendwie nicht so scharf darauf, ständig über meine Schultern sehen zu müssen."
"Kann ich dir nicht übel nehmen. Im echten Leben ist er übrigens sechzehn. Sein Vater ist ein Bank-Manager. Aber seltsamerweise sind seine Minen ein besserer Arbeitsplatz. Ich arbeite für ihn und bin noch am Leben und in einem Stück. Geld fällt einfach weiter in mein Konto."
"Was ist so gut daran?"
"Erstens arbeiten wir alle für einen fixen Lohn. Er bezahlt sehr gut. Du hackst einfach an den Felsen dahin, ohne irgendwelche Sorgen. Sie haben auch alle möglichen Boni. Kleidung und Werkzeuge kostenlos. Und das Essen."
"Klingt gut. Und bei den Zwergen?"
"Bei den Zwergen ist es das genaue Gegenteil. Du wirst dafür bezahlt, was du produzierst. Ausrüstung, Werkzeuge, das musst du alles selbst bezahlen.
"Jetzt verstehe ich, warum deine Stärke so hoch ist."
"Ah, du hast es also bemerkt", grinste er zufrieden. "Wofür sollte ich Geschwindigkeit brauchen? Bei den Zwergen muss man schon einen Zahn zulegen, aber hier... Ich werde dafür bezahlt, in die Felsen zu hacken und ein Auge auf der Uhr zu behalten. Nach einer Woche habe ich dieses kleine Stück Software installiert, das mir meine Chefs empfohlen, den Fröhlichen Gräber. Wenn du den aktivierst, kann dein Char ganz alleine arbeiten. Das Programm behält ihn im Auge, stellt seine Energie wieder her, setzt ihn zum Ausruhen hin oder bringt ihn zum Pinkeln nach draußen. Und ich kann nach Lust und Laune im Internet surfen, während ich darauf warte, dass mein Lohn in meinem Konto landet."
Er lehnte sich näher und flüsterte verschwörerisch, "Ich spare, um mir ein Bronze-Konto kaufen zu können. Sobald ich meinen Täglicher Grind-Plan abbezahlt habe, werde ich Geld dafür zur Seite legen. Das ist wie Tag und Nacht! Darum konzentriere ich mich auf Recherche und besuche alle diese Seiten und Foren. Ich muss eine Strategie entwickeln. Ich habe gehört, dass sogar Romulus selbst als Täglicher Grinder angefangen hat – er spielte auch einen Horrud. Vielleicht sind das nur Gerüchte, aber ich habe in einigen ziemlich verlässlichen Quellen davon gelesen."
Aha. Darum war diese Rasse also so beliebt. Romulus, natürlich! Wie kindisch. Die reichen Charaktere profitierten von billigen Arbeitskräften. Kopflosen billigen Arbeitskräften sogar, nachdem sie alle diese dummen Programme gebaut hatten. Es hätte mich nicht überrascht, wenn sie Greg dazu geraten hätten, die meisten seiner Punkte in Stärke zu investieren. Ein weiteres Argument dafür, zu den Zwergen zu gehen. Endlich begannen die Teile des Puzzles an ihren richtigen Platz zu fallen.
Hey", sagte ich, "Ist es okay, wenn ich dich als Freund hinzufüge?"
"Kein Problem."
Ich gab seinen Namen ein. Zugriff abgelehnt. Und nochmal. Wieder abgelehnt. Wie seltsam. "Warum lehnst du ständig meine Freundschaftsanfrage ab?"
Er lächelte. "Welchen Namen hast du eingegeben?"
Ich schlug mir auf die Stirn. "Ich bin wirklich ein Noob!"
"Du sagst es."
Na gut. Ich gab Grryrsch ein.

Freundschaftsanfrage bestätigt.

Greg sandte mir keine. Er war offenbar nicht interessiert an nutzlosen Neulingen wie mir. Das war verständlich.
Eine Stunde später wanderten wir in ein großes Flusstal. Leuton saß an einem Flussufer und sah absolut umwerfend aus. Die Spieldesigner hatten ganze Arbeit geleistet. Schmucke Türme ragten über einer Stadtmauer empor, die aus ebenmäßigen Felsbrocken gefertigt war. Die gefärbten Kuppeln der Häuser, auf denen bunte Flaggen im Wind wehten, lugten hinter der Mauer hervor. Es war eine hübsche Version des Mittelalters.
"Das war's, Olgerd", sagte Greg. "Viel Glück! Von hier an bist du auf dich allein gestellt. Ich habe immer noch eine ordentliche Wanderung vor mir, um Lord Shantars Anwesen zu erreichen."
"Danke, Greg. Ich weiß deine Hilfe wirklich zu schätzen." Ich berührte vorsichtig seinen breiten Unterarm.
Ich meinte es ernst. Ich war ihm zur richtigen Zeit am richtigen Ort begegnet.
"Ah, noch was", brummte er aus der Ferne. "Geh direkt zur Minengräbergilde. Die geben dir deine erste Berufsquest. Ab dann ist alles in Ordnung."
"Danke!" Ich winkte ihm zu. "Viel Glück!"




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Veröffentlichung am 21. Juni 2019



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