Kräutersammler der Finsternis - 1
Der Videospieltester
Ein Roman von Michael Atamanov
Der Videospieltester
„HABEN SIE schon
einmal Reich ohne Grenzen gespielt?“,
eröffnete der HR-Mitarbeiter mittleren Alters das Vorstellungsgespräch mit
ausgerechnet der Frage, die ich am meisten gefürchtet hatte.
Laut Stellenanzeige
musste ich unbedingt eine Anforderung erfüllen: Ich durfte das Spiel noch nie
gespielt haben. Wenn ich die Frage mit „ja“ beantwortete, würde das Gespräch
vermutlich so schnell beendet sein wie es begonnen hatte.
„Spielen Sie irgendwelche
anderen bekannten Spiele, äh … Timothy?“, fragte er, nachdem er meinen Namen
auf dem Bildschirm vor sich gelesen hatte. Er schien einen langen Tag hinter
sich zu haben und war bestimmt müde.
„Ja, natürlich. Ich bin
seit ungefähr sechs Jahren ein Gamer. Ich habe ziemlich lange Königreiche der Schwerter und Magie
gespielt.“
„Gamer“, murmelte er
geringschätzig und runzelte die Stirn. Der umgangssprachliche Ausdruck schien
ihm nicht zu gefallen. „Und wie haben Sie sich im Spiel unserer Konkurrenz geschlagen?
Haben Sie besondere Leistungen erbracht, Timothy?“
Sollte ich ihm die
Wahrheit sagen oder war es unklug, einem Fremden solche Details zu verraten?
Trotz meiner Bedenken entschied ich, das Risiko einzugehen.
„In den letzten fünf
Jahren war es meine einzige Einkommensquelle. Ich habe natürlich nicht genug
für eine Luxusjacht oder eine Villa auf einer tropischen Insel oder so etwas
verdient, aber es war mehr als genug, um davon leben und mein Studium bezahlen
zu können.“
„Warum sagen Sie
‚natürlich nicht genug für eine Jacht’?“, hakte er nach, ehe er zu meiner
Überraschung lachte. „Die Spitzenspieler von Reich ohne Grenzen verdienen ohne große Anstrengung genug für ein
seetüchtiges Boot. Doch soweit ich weiß, verstößt das Entnehmen von Spielgeld
bei KSM gegen die Regeln. Möchten Sie
mir ein bisschen mehr darüber erzählen, Timothy?“
Ich hatte wohl die
falsche Entscheidung getroffen. Ich hätte nichts davon erwähnen sollen. War
dies das Ende? Würde ich abgelehnt werden? Aber der Mann bestand nicht auf
einer Antwort. Stattdessen stellte er eine völlig andere Frage.
„Warum wollen Sie mit KSM aufhören? Doch das können wir wohl
überspringen, die Antwort liegt auf der Hand. Die Anzahl der aktiven Spieler
ist stark gesunken. Mehr und mehr Leute wechseln zu Reich ohne Grenzen. Es ist schließlich unterhaltsamer und
realistischer. Das Geld muss einfach ausgegangen sein.“
Ich nickte nur, denn
ich hatte dem nichts hinzuzufügen. Früher hatte unser Clan zwischen fünf- und
siebentausend Spieler für PvP-Raids in feindlichen Gebieten oder zur
Vernichtung eines Superbosses zusammentrommeln können. Doch diese Zeiten waren
lange vorbei. Gestern hatten wir gerade mal fünfzehn Spieler für einen Angriff
auf eine feindliche Burg zusammenbringen können und drei davon waren Newbies gewesen,
die erst eine Woche im Spiel waren. Aber dennoch … wir hatten die Burg
gestürmt! Der einzige Verteidiger des feindlichen Clans, der übrig gewesen war,
schien froh zu sein, die Bürde loszuwerden. Er hatte uns viel Glück gewünscht
und versucht, uns sein Konto aufzuschwatzen, weil er das Spiel verlassen
wollte, um bei Reich ohne Grenzen
einzusteigen.
Da beschloss ich, dass
es an der Zeit war, das sinkende Schiff zu verlassen, bevor es von der
Konkurrenz völlig versenkt wurde. Es war natürlich sehr ärgerlich, all das Geld
zu verlieren, das ich in das Spiel gesteckt hatte. Nach dem tragischen Tod
meiner Eltern hatte ich ihre Wohnung geerbt, doch ich musste sie verkaufen, um
die Arztrechnungen meiner Schwester bezahlen zu können. Danach war noch eine
ordentliche Summe übrig gewesen, weshalb ich beschlossen hatte, in eine
virtuelle Immobilie in der Nähe einer Hauptstadt in KSM zu investieren. Zu der Zeit war Königreiche der Schwerter und Magie rasant gewachsen und es schien
eine gute Anlage zu sein.
Wer hätte ahnen können,
dass das bis dahin unbekannte Unternehmen Reich
ohne Grenzen nur zwei Wochen nach meiner riskanten Anschaffung seine
eigenen Spielserver starten würde? Hätte irgendjemand voraussehen können, dass
es in nur drei Jahren zum weltweit größten und reichsten Unternehmen werden
sollte, das viele hundert Millionen Spieler weltweit in seine äußerst
realistische Welt ziehen würde? Der Wert meiner virtuellen Immobilie in Königreiche war so stark gefallen, dass
er nicht einmal mehr die Zeit rechtfertigte, die ich damit verbracht hatte, sie
zu bauen.
Der HR-Mitarbeiter
verbrachte einige Minuten damit, sich meinen Lebenslauf genauer anzusehen,
bevor er mich anblickte und lächelnd sagte: „Ein menschlicher Paladin auf Level
310, ein Dunkelelfen-Bogenschütze auf Level 270, ein Halbelfen-Magier auf Level
190 ... Nicht schlecht, gar nicht schlecht. Timothy. Hat man Sie darauf
aufmerksam gemacht, dass Spieler in Reich
ohne Grenzen nur einen Charakter haben können, der nicht geändert oder
gelöscht werden darf? Auf diese Weise gehen wir sicher, dass unsere Spieler
ihre Charaktere wirklich verstehen und eine enge Verbindung zu ihnen aufbauen.
Nur dann erleben sie die Spielwelt als echte Realität.”
Ich nickte nur, ohne
etwas zu sagen. Natürlich wusste ich das. Es war der Punkt, über den ich mir am
meisten Sorgen machte, seitdem ich die Online-Stellenanzeige für Reich ohne Grenzen-Spieltester gesehen
hatte. Mein Problem war, dass ich schon einmal versucht hatte, Reich ohne Grenzen zu spielen. Doch das
war vor über drei Jahren gewesen. Zu der Zeit war es noch eine offene
Beta-Version gewesen, die mir etwas „halbgar” erschien. Es gab weder
Übungsszenarien, Anleitungen, noch Ingame-Hinweise. Die Stelle, an der ich
gestartet war, hatte grob und unvollständig ausgesehen. Keine „prächtigen,
lockenden Horizonte” oder „hinreißend echten Sonnenuntergänge”, wie die Werbung
es jetzt versprach. Damals hatte es all das in Reich ohne Grenzen nicht gegeben.
Außerdem hatte ich nur
sieben Minuten gespielt. Mein Charakter war ein Level-1-Barbar gewesen, ich
hatte eine zweihändige Axt gewählt und den Startbereich verlassen. Gleich neben
dem Dorf war ich auf eine Gruppe von Level-70-Vampirfledermäusen getroffen -
und eine Sekunde später war ich tot. Als ich die Nachricht erhalten hatte, dass
ich eine ganze Stunde warten müsste, um zum Spawnpunkt zurückkehren zu dürfen,
hatte ich das unausgereifte, unausgewogene Spiel verflucht und es von meinem
Computer gelöscht. Jetzt hoffte ich, dass mich mein früherer, fehlgeschlagener
Versuch nicht daran hindern würde, einen Job als „Videospieltester” zu
bekommen, wie die Position in der offiziellen Stellenanzeige ausgeschrieben
war, um die ich mich in diesem Gespräch bewarb.
„Was gibt es noch zu
sagen, Timothy? Sie haben wirklich viel Erfahrung mit Videospielen und keine
physischen oder psychischen Probleme. Ich sehe keinen Grund, warum Sie nicht
für unser Unternehmen arbeiten sollten”, erklärte der Mann mit einem Lächeln
und reichte mir ein Tablet mit einem Fragebogen. Er bat mich, in dem kleinen
Nebenzimmer Platz zu nehmen, den Bogen auszufüllen und dann auf den Beginn des
Einführungsgesprächs zu warten.
Ich ging in das Zimmer,
holte mein Handy heraus und tat so, als ob ich ein Selfie vor dem coolen Poster
mit dem blauen Wasserdrachen machen würde, während ich eine Nachricht sendete: Das Vorstellungsgespräch ist gut gelaufen.
Gleich darauf vibrierte
mein Handy. Es war die Antwort: Keine
Eile, aber was bieten sie dir an? Ich sehe mich mal in den Foren um.
Dann setzte ich mich
auf einen Stuhl und begann, auf dem Tablet Kästchen anzukreuzen. Die Fragen
konzentrierten sich auf meine Gesundheit, mein Familienleben, Vorstrafen und
schlechte Gewohnheiten. Der zweite Teil war völlig anders und zielte darauf ab,
herauszufinden, welcher Spielcharakter am besten zu meiner Persönlichkeit
passte.
Neben mir saßen andere
Jobsucher, die ebenfalls auf ihren Tablets herumtippten. Die meisten der Männer
und Frauen waren in meinem Alter, einige waren älter und es waren sogar einige
Senioren dabei. Es dauerte nicht lange, bis ich einen Eindruck von meinem
zukünftigen Arbeitsumfeld hatte. Da waren Schüler, die wegen Abwesenheit oder
schlechten Noten von der Schule verwiesen worden waren, Büroangestellte, deren
Stellen abgebaut worden waren, gescheiterte Börsenmakler, hoffnungslose Spielsüchtige
und verzweifelte Ruheständler, die es nicht geschafft hatten, eine passendere
Arbeit zu finden ... Mit anderen Worten: Die Leute, die um mich herum saßen,
waren Verlierer, die keinen Platz in der realen Welt gefunden hatten.
Ich sah mich zwar nicht
als Verlierer, doch ich passte trotzdem in diese Gruppe. Ich war schon 22 Jahre
alt, hatte aber keinen Job, keine Freundin, kein Geld und keine eigene Wohnung.
Ich unterschied mich also nicht viel von den anderen. Ich war nicht dumm, ich
besaß einen Abschluss in chemischer Forschung. Ich war in der Lage, eine
Unterhaltung zu führen, sah nicht schlecht aus und war einigermaßen sportlich.
Es fiel mir auch nicht schwer, mit Frauen zurechtzukommen, doch aus irgendeinem
Grund hatten alle meine Freundinnen mich wegen anderer Typen verlassen. Sobald
sie herausfanden, dass ich mich um meine gehbehinderte Schwester kümmern
musste, machten sie sich aus dem Staub. Das war zwar schade, doch ich würde
meine Schwester niemals wegen einer oberflächlichen Beziehung aufgegeben.
Meine Schwester Valeria
war zur Zeit des Unfalls 11 Jahre alt gewesen. Mein Vater hatte am Steuer des
fliegenden Familienautos gesessen, als es mit dem eines Diebes zusammenstieß,
der auf der Flucht vor der Polizei war. Durch den Aufprall und dem daraus
resultierenden 30-Meter-tiefen Fall waren meine Mutter und mein Vater sofort
getötet worden. Meine jüngere Schwester überlebte, doch sie verlor beide Beine
und erlitt schwere Verletzungen und Knochenbrüche. Die Polizei hatte ermittelt,
dass mein Vater schuldlos gewesen war, doch das machte die Sache auch nicht
leichter. Ich hatte unsere Wohnung in einer guten Gegend der Stadt verkaufen
müssen, um Vals Behandlung und andere Rechnungen bezahlen zu können.
Ich wurde Valerias
Erziehungsberechtigter, ihr Freund und Psychologe. Ich ersetzte ihr die ganze
Welt. Am schwersten war die Zeit gleich nach dem Unfall gewesen. Valeria litt
ständig unter starken Schmerzen und sah keinen Grund, weiterzuleben. Sie bat
mich oft, ihr eine Handvoll Schlaftabletten zu geben, damit sie nicht mehr
aufwachen musste. Ich tat mein Bestes, um meine Schwester zu trösten und sie
davon zu überzeugen, keinen Selbstmord zu begehen. Tatsächlich wurde ihr
Lebenswille nach und nach stärker. Wir versuchten viele Dinge, um ihre Stimmung
zu heben, und es stellte sich heraus, dass Spaziergänge das beste Mittel waren.
Wir wohnten neben einem großen, schönen Park, in dem wir uns oft aufhielten.
Leider mussten wir bald aus dem Stadtzentrum an den Stadtrand ziehen, weil uns
das Geld fehlte. Kurz danach wollte Val keine Spaziergänge mehr machen. Meine
Schwester konnte die Witze und das Gelächter der Nachbarskinder nicht
aushalten. Sie nannten sie Krüppel und bewarfen sie sogar mit Steinen. Es war
einfach zu viel.
Doch dann fand sie eine
neue Möglichkeit, ihre Behinderung zu vergessen. In virtuellen
Computerspiel-Welten konnte sie sich austoben und wieder schöne Umgebungen
genießen. Dieser neue Zeitvertreib brachte uns aber kein Geld ein. Ganz im
Gegenteil. Die Situation hatte sich besonders in den letzten Monaten
verschlechtert, als deutlich wurde, dass die Spielwelt, die sie einige Jahre
zuvor gewählt hatte, Königreiche der
Schwerter und Magie, zu Ende zu gehen drohte.
Ich schüttelte den
Kopf, um die traurigen Gedanken zu verscheuchen, und kehrte zu dem Fragebogen
zurück. Nachdem ich alle Fragen beantwortet hatte, kam ich zum letzten Punkt,
der gewünschten Zahlungsart. Es gab zwei Optionen: Ein monatliches Festgehalt
oder die Möglichkeit, virtuelle Währung zu entnehmen und sie gegen reales Geld
einzutauschen. Wie bei den meisten MMOs war es in Reich ohne Grenzen normalerweise nur erlaubt, Geld einzuzahlen. Man
konnte zwar reales Geld ins Spiel investieren, doch es war nicht möglich, es
wieder zu entnehmen. Nur für die Angestellten des Unternehmens wurde eine
Ausnahme gemacht. Wenn sie wollten, konnten sie anstatt eines realen Gehalts
virtuelle Währung aus dem Spiel entnehmen.
Was mich betraf, war
das der Grund, warum ich unbedingt für das Unternehmen von Reich ohne Grenzen arbeiten wollte. Keine Firma würde einem der
kläglichen Verlierer, die mit mir in diesem Zimmer saßen, ein festes Gehalt
zahlen. Doch wenn man Spielgeld auf legale Weise in reales Geld umtauschen
könnte ... Die Möglichkeiten waren nicht abzusehen. Mein Charakter könnte im
Spiel reich werden und damit meine finanziellen Probleme im realen Leben lösen.
Meiner Schwester und mir war natürlich klar, dass auf jeden Spieler, der Glück
hatte, Tausende kamen, die die falsche Wahl trafen, hart arbeiteten und höchstwahrscheinlich
doch nur den Mindestlohn verdienten. Aber wir hatten unsere Entscheidung
gemeinsam und bewusst getroffen.
Die rundliche Frau
mittleren Alters, die neben mir saß und den Eindruck einer Buchhalterin
vermittelte, stieß mich an. Sie war bei einer Frage über „Charisma” angelangt
und fragte ihre Nachbarn nun laut flüsternd, was das Wort bedeutete. Ich konnte
nicht verstehen, was der Mann antwortete, der zu ihrer anderen Seite saß, aber
er versuchte, eine ernste Miene beizubehalten. Die Frau errötete und trug ihre
Antwort mit der Schnelligkeit eines Druckers auf ihrem Tablet ein. Dabei
verdeckte sie mit der linken Hand, was sie schrieb. Ich schüttelte den Kopf.
Wenn das meine Konkurrenz war ... Ich kreuzte zuversichtlich die Option
„Virtuelle Währung entnehmen” an.
Die Entscheidung war
getroffen, jetzt gab es kein Zurück mehr. Ich versuchte, das unangenehme Gefühl
der Angst loszuwerden, das mich beschlich, wenn ich an mein leeres Bankkonto
dachte. Doch das war nicht alles. Da gab es noch den überfälligen Kredit,
dessen Zinsen sich langsam, aber sicher anhäuften. Wenn ich in den nächsten
Wochen nicht wenigstens einen Teil davon abbezahlen konnte, würde die Bank
meine Karte sperren. Außerdem hatten meine Schwester und ich seit drei Monaten
keine Miete mehr bezahlt. Unsere Vermieterin hatte bereits damit gedroht, uns
rauszuwerfen. Es würde äußerst schwierig sein, ohne festes Gehalt auszukommen.
Trotzdem hatte ich
beschlossen, das Risiko einzugehen, genau wie damals, als ich die
Ingame-Immobilie in Königreiche der
Schwerter und Magie gekauft hatte. Doch dieses Mal setzte ich nicht nur
eine Zwei-Zimmer-Wohnung aufs Spiel, sondern alles, was meine Schwester und ich
noch besaßen.
* * *
„HALLO UND WILLKOMMEN!” Ein
elegant gekleideter, dunkelhäutiger Mann mit dunklen Locken betrat die kleine
Bühne. „Mein Name ist Alexandro Lavrius. Ich bin Direktor der Abteilung
Sonderprojekte des Unternehmens von Reich
ohne Grenzen. Sie wurden ausgewählt, um unter meiner Leitung als
Videospieltester zu arbeiten. Was ist mit dem Mikrofon los?”
Das Mikrofon gab einen
lauten Pfeifton von sich, sodass meine Ohren schmerzten. Die junge Assistentin
des Direktors sprang schnell auf die Bühne und stellte das Mikrofon ein, das an
Alexandros Kragen befestigt war. Der Direktor warf ihr einen unzufriedenen
Blick zu, der nichts Gutes versprach, und fuhr fort: „In Ordnung, jetzt sollte
es funktionieren. Zuerst eine kurze Einführung. Das virtuelle Reich ohne Grenzen, in dem Sie arbeiten
werden, ist sehr groß. Es ist nicht grenzenlos, wie der Name vielleicht
vermuten lässt, doch es hat eine beachtliche Größe. Es ist jetzt schon größer
als unsere Erde, Sie können also praktisch grenzenlos herumreisen und neue,
interessante Orte entdecken. Zurzeit gibt es etwa 240 Millionen Spieler in Reich ohne Grenzen und diese Zahl steigt
pro Monat um etwa zwei bis drei Millionen. Man könnte meinen, unser Unternehmen
wäre stolz darauf, würde sich auf seinen Lorbeeren ausruhen und das Geld
einfahren. Das ist aber nicht der Fall. Unser Management lässt sich ständig
neue, noch grandiosere Pläne einfallen, die Entwicklung des Spiels ist nach wie
vor in vollem Gange. Die Planungsabteilung sieht jedoch bestimmte Risiken für
die mittelfristige Zukunft und die Direktoren sind der Meinung, dass eine reale
Gefahr besteht.
Wir sehen zwei
Hauptprobleme. Erstens: Trotz der vielen verschiedenen Völker und ihren
einzigartigen Charakteristiken in Reich
ohne Grenzen wollen 78 Prozent der Spieler als Menschen spielen. Das ist
eine deutliche Unausgewogenheit. Wenn wir außerdem in Betracht ziehen, dass 17
Prozent als verschiedene Arten von Elfen- und Halbelfen spielen und drei
Prozent als Zwerge, kommen wir direkt zur Wurzel des Problems. Nur zwei Prozent
wählen ein anderes Volk aus den über 100 verfügbaren Möglichkeiten.
Es gibt vielfältige
Gründe für dieses Ungleichgewicht. Vor allem haben potenzielle neue Spieler
praktisch keine positiven Gamer-Vorbilder, die weniger beliebte Völker gewählt
haben. Die Spielforen sind voll von detaillierten Anleitungen über menschliche
Paladine, Waldelfen-Bogenschützen und Halbelfen-Assassinen. Daher ist es keine
Überraschung, dass neue Spieler Angst haben, einen unbekannten Pfad zu wählen.
Weil sie nur einen Charakter haben können, wollen sie kein Risiko eingehen. Das
Ergebnis ist, dass sie menschliche Paladine, Elfen-Bogenschützen und
Dunkelelfen-Nekromanten erstellen, die es in unserer Welt schon im Überfluss
gibt. Unsere bisherigen Nutzer verlieren zu Recht ihr Gefühl der
Einzigartigkeit und ihr Interesse am Spiel, weil sie jeden Tag mehrere exakte
Ebenbilder von sich selbst treffen.
Das zweite Problem
betrifft die Wahl der Wohnorte. Vor unseren Spielern erstreckt sich ein wahres Reich ohne Grenzen, das sich nach Bedarf
erweitern lässt. Trotzdem wird die momentan existierende Karte kaum genutzt.
Neunzig Prozent der Spieler leben in einer der wenigen Megastädte oder in deren
unmittelbarer Nähe. Zu dieser Überbevölkerung kommt es vor allem aus
wirtschaftlichen Gründen. Städte verfügen über Ressourcen, dort zirkuliert das
Geld und es gibt Banken, bei denen die Spieler ihren Besitz sicher verwahren
können. Darum wollen Spieler trotz der hohen Preise für Immobilien und
Ressourcen immer noch in diesen Städten leben. Millionen wunderschöner Orte,
die von talentierten Designern gestaltet wurden und in denen es einzigartige
Missionen und Einheimische gibt, bleiben ungenutzt. Außerdem bemerken wir
wachsenden Unmut bei den Spielern, die das Gefühl haben, es gäbe nichts mehr zu
entdecken und es werde langsam langweilig.
Warum erzähle ich Ihnen
das alles? Wie Sie wahrscheinlich schon erraten haben, darf niemand von Ihnen
menschliche oder elfische Charaktere wählen und niemand wird ein weiterer
Ritter oder Bogenschütze. Das würde unserem Unternehmen ganz und gar nicht
gefallen. Sie beginnen das Spiel in weit entfernten Wildnissen, von denen aus
es äußerst schwierig sein wird, dicht besiedelte Orte zu erreichen. Sie starten
das Spiel alle an einer anderen Stelle und werden mit größter Gewissheit
Gefahren und Problemen begegnen. Das ist kein Zufall. Die Testgruppen haben
gezeigt, dass die Herausforderung, schwierige Situationen erfolgreich zu
bewältigen, der Faktor ist, der unsere Spieler in der Spielwelt hält.
Wir hoffen, dass mit
der Zeit alle Newbies an solchen Orten beginnen werden, weshalb eine Ihrer
Missionen darin besteht, zu testen, ob Ihr Charakter unter diesen schwierigen
Bedingungen überleben und leveln kann.
Ihre Gruppe ist eine
von mehreren, die in den vergangenen Wochen ausgewählt wurden, um neue,
ungewöhnliche Volk- und Klassenkombinationen auszuprobieren, nicht ohne dabei
einige blaue Flecken davonzutragen. Sie werden interessante Wegbereiter sein,
die die Vorteile Ihrer ungewöhnlichen Völker, Klassen und Berufe eloquent
beschreiben sollen. Ein Wort zur Warnung: Nur wenige von Ihnen werden die
Probezeit bestehen und fest angestellt werden, da unser Unternehmen nur
Persönlichkeiten und Geschichten braucht, die bei bestehenden und potenziellen
Spielern großes Interesse finden. Doch auch wenn Sie die Probezeit nicht
bestehen, gewinnen Sie unschätzbare Erfahrungen im Bereich der Videospiele und
erhalten eine ausgezeichnete Gelegenheit, durch modernste Technologie mit all
Ihren Sinnen in Reich ohne Grenzen
einzutauchen.
Jetzt erhalten Sie die
Charakterkarten, die Ihnen aufgrund Ihrer heutigen Testergebnisse automatisch
vom System zugewiesen wurden. Dann haben Sie die Möglichkeit, meiner
Assistentin Fragen zu stellen. Danach sollten Sie vor Ende des Geschäftstages
zur HR-Abteilung gehen, um Ihren Vertrag zu unterzeichnen, damit Sie morgen
Ihre Arbeit beginnen können.”
„Können wir heute schon
anfangen zu spielen?”, fragte ein rundlicher, junger Mann. Sein blasses Gesicht
war von Pickeln übersät.
Alexandro Lavrius sah
über uns hinweg auf die Uhr an der Wand, fragte seine Assistentin leise etwas
und antwortete dann: „Sie können erst anfangen, wenn Sie den Vertrag
unterschrieben haben. Denken Sie daran, dass es in Reich ohne Grenzen jetzt etwa 16 Uhr ist und dass es um 21 Uhr
dunkel wird. Nach dieser Einführung gehen Sie zur HR-Abteilung, dann zeigt man
Ihnen Ihren Arbeitsplatz und erklärt Ihnen, wie die virtuelle Realitätskapsel
benutzt wird. Anschließend müssen Sie einen Charakter erstellen, die
Übungsmission beginnen und einen sicheren Ort finden, an dem Sie die Nacht
verbringen können. Die Nächte außerhalb der Städte und anderer sicherer Orte
sind in Reich ohne Grenzen äußerst
hart und gefährlich. Höchstwahrscheinlich werden Sie von Monstern gefressen.
Sollte das passieren, verlieren Sie einige Erfahrungspunkte und eine ganze
Stunde, bevor Sie respawnen können. Falls Sie es trotzdem riskieren wollen,
heute anzufangen, spricht nichts dagegen. Falls Sie die erste Nacht überleben,
wird es eine nützliche Erfahrung sein und sich positiv auf Ihre weitere
Karriere als Tester auswirken.”
* * *
EIN GOBLIN-KRÄUTERSAMMLER??? Verständnislos
starrte ich auf meine Charakterkarte. Ich holte mein Handy heraus, um nach
Informationen über Goblins in Reich ohne
Grenzen zu suchen. Der erste Link belohnte mich mit folgendem Text aus
einem Forum:
Goblins
sind hinterlistige Mistkerle, die gemeine Streiche spielen, Gemüse aus Gärten
stehlen und Reisende angreifen, die allein unterwegs sind. Zum Glück sind
Goblins schwach, daher kann sogar ein totaler Newbie mit ihnen fertig werden.
Manchmal findet man ganze Goblindörfer. Mit ihnen lässt sich gut Erfahrung
sammeln, sodass Anfänger leicht leveln können. Ich weiß nicht warum, aber die
Entwickler haben dieses NPC-Volk für Spieler verfügbar gemacht. Ich persönlich
kann mir nicht vorstellen, dass jemand dumm genug wäre, dieses grüne Gräuel zu
wählen, besonders in Anbetracht der restriktiven Strafen auf Intelligenz und
Stärke, die es für einen Goblin fast unmöglich machen, ein guter Magier zu
werden oder eine Kampfklasse zu wählen. Rein theoretisch könnte ich mir einen
Goblin-Spieler wegen seiner Boni in Beweglichkeit und Wahrnehmung als Bogen-
oder Armbrustschützen vorstellen. Aber ich habe noch niemanden getroffen, der
gestört genug wäre, es zu versuchen, denn alle Elfenarten haben bei diesen
Attributen noch größere Boni. Ach ja, diese grünen Freaks erhalten auch schwere
Strafen auf Beziehung zu Menschen und können standardmäßig keine normalen
Spielorte aufsuchen.
Kein Wunder, dass
niemand als Goblin spielen wollte. Selbst jemand, der bei der Erstellung seines
Charakters einen Goblin in Betracht gezogen hatte, würde nach der Lektüre
dieser Beschreibung schnell seine Meinung ändern. Was hatten sich die
Entwickler von Reich ohne Grenzen nur
dabei gedacht?!
Der Text stammte von
jemandem namens Verwilderter Waldbursche. Laut seines Forums spielte er als menschlicher
Druide auf Level 204. Aus Neugier las ich auch die nächsten sieben Links, die
die Suchmaschine gefunden hatte, doch überall bekam ich die gleichen
unangenehmen Informationen. Ich schickte meiner Schwester eine Nachricht über
den Charakter, den ich spielen musste, und studierte weiter die Anleitungen zu
Goblins und Kräuterkunde.
Als mich laute Stimmen
vom Lesen ablenkten, hob ich den Kopf. Der Direktor war schon lange gegangen
und jetzt stritt sich die rundliche Frau, die nach der Bedeutung des Wortes
Charisma gefragt hatte, mit seiner Assistentin.
„Stimmt etwas nicht mit
Ihrem zugewiesenen Charakter?”, fragte die Assistentin in eisigem Ton.
„Das kann man wohl
sagen! Ich soll eine Dryadentänzerin spielen! In den Foren habe ich gesehen,
dass Dryaden keine Kleidung tragen! Ich bitte Sie! Ich dachte, ich bewerbe mich
um einen Bürojob. Die Arbeitszeiten sind vielleicht etwas ungewöhnlich, aber
ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich als Stripperin arbeiten soll!”
Die Assistentin des
Direktors war wegen des Vorfalls mit dem Mikrofon schon gereizt, daher konnte
man leichten Ärger in ihrem Ton vernehmen. „Das System hat ermittelt, dass
diese Kombination von Volk und Klasse optimal für Sie ist. Wenn es Ihnen nicht
gefällt, muss ich Ihnen leider sagen, dass Sie die Probezeit nicht bestanden
haben und die erste Teilnehmerin sind, die die Gruppe verlassen muss ...”
Auf dem Gesicht des
Mannes, der ihr vorher erklärt hatte, was Charisma bedeutete, bemerkte ich ein
höhnisches Grinsen. Die bizarre Kombination war vom System wahrscheinlich
aufgrund seiner irreführenden Erklärung gewählt worden.
Die Assistentin
streckte ihre Hand aus, um die Charakterkarte der Frau zurückzunehmen, als eine
junge Frau aus der hinteren Reihe rief: „Warten Sie! Könnte ich den Charakter
mit ihr tauschen?” Eine hübsche, junge Frau mit guter Figur, die ihr
kastanienbraunes Haar in einem langen Zopf trug, der ihr bis zum Gürtel
reichte, stand auf und kam zur Bühne.
„Ich habe mir die
einleitenden Informationen über Dryaden angesehen. Es stimmt, ihre einzigen
Ausrüstungsplätze sind für Ringe und Armbänder vorgesehen, aber das wird durch
ihre Volksboni ausgeglichen. Außerdem ist die Tänzerklasse ausgezeichnet für
Dryaden geeignet. Sie haben schließlich Boni für Attraktivität, Charme und die Reaktion
aller Mitglieder des anderen Geschlechts.”
Die Assistentin stimmte
ihr zu. „Richtig. Es ist eine gute Rolle. Mit diesem Charakter kann man leicht
Erfahrung sammeln. Außerdem ist der Pfad der Dryadentänzerin sehr ungewöhnlich.
Es gibt keine einzige Anleitung. Mit einem solchen Charakter zu leveln ist
praktisch eine Garantie dafür, die Probezeit zu bestehen.”
Die biedere
Buchhalterin schauderte und murmelte unglücklich: „Mal sehen, welchen
Schweinkram sie Ihnen aufdrücken wollen ... Schlimmer als eine Stripteasetänzerin
kann es ja kaum sein.” Sie nahm der jungen Frau die Karte aus der Hand und las
sie. „Oh! Ja! Eine Gremlin-Bankerin! Davon habe ich mein ganzes Leben lang
geträumt!”
Die Frau mittleren
Alters hätte die junge Frau fast geküsst, die die Karte mit ihr tauschte.
Danach hörte ich überall um mich herum Leute rufen:
„Wer möchte gegen einen
Troll-Kannibalen tauschen?”
„Ich tausche einen
Kobold-Betrüger gegen jede andere Klasse!”
„Will jemand einen
Ork-Astrologen? Ich tausche gegen jede Art von Nahkämpfer!”
Ich hatte keine Lust,
auf das Ende dieser Freakshow zu warten und stand auf, um mich auf den Weg zur
HR-Abteilung zu machen. Der Goblin-Kräutersammler erschien mir nicht mehr so
schlimm, ich war mit meinem Los jetzt völlig zufrieden.
* * *
OBWOHL ICH VERSUCHTE, mir
nichts anmerken zu lassen, beeindruckte mich der Reichtum und Luxus, den das
Unternehmen von Reich ohne Grenzen
zur Schau stellte. Es besaß einen riesigen Wolkenkratzer, in dem es auch viele
unterirdische Etagen gab. Als ich mit dem Fahrstuhl nach unten fuhr, bemerkte
ich, dass es für einige Etagen, die ich durch die Glastüren sehen konnte, keine
Knöpfe gab. Die Wachleute auf diesen Etagen waren mit Waffen ausgerüstet und
trugen Schutzwesten und Gasmasken.
Der nette Techniker
Arthur führte mich zu meinem Arbeitsplatz und erklärte, dass es den normal
Sterblichen verboten war, diese unterirdischen Etagen zu betreten. Dort befand
sich „das Allerheiligste” des Unternehmens, die Spielserver. Es war einfacher,
in einen Banktresor voller Gold hineinzukommen, als sich Zutritt zu diesen
Etagen zu verschaffen. Die Stockwerke, auf denen sich die gesamte technische
Ausrüstung befand, waren mit zahllosen Sicherheitssystemen und Giftgas
ausgestattet, damit Kriminelle nicht einmal daran dachten, einzubrechen.
Ohne anzuhalten kamen
wir an der unterirdischen Parkrampe vorbei, auf der viele Luxusautos und
fliegende Autos standen. Dann öffnete sich die Fahrstuhltür auf der Etage der
Testabteilung und ich sah ES: Ein riesiger Raum, der sich bis ins Endlose
erstreckte. Er hatte sehr viele hohe Gänge, die von identischen kleinen Kabinen
gesäumt waren. Arthur und ich gingen eine der langen Plattformen hinunter und
hielten vor einer durchsichtigen Tür an. Ich blickte ausdruckslos auf ein
Schild: 4-16A.
„Vierte Etage, Seite A,
Kabine 16. Hier werden Sie arbeiten. Gehen Sie hinein, ziehen Sie Ihre Jacke
aus und machen Sie sich mit Ihrer Kabine vertraut”, sagte er und zeigte auf den
Stuhl und den Bügel an der Wand. Er blieb jedoch draußen stehen. „Jede Kabine hat
einen ausziehbaren Schreibtisch und einen eingebauten Kühlschrank, in dem Sie
Lebensmittel aufbewahren oder vor der Arbeit einen Imbiss zu sich nehmen
können. Es gibt einen Toilettenraum für je 50 Kabinen und an jedem Ende der
Gänge befinden sich Duschen. Aber denken Sie daran, jeder Gang hat 300 Kabinen,
darum sind die Duschen abends, wenn die Schicht endet, oft besetzt. Also gut,
dann wünsche ich Ihnen viel Glück!”
Während Arthur den Satz
äußerte, wandte sich sein Blick von mir ab. Seine Augen folgten einer
wunderschönen, fast glamourösen Frau mit prächtigen roten Haaren und stolzem
Gesichtsausdruck, die an meiner Kabine vorbeiging. Sie trug ein langes,
smaragdgrünes Kleid, hochhackige Schuhe und einen Hut mit breitem Rand. An
ihren Fingern steckten mit Edelsteinen besetzte Ringe, die mir durch ihr
Schimmern ins Auge fielen. Die Frau sah Arthur nicht an und schien mich nicht
einmal zu bemerken. Sie ging noch ein paar Meter weiter, bis sie vor einer Tür
anhielt, die genauso aussah wie meine. Es piepte, als die geheimnisvolle Frau
die Tür mit ihrem elektronischen Schlüssel öffnete und ihre Kabine betrat.
„Wer war das?”, fragte
ich den erstarrten Techniker mit halblauter Stimme.
Arthur zuckte zusammen
und war wieder zurück in der Realität. „Woher soll ich das wissen? Sie arbeitet
hier. Sie kommt abends und geht erst wieder am nächsten Morgen. Sie muss einen
Nachtcharakter spielen. Offensichtlich ist sie eine gute Spielerin und verdient
viel Geld. Ich habe sie einmal in der unterirdischen Parkgarage gesehen. Sie
fährt einen tollen Luxussportwagen, den ich mir nie leisten könnte, selbst wenn
ich bis zu meinem Lebensende sparen würde. Aber ich habe keine Ahnung, wer sie
im Spiel ist. Wir können Ihre Avatare nicht sehen, wir helfen Ihnen nur, Ihre
Ausrüstung einzurichten. Normalerweise erhalten Spitzenspieler ihre eigenen
Büros auf den oberen Etagen des Gebäudes, doch sie muss es aus praktischen
Gründen vorziehen, vom Parkplatz aus gleich hier herunter zu kommen. Aber ich
schweife ab. Legen Sie die Kleidung ab, ich werde Ihre Maße für einen
Sensoranzug und -helm nehmen.”
Nachdem sich die Tür
hinter Arthur geschlossen hatte, holte ich mein Handy heraus und teilte meiner
Schwester mit, dass ich bereit war.
Ruf
die Konsole auf und gib mir die Nummer deiner virtuellen Realitätskapsel und
Spielsitzung. Ich versuche, mich zu verbinden.
Ich tippte einen
technischen Befehl auf dem Keyboard und machte mit der Kamera meines Handys ein
Foto davon.
Warte
fünf Minuten, damit wir zur gleichen Zeit anfangen können.
Ich zog den Anzug an,
der mit Elektroden besetzt war, und legte mich in die virtuelle
Realitätskapsel. Ich beobachtete den Timer auf dem kleinen Monitor, wartete
fünf Minuten und schloss dann den Deckel der Kapsel. Jetzt war ich von der
realen Welt abgeschottet. Vor mir leuchtete der Bildschirm auf ...
* * *
Erlittener Schaden:
2757 (Biss einer verfluchten Fledermaus)
Du bist tot.
* * *
WAS ZUM TEUFEL war
das?! Die Meldung kam herein, sobald der Bildschirm geladen war. Das Bild
verblasste langsam und ich war von Dunkelheit umgeben. Eine Minute verging,
dann eine zweite und noch ein paar mehr. Nichts passierte. War es für mich
vorbei? Es gab kein Spiel-Interface oder irgendwelche andere Menüfester, nur
pechschwarze Dunkelheit. Irgendetwas musste falsch gelaufen sein. Fledermäuse!
Richtig! Sie waren das Letzte, das ich in meinem kurzen Spiel als Barbar
gesehen hatte. Jetzt würde ich bestimmt gleich aus meiner Kapsel geholt und
gefeuert, weil ich beim Vorstellungsgespräch gelogen hatte.
Plötzlich wurde die
Welt um mich herum wieder hell und das Fenster für die Charaktererstellung
erschien auf dem Bildschirm. Puh, ich hatte es gerade so geschafft. Was sah ich
vor mir? Einen Goblin-Kräutersammler auf Level 1. Das Volk oder die Klasse
konnte ich nicht verändern.
Charaktername: Amra
Mir brach noch einmal
kalter Schweiß aus. Als ich meinen Barbaren erstellt hatte, war mein erster
Schritt gewesen, ihn zu Ehren des berühmten Barbaren aus dem Fernsehen „Conan”
zu nennen, doch der Name war vergeben. Dann hatte ich einen anderen Namen
ausprobiert, den der berühmte Held benutzte: Amra.
Ich hatte Glück, auch
jetzt war er frei. So weit ich sehen konnte, hatten sich die Spielregeln in den
letzten drei Jahren geändert. Die Namen der Charaktere mussten nun aus zwei
Worten bestehen, zum Beispiel Tony Schwarzherz, Ahmed Schleichende_Schlange
oder Ellie Sehr_Hübsch. Doch mein Name bestand nur aus einem Wort und hatte
außerdem nur vier Buchstaben ...
Ein Newbie mit einem
Einwort-Namen? Es konnte mir helfen, zu verbergen, dass ich für das Unternehmen
arbeitete. Ich hatte wirklich nichts dagegen, es war schön, etwas Besonderes zu
sein. Nun war es an der Zeit, mich mit meiner Erscheinung und den Attributen zu
beschäftigen.
Ein grünes Gesicht
starrte mir entgegen, aus dem zwei riesige Augen hervorstachen, und die Ohren
waren überdimensional groß. Das System schlug vor, ich sollte etwas mit den
Einstellungen herumspielen, um diesen gewöhnlichen Goblin individuell nach
meinem Geschmack zu gestalten, doch ich beschloss, noch damit zu warten. In
einem Hinweis las ich, dass ich die Erscheinung meines Charakters bis Level 10
kostenlos verändern konnte, darum beschloss ich, diesen Schritt fürs Erste zu
überspringen. Etwas anderes bereitete mir mehr Sorgen: Alexandro Lavrius hatte
gesagt, dass nicht mehr viel Zeit bis zum Einbruch der Nacht war, darum durfte
ich keine Sekunde verschwenden.
Vor allem wollte ich
mir die Boni und Strafen für Goblins ansehen. Leider hatte Verwilderter
Waldbursche in Bezug auf die Strafen nicht gelogen:
50% Strafe auf
Intelligenzsteigerungsrate
50% Strafe auf
Stärkesteigerungsrate
- 20 Strafe auf
Beziehungen zu folgenden Völkern: Menschen, Elfen, Zwerge, Gnome, Drachen
20% Strafe auf
verdiente Erfahrung
Die Strafen waren eine
bittere Pille. Besonders unzufrieden war ich mit der Strafe auf die verdiente
Erfahrung. Die negativen Charakteristiken der Goblins wurden durch die Boni
kaum aufgewogen:
30% Bonus auf
Bewegungssteigerungsrate
30% Bonus auf
Wahrnehmungssteigerungsrate
+ 20 Bonus auf
Beziehungen zu folgenden Völkern: Goblins, Orks, Kobolde, Oger, Riesen
+ 30 Bonus auf die
Reaktion von Wald- und Sumpfkreaturen
30% Bonus auf
Bewegungsgeschwindigkeit in Wald- und Sumpfgebieten
Schließlich kam ich zu
den Hauptattributen meines segelohrigen Goblins. Jeder Charakter in Reich ohne Grenzen, egal ob NPC oder
eine reale Person, hatte nur sechs Hauptattribute: Stärke, Beweglichkeit,
Intelligenz, Konstitution, Wahrnehmung und Charisma. Das war Standard und
leicht zu verstehen. Stärke bestimmte den Schaden, den man mit Handwaffen
verursachen konnte, und das Höchstgewicht, das man tragen konnte. Beweglichkeit
war wichtig für Fernwaffen und zum Ausweichen. Intelligenz ermöglichte einem
Charakter, die Eigenschaften von Gegenständen zu verstehen und bestimmte die
Mana-Menge, über die ein magischer Charakter verfügte, sowie die Wirksamkeit
seiner Zauber. Konstitution beeinflusste die Anzahl der Treffer- und
Ausdauerpunkte. Wahrnehmung wirkte sich auf die Sehkraft, den Geruchssinn und
das Gehör aus und gab einem Charakter außerdem eine größere Chance, verborgene
Gegenstände zu entdecken. Und schließlich Charisma: Dieses Attribut definierte
das Verhältnis anderer Charaktere zu einem selbst.
Es gab verschiedene
Möglichkeiten, die Grundattribute zu verbessern. Man konnte ihnen auf jedem
Level eine gewisse Anzahl neuer Attributpunkte zuweisen, in Hauptfertigkeiten
leveln oder magische Gegenstände zum Verbessern einsetzen.
Name
|
Amra
|
Volk
|
Goblin
|
Klasse
|
Kräutersammler
|
Erfahrung
|
0 von 100
|
Charakterlevel
|
1
|
Trefferpunkte
|
15/15
|
Ausdauerpunkte
|
15/15
|
Attribute
|
|
Stärke (Str)
|
2
|
Beweglichkeit (Bew)
|
2
|
Intelligenz (Int)
|
2
|
Konstitution (Kon)
|
2
|
Wahrnehmung (Wah)
|
2
|
Charisma (Cha)
|
2
|
Unbenutzte
Punkte
|
3
|
Hauptfertigkeiten
(2von 4 gewählt)
|
|
Kräuterkunde (Wah, Bew)
|
1
|
Handel (Cha, Int)
|
1
|
Nebenfertigkeiten
(0 von 4 gewählt)
|
Die Entwickler hatten
meinem Charakter standardgemäß zwei Hauptfertigkeiten zugewiesen: Kräuterkunde
und Handel. Die erste war leicht nachzuvollziehen, ein Kräutersammler, der sich
nicht mit Kräutern auskannte, ergab wenig Sinn. Doch Handel verwirrte mich
etwas. Ich konnte die Fertigkeit nicht löschen, die Entwickler sahen mich als
kleinen Goblin, der durch die Wälder trottete, eine Unmenge Pflanzen sammelte
und sie einheimischen Händlern verkaufte. Ich brauchte die Handelsfertigkeit
also, damit ich von skrupellosen Schwindlern nicht übers Ohr gehauen wurde.
Mein Charakter besaß die Intelligenz eines Stuhls. Ohne die besondere Fertigkeit
des Verhandelns würde ich ständig um mein Geld betrogen werden.
Die Buchstaben in
Klammern hinter den Fertigkeiten verwirrten mich zuerst ebenfalls, doch ich
fand schnell heraus, dass es sich um die Attribute handelte, die der Charakter
nach und nach durch das Benutzen der Fertigkeiten verbesserte.
Drei freie
Attributpunkte waren nicht gerade viel! Nachdem ich etwas mit den Parametern
herumgespielt und ihre Beschreibung gelesen hatte, stellte sich heraus, dass
Trefferpunkte und Ausdauerpunkte ausschließlich von der Konstitution abhingen,
darum wies ich diesem Attribut gleich einen Punkt zu. Daraufhin erhöhten sich
meine Trefferpunkte auf 21 und meine Ausdauer auf 20.
Als Nächstes war
Beweglichkeit an der Reihe. Wenn ich die Anleitung des Verwilderten Waldburschen
und meine Volksboni richtig verstanden hatte, hing der Erfolg meines
segelohrigen Charakters von seiner Beweglichkeit ab. Ich wies dem Attribut 2
Punkte zu und erhöhte es damit auf 4. Das war alles, obwohl ... Im letzten
Moment, bevor ich mit dem Spiel beginnen wollte, beschloss ich, dass die
niedrige Intelligenz meines Goblins nicht akzeptabel war. In der Beschreibung
des Attributs hieß es, dass ich mit einer Punktzahl unter 3 nicht richtig
sprechen oder andere verstehen konnte. Das bedeutete, ich würde mich weder mit
anderen Spielern oder NPCs unterhalten, noch Missionen und Hinweise verstehen
können. Ich reduzierte Charisma auf das Minimum und wies den Punkt Intelligenz
zu. Mein Goblin war sowieso keine Schönheit gewesen, doch nun wurde er regelrecht
zu einem Monstrum.
Jetzt war ich bereit.
Es war Zeit, ins Spiel einzusteigen!
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