Außenseiter
Buch 1
Die Dungeons der Krummberge
Release - 23. Dezember 2020
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Kapitel 1
„VORARBEITER
AREN – es ist ein Junge!“
Der Leiter
einer der wohlhabendsten Minenarbeiter-Teams in Orchus, Vorarbeiter Aren,
schaute tief in die traurigen Augen der Frau, die seine Frau bei der Entbindung
unterstützt hatte, und war verblüfft. Welchen Grund konnte es wohl geben, ihm
eine solch freudige Nachricht mit einem so düsteren Gesichtsausdruck zu
übermitteln? Doch wenige Augenblicke später kannte er den Grund. Das Kind war
geboren worden, doch es gab keinen Laut von sich.
„Ist er
tot?”
Aren war ein
Mann, der in seinem Leben schon viel gesehen hatte, doch diese Worte kamen ihm
nicht leicht von den Lippen.
„Er ist am
Leben“, erwiderte die Heilerin düster. Rasch fügte sie leise, fast in einem
Flüstern hinzu:
„Aber es
wäre besser, er wäre es nicht …“
Aren kniff
erbost die Augen zusammen und trat einen Schritt vor. Wenn Blicke verbrennen
könnte, hätte er selbst den Haufen Asche noch eingeäschert, der von der
Heilerin übriggeblieben wäre. Ruhig ertrug Dalia den hasserfüllten Blick des
Minenarbeiters und bemerkte:
„Doch es
gibt auch gute Nachrichten. Deine Frau hat die Geburt hervorragend
überstanden.“
Das
erstickte das aufflackernde Feuer des Zorns in der Seele des frischgebackenen
Vaters. Mit einer gewissen Anstrengung riss er sich zusammen und setzte seine
Befragung fort. Diese Frau war die einzige Heilerin ihres Levels in der
gesamten Region. Vor allem aber war es ein bemerkenswerter Glücksfall, dass sie
sich überhaupt noch in Orchus aufhielt. Eigentlich war sie schon vor geraumer
Zeit in die Hauptstadt abberufen worden. Nur kam die Regenzeit dazwischen, die
eine Woche vor dem erwarteten Termin einsetzte. Jetzt war der Schläfrige Pass
geschlossen und würde das auch noch für mindestens weitere zwei Monate bleiben.
Nur ein Verrückter würde in einer solchen Zeit eine Reise durch die Berge in
Erwägung ziehen. Und Aren und seine Frau hatten Glück – Dalia war ausgesprochen
vernünftig.
„Sprich!“,
knurrte der Vorarbeiter barsch.
So sehr es
ihn auch an die Seite von Liana und seinem Sohn drängte – die Geschäfte hatten
Vorrang.
„Er ist
genullt“, antwortete die Heilerin ausdruckslos.
Ebenso
ausdruckslos, wie es kurz darauf Arens Gesicht wurde. Seine absolute
Bewegungslosigkeit hätte den Neid selbst des Schwarzen Felsens hervorgerufen,
des großen Steins, an dem sich die nördlichen Stürme des Toten Ozeans zuerst
brachen. Doch innerlich spürte er, wie ein eiserner Griff kalt sein Herz
zusammenpresste. Der arme Junge! Wie konnte das sein?
Die Heilerin
sprach weiter.
„Zuerst
dachte ich, er sei eine Totgeburt, doch dann habe ich mir seine Vorräte an
Leben und Energie betrachtet. Es sind jeweils nur zehn Punkte … Und
normalerweise ist 20 die Untergrenze.“
„Aber wie
ist denn das nur möglich?“
„Ich weiß es
nicht.“ Dalia zuckte mit den Schultern. „So etwas habe ich bisher noch nie erlebt.
Aber ich kann mir schon denken, wer dahintersteckt – das ist bestimmt einer der
bösen Tricks von Bug, da bin ich mir sicher.“
„Was soll
diese lästerliche Bemerkung, du alte Hexe?“ Arens Ruhe bekam die ersten Risse.
„Was kann denn dieser üble Geist damit zu tun haben? Glaubst du etwa nicht
daran, dass alles, was geschieht, dem Willen des Großen Systems entspricht?“
Als sie das
hörte, verzog sich das Gesicht der Heilerin, als hätte sie in eine Zitrone
gebissen.
„Um genau zu
sein, glaube ich genau das, ja …“
„Und wieso
erwähnst du dann diesen bösen Geist?“
„Also gut …“
Die Heilerin widersetzte sich dem Druck des Vorarbeiters nicht länger und
erklärte müde:
„Schwöre mir
zuerst, dass du mich nicht zum nächsten Tempel des Großen Systems schleppst,
wenn ich dir von meiner Vermutung berichte. Ich will nicht als Ketzerin
gesteinigt werden!“
„Du hast
mein Wort“, versprach der Vorarbeiter düster.
Die Heilerin
las rasch die Systemmeldung, dass der Eid angenommen worden war, und fuhr leise
fort:
„Du weißt
ja, dass uns das Große System bei unserer Geburt unsere ersten Level schenkt,
uns mit den ersten Vorräten versieht und uns unsere ersten
Eigenschaftstabletten zur Verfügung stellt. Die jeweilige Anzahl wird vom Gott
Zufall bestimmt. Die meisten bekommen zehn oder zwölf. 15 ist die höchste Anzahl
an Tabletten, von der ich jemals gehört habe.“
Aren nickte
schweigend. Ivar, sein Erstgeborener, hatte bei seiner Geburt 14 Tabletten
erhalten. Es war gerade erst zwei Jahre her, seit er und Liana die traurige
Nachricht erhalten hatten, dass Ivar in der großen Öde bei einer Schlacht ums
Leben gekommen war. Er hatte gehofft, die Geburt eines zweiten Sohns würde die
Trauer vertreiben, die sich nach Ivars Tod in seinem Haus eingenistet hatte.
Doch offensichtlich sollte das nicht sein …
„Manche bekommen
allerdings auch weniger als zehn Tabletten. Sie alle erleben eine harte
Kindheit. Sie sind schwächer als andere Kinder. Mit der Zeit haben viele von
ihnen sich allerdings ein respektables Leben erarbeiten können.“
„Ja“, nickte
Aren. „Ich habe in meinem Team ein paar dieser Männer.“
Sein Gesicht
erhellte sich ein wenig. Wie hatte er das nur vergessen können? Bedeutete das
etwa, dass auch sein Sohn in Zukunft ein ganz normales Leben führen konnte? In
diesem Augenblick gab er sich selbst ein Versprechen – natürlich konnte er das!
Aren höchstpersönlich würde dafür sorgen!
„Ich weiß,
was du gerade denkst, Aren. Du hast den Eindruck gewonnen, dein Sohn sei einer
von diesen Menschen. Aber du irrst dich. Dein Baby ist genullt. Er hat nicht
einmal Level 1 oder eine einzige der Tabletten in die Wiege gelegt bekommen,
die ihm zustehen. Und seine Vorräte sind bemitleidenswert gering. Das war alles
Bug …“
Es schmerzte
sie, Aren auch nur anzusehen. Der Funke Hoffnung hatte ihm eine gewisse
Erleichterung gewährt, doch nun war sie dabei, auch noch den letzten Rest dieser
Hoffnung durch den Schmutz zu ziehen.
Dennoch
sprach sie weiter.
„Wie du
weißt, ist Bug unter vielen Namen bekannt. Funktionsstörung, Versagen, Virus …
Aber es gibt noch einen weiteren. Mein Lehrer hat davon in einem Manuskript der
Altehrwürdigen gelesen. Die Dahingeschiedenen haben ihn Systemfehler genannt.
Verstehst du? Fehler! Das bedeutet, das Große System ist nicht perfekt – es
kann Fehler machen! In diesem Buch standen noch viele andere Dinge, doch
darüber möchte ich nicht sprechen. Sie sind ohnehin nicht für deine Ohren
bestimmt.“
Erschöpft
brach Aren auf einer Bank zusammen.
„Level
null“, flüsterte er. „Aber das ist doch …“
„Ja.“ Die
Heilerin nickte traurig. „Er wird keinerlei Fortschritte machen. Er kann keine
Tabletten nehmen. Und selbst wenn du ihm deine Erfahrungsessenzen geben
würdest, es käme nichts dabei heraus. Nahezu alles, das vom Großen System
geschaffen wird, verfügt über eine Einschränkung. Voraussetzung ist immer
mindestens Level 1.“
„Und was
können wir tun?“, fragte Aren resigniert.
Dalia setzte
sich neben dem Vorarbeiter auf die Bank. Ihr Gesicht mit seinen tiefen Falten versank
in Nachdenken.
„Wie alt sie
wohl ist?“, überlegte er plötzlich. Alle wussten, Heiler lebten
lange. Es hieß sogar, sie hätten das Geheimnis der ewigen Jugend entdeckt. Der
Mann lachte in sich hinein. Das war natürlich Unfug. Bug allerdings hatte
manchmal seine eigenen, seltsamen Wege … Und wenn Dalia aussah, als wäre sie 70
Jahre alt, war sie in Wirklichkeit bestimmt mindestens doppelt, wenn nicht
dreimal so alt …
„Ha!“, rief
die Frau überraschend laut triumphierend aus. Ihre dunkelblauen Augen funkelten
vor Freude. „Ich weiß es!“
Dalia rieb
sich die knochentrockenen Hände und wandte sich dem Vorarbeiter zu.
„Wie
merkwürdig, dass ich so lange gebracht habe, bis ich daran gedacht habe! Ich
werde alt … Und du warst auch nicht schneller!“
Verwirrt
starrte Aren die Frau an.
„Okay, ich
werde es dir erklären.“ Sie wedelte mit der Hand. „Du bist momentan
offensichtlich nicht imstande zu denken. Es gibt nur eine Lösung – Artefakte
der Altehrwürdigen.“
„Du willst
mir damit sagen …“
„Genau. Dies
sind die einzigen Gegenstände ohne Levelbeschränkung. Um genau zu sein, gibt es
dafür überhaupt keine Anforderungen. Aber eines muss dir klar sein – sie sind
selten und sehr teuer. Und dein Sohn wird zwei oder drei Gegenstände brauchen,
die ihm einen Bonus auf die Haupteigenschaften verschaffen.“
Die alte
Frau erzählte ihm noch mehr, doch Aren hörte nur noch halb zu. Er dachte
bereits darüber nach, wo und wie er Artefakte der Dahingeschiedenen kaufen
konnte. An Geld dachte er dabei nicht – das Wichtigste war ihm das Leben seines
Sohnes …
14 Jahre
später …
„Du bist ein
verdammt schwerer Mistkerl!“ Furzend und fluchend zerrte ein fetter
Umzugshelfer den schweren Ohrensessel zur Eingangstür.
Der „Thron“
meines Urgroßvaters … Vater liebte es, nach dem Abendessen darin zu sitzen,
sich die Füße am Feuer zu wärmen und eine Pfeife zu rauchen. Das versetzte ihn
immer in nachgiebige Laune. Er hatte mir viele Geschichten, Sagen und Legenden
erzählt, während er in diesem Sessel saß …
„Ja, all
ihre Möbel wiegen Tonnen!“, beschwerte sich eine Stimme aus dem Esszimmer.
„Alter
Ohrensessel, Eiche – eins“, stellte der Bankangestellte ruhig fest,
unbeeindruckt vom Furzen und Fluchen des Umzugshelfers. Seine langen, wie
vertrocknet wirkenden Finger setzen eine weiße Gänsefeder in Bewegung, die
sorgfältig alle Gegenstände festhielt, die aus dem Haus entfernt wurden. Mit
seiner schönen, winzigen Handschrift hatte er bereits drei Blätter bedeckt.
Aus der
Küche kam ein drahtiger, bärtiger Mann. In seinen zitternden Fingern hielt er
eine Terrine, bei der eine Ecke abgestoßen war. Der verhangene Blick seiner
rötlichen Augen blieb an der hageren Gestalt des Bankangestellten hängen.
„Das hier
sieht aus wie Müll. Nehmen wir es mit?“
Die
Lieblings-Terrine meiner Mutter. Jedes Mal, wenn sie sie auf den Tisch stellte,
hörten wir denselben alten Spruch: „Wen stört es, wenn ein Stückchen fehlt? Die
Suppe hält sie dennoch warm!“ Dann hastete sie zurück in die Küche, um ein
weiteres Gericht zu bringen, und mein Vater flüsterte mir zu, dass Frauen immer
Schwierigkeiten hatten, sich von materiellen Dingen zu trennen. Mit einem
Lächeln klopfte er sich dabei gegen seine alte Weste, die meine Mutter ständig
drohte wegzuwerfen.
Der
Angestellte löste den Blick von seinen Aufzeichnungen und sah den bärtigen Mann
an. In seinen kleinen, eng beieinanderstehenden Augen zeigte sich
offensichtliche Verachtung.
„Tox!“,
schimpfte er heiser. „Man hat dir eine simple Anweisung gegeben – hole alles
aus dem Haus und lade es auf einen Karren. Welchen Teil dieses einfachen
Befehls hast du nicht verstanden?“
„Ich meine
nur, es ist doch …“, versuchte Tox, sich zu rechtfertigen, wurde jedoch von
einem anderen Mann unterbrochen, einem Hünen, der ins Haus kam und ihn barsch
anblaffte:
„Halt deine
fette Klappe und tu, was man dir gesagt hat! Beweg deinen Hintern!“
Der bärtige
Tox zog den Kopf ein und begab sich in Richtung Haustür.
„Was glaubst
du denn, wohin du gehst?“, fuhr ihn der Hüne an.
Tox starrte
den riesigen Mann, seinen Boss, ausdruckslos an, der mit verschränkten Armen im
Türrahmen stand, den Bierbauch vorgereckt.
„Hast du
etwa gedacht, ich gestatte dir, das Zeug eine Terrine nach der anderen
hinauszutragen? Nun mach schon – leg einen Zahn zu! Zurück in die Küche, und
erledige deine Arbeit ordentlich!“
Schnell wie
der Wind war Tox verschwunden.
„Herr
Dreher, ich finde, Sie könnten bei der Auswahl Ihres Personals ein wenig
sorgfältiger vorgehen“, bemerkte der Bankangestellte bissig.
„Ich kann
mich nicht daran erinnern, dich nach deiner Meinung gefragt zu haben, du
Aktenwiesel!“ Dreher mit seinem fetten Bauch winkte herablassend mit der Hand
und begab sich ins Schlafzimmer. Auf dem Weg versetzte er den Notizen des
dürren Angestellten einen verächtlichen Schlag.
Wie ein
Schwarm aufgeschreckter Tauben flatterten die weißen Blätter Papier aus dessen
Hand. Das „Aktenwiesel“ gab einen hellen, weibischen Ausruf von sich und sackte
auf die Knie herab, um seine Schätze wieder einzusammeln. Sein Körper bebte vor
Empörung, und aus seiner langen, vogelartigen Nase tropfte grüner Schnodder.
Ruckartig
kroch der Angestellte über den Boden und verfluchte dabei die vertrottelten
Umzugshelfer und ihren rüpelhaften Boss. Blechern klang aus einigen Kehlen im
Raum ein spöttisch wiehernder Laut, als die Männer sich über die demütigende
Haltung des Bürohengstes lustig machten. Sofort lief das Gesicht des
Angestellten knallrot an und Tränen des Zorns traten ihm in die schmalen Augen.
Endlich
hatten seine vertrockneten alten Finger wieder Ordnung in die Seiten gebracht.
Der Angestellte umklammerte ein Tintenfass, das an einer Schnur um seinen Hals
hing, und erhob sich. Mit der rechten Hand klopfte er sich den Staub von der
Hose und seinem abgetragenen, aber ordentlichen Gehrock, dann begab er sich
wieder an die Arbeit.
In diesem
Augenblick trafen sich unsere Augen …
Ich saß auf
einem Küchenhocker in einer Ecke des Korridors und wartete darauf, dass man
über mein Schicksal entschied. Erst gestern hatte man mir erklärt, dass die
Bank unser Haus beschlagnahmen würde, das mein Vater für die Aufnahme eines
hohen Kredits mit einer Hypothek belastet hatte, den er nicht hatte zurückzahlen
können. Um genau zu sein, war das nur einen Tag, nachdem ich vom Tod meiner
Eltern in der nahen Mine erfahren hatte.
„Was glotzt
du denn so, du unausgereifter Grünschnabel?“, zischte der Angestellte.
Ich lachte
leise. Er war wirklich ein Wiesel.
„Findest du
das etwa witzig?“ In den Augen des Wiesels stand eine Mischung aus aufrichtiger
Verwunderung und Bitterkeit. „Schließlich ist alles nur deine Schuld, was
gerade geschieht!“
Ich kapierte
nicht … Wovon redete der Kerl?
„Ha! Ich
sehe, du hast nicht verstanden, worauf ich hinauswill.“
Im Türrahmen
des Schlafzimmers meiner Eltern erschien Dreher, die Arme beladen mit den
Keramiken meiner Mutter. Düster betrachtete er zuerst mich, dann den
Angestellten.
„Halt’s
Maul, du Büroratte!“, blaffte er. „Wenn du den Jungen nicht zufrieden lässt, wirst
du heute Abend ohne Zähne nach Hause gehen!“
Aufmunternd
zwinkerte der bierbäuchige Kerl mir zu und verließ das Haus.
Aus seinen
zornig zurückgezogenen Lippen schloss ich, das Wiesel hätte gern etwas gesagt,
doch ein lauter Ruf von oben unterbrach seine Schimpftirade, bevor sie beginnen
konnte.
„Lass es,
Sakis! Halt besser den Mund!“
Gleichzeitig
hoben wir den Kopf. Auf den Stufen der Treppe zum ersten Stock stand ein Mann.
Sein Kopf war kahl wie ein Ei. Er blickte herab auf seine Aufzeichnungen und
bewegte seine Lippen, während er etwas aufschrieb. Sein Tintenfass hing nicht
so sehr an einer Kette um seinen Hals – es ruhte auf seinem Schmerbauch.
„Aber Velen
– das musst du sehen! Dieser Grünschnabel zeigt mir nicht den gebührenden
Respekt, der mir als Bankangestellter zusteht!“, heulte Sakis.
„Lass es
einfach!“, wiederholte der fette Angestellte und stieg weiter die Stufen hinab,
während er weiterschrieb. Endlich riss er den Blick von den Papieren und fügte
hinzu:
„Und lass
den Jungen in Frieden. Er geht dich nichts an.“
„Was meinst
du damit?“, fragte Sakis erstaunt. „Ich dachte, die Bank …“
„Nein“, fiel
ihm Velen ins Wort. „Die Restschuld wurde von Bardan aufgekauft.“
Das
langgezogene Gesicht des Wiesels streckte sich so sehr, es wirkte beinahe
flach.
„Du meinst den
Bardan??“
„Genau“,
antwortete Velen gleichgültig und vertiefte sich wieder in seine Notizen.
Langsam
drehte Sakis den Kopf in meine Richtung. Kurz flackerte in seinen Augen Mitleid
auf.
„Ähm …“,
bemerkte er langgezogen. „Ich beneide dich wirklich nicht, unausgereifter
Grünschnabel.“
Die
Verwirrung und Unruhe in meinem Gesicht schien ihn zu erfreuen. Mit stolz
erhobenem Kopf begab er sich zum Ausgang.
Ich konnte
den daraufhin folgenden geflüsterten Austausch der zwei Umzugshelfer im
Esszimmer nicht überhören.
„Hör mal,
Tox, warum nennt diese Bankratte den Jungen ständig ‚unausgereift‘?“ Ich konnte
nicht sehen, wer da sprach, doch ich erkannte die Stimme. Es war Roy, ein
großer, plumper Kerl mit blonden Haaren und einem Torso wie ein Bierfass.
„Nun ja,
weil er genau das ist. Er war schon bei seiner Geburt verkrüppelt“, antwortete
Tox achtlos.
„Hmmm“,
brummte Roy überrascht. „Das merkt man aber nicht, wenn man ihn so anschaut.
Nun gut, er ist ziemlich dürr, und er hat dunkle Ringe unter den Augen. Was
glaubst du, ob er wohl kürzlich krank war? Und immerhin hat er vor wenigen
Tagen seine Mutter und seinen Vater verloren. Bestimmt ist er deshalb so bleich
wie der Tod.“
„Neee“,
widersprach Tox. „Er wurde so geboren. Hmmm … Ich vermute, der alte Aren – Gott
Zufall sei seiner armen Seele gnädig – hatte mit seinen Söhnen nicht viel Glück
…“
Eine Weile
lang setzte die Unterhaltung im Esszimmer sich nicht fort, während die beiden
Männer nachdachten.
Roy war es,
der das Schweigen brach.
„Du, sag mal
… Wir haben noch immer einen halben Tag Arbeit vor uns, und es arbeitet sich
leichter, wenn wir uns dabei unterhalten.“
„Nun, da
gibt es nicht viel zu erzählen“, erwiderte Tox angestrengt. Er schien gerade
etwas Schweres zu bewegen. „Wie du sehen kannst, war die Familie nicht gerade
arm. Ein zweistöckiges Haus, und die Farm läuft recht gut. Pferde, Kühe,
Schweine.“
„Das ist mal
sicher!“, schnaubte Roy mit hörbarem Neid.
„Die
Bergmanns waren eine Familie von Minenarbeitern“, fuhr Tox fort. „Sein Vater
hat das beste Team geleitet. Und das gesamte Team ist umgekommen, als ein
Schacht eingestürzt ist.“
„Verdammt …“
„Bergmanns
Frau und ein paar andere Frauen haben den Männern gerade das Mittagessen in die
Mine gebracht … Die hat es ebenfalls erwischt …
Aus Tox‘
Tonfall schloss ich, der Tod meiner Eltern und ihrer Freunde machte ihm
ernsthaft zu schaffen.
„Und was ist
mit den Söhnen?“
„Mit denen
hatte er ziemliches Pech. Nun ja, es fing alles ganz gut an. Sehr gut sogar!
Als sein erster Sohn geboren wurde, verfügte er über eine gute Zusammenstellung
an Eigenschaften. Er war der Stärkste in seiner Altersgruppe. Als er 14 wurde,
ging er zusammen mit seinem Vater in die Minen. Im Winter desselben Jahres hat
er das Turnier gewonnen. Daraufhin hat der Baron ihn als Neuling in sein
Gefolge aufgenommen.“
„Du meine
Güte! Und was hat das mit Pech zu tun?“, rief Roy aus.
„Nun ja,
einen Monat später erhielten die Bergmanns die Nachricht, dass ihr Sohn bei
einem Kampf umgekommen war …“
„Ach so …“
„Ja, so …“
Die
Umzugshelfer schwiegen erneut eine Weile, um diese Informationen zu
verarbeiten. Doch diesmal dauerte das Schweigen nicht lange, und es war Tox,
der sich als erster wieder zu Wort meldete:
„Es
vergingen ein paar Jahre der Trauer, dann war Arens Frau wieder schwanger.
Eigentlich sollte man denken, das wäre Grund zur Freude gewesen, aber die Sache
lag so … Das Baby wurde mit einer gewissen Schwäche geboren. Um genau zu sein,
war es sogar noch viel schlimmer … Zuerst dachten sie, der Junge wäre tot
geboren worden. Er schrie nicht, bewegte sich nicht, hatte die Augen
geschlossen. Doch die Bergmanns hatten eine sehr fähige Medizinfrau als Hebamme
beauftragt, und ihr fiel auf, dass das Kind atmete. Kaum spürbar, aber doch.“
„Himmel!“,
kommentierte Roy.
„Ha!“, rief
Tox. „Du hast das Wichtigste noch gar nicht gehört! Aren hat eine Menge Geld
für eine Heilerin aus der Hauptstadt bezahlt.“
„Das kann
ich mir denken!“
„Jedenfalls,
sie bemerkte, dass der Junge genullt war – Level null“, berichtete Tox
triumphierend.
Es klang,
als sei gerade Roys Kinnlade krachend zu Boden gefallen, doch dann überlegte
ich, dass die beiden Männer wohl nur gerade die Werkzeuge meines Vaters
untersuchten.
„Das sieht
man wirklich nicht alle Tage!“, hörte ich Roy sagen.
Um ehrlich
zu sein, war ich überrascht. Er hatte meine Geschichte beinahe wahrheitsgetreu
wiedergegeben. Ein paar Details stimmten nicht, doch im Wesentlichen hatte sie
sich tatsächlich so zugetragen. Mein Vater hatte mir sehr oft von meiner Geburt
berichtet.
„Hey, ihr
beiden Faulenzer!“ Das plötzliche Brüllen von Dreher ließ mich zusammenzucken.
„Setzt gefälligst eure Hintern in Bewegung! Ich bezahle euch Trottel nicht fürs
Quatschen!“
Der
hünenhafte Anführer der Umzugshelfer war plötzlich aufgetaucht und warf den
Arbeitern einen bösen Blick zu, als er zur Tür ging.
„Faule
Säcke!“, knurrte er. „Macht euch mal keine Sorgen – wir haben viel Zeit zum
Reden, wenn ihr zu mir kommt, um euren Lohn abzuholen …“
Eine Weile
lang beobachtete er den Hof, dann drehte er sich zu mir um. Sein Blick zeigte
auf einmal wärmere Gefühle.
„Mach dich
bereit, Junge“, sagte er düster und deutete mit einer Kopfbewegung auf den
Ausgang. „Dein Transport ist eingetroffen.“
Merkwürdigerweise
ertappte ich mich bei dem Gedanken, dass ich auf diesen Augenblick bereits den
gesamten Morgen lang ungeduldig gewartet hatte. Hätten die Männer gewusst, was
ich gerade dachte, hätten sie mich gewiss für verrückt erklärt.
Bah! In
gewisser Weise hätten sie damit sogar recht gehabt.
Vor zwei
Tagen war meine gesamte Welt zusammengebrochen. Und sie war von Anfang an nicht
unbedingt großartig gewesen, nur gerade das, was ein Krüppel wie ich erwarten
durfte. Als ich, innerlich distanziert, zuschaute, wie man das Heim unserer
Familie auseinandernahm, war mir auf einmal klargeworden, dass ich nun ganz
allein war. Es gab nur mich und die Welt, einer gegen einen. Nie wieder würde
mein großer, starker Vater kommen, um mir zu helfen. Nie wieder würde meine
schwatzhafte, zärtliche Mutter meine Tränen der Verzweiflung und der Wut
trocknen.
Ich spürte
einen Kloß in der Kehle. Meine Augen brannten und verrieten dadurch meine
Gefühle. Nein! Ich würde nicht in Tränen ausbrechen! Wenigstens nicht hier und
nicht jetzt – das würde diese Räuber nur amüsieren, die sich das Heim meiner
Familie mitsamt allem Inhalt unter den Nagel rissen. Wenn alles vorbei war,
konnte ich mir immer noch ein tiefes Loch suchen und mir die Augen ausweinen,
meinen Gefühlen freien Lauf lassen. Aber nicht hier und jetzt. Es wäre ein
Verrat an der Erinnerung an meinen Vater gewesen. Er hatte mich gelehrt, stark
zu sein.
Ich sah zu,
wie die Helfer die von meinen Eltern so geliebten Gegenstände aus dem Haus
trugen. Die Geschichte meiner Familie vernichteten. Und mir wurde klar, dieser
Ort hatte in dem Augenblick aufgehört, mein Zuhause zu sein, in dem meine
Eltern gestorben waren. Zu dieser Zeit war mir das nicht klar, aber ich hatte
gerade eine der fundamentalsten Wahrheiten des Lebens entdeckt: Dein Zuhause
ist dort, wo die Leute leben, die du liebst.
Langsam
rutschte ich vom Hocker. Eine größere Geschwindigkeit brachte ich nicht
zustande, angesichts meiner lediglich 2 Punkte Beweglichkeit. Über die ich
schon froh genug war.
Ich war zwei
Jahre alt, als ich meinen ersten Schritt tat. Damals sagte ich auch mein erstes
Wort. In diesem Jahr war meinem Vater das Glück hold, und er war in der Lage,
mir mein erstes Artefakt der Altehrwürdigen zu kaufen, auf dem Schwarzmarkt in
der Hauptstadt unseres Baronats. Aus alter Gewohnheit griff ich mir an die
Brust.
- Steinbrocken-Monitor-Knochen-Knopf.
- Kategorie:
einfach.
-
Beweglichkeit + 2.
- Stärke +
1.
- Verstand +
3.
-
Einschränkungen – keine.
-
Dauerhaftigkeit – 25/25.
Manche
halten es bestimmt für lustig, wie glücklich diese armseligen sechs
Eigenschaftspunkte mich machten … Doch für mich, der ich zwei Jahre lang ans Bett
gefesselt gewesen war, unbeweglich wie ein Stück Holz, ohne etwas zu fühlen,
ohne die Fähigkeit zu sprechen, war das Geschenk meines Vaters das Beste, das
mir jemals passiert war – und das blieb es bis heute.
In der Hand
hielt ich einen kleinen Rucksack. Darin lagen ein Portrait meiner Eltern, zwei
hartgekochte Eier und ein Brotkanten. Madam Horst, eine Nachbarin, hatte mir
Wegzehrung gebracht. Ich hatte sie immer für böse und streitsüchtig gehalten,
doch am Ende hatte sie es geschafft, mich zu überraschen. Sie war die Einzige,
die vorbeigekommen war, um sich zu erkundigen, was aus mir werden würde.
In meinem
Gürtel, der ebenso wie der Rest meiner Kleidung Level null hatte, gab es eine
winzige Tasche, in der ich mein Taschenmesser aufbewahrte.
-
Libellen-Taschenmesser.
- Kategorie:
einfach.
- Schaden: +
2.
-
Einschränkungen – keine.
-
Dauerhaftigkeit – 55/55.
Es war das
letzte Artefakt, das mein Vater hatte beschaffen können. Meine Eltern hatten es
mir als Geburtstagsgeschenk überreicht, nur wenige Stunden vor ihrem Tod …
Irgendwie reichten meine jämmerlichen drei
Punkte Stärke aus, meinen Körper ebenso zu tragen wie den kleinen Rucksack. Das
hatte ich nur einem unauffälligen, schmalen Ring zu verdanken.
-
Stahl-Ring.
- Kategorie:
einfach.
- Stärke + 2.
-
Einschränkungen – keine.
-
Dauerhaftigkeit – 30/30.
Ich hatte
meinen Vater einmal gefragt, warum diese schlichten Gegenstände so wertvoll
waren. Wie sich herausstellte, gab es gewichtige Gründe dafür.
Zunächst
einmal gab es für die Artefakte der Altehrwürdigen keine Einschränkungen. Was
bedeutete, jeder konnte sie verwenden, ganz unabhängig von seinem Level und
seinen Eigenschaften.
Zweitens
konnte ich ihre Boni, so gering sie auch waren, in Zukunft verbessern. Momentan
wusste ich nur noch nicht, wie ich das anstellen sollte.
Drittens,
wobei das allerdings lediglich ein Gerücht war, konnte eine solche Verbesserung
nicht nur meine bereits bestehenden Eigenschaften stärken, sondern auch neue
hinzufügen.
Der letzte
Grund war, dass diese Gegenstände ska… skali… skalier-bar waren. Das bedeutete
anscheinend, dass mein bestehendes Level ihren Boni hinzugefügt wurde. Wenn ich
Level 1 erreichen könnte, würden alle Eigenschaften, die die Artefakte mir
verliehen, um einen Punkt angehoben. Ah … Träume … Träume …
Außerdem war
da noch etwas. Dalia hatte mir das erzählt. Die Werke der Altehrwürdigen
konnten lediglich von denen mit einem hohen Verstand erkannt werden. Für normale
Leute wirkten sie wie gewöhnliche, wenig bemerkenswerte Alltagsgegenstände.
Und was ihr
Aussehen betraf … Nun, teurer Schmuck wie etwa ein Ring aus Gold am Finger des
Sohnes eines Bergarbeiters hätte nur die falsche Art von Aufmerksamkeit geweckt.
Dass diese Objekte so schlicht und unauffällig waren, war also perfekt. Alles,
das von den Dahingeschiedenen erschaffen worden war, galt als einmalig und
begehrenswert. Es bestand daher kein Grund, damit zu prahlen. Das war eine der
ersten Regeln, die mein Vater mir beigebracht hatte.
Das war auch
der Grund, warum jedes Mal, wenn mein Vater ein neues Artefakt ins Haus
brachte, auch Dalia die Heilerin erschien, zunächst nichts als die Hebamme
meiner Mutter, doch bald schon eine gute Freundin des gesamten Hauses. Dank
dieses kleinen Tricks stellte niemand jemals eine Frage. Zum Beispiel als ich
auf einmal laufen konnte, nachdem ich zwei Jahre lang bewegungslos auf dem
Rücken liegend verbracht hatte.
Es lieferte
auch eine logische Erklärung dafür, warum der Vorarbeiter eines erfolgreichen
Bergarbeiter-Teams bei der Bank immer wieder einen neuen Kredit aufnahm. Heiler
waren teuer. Vor allem Heiler wie Dalia. Übrigens hatte meine Mutter mir einmal
verraten, dass es keine andere als die alte Heilerin gewesen war, die die Werke
der Altehrwürdigen für mich gefunden hatte. Für ihre Mühe bezahlte mein Vater
ihr einen gewissen Finderlohn.
Ich hatte
immer vermutet, dass meine Eltern eine Menge Geld ausgaben, nur damit ihr Sohn
ein einigermaßen normales Leben führen konnte. Doch als ich erfuhr, wie hoch
ihre Schuld einschließlich aufgelaufener Zinsen tatsächlich war, erschrak ich.
Sie war so enorm, dass die Bank unser Haus nahm, unser Land und die gesamte
Farm. Und trotzdem schuldete ich als Erbe der Bank noch immer nahezu 100
Goldstücke. Die Bank hatte diese Schuld verkauft – und nun schuldete ich das
Geld einem Kerl namens Bardan …
Zum letzten
Mal trat ich durch die Tür des Hauses meiner Eltern. Ich wandte mich an den
Anführer der Umzugshelfer:
„Herr
Dreher, können Sie mir bitte sagen, wer dieser Bardan ist?“
Der Hüne
seufzte schwer, verbarg einen düsteren Blick und antwortete:
„Bardan
ist ein Lanista. Ihm gehören die Arenen. Er kauft Gladiatoren und lässt sie
darin kämpfen.“
Kapitel 2
Zwei Jahre früher.
„ALSO
– jetzt alle mal gut zuhören!“
Die Stimme
des Ausbilders Droom hallte in der Höhle wider. Der zähe Rotschopf war Mitglied
eines Bergarbeiter-Teams, das mit dem meines Vaters im Wettstreit stand. Er
sollte uns die Grundlagen der Kunst des Bergbaus beibringen.
„Heute
werdet ihr alle lernen, wie man mit einer Spitzhacke umgeht!“, blaffte er und sah
düster in unsere jungen Gesichter.
Endlich
blieb der scharfe Blick seiner schwarzen Augen an mir hängen.
„Mit
Ausnahme von Erik Bergmann natürlich.“ Sein breiter, krötenähnlicher Mund
verzog sich zu einem bissigen Lächeln. Dabei zeigte er eine Reihe schiefer
gelber Zähne.
Wie aufs
Stichwort sahen meine Mitschüler mich an und lachten begeistert. Ein blondes
Mädchen namens Mia, die Hübscheste in der Klasse, lachte besonders laut.
Umgeben von einer Schar Freundinnen, ebenfalls nicht übel, aber nicht ganz so
hübsch wie sie, wirkte sie wie eine Königin.
Mias Vater
Hrut, einer der zwölf Ältesten, die über Orchus bestimmten, lag mit meinem
Vater im Streit. Der hatte dem alten Hrut einmal beinahe die Visage poliert,
und darüber sprach man noch lange in unserer Stadt. Begonnen hatte alles, als
der spießige Älteste sich darüber aufgeregt hatte, wie ein von Bug verfluchter
Krüppel mit seiner Tochter in einer Klasse sitzen konnte.
Ganz ehrlich
– die Sache landete sogar vor Gericht. Hrut hatte die anderen Ältesten und die
Eltern meiner Mitschüler einhellig hinter sich. Sie argumentierten, meine Behinderung
würde den Lernfortschritt der gesamten Klasse behindern. Auf der Suche nach
einem Beispiel berief man sich darauf, dass schon meine bloße Anwesenheit die
gesamte Gruppe schwächte. Auch wenn ich keinen Schaden anrichtete, wollte ich
doch ungerechtfertigt an allem teilhaben, so erklärte man. Außerdem, so fuhr
man fort, bedeutete das eine anhaltende Belastung für die Lehrer und Ausbilder,
die ständig darauf achten musste, dass der „unausgereifte Grünschnabel“ nicht
aus Versehen unter die Räder kam. Schließlich verfügte ich lediglich über zehn
Punkte Leben. Das war nicht viel mehr, als es eine große Ratte aufweisen
konnte.
Theoretisch
hätte es genau so kommen sollen, doch in Praxis ließ mich niemand an
irgendetwas teilhaben, und die Ausbilder scherten sich einen Dreck um meine
Sicherheit. Wenn ich überlebte – gut. Wenn ich umkam, war es meine eigene
Schuld.
Ein weiteres
Problem, mit dem ich zu kämpfen hatte, war die Beschaffung von Ressourcen. Alle
Werkzeuge und Arbeitsmittel setzten mindestens Level 1 voraus. Und das war noch
die geringste meiner Sorgen! Ich konnte nicht einmal alle Gerichte meiner
Mutter essen – nur diejenigen mit ein wenig Null darin. Es waren die grundlegendsten
Nahrungsmittel wie Brot, Butter und Honig. Oder einfache Gerichte wie Fleisch
und Haferbrei, ohne weitere Zutaten. Es war eine besondere Art von Folter, den
anderen Kindern dabei zuzusehen, wie sie Süßigkeiten verschlangen …
Am Ende
entschied das Gericht, das ich eigentlich aus der Schule verwiesen werden
musste. Allerdings gestattete man mir großzügig, im Unterricht stumm dazusitzen
und alles zu beobachten, einfach nur anwesend zu sein. Der Gedanke, der
dahintersteckte war: „Schau zu, aber fass nichts an!“ Und selbstverständlich
würde die Lehrer und Ausbilder keinerlei Schuld treffen, wenn mir etwas zustieß
…
In Drooms
Hand erschien eine kleine Spitzhacke. Mein Vater hatte mir einmal eine ähnliche
gezeigt. Sie konnte 5 Punkte Schaden zufügen.
„Ich werde
euch das nur ein einziges Mal erklären!“, knurrte der Ausbilder. „Ihr haltet
die Hacke hier, am Griff. Dann ausholen, schwingen – Treffer!“
Der Stahl
stieß auf Erz und schlug Funken. Ohne sich sonderlich anstrengen zu müssen,
übte Droom mit dem Griff Druck aus und holte einen ersten Steinbrocken heraus.
„Habt ihr es
alle kapiert?“
Wild
durcheinander bestätigten die Kinder.
„Okay, dann
schauen wir mal. Wer will es als Erster versuchen?“
Rasch löste
sich aus der Gruppe der Schüler eine starke, hochgewachsene Gestalt.
Es war
Haakon, der Sohn des Jägers Ulvar. Haare schwarz wie Pech, eine kraftvolle
Statur, katzenhafte Bewegungen. Die Gruppe der Mädchen um Mia herum beobachtete
ihn verzückt.
Es hieß, als
Haakon geboren wurde, gewährte der Gott Zufall ihm verschwenderische 14
Tabletten. Es war die gleiche Anzahl, wie sie meinem älteren Bruder Ivar einmal
in die Wiege gelegt worden war. Den ich leider niemals kennengelernt hatte.
Dank dieses
Geschenks des Großen Systems machte Haakon weit rascher Fortschritte als andere
Gleichaltrige. Vor einer Woche war er mit seinem Vater und älteren Bruder zur
Jagd aufgebrochen, auf Level 2. Zurück kam er mit Level 5. All meine Mitschüler
himmelten ihn an wegen seiner Stärke und Beweglichkeit.
„Meister
Droom, können Sie mir vielleicht ein besseres Werkzeug geben?“, bemerkte Haakon
herausfordernd.
Er hatte die
Brust herausgestreckt, die Hände in die Hüften gestemmt. Angeber!
Droom gab
ein beglücktes Brummen von sich.
„Ja, warum
nicht?“
Schon
reichte er ihm eine schwere, für Erwachsene bestimmte Spitzhacke.
„Himmel!“,
bemerkte Thomas bewundernd, einer der größeren Jungs, wie ich Sohn eines
Bergarbeiters. „Level 5! Wie die von meinem Vater! Das Ding muss mächtig schwer
sein!“
Falls Haakon
beunruhigt war, ob er damit umgehen konnte, fiel es jedenfalls niemandem auf.
Sein hübsches Gesicht strahlte mit demselben selbstzufriedenen Grinsen wie
immer.
Der Sohn des
Jägers stellte sich direkt vor den Ausbilder und streckte die rechte Hand nach
dem Werkzeug aus. Mit Leichtigkeit übergab Droom ihm die schwere Hacke, als
wäre sie leicht wie eine Feder.
„Nimm besser
zwei Hände“, riet er grinsend.
Trotz seines
überzeugten Auftretens war Haakon vorsichtig genug, dem Rat zu folgen. Wofür
der Lehrer ihn mit einem zustimmenden Nicken belohnte.
Die ganze
Zeit über standen wir schweigend da, hielten den Atem an und beobachteten
Haakon. Er nahm den Griff mit beiden Händen. Nickte dem Ausbilder zu. Droom
ließ los. Ich sah, wie die Adern auf Haakons Stirn heraustraten. Seine Hände
bebten vor Anstrengung, doch er ließ die Hacke nicht los.
Ein heftiger
Schwung, und die Stahlspitze biss sich in das Erz. Es sah aus, als müsste
Haakon sich ein wenig mehr anstrengen als Droom, doch was machte das schon …
Der
Jägerssohn setzte sein gesamtes Körpergewicht als Hebel ein und schaffte es
unter Aufbietung aller Kräfte, begleitet vom bewunderten Keuchen seiner
Mitschüler, ein recht großes Stück Stein herauszubrechen.
„Gut
gemacht!“, knurrte der Meister und klopfte dem Jungen auf die Schulter.
Auf Haakons
Gesicht erstarrte das zufriedene Grinsen. Seine Augen bewegten sich, folgten
Systemmitteilungen, die nur er sehen konnte.
„Was hast du
dafür bekommen?“
„Was?“
„Was ist
los?“
Von allen
Seiten stürmten Fragen auf ihn ein.
Gebieterisch
hob Haakon die Hand.
„Ruhe!“,
brüllte Skeggi, Haakons bester Freund. „Lies schon, Kumpel!“
Haakon
konzentrierte sich auf den unsichtbaren Text und vertiefte sich in aller Ruhe
darin. War ich der Einzige, dem auffiel, wie langsam er las? Er musste über
noch weniger Verstand verfügen als ich.
„Achtung –
du hast 4 Pfund Erz erworben! Gratuliere! Du erhältst dafür …“
Listig lies
Haakon den Blick über uns schweifen und fuhr fort:
„Eine
Ton-Tablette der Stärke!“
Alle schrien
begeistert.
„Eine
Ton-Tablette der Beweglichkeit!“
„Klasse!“,
riefen alle gemeinsam.
„Eine
Ton-Tablette der Ausdauer! Eine Ton-Tablette ‚Bergbau‘! Eine Ton-Tablette
Tragefähigkeit. Erfahrungsessenzen – 5!“
Während
Haakon die Liste seiner Beute vorlas, stellte ich mir unwillkürlich vor, ich wäre
an seiner Stelle. Wie fühlte sich das wohl an, stark und beweglich zu sein?
Alles zu erreichen, das man sich vornahm? Das hübscheste Mädchen der Klasse
dabei zu ertappen, wie sie einen voller Hingabe anstarrte?
Ich brauchte
eine Weile, bis ich bemerkte, dass Haakon seine Angeberei eingestellt hatte und
mich alle anstarrten. Verwirrt sah ich mich um.
„Hast du
sein Gesicht gesehen?“, spottete Snorri, ein weiterer Typ aus Haakons Gefolge,
und deutete mit einem schmutzigen Finger auf mich. „Dem Schwachkopf läuft das
Wasser im Mund zusammen wegen Haakons Beute!“
Lautes,
wieherndes Lachen hallte durch die Höhle. Alle zeigten auf mich. Dabei zogen
sie Grimassen, die wohl nachäffen sollten, wie ich gerade ausgesehen hatte.
Irgendwann
ertrug ich es nicht länger, drehte mich um und rannte in Richtung Ausgang.
Wenigstens erschien es mir so. In Wirklichkeit kroch ich so langsam wie eine
Schildkröte daher. Vielmehr, selbst eine Schildkröte wäre schneller gewesen als
ich. Mein epischer „Lauf“ löste eine neue Salve Gelächter aus. Der schnodderige
Snorri und der fette Thomas klatschten sogar höhnisch.
Ich erinnere
mich nicht mehr daran, wie ich nach Hause kam. Ich weiß nur noch, ich heulte
die ganze Nacht. Zorn und Demütigung ließen mich wünschen, im Erdboden
versinken zu können. Am meisten hasste ich mich allerdings dafür, so schmählich
weggelaufen zu sein.
Erst gegen
Morgen fiel ich an diesem Tag in einen unruhigen Schlaf – nachdem ich mir
geschworen hatte, nie wieder einem Feind meinen Rücken zu zeigen.
Heute
„Erik
Bergmann?“
Dürr wie ein
kranker Baum und halb blind starrte der alte Mann auf ein Blatt Papier. Ein
schmaler, kahler Kopf, enge, knochige Schultern, eine gebeugte Haltung. Er
hatte es lediglich auf Level 9 gebracht. Ich fragte mich, was er wohl sein
ganzes Leben lang gemacht hatte. Er war ein weiterer Versager, wie ich. Oder
halt, nein – ich war der Einzige wie ich. Wenigstens hatte Dalia mir das
erklärt.
Endlich riss
der alte Mann den Blick vom Dokument und betrachtete aufmerksam die Worte, die
über meinem Kopf standen.
„Was zum …“
Seine verblassten, tränenden Augen wurden kullerrund. Er blinzelte sogar einige
Male.
„Meine alte
Dame hat mir verboten, dieses schwarzgebrannte Zeug zu trinken“, keuchte er erschrocken.
„Und jetzt halluziniere ich und sehe Nullen!“
Ein
vorbeikommender Umzugshelfer lachte.
„Was denn,
Burdoc – hast du dich endlich um den Verstand gesoffen?“
„Was gibt es
da zu lachen, du Faulenzer? Jetzt muss ich ein paar Heilern eine Menge Geld
zahlen!“
„Dann lernst
du endlich, wie das ist, wenn man dir etwas Unangenehmes aufzwingt!“ Der
Umzugshelfer lachte wieder.
Verärgert
spuckte Burdoc aus und betrachtete sich stirnrunzelnd erneut mein Level.
Ich
beschloss, ihm zu Hilfe zu kommen.
„Herr
Burdoc, machen Sie sich keine Sorgen. Es ist keine Halluzination. Ich bin
wirklich genullt.“
Ich hatte
gehofft, den armen Kerl beruhigen zu können. Weit gefehlt! Das entsetzte ihn
nur noch mehr.
„Wie kann
denn das sein? Oh, Großes System!“, lamentierte er und griff sich an den Kopf.
„Was soll ich bloß Herrn Bardan sagen? Er wird mir bei lebendigem Leib die Haut
abziehen, wenn ich ihm einen solchen Ausschuss bringe!“
„Das ist
doch nicht dein Problem, du alter Narr!“, mischte sich der Anführer der
Umzugshelfer ein. „Bardan hat mit der Bank eine Vereinbarung getroffen. Er hat
die Leibeigenschaftszertifikate gekauft. Wenn er sich nicht näher betrachtet
hat, was er da gerade kauft, ist das seine Schuld – nicht deine, alter Mann.“
„Das ist
wahr!“ Bardoc breitete erleichtert die Arme aus. „Ich bin schließlich nur ein
kleines Zahnrad in der Maschine. Mein Job besteht ausschließlich darin, die
Leute auf dieser Liste zu transportieren!“
„Genau!“
Dreher grinste. „Und du hast dir schon in die Hosen gemacht …“
„Ich danke
dir, lieber Mann, du hast mich sehr beruhigt.“ Burdoc verneigte sich rasch vor
dem Umzugshelfer und wandte sich an mich. „Und du, Junge – kletterte auf meinen
Karren. Wir haben noch mehr Arbeitssklaven einzusammeln.“
Es war
bereits Abend, als wir endlich an unserem Ziel eintrafen. Zu meiner Überraschung
überstand ich die Reise gut. Den Kopf in einem Haufen süß duftendem Heu
vergraben, schlief ich den gesamten Weg. Ich öffnete die Augen nur, wenn Burdoc
einen weiteren Sklaven einsammelte. Angesichts des lauten Jammerns und Klagens
der Frauen und Kinder konnte man unmöglich weiterschlafen. Das Spektakel einer
Familie, die einen der Ihren in die Leibeigenschaft schickte, war nichts für
Weichherzige.
Ich hatte so
etwas vorher noch nie zu sehen bekommen, doch Burdoc war begierig, mir alles zu
erklären, was vor sich ging. Für einen alten Mann war er ausgesprochen
schwatzhaft.
„Nehmen wir
mal an, ein Mann geht zur Bank und nimmt einen Kredit auf“, begann er. „Wie
soll die Bank einen Profit erzielen, wenn sie ihr Gold an x-beliebige Leute
verschleudert? Genau – gar nicht. Aber sie müssen Gewinn machen, dafür sind sie
ja eine Bank. Also geben sie dem Kerl ein bisschen Bargeld, damit er damit
wirtschaften kann. Dadurch laufen Zinsen für das Darlehen auf. Wenn er erfolgreich
ist und genug Gold hat, um alles wie vereinbart zurückzuzahlen, ist es gut. Kann
er das aber nicht, wird die Schuld von jemandem aufgekauft wie meinem Meister.
Er kann immer Leute brauchen … Und wenn der Zeitpunkt gekommen ist, müssen sie
für ihn arbeiten, bis die Schuld abgetragen ist. Ähm … Warte, das Schlimmste
habe ich dir noch gar nicht berichtet … Es ist eine gute Sache, wenn eine
Familie starke Söhne hat. Normalerweise geben die Väter sie in die
Leibeigenschaften und versuchen gleichzeitig, selbst das Geld aufzutreiben, um
ihren Jungen zurückzukaufen. Wenigstens gute Väter tun das. Manchmal müssen die
Kinder für die Schulden ihrer Eltern aber auch ihr halbes Leben ackern. Einige
von ihnen sterben sogar in der Sklaverei …“
Die letzte
Familie, die wir aufsuchten, hatte keine Söhne. Sie hatten Kinder, aber nur
fünf Mädchen. Die älteste schien in etwa in meinem Alter zu sein, und sie war
es, die wir abholen sollten. Ihr Name war Jay. Merkwürdigerweise weinte ihre
Mutter nicht, auch wenn ihr düsteres Gesicht eine Maske aus Schmerz und Verzweiflung
war. Die jüngeren Schwestern hingegen heulten jämmerlich wie Schlosshunde und
wischten sich Tränen und Schnodder aus dem Gesicht.
Ihre Mutter
umarmte Jay mit starren Armen und ich betrachtete mir Jays altes Haus. Ich sah
ihren Vater, der aussah, als würde er niemals von seiner Flasche aufschauen. Mir
wurde klar, es würde lange dauern, bis sie die Schuld abgetragen hatte. Falls
überhaupt jemals …
Bardans Haus
war beeindruckend. Drei Stockwerke. Granitwände. Fenster mit Stahlgittern
davor. Es war kein Heim, sondern eine Festung. Und das gesamte, recht große
Anwesen war umgeben von einem hohen Steinwall. Vor dem Tor und vor der Tür zum
Haus standen bewaffnete Wachen. Angesichts dieser Umstände war dieser Bardan
wohl ziemlich reich, überlegte ich.
Unser Karren
mit seinen schweigenden Sklaven rollte zu den Baracken, die in einiger
Entfernung vom Haus des Meisters standen. Dort warteten Leute auf uns.
Zwei Männer.
Einer von ihnen erinnerte mich ein wenig an den Bankangestellten Sakis. Er
hatte ein identisches Tintenfass um den Hals, denselben Schnurrbart, denselben
forschenden Blick. War ebenso hager, mit einer ungesunden Gesichtsfarbe. Ein
geborener Angestellter …
Der zweite
Mann war sein exaktes Gegenteil. Hochgewachsen, breitschultrig. Hände wie
Baggerschaufeln. Grüne Augen, in denen Energie und Macht brannten.
Ungeschickt
stellte Bardoc uns neben dem Karren auf und hielt dem „Angestellten“ ein
vertrautes, zerknittertes Stück Papier entgegen.
„Hier, Herr
Aufseher. Wie die Liste es besagt – sechs neue Sklaven. Vier Männer, ein
Mädchen und ein Junge.“
Mit
sichtlichem Abscheu nahm der Aufseher das Dokument mit lediglich zwei Fingern
entgegen und studierte unsere Namen. Als er bei meinem angekommen war, weiteten
sich seine Augen.
„Was hast du
mir denn da gebracht?“, brüllte er. „Du verdammter alter Narr! Ist dir nicht
aufgefallen, wen die Bergmanns versucht haben, dir unterzujubeln? Was soll ich
jetzt bloß dem Meister sagen? Valgard, sorg dafür, dass dieser Trottel
ausgepeitscht wird!“
Der
rotbärtige Hüne, der bisher ruhig dagestanden hatte, machte einen drohenden
Schritt auf Burdoc zu, der auf einmal die Fähigkeit zu sprechen verloren hatte.
Er sank vor dem tobenden Aufseher in die Knie, der zorniger und zorniger wurde.
Valgard stand über dem alten, inzwischen weinenden Mann und legte ihm seine
Pranken auf die knochigen Schultern.
„Meister
Aufseher!“ Ich glaube, selbst ich erschauerte beim Klang meiner eigenen Stimme.
„Ich bitte um die Erlaubnis zu sprechen!“
Bug selbst
musste mir diese Worte aus dem vertrottelten Mund gezogen haben! Und es war zu
spät, sie zurückzunehmen!
Ein
bedrückendes Schweigen legte sich über den Hof. Meine Schicksalsgenossen
starrten mich verblüfft an. Selbst Burdoc stellte sein Heulen ein.
Der
„Angestellte“ kniff raubtierhaft die Augen zusammen und bellte:
„Sprich!
Aber denk daran – wenn du mich ohne Grund unterbrochen hast, wird dich dieselbe
Auspeitschung ereilen wie diesen hirnlosen Idioten! Kapiert?“
„Ja, Meister
Aufseher. Ich akzeptiere dieses Risiko.“ Es kostete mich große Anstrengung, das
Beben in meiner Stimme zu unterdrücken.
„Also?“
„Es ist
nicht Herrn Burdocs Schuld. Er hat Ihre Befehle pflichtgemäß ausgeführt.“
„Und warum
bist du hier und nicht dein Vater, dein älterer Bruder oder deine Schwester?“
„Nun,
Meister Aufseher, ich habe keine Schwester und werde niemals eine haben. Mein
älterer Bruder ist in der Schlacht in der Öde gefallen, während er für den
Baron kämpfte, und mein Vater und meine Mutter sind vor zwei Tagen bei einem
Minenunglück ums Leben gekommen. Ich bin ganz allein … Deshalb, sehen Sie,
hatte Herr Burdoc keine Wahl.“
Aus dem
Augenwinkel sah ich, wie Jay mich fasziniert betrachtete. Während unserer Reise
hatte ich sie hin und wieder unauffällig anschauen können. Zu meiner großen
Überraschung verfügte sie über Level 5. Ihre biegsame Gestalt und katzenhaften
Bewegungen verrieten mir, sie hatte massiv in ihre Beweglichkeit investiert.
Unter ihrem Kopftuch schauten feuerrote Haare hervor. Ihre Augen waren wie zwei
dunkle Smaragde. Die Sommersprossen auf ihrer Stupsnase und ihren blassen
Wangen taten ihrer Schönheit keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil …
„Spricht er
die Wahrheit?“ Der Aufseher war noch immer wütend, doch sein Tonfall verriet
mir, das Schlimmste war vorbei.
„Jawohl,
mein Herr“, blökte der alte Mann. „Ich schwöre es!“
Der Zorn des
Aufsehers verwandelte sich in Freundlichkeit, nachdem offensichtlich eine
Systemmeldung den Eid bestätigt hatte.
„In
Ordnung“, brummte er. „Besorge allen einen Platz zum Schlafen. Morgen werde ich
darüber entscheiden, was ich mit ihnen anfange.“
Rasch erhob
sich Burdoc und führte die Sklaven zur am weitesten entfernten Baracke.
Ich wollte
mich umdrehen und folgen, doch plötzlich hörte ich:
„Du
allerdings wirst mir nicht so leicht davonkommen!“
Wie mit Widerhaken
bohrten sich seine zusammengekniffenen Augen in meine. Ich vergaß, wie man
atmete.
„Der Meister
wird außer sich sein. Die Bank hat Mist gebaut, und jetzt müssen wir die
Scherben einsammeln. Du bist total wertlos! Das muss man sich nur einmal
überlegen – Level 0! Wie kommt es, dass du überhaupt noch am Leben bist? Und
wohin sollen wir dich bloß stecken?“
„Ing“,
meldete sich ganz unerwartet der rotbärtige Hüne zu Wort, „sieh doch nur, wie
zierlich er ist. Skorx hat für seine Spähern schon lange nach jemandem wie ihm
gesucht.“
„Hast du den
Verstand verloren?“, erwiderte der Aufseher erbost. „Wir sollen eine Null wie
ihn in die Minen schicken? Wofür? Damit er schon in der ersten Stunde tot
umfällt?“
Ich glaube,
ich schluckte schwer. Mein Herz drohte, mir den Brustkorb zu zersprengen.
„Na und? Wen
kümmert das?“, beharrte Valgard. „Dann kannst du eine Beschwerde gegen Skorx
einreichen und behauptet, er hätte Eigentum des Meisters beschädigt. Wer weiß,
am Ende stehst du mit der Entschädigung sogar besser da.“
„Bist du
jetzt völlig durchgedreht? Seine Schuld beläuft sich auf nahezu 100 Goldstücke!
Ein solches Risiko wird Skorx niemals eingehen. Für den Betrag könnte er ein
Dutzend Jungen wie diesen anheuern!“
„Reden wir
von demselben Skorx?“, lachte der Hüne. „Von dem, der für zehn Kupferstücke
seine eigene Mutter verkaufen würde? Ha, ha! Du bist witzig! Der Geizhals würde
zu Frischfleisch niemals nein sagen, wenn er dafür nichts bezahlen muss. Und
wer sagt denn, dass der kleine Kerl tatsächlich schon am ersten Tag den Löffel
abgibt? Er stammt schließlich aus einer Bergarbeiterfamilie. Er ist ein
Bergmann!“
Fröhlich
zwinkerte Valgard mir zu. Es ließ mir einen kalten Schauer den Rücken
hinunterlaufen.
„Ja, aber
warum ist er Skorx so scharf auf zierliche Kinder?“, fragte Ing interessiert.
„Nun ja, um
die langen Tunnel zu erforschen. In die Höhlen der Steinwürmer passen lediglich
winzige Körper.“
„Ich
verstehe.“ Der Aufseher strich sich gedankenvoll den Bart.
„Überleg
doch mal“, drängte Valgard, als er sah, dass Ing kurz davorstand nachzugeben.
„Hat Skorx ein paar dürre Kinder verlangt? Das hat er. Hast du ihm eines
geschickt? Das hast du. Anschließend ist es an Skorx, sich zu entscheiden. Wenn
er den Jungen in die Tunnel schickt, trägt er das Risiko. Und wenn er ihn
zurückschickt, hast du nichts verloren. Dann setzt du ihn eben in der Küche
ein, bevor der Meister seinen Rundgang macht. Es heißt, bis zu seinem nächsten
Besuch dauert es noch mindestens zwei Wochen.“
„Ja“, nickte
Ing. „Er ist unterwegs, neue Gladiatoren zu kaufen. Der Nachschubzug von
Marschall Vestar ist gerade in der Hauptstadt eingetroffen. Sie haben eine
Menge Kriegsgefangene eingesammelt, Orks und Goblins.“
„Umso
besser. Der Jungspund wird dem Meister gar nicht auffallen. Und du hast die Gelegenheit,
es Skorx endlich heimzuzahlen. Hat er sich nicht letzten Monat beim Meister
über dich beschwert?“
Aus Ings
zornigem Gesicht schloss ich, Valgards Samen war auf fruchtbare Erde gefallen.
Zu meinem großen Bedauern hatte Valgard nicht nur in seine Stärke investiert,
sondern auch in Redegewandtheit.
„Und Skorx
wird nie erfahren, wie hoch die Schuld ist. Der Junge wird uns einen Eid darauf
schwören, es ihm nicht zu verraten“, schoss der Hüne seinen letzten
Überredungspfeil ab.
Nach diesen Worten
warf Ing mir einen Blick zu. Brrrr! Kalt wie Eis!
„Also
dann, du Großmaul – es sieht danach aus, als würdest du den Fußstapfen deines
lieben verstorbenen Papas folgen.“
Kapitel 3
„HIER,
SCHÄTZCHEN, iss. Du hast bestimmt den ganzen Tag noch nichts
gegessen.“
Eine hagere
alte Dame hielt mir eine Tonschüssel mit Essen entgegen, das fantastisch roch.
Ich hielt den Atem an, schluckte mühsam meine Spucke hinunter und suchte nach
dem Level des Gerichts. Als ob sie meine Gedanken lesen könnte, erklärte die
alte Lady beruhigend:
„Keine
Angst, Schätzchen. Es ist ganz gewöhnliche Gemüsesuppe. Level 0.“
Als sie die
Baracke verließ, fügte sie mit einem leisen Lachen hinzu:
„Etwas
anderes gibt es hier ohnehin nicht.“
Trotz meines
enormen Hungers bemühte ich mich darum, nicht alles gleich hinunterzuschlingen.
„Oh, Großes
System, was für ein wundervoller Duft!“ Meine Augen rollten zurück in die
Höhlen.
Der
Reiseproviant, den Madam Horst mir gebracht hatte – möge Gott Zufall sie
segnen! –, war mir schon am frühen Morgen ausgegangen. Zum Glück war Burdoc
großzügig gewesen. Er hatte mir ein Stück Trockenzwiebel gegeben, und die
Kanten von einem alten Laib Brot. Ich hätte nicht behaupten können, Leckereien
gewöhnt zu sein, aber meine Mutter hatte immer versucht, mir genug zu essen zu
geben, auch wenn es nur normales Essen war. Vater hatte mir einmal erklärt, das
wäre ihre Art, unbegründete Schuldgefühle zu besänftigen.
Als ich an
meine Eltern dachte, traten mir erneut Tränen in die Augen. Noch immer hatte
ich das Gefühl, als müsste dieser Albtraum in der nächsten Sekunde wieder
enden. Die breitschultrige Gestalt meines Vaters würde auf einmal in der Tür
der schmutzigen Baracke stehen, in der ich vorübergehend Unterkunft gefunden
hatte. Hinter ihm würde meine Mutter hervoreilen, mich umarmen und an ihre
Brust drücken, wir würden in eine Kutsche steigen und zurück nach Hause fahren.
Unterwegs würden wir über die unglückliche Verkettung an Umständen lachen, die
mich hierhergebracht hatte.
Ich löffelte
meine Suppe so schnell aus, es war, als wäre niemals etwas in der Schüssel
gewesen. Den Rest wischte ich mit Brot auf, sehr vorsichtig, um die kostbaren
Stücke Karotte nicht zu beschädigen. Anschließend trank ich das kühle Wasser
und lehnte mich zufrieden auf dem staubigen Strohsack zurück, der mir als Bett
diente.
„Na, wie
geht es dir jetzt? Das hat dich ein wenig aufgemuntert, was?“
Die leise,
heisere Stimme auf meiner rechten Seite riss mich aus der angenehmen Umarmung
des Schlafs. Jemand drehte sich auf dem nächsten Strohsack um, der etwa einen
halben Meter von meinem entfernt lag.
„Oh ja“,
antwortete ich ebenso leise. Es waren mindestens 30 andere Leute in der dunklen
Baracke. Sie schliefen alle. Der Arbeitstag hatte sie ersichtlich erschöpft,
und ich wollte sie auf keinen Fall aufwecken.
„Ich liebe
die Gemüsesuppe von Tante Agathe.“ Die Befriedigung in der Stimme des Mannes,
den ich nicht sehen konnte, war hörbar. „Die ist Welten von der entfernt, die
der hirnlose Trottel Hrika uns serviert. Du hast bestimmt doppelt so viele
Karotten und Kohl bekommen.“
„Das ist mir
gar nicht aufgefallen“, erwiderte ich. „Dazu habe ich zu schnell gegessen.“
„Allerdings“,
flüsterte der Unbekannte. Ich glaubte, in der Dunkelheit ein Kopfnicken
auszumachen.
„Aber warum
hat sie mir mehr davon gegeben?“, entschied ich mich zu fragen.
„Was meinst
du mit warum?“, erkundigte sich die Stimme aufgebracht. „Du hast heute ihrem
Mann das Leben gerettet!“
„Das ist
doch Unsinn – ich habe niemanden gerettet!“
„Und was ist
mit Burdoc? Glaubst du etwa, er hätte eine Auspeitschung überlebt? Es ist ein
Wunder, dass der alte Kerl sich von der Strafe im letzten Monat erholt hat! Es
heißt, Agathe hätte einem Medizinmann ihre gesamten Ersparnisse gegeben, nur
damit er wieder auf die Füße kommt.“
Mir wurde
die Kehle trocken. Angesichts meines geringen Vorrats an Leben würde schon ein
einziger Peitschenhieb ausreichen, um mein Leben zu beenden.
„Übrigens
hast du dein Essen heute umsonst bekommen“, teilte die Stimme in der Dunkelheit
weitere Informationen mit mir.
„Umsonst?“
„Natürlich!
Glaubst du etwa, man würde uns Essen geben, nur weil es eine nette Geste ist?
Hier musst du für dein Fressen bezahlen. Wohin hat man dich gesteckt?“
„In die
Mine. Man hat einen gewissen Skorx erwähnt.“
„Du lieber
Himmel!“ In der Stimme des Fremden schwang Mitleid mit. „Das ist Pech … Skorx
ist ein echtes Tier. Und seine Mine ist praktisch eine Abfallgrube.“
Mir lief ein
unangenehmer Schauer über den Rücken.
„Ich gebe
dir kostenlos einen Rat, Junge. Zieh den Kopf ein. Pass gut auf deine Sachen
auf. Du musst Augen im Hinterkopf haben. In Skorx‘ Mine arbeiten nicht nur
Sklaven. Die haben dort auch eine Menge Sträflinge, die zu Zwangsarbeit
verurteilt wurden. Da sind alle möglichen Gauner und Mörder. Und in den
Schächten wimmelt es nur so von unterirdischen Kreaturen. Für die bist du
nichts als ein Appetithappen. Aber es sind nicht sie, vor denen du dich
fürchten musst. Nein, die wahren Monster an diesem gottverlassenen Ort sind
Skorx und seine zwielichtigen Helfer. Folge meinem Rat, dann überstehst du es
vielleicht lebend … Aber Junge, verbringe auf keinen Fall zu viel Zeit dort
unten!“
Den letzten
Satz sagte er noch leiser als den Rest. Ich hörte ihn dennoch. Es ließ mein
Herz noch schneller schlagen.
„D-danke“,
flüsterte ich und hickste. Es kam keine Antwort. Anscheinend hielt der Kerl
unsere Unterhaltung für beendet und war eingeschlafen.
Ich lauschte
noch lange. Was, wenn dieser Fremde mir weitere gute Ratschläge geben konnte?
Doch leider hörte ich nichts mehr.
Ich drehte
mich einige Male auf dem Sack um und glättete das kratzige Stroh ein wenig.
Endlich konnte ich mich entspannen und fiel in einen tiefen Schlaf, begleitet
vom lauten Schnarchen meiner Kameraden im Missgeschick. Vor dem Einschlafen
hatte ich unwillkürlich an ein paar Dinge denken müssen, die vor zwei Tagen
passiert waren …
Zwei Tage früher.
Wenige Stunden vor dem Tod meiner Eltern.
Ich liebte
diesen Tag! Kein Wunder – wer liebte nicht seinen eigenen Geburtstag? Ich
wenigstens hatte noch nie jemanden getroffen, der so dumm gewesen wäre.
Nicht einmal
der seit dem gestrigen Abend fallende Regen konnte mir die hervorragende Laune
verderben, mit der ich aufgewacht war. Geweckt hatte mich das unterdrückte
Klirren von Geschirr aus der Küche. Ein paar Minuten lang lag ich einfach da
und grinste vor mich hin wie ein Honigkuchenpferd. Ich liebte diese Geräusche.
Sie konnten nur eines bedeuten: Meine Mutter kochte etwas Leckeres.
Den Klängen
folgte ein verführerischer Duft, der den Raum füllte. Mein Magen knurrte.
Oh, Großes
System! Meine Mutter backte mein Lieblingsgericht – Zuckerbrot! Manchen mag
dieses Brot zu einfach erscheinen, um es zu genießen, doch für mich gab es
nichts Besseres als eine Scheibe warmes, frischgebackenes Zuckerbrot,
bestrichen mit einer dicken Schicht Frischkäse und beträufelt mit
bernsteinfarbenem Honig. Jeder Bissen war eine unvergessliche Explosion von süß
und sauer, begleitet von einem Schluck Milch.
An diesem
Tag taten meine Eltern so, als würden sie mich gar nicht weiter beachten. Aber
das gehörte alles zum Spiel! So war es immer. Zuerst machten sie ernste
Gesichter, als wäre es ein normaler Tag, doch dann überschütteten sie mich mit
guten Wünschen und Geschenken. Oh, wie ich meine Geburtstage liebte!
Ein paar
Tage zuvor hatte meine Mutter mir etwas verraten, das sie eigentlich hätte für
sich behalten sollen. Vater hatte ein besonderes Geschenk für mich vorbereitet,
etwas, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Seitdem brannte ich vor
Ungeduld, und je näher der lang erwartete Tag kam, desto aufgeregter wurde ich.
Ich wusch
mich, putzte mir die Zähne und ging ins Esszimmer. Meine Eltern saßen bereits
am Tisch und unterhielten sich leise.
Ich
versuchte, mannhaft zu wirken, wie ein Erwachsener, wünschte ihnen guten Morgen
und setzte mich. Beinahe hätte ich es geschafft, ihnen etwas vorzumachen, doch
meine zitternden Arme verrieten mich.
Ein paar
Wochen zuvor war mein Vater auf einem Markt in der Hauptstadt gewesen. Er hatte
viele tägliche Notwendigkeit mitgebracht, Mehl, Honig, Stoffe. Ein paar
Schmuckstücke für meine Mutter. Allerdings hatte er bei seiner Rückkehr auch ein
kleines Bündel im Gepäck gehabt, das er niemandem gezeigt hatte. Er verstaute
es in dem speziellen Versteck, in dem er auch unsere Ersparnisse und wichtige
Papiere aufbewahrte. Nicht einmal meine Mutter durfte es berühren. Wenigstens
war es das, was sie mir erzählt hatte. Um ehrlich zu sein, lächelte sie dabei
so verschmitzt, nur jemand, der extrem leichtgläubig war, hätte ihr das
abgenommen.
Beinahe
jeden Tag fragte ich meine Mutter über dieses Bündel aus, doch sie blieb stumm.
Und jetzt lag dieses Bündel, wie erwartet, auf dem gegenüberliegenden
Tischende! Mein Vater und meine Mutter taten so, als bemerkten sie nichts, und
unterhielten sich weiter. Verdammt! Wenn sie so weitermachten, verlor ich noch
den Verstand!
Endlich
näherte das Frühstück sich seinem Ende. Mich hatte nicht einmal das leckere
Essen von dem mysteriösen Objekt ablenken können, das nur eine Armlänge von mir
entfernt lag.
Mein Vater sah
mich an, nachdem er meiner Mutter fürs Essen gedankt hatte. In seinen Augen
tanzten fröhliche Funken.
„Also gut,
Mutter“, lachte er. „Jetzt haben wir den dummen Jungen lange genug aufgezogen!“
Zu mir sagte
er:
„Komm her!“
Mit einem
beglückten Grinsen ging ich auf wackeligen Knien zu meinen Eltern. Mein Vater
entfaltete das Bündel. Ich sah ein Lederetui. Einen schlichten Knochengriff.
Als ich erkannte, was es war, stockte mir der Atem. Ein Messer! Eine Waffe! Ich
konnte endlich Schaden zufügen! Und wenn ich Schaden zufügen konnte, verdiente
ich Erfahrungsessenzen und Tabletten!
„Das ist
Libelle.“ Vater übergab mir das Geschenk. „Sie gehört dir!“
„Herzlichen
Glückwunsch zum Geburtstag, Sohn!“ Meine Mutter küsste mich auf die Stirn.
Geistesabwesend
bedankte ich mich und nahm mit bebenden Händen das Messer aus der Lederhülle.
„Hier ist
der Schalter“, erklärte mein Vater.
Sofort
drückte ich mit dem Finger auf die Stelle, die er mir gezeigt hatte. Eine
schmale Stahlklinge, etwa so lang wie meine Handfläche, sprang aus dem
Knochengriff heraus.
„Sieh mal,
die Klinge ist ein wenig gebogen“, sagte mein Vater. „Wie die Flügel einer
Libelle. Es ist nur auf einer Seite scharf und sieht aus wie ein einfaches
Messer. Aber es verfügt über eine sehr scharfe Spitze, ist also gut zum
Zustechen.“
Ich drehte
das Messer mehrfach in meiner Hand. Es war das erste Werkzeug, das ich fürs
Arbeiten einsetzen konnte. Endlich! Die mickrige Schadenspunktzahl kümmerte
mich nicht im Geringsten. Ich war überglücklich!
„Ja, der
Schaden liegt nur bei 2 Punkten, aber mach dir keine Sorgen“, bemerkte mein
Vater. „Das ist nur vorübergehend. Wenn du erst einmal in den Leveln
aufsteigst, wächst auch der Schaden, den du damit zufügen kannst, und zwar sehr
schnell. Es ist ein skalierbarer Gegenstand, und die sind kein Pappenstiel! He,
he! 14 Jahre lang habe ich gespart, um das kaufen zu können. Ich weiß nicht,
was wir ohne Dalia gemacht hätten!“
Ich stand
auf und umarmte erst meinen Vater, dann meine Mutter.
„Ich danke
euch! Ich bin euch so dankbar!“
Meine Mutter
küsste mich lächelnd mehrfach, wischte sich mit einer Ecke ihrer Schürze die
Tränen aus dem Gesicht und verschwand in der Küche.
„Nun sie mal
einer an – deine Mutter ist sehr gerührt“, lachte mein Vater und fragte:
„Wartest du
auf mich? Sollen wir heute gemeinsam ein Experiment durchführen? Sobald ich aus
der Mine zurück bin, gehen wir gemeinsam in den Wald und probieren dein neues
Messer aus. Was hältst du davon?“
„Natürlich,
Vater! Ich werde auf dich warten!“
„Prima! Wer
weiß, vielleicht schaffst du es sogar auf Level 1, bevor wir wieder zu Hause sind.
Das wäre doch was, oder?“ Mein Vater war begeistert.
Ich weiß
nicht, wer von uns beiden glücklicher war, er oder ich. Ich wollte ihn das
später noch fragen. Doch weder er noch meine Mutter kamen jemals aus der Mine
zurück …
Heute
„Hier, nimm
das! Tante Agathe hat ein wenig Verpflegung für deine Reise vorbereitet.“
Neben dem
Karren stand Jay, zusammen mit ein paar anderen Leuten, die in die Krummberge
gebracht werden sollten. Dort lag die alte Kupfermine von Herrn Bardan. Ich
wollte nicht zu pessimistisch sein, aber für mich war das wahrscheinlich mein
letztes Ziel auf Erden.
„D-danke“,
stammelte ich, hickste vor Nervosität und nahm das kleine Paket entgegen.
Jay war so
hübsch! Nicht einmal Mia konnte ihr das Wasser reichen. Doch sie verfügte über
eine Schönheit anderer Art. Mia war kalt wie Eis – Jay hingegen war wie eine
Flamme. Das lag vor allem an ihren langen, dichten, roten Locken. Gestern auf
der Reise hatte sie einmal das Kopftuch abgenommen, um sich die Haare zu
richten. Ich konnte sie nur anstarren, konnte nicht atmen. Welche Schönheit!
Ich konnte ihre Haare sogar riechen. Sie rochen nach Gras und Frühling.
Der Blick
ihrer dunklen Smaragdaugen hatte in mir das Unterste zuoberst gekehrt. Was
geschah bloß mit mir? So etwas hatte ich vorher noch nie erlebt!
„Pass auf
dich auf in der Mine, Junge“, sagte sie beschützend und ging zurück zur
Baracke, in der sich die Küche befand.
Junge? Sie
sah in mir nichts als einen Jungen? Fest presste ich die Verpflegung an mich,
doch ich war nicht wütend, eher sauer auf mich selbst, weil ich so hilflos und
schwach war.
Plötzlich
sah ich Valgard. Er stand in der Nähe und starrte auf Jays geschmeidige
Gestalt, die Lippen in seinem roten Bart zu einem lüsternen Lächeln verzogen.
Täuschte ich
mich, oder bemerkte sie ihn ebenfalls? Und es beschämte sie weder, noch
ängstigte es sie. Ich verstand das Spielchen nicht, das die beiden spielten,
doch mir wurde rasch klar, Jay war weit älter, als ich zuerst vermutet hatte.
„Hey,
Jungchen, steig auf den Karren“, kommandierte Burdoc. „Wenn wir uns beeilen,
können wir noch heute Abend eintreffen.“
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