Tuesday, August 18, 2020

Außenseiter von Alexey Osadchuk


Außenseiter
Buch 1
Die Dungeons der Krummberge



Release - 23. Dezember 2020
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Kapitel 1



„VORARBEITER AREN – es ist ein Junge!“
Der Leiter einer der wohlhabendsten Minenarbeiter-Teams in Orchus, Vorarbeiter Aren, schaute tief in die traurigen Augen der Frau, die seine Frau bei der Entbindung unterstützt hatte, und war verblüfft. Welchen Grund konnte es wohl geben, ihm eine solch freudige Nachricht mit einem so düsteren Gesichtsausdruck zu übermitteln? Doch wenige Augenblicke später kannte er den Grund. Das Kind war geboren worden, doch es gab keinen Laut von sich.
„Ist er tot?”
Aren war ein Mann, der in seinem Leben schon viel gesehen hatte, doch diese Worte kamen ihm nicht leicht von den Lippen.
„Er ist am Leben“, erwiderte die Heilerin düster. Rasch fügte sie leise, fast in einem Flüstern hinzu:
„Aber es wäre besser, er wäre es nicht …“
Aren kniff erbost die Augen zusammen und trat einen Schritt vor. Wenn Blicke verbrennen könnte, hätte er selbst den Haufen Asche noch eingeäschert, der von der Heilerin übriggeblieben wäre. Ruhig ertrug Dalia den hasserfüllten Blick des Minenarbeiters und bemerkte:
„Doch es gibt auch gute Nachrichten. Deine Frau hat die Geburt hervorragend überstanden.“
Das erstickte das aufflackernde Feuer des Zorns in der Seele des frischgebackenen Vaters. Mit einer gewissen Anstrengung riss er sich zusammen und setzte seine Befragung fort. Diese Frau war die einzige Heilerin ihres Levels in der gesamten Region. Vor allem aber war es ein bemerkenswerter Glücksfall, dass sie sich überhaupt noch in Orchus aufhielt. Eigentlich war sie schon vor geraumer Zeit in die Hauptstadt abberufen worden. Nur kam die Regenzeit dazwischen, die eine Woche vor dem erwarteten Termin einsetzte. Jetzt war der Schläfrige Pass geschlossen und würde das auch noch für mindestens weitere zwei Monate bleiben. Nur ein Verrückter würde in einer solchen Zeit eine Reise durch die Berge in Erwägung ziehen. Und Aren und seine Frau hatten Glück – Dalia war ausgesprochen vernünftig.



„Sprich!“, knurrte der Vorarbeiter barsch.
So sehr es ihn auch an die Seite von Liana und seinem Sohn drängte – die Geschäfte hatten Vorrang.
„Er ist genullt“, antwortete die Heilerin ausdruckslos.
Ebenso ausdruckslos, wie es kurz darauf Arens Gesicht wurde. Seine absolute Bewegungslosigkeit hätte den Neid selbst des Schwarzen Felsens hervorgerufen, des großen Steins, an dem sich die nördlichen Stürme des Toten Ozeans zuerst brachen. Doch innerlich spürte er, wie ein eiserner Griff kalt sein Herz zusammenpresste. Der arme Junge! Wie konnte das sein?
Die Heilerin sprach weiter.
„Zuerst dachte ich, er sei eine Totgeburt, doch dann habe ich mir seine Vorräte an Leben und Energie betrachtet. Es sind jeweils nur zehn Punkte … Und normalerweise ist 20 die Untergrenze.“
„Aber wie ist denn das nur möglich?“
„Ich weiß es nicht.“ Dalia zuckte mit den Schultern.  „So etwas habe ich bisher noch nie erlebt. Aber ich kann mir schon denken, wer dahintersteckt – das ist bestimmt einer der bösen Tricks von Bug, da bin ich mir sicher.“
„Was soll diese lästerliche Bemerkung, du alte Hexe?“ Arens Ruhe bekam die ersten Risse. „Was kann denn dieser üble Geist damit zu tun haben? Glaubst du etwa nicht daran, dass alles, was geschieht, dem Willen des Großen Systems entspricht?“
Als sie das hörte, verzog sich das Gesicht der Heilerin, als hätte sie in eine Zitrone gebissen.
„Um genau zu sein, glaube ich genau das, ja …“
„Und wieso erwähnst du dann diesen bösen Geist?“
„Also gut …“ Die Heilerin widersetzte sich dem Druck des Vorarbeiters nicht länger und erklärte müde:
„Schwöre mir zuerst, dass du mich nicht zum nächsten Tempel des Großen Systems schleppst, wenn ich dir von meiner Vermutung berichte. Ich will nicht als Ketzerin gesteinigt werden!“
„Du hast mein Wort“, versprach der Vorarbeiter düster.
Die Heilerin las rasch die Systemmeldung, dass der Eid angenommen worden war, und fuhr leise fort:
„Du weißt ja, dass uns das Große System bei unserer Geburt unsere ersten Level schenkt, uns mit den ersten Vorräten versieht und uns unsere ersten Eigenschaftstabletten zur Verfügung stellt. Die jeweilige Anzahl wird vom Gott Zufall bestimmt. Die meisten bekommen zehn oder zwölf. 15 ist die höchste Anzahl an Tabletten, von der ich jemals gehört habe.“
Aren nickte schweigend. Ivar, sein Erstgeborener, hatte bei seiner Geburt 14 Tabletten erhalten. Es war gerade erst zwei Jahre her, seit er und Liana die traurige Nachricht erhalten hatten, dass Ivar in der großen Öde bei einer Schlacht ums Leben gekommen war. Er hatte gehofft, die Geburt eines zweiten Sohns würde die Trauer vertreiben, die sich nach Ivars Tod in seinem Haus eingenistet hatte. Doch offensichtlich sollte das nicht sein …
„Manche bekommen allerdings auch weniger als zehn Tabletten. Sie alle erleben eine harte Kindheit. Sie sind schwächer als andere Kinder. Mit der Zeit haben viele von ihnen sich allerdings ein respektables Leben erarbeiten können.“
„Ja“, nickte Aren. „Ich habe in meinem Team ein paar dieser Männer.“
Sein Gesicht erhellte sich ein wenig. Wie hatte er das nur vergessen können? Bedeutete das etwa, dass auch sein Sohn in Zukunft ein ganz normales Leben führen konnte? In diesem Augenblick gab er sich selbst ein Versprechen – natürlich konnte er das! Aren höchstpersönlich würde dafür sorgen!
„Ich weiß, was du gerade denkst, Aren. Du hast den Eindruck gewonnen, dein Sohn sei einer von diesen Menschen. Aber du irrst dich. Dein Baby ist genullt. Er hat nicht einmal Level 1 oder eine einzige der Tabletten in die Wiege gelegt bekommen, die ihm zustehen. Und seine Vorräte sind bemitleidenswert gering. Das war alles Bug …“
Es schmerzte sie, Aren auch nur anzusehen. Der Funke Hoffnung hatte ihm eine gewisse Erleichterung gewährt, doch nun war sie dabei, auch noch den letzten Rest dieser Hoffnung durch den Schmutz zu ziehen.
Dennoch sprach sie weiter.
„Wie du weißt, ist Bug unter vielen Namen bekannt. Funktionsstörung, Versagen, Virus … Aber es gibt noch einen weiteren. Mein Lehrer hat davon in einem Manuskript der Altehrwürdigen gelesen. Die Dahingeschiedenen haben ihn Systemfehler genannt. Verstehst du? Fehler! Das bedeutet, das Große System ist nicht perfekt – es kann Fehler machen! In diesem Buch standen noch viele andere Dinge, doch darüber möchte ich nicht sprechen. Sie sind ohnehin nicht für deine Ohren bestimmt.“
Erschöpft brach Aren auf einer Bank zusammen.
„Level null“, flüsterte er. „Aber das ist doch …“
„Ja.“ Die Heilerin nickte traurig. „Er wird keinerlei Fortschritte machen. Er kann keine Tabletten nehmen. Und selbst wenn du ihm deine Erfahrungsessenzen geben würdest, es käme nichts dabei heraus. Nahezu alles, das vom Großen System geschaffen wird, verfügt über eine Einschränkung. Voraussetzung ist immer mindestens Level 1.“
„Und was können wir tun?“, fragte Aren resigniert.
Dalia setzte sich neben dem Vorarbeiter auf die Bank. Ihr Gesicht mit seinen tiefen Falten versank in Nachdenken.
„Wie alt sie wohl ist?“, überlegte er plötzlich. Alle wussten, Heiler lebten lange. Es hieß sogar, sie hätten das Geheimnis der ewigen Jugend entdeckt. Der Mann lachte in sich hinein. Das war natürlich Unfug. Bug allerdings hatte manchmal seine eigenen, seltsamen Wege … Und wenn Dalia aussah, als wäre sie 70 Jahre alt, war sie in Wirklichkeit bestimmt mindestens doppelt, wenn nicht dreimal so alt …
„Ha!“, rief die Frau überraschend laut triumphierend aus. Ihre dunkelblauen Augen funkelten vor Freude. „Ich weiß es!“
Dalia rieb sich die knochentrockenen Hände und wandte sich dem Vorarbeiter zu.
„Wie merkwürdig, dass ich so lange gebracht habe, bis ich daran gedacht habe! Ich werde alt … Und du warst auch nicht schneller!“
Verwirrt starrte Aren die Frau an.
„Okay, ich werde es dir erklären.“ Sie wedelte mit der Hand. „Du bist momentan offensichtlich nicht imstande zu denken. Es gibt nur eine Lösung – Artefakte der Altehrwürdigen.“
„Du willst mir damit sagen …“
„Genau. Dies sind die einzigen Gegenstände ohne Levelbeschränkung. Um genau zu sein, gibt es dafür überhaupt keine Anforderungen.  Aber eines muss dir klar sein – sie sind selten und sehr teuer. Und dein Sohn wird zwei oder drei Gegenstände brauchen, die ihm einen Bonus auf die Haupteigenschaften verschaffen.“
Die alte Frau erzählte ihm noch mehr, doch Aren hörte nur noch halb zu. Er dachte bereits darüber nach, wo und wie er Artefakte der Dahingeschiedenen kaufen konnte. An Geld dachte er dabei nicht – das Wichtigste war ihm das Leben seines Sohnes …

14 Jahre später …

„Du bist ein verdammt schwerer Mistkerl!“ Furzend und fluchend zerrte ein fetter Umzugshelfer den schweren Ohrensessel zur Eingangstür.
Der „Thron“ meines Urgroßvaters … Vater liebte es, nach dem Abendessen darin zu sitzen, sich die Füße am Feuer zu wärmen und eine Pfeife zu rauchen. Das versetzte ihn immer in nachgiebige Laune. Er hatte mir viele Geschichten, Sagen und Legenden erzählt, während er in diesem Sessel saß …
„Ja, all ihre Möbel wiegen Tonnen!“, beschwerte sich eine Stimme aus dem Esszimmer.
„Alter Ohrensessel, Eiche – eins“, stellte der Bankangestellte ruhig fest, unbeeindruckt vom Furzen und Fluchen des Umzugshelfers. Seine langen, wie vertrocknet wirkenden Finger setzen eine weiße Gänsefeder in Bewegung, die sorgfältig alle Gegenstände festhielt, die aus dem Haus entfernt wurden. Mit seiner schönen, winzigen Handschrift hatte er bereits drei Blätter bedeckt.
Aus der Küche kam ein drahtiger, bärtiger Mann. In seinen zitternden Fingern hielt er eine Terrine, bei der eine Ecke abgestoßen war. Der verhangene Blick seiner rötlichen Augen blieb an der hageren Gestalt des Bankangestellten hängen.
„Das hier sieht aus wie Müll. Nehmen wir es mit?“
Die Lieblings-Terrine meiner Mutter. Jedes Mal, wenn sie sie auf den Tisch stellte, hörten wir denselben alten Spruch: „Wen stört es, wenn ein Stückchen fehlt? Die Suppe hält sie dennoch warm!“ Dann hastete sie zurück in die Küche, um ein weiteres Gericht zu bringen, und mein Vater flüsterte mir zu, dass Frauen immer Schwierigkeiten hatten, sich von materiellen Dingen zu trennen. Mit einem Lächeln klopfte er sich dabei gegen seine alte Weste, die meine Mutter ständig drohte wegzuwerfen.
Der Angestellte löste den Blick von seinen Aufzeichnungen und sah den bärtigen Mann an. In seinen kleinen, eng beieinanderstehenden Augen zeigte sich offensichtliche Verachtung.
„Tox!“, schimpfte er heiser. „Man hat dir eine simple Anweisung gegeben – hole alles aus dem Haus und lade es auf einen Karren. Welchen Teil dieses einfachen Befehls hast du nicht verstanden?“
„Ich meine nur, es ist doch …“, versuchte Tox, sich zu rechtfertigen, wurde jedoch von einem anderen Mann unterbrochen, einem Hünen, der ins Haus kam und ihn barsch anblaffte:
„Halt deine fette Klappe und tu, was man dir gesagt hat! Beweg deinen Hintern!“
Der bärtige Tox zog den Kopf ein und begab sich in Richtung Haustür.
„Was glaubst du denn, wohin du gehst?“, fuhr ihn der Hüne an.
Tox starrte den riesigen Mann, seinen Boss, ausdruckslos an, der mit verschränkten Armen im Türrahmen stand, den Bierbauch vorgereckt.
„Hast du etwa gedacht, ich gestatte dir, das Zeug eine Terrine nach der anderen hinauszutragen? Nun mach schon – leg einen Zahn zu! Zurück in die Küche, und erledige deine Arbeit ordentlich!“
Schnell wie der Wind war Tox verschwunden.
„Herr Dreher, ich finde, Sie könnten bei der Auswahl Ihres Personals ein wenig sorgfältiger vorgehen“, bemerkte der Bankangestellte bissig.
„Ich kann mich nicht daran erinnern, dich nach deiner Meinung gefragt zu haben, du Aktenwiesel!“ Dreher mit seinem fetten Bauch winkte herablassend mit der Hand und begab sich ins Schlafzimmer. Auf dem Weg versetzte er den Notizen des dürren Angestellten einen verächtlichen Schlag.
Wie ein Schwarm aufgeschreckter Tauben flatterten die weißen Blätter Papier aus dessen Hand. Das „Aktenwiesel“ gab einen hellen, weibischen Ausruf von sich und sackte auf die Knie herab, um seine Schätze wieder einzusammeln. Sein Körper bebte vor Empörung, und aus seiner langen, vogelartigen Nase tropfte grüner Schnodder.
Ruckartig kroch der Angestellte über den Boden und verfluchte dabei die vertrottelten Umzugshelfer und ihren rüpelhaften Boss. Blechern klang aus einigen Kehlen im Raum ein spöttisch wiehernder Laut, als die Männer sich über die demütigende Haltung des Bürohengstes lustig machten. Sofort lief das Gesicht des Angestellten knallrot an und Tränen des Zorns traten ihm in die schmalen Augen.
Endlich hatten seine vertrockneten alten Finger wieder Ordnung in die Seiten gebracht. Der Angestellte umklammerte ein Tintenfass, das an einer Schnur um seinen Hals hing, und erhob sich. Mit der rechten Hand klopfte er sich den Staub von der Hose und seinem abgetragenen, aber ordentlichen Gehrock, dann begab er sich wieder an die Arbeit.
In diesem Augenblick trafen sich unsere Augen …
Ich saß auf einem Küchenhocker in einer Ecke des Korridors und wartete darauf, dass man über mein Schicksal entschied. Erst gestern hatte man mir erklärt, dass die Bank unser Haus beschlagnahmen würde, das mein Vater für die Aufnahme eines hohen Kredits mit einer Hypothek belastet hatte, den er nicht hatte zurückzahlen können. Um genau zu sein, war das nur einen Tag, nachdem ich vom Tod meiner Eltern in der nahen Mine erfahren hatte.
„Was glotzt du denn so, du unausgereifter Grünschnabel?“, zischte der Angestellte.
Ich lachte leise. Er war wirklich ein Wiesel.
„Findest du das etwa witzig?“ In den Augen des Wiesels stand eine Mischung aus aufrichtiger Verwunderung und Bitterkeit. „Schließlich ist alles nur deine Schuld, was gerade geschieht!“
Ich kapierte nicht … Wovon redete der Kerl?
„Ha! Ich sehe, du hast nicht verstanden, worauf ich hinauswill.“
Im Türrahmen des Schlafzimmers meiner Eltern erschien Dreher, die Arme beladen mit den Keramiken meiner Mutter. Düster betrachtete er zuerst mich, dann den Angestellten.
„Halt’s Maul, du Büroratte!“, blaffte er. „Wenn du den Jungen nicht zufrieden lässt, wirst du heute Abend ohne Zähne nach Hause gehen!“
Aufmunternd zwinkerte der bierbäuchige Kerl mir zu und verließ das Haus.
Aus seinen zornig zurückgezogenen Lippen schloss ich, das Wiesel hätte gern etwas gesagt, doch ein lauter Ruf von oben unterbrach seine Schimpftirade, bevor sie beginnen konnte.
„Lass es, Sakis! Halt besser den Mund!“
Gleichzeitig hoben wir den Kopf. Auf den Stufen der Treppe zum ersten Stock stand ein Mann. Sein Kopf war kahl wie ein Ei. Er blickte herab auf seine Aufzeichnungen und bewegte seine Lippen, während er etwas aufschrieb. Sein Tintenfass hing nicht so sehr an einer Kette um seinen Hals – es ruhte auf seinem Schmerbauch.
„Aber Velen – das musst du sehen! Dieser Grünschnabel zeigt mir nicht den gebührenden Respekt, der mir als Bankangestellter zusteht!“, heulte Sakis.
„Lass es einfach!“, wiederholte der fette Angestellte und stieg weiter die Stufen hinab, während er weiterschrieb. Endlich riss er den Blick von den Papieren und fügte hinzu:
„Und lass den Jungen in Frieden. Er geht dich nichts an.“
„Was meinst du damit?“, fragte Sakis erstaunt. „Ich dachte, die Bank …“
„Nein“, fiel ihm Velen ins Wort. „Die Restschuld wurde von Bardan aufgekauft.“
Das langgezogene Gesicht des Wiesels streckte sich so sehr, es wirkte beinahe flach.
„Du meinst den Bardan??“
„Genau“, antwortete Velen gleichgültig und vertiefte sich wieder in seine Notizen.
Langsam drehte Sakis den Kopf in meine Richtung. Kurz flackerte in seinen Augen Mitleid auf.
„Ähm …“, bemerkte er langgezogen. „Ich beneide dich wirklich nicht, unausgereifter Grünschnabel.“
Die Verwirrung und Unruhe in meinem Gesicht schien ihn zu erfreuen. Mit stolz erhobenem Kopf begab er sich zum Ausgang.
Ich konnte den daraufhin folgenden geflüsterten Austausch der zwei Umzugshelfer im Esszimmer nicht überhören.
„Hör mal, Tox, warum nennt diese Bankratte den Jungen ständig ‚unausgereift‘?“ Ich konnte nicht sehen, wer da sprach, doch ich erkannte die Stimme. Es war Roy, ein großer, plumper Kerl mit blonden Haaren und einem Torso wie ein Bierfass.
„Nun ja, weil er genau das ist. Er war schon bei seiner Geburt verkrüppelt“, antwortete Tox achtlos.
„Hmmm“, brummte Roy überrascht. „Das merkt man aber nicht, wenn man ihn so anschaut. Nun gut, er ist ziemlich dürr, und er hat dunkle Ringe unter den Augen. Was glaubst du, ob er wohl kürzlich krank war? Und immerhin hat er vor wenigen Tagen seine Mutter und seinen Vater verloren. Bestimmt ist er deshalb so bleich wie der Tod.“
„Neee“, widersprach Tox. „Er wurde so geboren. Hmmm … Ich vermute, der alte Aren – Gott Zufall sei seiner armen Seele gnädig – hatte mit seinen Söhnen nicht viel Glück …“
Eine Weile lang setzte die Unterhaltung im Esszimmer sich nicht fort, während die beiden Männer nachdachten.
Roy war es, der das Schweigen brach.
„Du, sag mal … Wir haben noch immer einen halben Tag Arbeit vor uns, und es arbeitet sich leichter, wenn wir uns dabei unterhalten.“
„Nun, da gibt es nicht viel zu erzählen“, erwiderte Tox angestrengt. Er schien gerade etwas Schweres zu bewegen. „Wie du sehen kannst, war die Familie nicht gerade arm. Ein zweistöckiges Haus, und die Farm läuft recht gut. Pferde, Kühe, Schweine.“
„Das ist mal sicher!“, schnaubte Roy mit hörbarem Neid.
„Die Bergmanns waren eine Familie von Minenarbeitern“, fuhr Tox fort. „Sein Vater hat das beste Team geleitet. Und das gesamte Team ist umgekommen, als ein Schacht eingestürzt ist.“
„Verdammt …“
„Bergmanns Frau und ein paar andere Frauen haben den Männern gerade das Mittagessen in die Mine gebracht … Die hat es ebenfalls erwischt …
Aus Tox‘ Tonfall schloss ich, der Tod meiner Eltern und ihrer Freunde machte ihm ernsthaft zu schaffen.
„Und was ist mit den Söhnen?“
„Mit denen hatte er ziemliches Pech. Nun ja, es fing alles ganz gut an. Sehr gut sogar! Als sein erster Sohn geboren wurde, verfügte er über eine gute Zusammenstellung an Eigenschaften. Er war der Stärkste in seiner Altersgruppe. Als er 14 wurde, ging er zusammen mit seinem Vater in die Minen. Im Winter desselben Jahres hat er das Turnier gewonnen. Daraufhin hat der Baron ihn als Neuling in sein Gefolge aufgenommen.“
„Du meine Güte! Und was hat das mit Pech zu tun?“, rief Roy aus.
„Nun ja, einen Monat später erhielten die Bergmanns die Nachricht, dass ihr Sohn bei einem Kampf umgekommen war …“
„Ach so …“
„Ja, so …“
Die Umzugshelfer schwiegen erneut eine Weile, um diese Informationen zu verarbeiten. Doch diesmal dauerte das Schweigen nicht lange, und es war Tox, der sich als erster wieder zu Wort meldete:
„Es vergingen ein paar Jahre der Trauer, dann war Arens Frau wieder schwanger. Eigentlich sollte man denken, das wäre Grund zur Freude gewesen, aber die Sache lag so … Das Baby wurde mit einer gewissen Schwäche geboren. Um genau zu sein, war es sogar noch viel schlimmer … Zuerst dachten sie, der Junge wäre tot geboren worden. Er schrie nicht, bewegte sich nicht, hatte die Augen geschlossen. Doch die Bergmanns hatten eine sehr fähige Medizinfrau als Hebamme beauftragt, und ihr fiel auf, dass das Kind atmete. Kaum spürbar, aber doch.“
„Himmel!“, kommentierte Roy.
„Ha!“, rief Tox. „Du hast das Wichtigste noch gar nicht gehört! Aren hat eine Menge Geld für eine Heilerin aus der Hauptstadt bezahlt.“
„Das kann ich mir denken!“
„Jedenfalls, sie bemerkte, dass der Junge genullt war – Level null“, berichtete Tox triumphierend.
Es klang, als sei gerade Roys Kinnlade krachend zu Boden gefallen, doch dann überlegte ich, dass die beiden Männer wohl nur gerade die Werkzeuge meines Vaters untersuchten.
„Das sieht man wirklich nicht alle Tage!“, hörte ich Roy sagen.
Um ehrlich zu sein, war ich überrascht. Er hatte meine Geschichte beinahe wahrheitsgetreu wiedergegeben. Ein paar Details stimmten nicht, doch im Wesentlichen hatte sie sich tatsächlich so zugetragen. Mein Vater hatte mir sehr oft von meiner Geburt berichtet.
„Hey, ihr beiden Faulenzer!“ Das plötzliche Brüllen von Dreher ließ mich zusammenzucken. „Setzt gefälligst eure Hintern in Bewegung! Ich bezahle euch Trottel nicht fürs Quatschen!“
Der hünenhafte Anführer der Umzugshelfer war plötzlich aufgetaucht und warf den Arbeitern einen bösen Blick zu, als er zur Tür ging.
„Faule Säcke!“, knurrte er. „Macht euch mal keine Sorgen – wir haben viel Zeit zum Reden, wenn ihr zu mir kommt, um euren Lohn abzuholen …“
Eine Weile lang beobachtete er den Hof, dann drehte er sich zu mir um. Sein Blick zeigte auf einmal wärmere Gefühle.
„Mach dich bereit, Junge“, sagte er düster und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Ausgang. „Dein Transport ist eingetroffen.“
Merkwürdigerweise ertappte ich mich bei dem Gedanken, dass ich auf diesen Augenblick bereits den gesamten Morgen lang ungeduldig gewartet hatte. Hätten die Männer gewusst, was ich gerade dachte, hätten sie mich gewiss für verrückt erklärt.
Bah! In gewisser Weise hätten sie damit sogar recht gehabt.
Vor zwei Tagen war meine gesamte Welt zusammengebrochen. Und sie war von Anfang an nicht unbedingt großartig gewesen, nur gerade das, was ein Krüppel wie ich erwarten durfte. Als ich, innerlich distanziert, zuschaute, wie man das Heim unserer Familie auseinandernahm, war mir auf einmal klargeworden, dass ich nun ganz allein war. Es gab nur mich und die Welt, einer gegen einen. Nie wieder würde mein großer, starker Vater kommen, um mir zu helfen. Nie wieder würde meine schwatzhafte, zärtliche Mutter meine Tränen der Verzweiflung und der Wut trocknen.
Ich spürte einen Kloß in der Kehle. Meine Augen brannten und verrieten dadurch meine Gefühle. Nein! Ich würde nicht in Tränen ausbrechen! Wenigstens nicht hier und nicht jetzt – das würde diese Räuber nur amüsieren, die sich das Heim meiner Familie mitsamt allem Inhalt unter den Nagel rissen. Wenn alles vorbei war, konnte ich mir immer noch ein tiefes Loch suchen und mir die Augen ausweinen, meinen Gefühlen freien Lauf lassen. Aber nicht hier und jetzt. Es wäre ein Verrat an der Erinnerung an meinen Vater gewesen. Er hatte mich gelehrt, stark zu sein.
Ich sah zu, wie die Helfer die von meinen Eltern so geliebten Gegenstände aus dem Haus trugen. Die Geschichte meiner Familie vernichteten. Und mir wurde klar, dieser Ort hatte in dem Augenblick aufgehört, mein Zuhause zu sein, in dem meine Eltern gestorben waren. Zu dieser Zeit war mir das nicht klar, aber ich hatte gerade eine der fundamentalsten Wahrheiten des Lebens entdeckt: Dein Zuhause ist dort, wo die Leute leben, die du liebst.
Langsam rutschte ich vom Hocker. Eine größere Geschwindigkeit brachte ich nicht zustande, angesichts meiner lediglich 2 Punkte Beweglichkeit. Über die ich schon froh genug war.
Ich war zwei Jahre alt, als ich meinen ersten Schritt tat. Damals sagte ich auch mein erstes Wort. In diesem Jahr war meinem Vater das Glück hold, und er war in der Lage, mir mein erstes Artefakt der Altehrwürdigen zu kaufen, auf dem Schwarzmarkt in der Hauptstadt unseres Baronats. Aus alter Gewohnheit griff ich mir an die Brust.

- Steinbrocken-Monitor-Knochen-Knopf.
- Kategorie: einfach.
- Beweglichkeit + 2.
- Stärke + 1.
- Verstand + 3.
- Einschränkungen – keine.
- Dauerhaftigkeit – 25/25.

Manche halten es bestimmt für lustig, wie glücklich diese armseligen sechs Eigenschaftspunkte mich machten … Doch für mich, der ich zwei Jahre lang ans Bett gefesselt gewesen war, unbeweglich wie ein Stück Holz, ohne etwas zu fühlen, ohne die Fähigkeit zu sprechen, war das Geschenk meines Vaters das Beste, das mir jemals passiert war – und das blieb es bis heute.
In der Hand hielt ich einen kleinen Rucksack. Darin lagen ein Portrait meiner Eltern, zwei hartgekochte Eier und ein Brotkanten. Madam Horst, eine Nachbarin, hatte mir Wegzehrung gebracht. Ich hatte sie immer für böse und streitsüchtig gehalten, doch am Ende hatte sie es geschafft, mich zu überraschen. Sie war die Einzige, die vorbeigekommen war, um sich zu erkundigen, was aus mir werden würde.
In meinem Gürtel, der ebenso wie der Rest meiner Kleidung Level null hatte, gab es eine winzige Tasche, in der ich mein Taschenmesser aufbewahrte.

- Libellen-Taschenmesser.
- Kategorie: einfach.
- Schaden: + 2.
- Einschränkungen – keine.
- Dauerhaftigkeit – 55/55.

Es war das letzte Artefakt, das mein Vater hatte beschaffen können. Meine Eltern hatten es mir als Geburtstagsgeschenk überreicht, nur wenige Stunden vor ihrem Tod …
 Irgendwie reichten meine jämmerlichen drei Punkte Stärke aus, meinen Körper ebenso zu tragen wie den kleinen Rucksack. Das hatte ich nur einem unauffälligen, schmalen Ring zu verdanken.

- Stahl-Ring.
- Kategorie: einfach.
- Stärke + 2.
- Einschränkungen – keine.
- Dauerhaftigkeit – 30/30.

Ich hatte meinen Vater einmal gefragt, warum diese schlichten Gegenstände so wertvoll waren. Wie sich herausstellte, gab es gewichtige Gründe dafür.
Zunächst einmal gab es für die Artefakte der Altehrwürdigen keine Einschränkungen. Was bedeutete, jeder konnte sie verwenden, ganz unabhängig von seinem Level und seinen Eigenschaften.
Zweitens konnte ich ihre Boni, so gering sie auch waren, in Zukunft verbessern. Momentan wusste ich nur noch nicht, wie ich das anstellen sollte.
Drittens, wobei das allerdings lediglich ein Gerücht war, konnte eine solche Verbesserung nicht nur meine bereits bestehenden Eigenschaften stärken, sondern auch neue hinzufügen.
Der letzte Grund war, dass diese Gegenstände ska… skali… skalier-bar waren. Das bedeutete anscheinend, dass mein bestehendes Level ihren Boni hinzugefügt wurde. Wenn ich Level 1 erreichen könnte, würden alle Eigenschaften, die die Artefakte mir verliehen, um einen Punkt angehoben. Ah … Träume … Träume …
Außerdem war da noch etwas. Dalia hatte mir das erzählt. Die Werke der Altehrwürdigen konnten lediglich von denen mit einem hohen Verstand erkannt werden. Für normale Leute wirkten sie wie gewöhnliche, wenig bemerkenswerte Alltagsgegenstände.
Und was ihr Aussehen betraf … Nun, teurer Schmuck wie etwa ein Ring aus Gold am Finger des Sohnes eines Bergarbeiters hätte nur die falsche Art von Aufmerksamkeit geweckt. Dass diese Objekte so schlicht und unauffällig waren, war also perfekt. Alles, das von den Dahingeschiedenen erschaffen worden war, galt als einmalig und begehrenswert. Es bestand daher kein Grund, damit zu prahlen. Das war eine der ersten Regeln, die mein Vater mir beigebracht hatte.
Das war auch der Grund, warum jedes Mal, wenn mein Vater ein neues Artefakt ins Haus brachte, auch Dalia die Heilerin erschien, zunächst nichts als die Hebamme meiner Mutter, doch bald schon eine gute Freundin des gesamten Hauses. Dank dieses kleinen Tricks stellte niemand jemals eine Frage. Zum Beispiel als ich auf einmal laufen konnte, nachdem ich zwei Jahre lang bewegungslos auf dem Rücken liegend verbracht hatte.
Es lieferte auch eine logische Erklärung dafür, warum der Vorarbeiter eines erfolgreichen Bergarbeiter-Teams bei der Bank immer wieder einen neuen Kredit aufnahm. Heiler waren teuer. Vor allem Heiler wie Dalia. Übrigens hatte meine Mutter mir einmal verraten, dass es keine andere als die alte Heilerin gewesen war, die die Werke der Altehrwürdigen für mich gefunden hatte. Für ihre Mühe bezahlte mein Vater ihr einen gewissen Finderlohn.
Ich hatte immer vermutet, dass meine Eltern eine Menge Geld ausgaben, nur damit ihr Sohn ein einigermaßen normales Leben führen konnte. Doch als ich erfuhr, wie hoch ihre Schuld einschließlich aufgelaufener Zinsen tatsächlich war, erschrak ich. Sie war so enorm, dass die Bank unser Haus nahm, unser Land und die gesamte Farm. Und trotzdem schuldete ich als Erbe der Bank noch immer nahezu 100 Goldstücke. Die Bank hatte diese Schuld verkauft – und nun schuldete ich das Geld einem Kerl namens Bardan …
Zum letzten Mal trat ich durch die Tür des Hauses meiner Eltern. Ich wandte mich an den Anführer der Umzugshelfer:
„Herr Dreher, können Sie mir bitte sagen, wer dieser Bardan ist?“
Der Hüne seufzte schwer, verbarg einen düsteren Blick und antwortete:
„Bardan ist ein Lanista. Ihm gehören die Arenen. Er kauft Gladiatoren und lässt sie darin kämpfen.“



Kapitel 2



Zwei Jahre früher.

„ALSO – jetzt alle mal gut zuhören!“
Die Stimme des Ausbilders Droom hallte in der Höhle wider. Der zähe Rotschopf war Mitglied eines Bergarbeiter-Teams, das mit dem meines Vaters im Wettstreit stand. Er sollte uns die Grundlagen der Kunst des Bergbaus beibringen.
„Heute werdet ihr alle lernen, wie man mit einer Spitzhacke umgeht!“, blaffte er und sah düster in unsere jungen Gesichter.
Endlich blieb der scharfe Blick seiner schwarzen Augen an mir hängen.
„Mit Ausnahme von Erik Bergmann natürlich.“ Sein breiter, krötenähnlicher Mund verzog sich zu einem bissigen Lächeln. Dabei zeigte er eine Reihe schiefer gelber Zähne.
Wie aufs Stichwort sahen meine Mitschüler mich an und lachten begeistert. Ein blondes Mädchen namens Mia, die Hübscheste in der Klasse, lachte besonders laut. Umgeben von einer Schar Freundinnen, ebenfalls nicht übel, aber nicht ganz so hübsch wie sie, wirkte sie wie eine Königin.
Mias Vater Hrut, einer der zwölf Ältesten, die über Orchus bestimmten, lag mit meinem Vater im Streit. Der hatte dem alten Hrut einmal beinahe die Visage poliert, und darüber sprach man noch lange in unserer Stadt. Begonnen hatte alles, als der spießige Älteste sich darüber aufgeregt hatte, wie ein von Bug verfluchter Krüppel mit seiner Tochter in einer Klasse sitzen konnte.
Ganz ehrlich – die Sache landete sogar vor Gericht. Hrut hatte die anderen Ältesten und die Eltern meiner Mitschüler einhellig hinter sich. Sie argumentierten, meine Behinderung würde den Lernfortschritt der gesamten Klasse behindern. Auf der Suche nach einem Beispiel berief man sich darauf, dass schon meine bloße Anwesenheit die gesamte Gruppe schwächte. Auch wenn ich keinen Schaden anrichtete, wollte ich doch ungerechtfertigt an allem teilhaben, so erklärte man. Außerdem, so fuhr man fort, bedeutete das eine anhaltende Belastung für die Lehrer und Ausbilder, die ständig darauf achten musste, dass der „unausgereifte Grünschnabel“ nicht aus Versehen unter die Räder kam. Schließlich verfügte ich lediglich über zehn Punkte Leben. Das war nicht viel mehr, als es eine große Ratte aufweisen konnte.
Theoretisch hätte es genau so kommen sollen, doch in Praxis ließ mich niemand an irgendetwas teilhaben, und die Ausbilder scherten sich einen Dreck um meine Sicherheit. Wenn ich überlebte – gut. Wenn ich umkam, war es meine eigene Schuld.
Ein weiteres Problem, mit dem ich zu kämpfen hatte, war die Beschaffung von Ressourcen. Alle Werkzeuge und Arbeitsmittel setzten mindestens Level 1 voraus. Und das war noch die geringste meiner Sorgen! Ich konnte nicht einmal alle Gerichte meiner Mutter essen – nur diejenigen mit ein wenig Null darin. Es waren die grundlegendsten Nahrungsmittel wie Brot, Butter und Honig. Oder einfache Gerichte wie Fleisch und Haferbrei, ohne weitere Zutaten. Es war eine besondere Art von Folter, den anderen Kindern dabei zuzusehen, wie sie Süßigkeiten verschlangen …
Am Ende entschied das Gericht, das ich eigentlich aus der Schule verwiesen werden musste. Allerdings gestattete man mir großzügig, im Unterricht stumm dazusitzen und alles zu beobachten, einfach nur anwesend zu sein. Der Gedanke, der dahintersteckte war: „Schau zu, aber fass nichts an!“ Und selbstverständlich würde die Lehrer und Ausbilder keinerlei Schuld treffen, wenn mir etwas zustieß …
In Drooms Hand erschien eine kleine Spitzhacke. Mein Vater hatte mir einmal eine ähnliche gezeigt. Sie konnte 5 Punkte Schaden zufügen.
„Ich werde euch das nur ein einziges Mal erklären!“, knurrte der Ausbilder. „Ihr haltet die Hacke hier, am Griff. Dann ausholen, schwingen – Treffer!“
Der Stahl stieß auf Erz und schlug Funken. Ohne sich sonderlich anstrengen zu müssen, übte Droom mit dem Griff Druck aus und holte einen ersten Steinbrocken heraus.
„Habt ihr es alle kapiert?“
Wild durcheinander bestätigten die Kinder.
„Okay, dann schauen wir mal. Wer will es als Erster versuchen?“
Rasch löste sich aus der Gruppe der Schüler eine starke, hochgewachsene Gestalt.
Es war Haakon, der Sohn des Jägers Ulvar. Haare schwarz wie Pech, eine kraftvolle Statur, katzenhafte Bewegungen. Die Gruppe der Mädchen um Mia herum beobachtete ihn verzückt.
Es hieß, als Haakon geboren wurde, gewährte der Gott Zufall ihm verschwenderische 14 Tabletten. Es war die gleiche Anzahl, wie sie meinem älteren Bruder Ivar einmal in die Wiege gelegt worden war. Den ich leider niemals kennengelernt hatte.
Dank dieses Geschenks des Großen Systems machte Haakon weit rascher Fortschritte als andere Gleichaltrige. Vor einer Woche war er mit seinem Vater und älteren Bruder zur Jagd aufgebrochen, auf Level 2. Zurück kam er mit Level 5. All meine Mitschüler himmelten ihn an wegen seiner Stärke und Beweglichkeit.
„Meister Droom, können Sie mir vielleicht ein besseres Werkzeug geben?“, bemerkte Haakon herausfordernd.
Er hatte die Brust herausgestreckt, die Hände in die Hüften gestemmt.  Angeber!
Droom gab ein beglücktes Brummen von sich.
„Ja, warum nicht?“
Schon reichte er ihm eine schwere, für Erwachsene bestimmte Spitzhacke.
„Himmel!“, bemerkte Thomas bewundernd, einer der größeren Jungs, wie ich Sohn eines Bergarbeiters. „Level 5! Wie die von meinem Vater! Das Ding muss mächtig schwer sein!“
Falls Haakon beunruhigt war, ob er damit umgehen konnte, fiel es jedenfalls niemandem auf. Sein hübsches Gesicht strahlte mit demselben selbstzufriedenen Grinsen wie immer.
Der Sohn des Jägers stellte sich direkt vor den Ausbilder und streckte die rechte Hand nach dem Werkzeug aus. Mit Leichtigkeit übergab Droom ihm die schwere Hacke, als wäre sie leicht wie eine Feder.
„Nimm besser zwei Hände“, riet er grinsend.
Trotz seines überzeugten Auftretens war Haakon vorsichtig genug, dem Rat zu folgen. Wofür der Lehrer ihn mit einem zustimmenden Nicken belohnte.
Die ganze Zeit über standen wir schweigend da, hielten den Atem an und beobachteten Haakon. Er nahm den Griff mit beiden Händen. Nickte dem Ausbilder zu. Droom ließ los. Ich sah, wie die Adern auf Haakons Stirn heraustraten. Seine Hände bebten vor Anstrengung, doch er ließ die Hacke nicht los.
Ein heftiger Schwung, und die Stahlspitze biss sich in das Erz. Es sah aus, als müsste Haakon sich ein wenig mehr anstrengen als Droom, doch was machte das schon …
Der Jägerssohn setzte sein gesamtes Körpergewicht als Hebel ein und schaffte es unter Aufbietung aller Kräfte, begleitet vom bewunderten Keuchen seiner Mitschüler, ein recht großes Stück Stein herauszubrechen.
„Gut gemacht!“, knurrte der Meister und klopfte dem Jungen auf die Schulter.
Auf Haakons Gesicht erstarrte das zufriedene Grinsen. Seine Augen bewegten sich, folgten Systemmitteilungen, die nur er sehen konnte.
„Was hast du dafür bekommen?“
„Was?“
„Was ist los?“
Von allen Seiten stürmten Fragen auf ihn ein.
Gebieterisch hob Haakon die Hand.
„Ruhe!“, brüllte Skeggi, Haakons bester Freund. „Lies schon, Kumpel!“
Haakon konzentrierte sich auf den unsichtbaren Text und vertiefte sich in aller Ruhe darin. War ich der Einzige, dem auffiel, wie langsam er las? Er musste über noch weniger Verstand verfügen als ich.
„Achtung – du hast 4 Pfund Erz erworben! Gratuliere! Du erhältst dafür …“
Listig lies Haakon den Blick über uns schweifen und fuhr fort:
„Eine Ton-Tablette der Stärke!“
Alle schrien begeistert.
„Eine Ton-Tablette der Beweglichkeit!“
„Klasse!“, riefen alle gemeinsam.
„Eine Ton-Tablette der Ausdauer! Eine Ton-Tablette ‚Bergbau‘! Eine Ton-Tablette Tragefähigkeit. Erfahrungsessenzen – 5!“
Während Haakon die Liste seiner Beute vorlas, stellte ich mir unwillkürlich vor, ich wäre an seiner Stelle. Wie fühlte sich das wohl an, stark und beweglich zu sein? Alles zu erreichen, das man sich vornahm? Das hübscheste Mädchen der Klasse dabei zu ertappen, wie sie einen voller Hingabe anstarrte?
Ich brauchte eine Weile, bis ich bemerkte, dass Haakon seine Angeberei eingestellt hatte und mich alle anstarrten. Verwirrt sah ich mich um.
„Hast du sein Gesicht gesehen?“, spottete Snorri, ein weiterer Typ aus Haakons Gefolge, und deutete mit einem schmutzigen Finger auf mich. „Dem Schwachkopf läuft das Wasser im Mund zusammen wegen Haakons Beute!“
Lautes, wieherndes Lachen hallte durch die Höhle. Alle zeigten auf mich. Dabei zogen sie Grimassen, die wohl nachäffen sollten, wie ich gerade ausgesehen hatte.
Irgendwann ertrug ich es nicht länger, drehte mich um und rannte in Richtung Ausgang. Wenigstens erschien es mir so. In Wirklichkeit kroch ich so langsam wie eine Schildkröte daher. Vielmehr, selbst eine Schildkröte wäre schneller gewesen als ich. Mein epischer „Lauf“ löste eine neue Salve Gelächter aus. Der schnodderige Snorri und der fette Thomas klatschten sogar höhnisch.
Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie ich nach Hause kam. Ich weiß nur noch, ich heulte die ganze Nacht. Zorn und Demütigung ließen mich wünschen, im Erdboden versinken zu können. Am meisten hasste ich mich allerdings dafür, so schmählich weggelaufen zu sein.
Erst gegen Morgen fiel ich an diesem Tag in einen unruhigen Schlaf – nachdem ich mir geschworen hatte, nie wieder einem Feind meinen Rücken zu zeigen.

Heute

„Erik Bergmann?“         
Dürr wie ein kranker Baum und halb blind starrte der alte Mann auf ein Blatt Papier. Ein schmaler, kahler Kopf, enge, knochige Schultern, eine gebeugte Haltung. Er hatte es lediglich auf Level 9 gebracht. Ich fragte mich, was er wohl sein ganzes Leben lang gemacht hatte. Er war ein weiterer Versager, wie ich. Oder halt, nein – ich war der Einzige wie ich. Wenigstens hatte Dalia mir das erklärt.
Endlich riss der alte Mann den Blick vom Dokument und betrachtete aufmerksam die Worte, die über meinem Kopf standen.
„Was zum …“ Seine verblassten, tränenden Augen wurden kullerrund. Er blinzelte sogar einige Male.
„Meine alte Dame hat mir verboten, dieses schwarzgebrannte Zeug zu trinken“, keuchte er erschrocken. „Und jetzt halluziniere ich und sehe Nullen!“
Ein vorbeikommender Umzugshelfer lachte.
„Was denn, Burdoc – hast du dich endlich um den Verstand gesoffen?“
„Was gibt es da zu lachen, du Faulenzer? Jetzt muss ich ein paar Heilern eine Menge Geld zahlen!“
„Dann lernst du endlich, wie das ist, wenn man dir etwas Unangenehmes aufzwingt!“ Der Umzugshelfer lachte wieder.
Verärgert spuckte Burdoc aus und betrachtete sich stirnrunzelnd erneut mein Level.
Ich beschloss, ihm zu Hilfe zu kommen.
„Herr Burdoc, machen Sie sich keine Sorgen. Es ist keine Halluzination. Ich bin wirklich genullt.“
Ich hatte gehofft, den armen Kerl beruhigen zu können. Weit gefehlt! Das entsetzte ihn nur noch mehr.
„Wie kann denn das sein? Oh, Großes System!“, lamentierte er und griff sich an den Kopf. „Was soll ich bloß Herrn Bardan sagen? Er wird mir bei lebendigem Leib die Haut abziehen, wenn ich ihm einen solchen Ausschuss bringe!“
„Das ist doch nicht dein Problem, du alter Narr!“, mischte sich der Anführer der Umzugshelfer ein. „Bardan hat mit der Bank eine Vereinbarung getroffen. Er hat die Leibeigenschaftszertifikate gekauft. Wenn er sich nicht näher betrachtet hat, was er da gerade kauft, ist das seine Schuld – nicht deine, alter Mann.“
„Das ist wahr!“ Bardoc breitete erleichtert die Arme aus. „Ich bin schließlich nur ein kleines Zahnrad in der Maschine. Mein Job besteht ausschließlich darin, die Leute auf dieser Liste zu transportieren!“
„Genau!“ Dreher grinste. „Und du hast dir schon in die Hosen gemacht …“
„Ich danke dir, lieber Mann, du hast mich sehr beruhigt.“ Burdoc verneigte sich rasch vor dem Umzugshelfer und wandte sich an mich. „Und du, Junge – kletterte auf meinen Karren. Wir haben noch mehr Arbeitssklaven einzusammeln.“
Es war bereits Abend, als wir endlich an unserem Ziel eintrafen. Zu meiner Überraschung überstand ich die Reise gut. Den Kopf in einem Haufen süß duftendem Heu vergraben, schlief ich den gesamten Weg. Ich öffnete die Augen nur, wenn Burdoc einen weiteren Sklaven einsammelte. Angesichts des lauten Jammerns und Klagens der Frauen und Kinder konnte man unmöglich weiterschlafen. Das Spektakel einer Familie, die einen der Ihren in die Leibeigenschaft schickte, war nichts für Weichherzige.
Ich hatte so etwas vorher noch nie zu sehen bekommen, doch Burdoc war begierig, mir alles zu erklären, was vor sich ging. Für einen alten Mann war er ausgesprochen schwatzhaft.
„Nehmen wir mal an, ein Mann geht zur Bank und nimmt einen Kredit auf“, begann er. „Wie soll die Bank einen Profit erzielen, wenn sie ihr Gold an x-beliebige Leute verschleudert? Genau – gar nicht. Aber sie müssen Gewinn machen, dafür sind sie ja eine Bank. Also geben sie dem Kerl ein bisschen Bargeld, damit er damit wirtschaften kann. Dadurch laufen Zinsen für das Darlehen auf. Wenn er erfolgreich ist und genug Gold hat, um alles wie vereinbart zurückzuzahlen, ist es gut. Kann er das aber nicht, wird die Schuld von jemandem aufgekauft wie meinem Meister. Er kann immer Leute brauchen … Und wenn der Zeitpunkt gekommen ist, müssen sie für ihn arbeiten, bis die Schuld abgetragen ist. Ähm … Warte, das Schlimmste habe ich dir noch gar nicht berichtet … Es ist eine gute Sache, wenn eine Familie starke Söhne hat. Normalerweise geben die Väter sie in die Leibeigenschaften und versuchen gleichzeitig, selbst das Geld aufzutreiben, um ihren Jungen zurückzukaufen. Wenigstens gute Väter tun das. Manchmal müssen die Kinder für die Schulden ihrer Eltern aber auch ihr halbes Leben ackern. Einige von ihnen sterben sogar in der Sklaverei …“
Die letzte Familie, die wir aufsuchten, hatte keine Söhne. Sie hatten Kinder, aber nur fünf Mädchen. Die älteste schien in etwa in meinem Alter zu sein, und sie war es, die wir abholen sollten. Ihr Name war Jay. Merkwürdigerweise weinte ihre Mutter nicht, auch wenn ihr düsteres Gesicht eine Maske aus Schmerz und Verzweiflung war. Die jüngeren Schwestern hingegen heulten jämmerlich wie Schlosshunde und wischten sich Tränen und Schnodder aus dem Gesicht.
Ihre Mutter umarmte Jay mit starren Armen und ich betrachtete mir Jays altes Haus. Ich sah ihren Vater, der aussah, als würde er niemals von seiner Flasche aufschauen. Mir wurde klar, es würde lange dauern, bis sie die Schuld abgetragen hatte. Falls überhaupt jemals …

Bardans Haus war beeindruckend. Drei Stockwerke. Granitwände. Fenster mit Stahlgittern davor. Es war kein Heim, sondern eine Festung. Und das gesamte, recht große Anwesen war umgeben von einem hohen Steinwall. Vor dem Tor und vor der Tür zum Haus standen bewaffnete Wachen. Angesichts dieser Umstände war dieser Bardan wohl ziemlich reich, überlegte ich.
Unser Karren mit seinen schweigenden Sklaven rollte zu den Baracken, die in einiger Entfernung vom Haus des Meisters standen. Dort warteten Leute auf uns.
Zwei Männer. Einer von ihnen erinnerte mich ein wenig an den Bankangestellten Sakis. Er hatte ein identisches Tintenfass um den Hals, denselben Schnurrbart, denselben forschenden Blick. War ebenso hager, mit einer ungesunden Gesichtsfarbe. Ein geborener Angestellter …
Der zweite Mann war sein exaktes Gegenteil. Hochgewachsen, breitschultrig. Hände wie Baggerschaufeln. Grüne Augen, in denen Energie und Macht brannten.
Ungeschickt stellte Bardoc uns neben dem Karren auf und hielt dem „Angestellten“ ein vertrautes, zerknittertes Stück Papier entgegen.
„Hier, Herr Aufseher. Wie die Liste es besagt – sechs neue Sklaven. Vier Männer, ein Mädchen und ein Junge.“
Mit sichtlichem Abscheu nahm der Aufseher das Dokument mit lediglich zwei Fingern entgegen und studierte unsere Namen. Als er bei meinem angekommen war, weiteten sich seine Augen.
„Was hast du mir denn da gebracht?“, brüllte er. „Du verdammter alter Narr! Ist dir nicht aufgefallen, wen die Bergmanns versucht haben, dir unterzujubeln? Was soll ich jetzt bloß dem Meister sagen? Valgard, sorg dafür, dass dieser Trottel ausgepeitscht wird!“
Der rotbärtige Hüne, der bisher ruhig dagestanden hatte, machte einen drohenden Schritt auf Burdoc zu, der auf einmal die Fähigkeit zu sprechen verloren hatte. Er sank vor dem tobenden Aufseher in die Knie, der zorniger und zorniger wurde. Valgard stand über dem alten, inzwischen weinenden Mann und legte ihm seine Pranken auf die knochigen Schultern.
„Meister Aufseher!“ Ich glaube, selbst ich erschauerte beim Klang meiner eigenen Stimme. „Ich bitte um die Erlaubnis zu sprechen!“
Bug selbst musste mir diese Worte aus dem vertrottelten Mund gezogen haben! Und es war zu spät, sie zurückzunehmen!
Ein bedrückendes Schweigen legte sich über den Hof. Meine Schicksalsgenossen starrten mich verblüfft an. Selbst Burdoc stellte sein Heulen ein.
Der „Angestellte“ kniff raubtierhaft die Augen zusammen und bellte:
„Sprich! Aber denk daran – wenn du mich ohne Grund unterbrochen hast, wird dich dieselbe Auspeitschung ereilen wie diesen hirnlosen Idioten! Kapiert?“
„Ja, Meister Aufseher. Ich akzeptiere dieses Risiko.“ Es kostete mich große Anstrengung, das Beben in meiner Stimme zu unterdrücken.
„Also?“
„Es ist nicht Herrn Burdocs Schuld. Er hat Ihre Befehle pflichtgemäß ausgeführt.“
„Und warum bist du hier und nicht dein Vater, dein älterer Bruder oder deine Schwester?“
„Nun, Meister Aufseher, ich habe keine Schwester und werde niemals eine haben. Mein älterer Bruder ist in der Schlacht in der Öde gefallen, während er für den Baron kämpfte, und mein Vater und meine Mutter sind vor zwei Tagen bei einem Minenunglück ums Leben gekommen. Ich bin ganz allein … Deshalb, sehen Sie, hatte Herr Burdoc keine Wahl.“
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Jay mich fasziniert betrachtete. Während unserer Reise hatte ich sie hin und wieder unauffällig anschauen können. Zu meiner großen Überraschung verfügte sie über Level 5. Ihre biegsame Gestalt und katzenhaften Bewegungen verrieten mir, sie hatte massiv in ihre Beweglichkeit investiert. Unter ihrem Kopftuch schauten feuerrote Haare hervor. Ihre Augen waren wie zwei dunkle Smaragde. Die Sommersprossen auf ihrer Stupsnase und ihren blassen Wangen taten ihrer Schönheit keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil …
„Spricht er die Wahrheit?“ Der Aufseher war noch immer wütend, doch sein Tonfall verriet mir, das Schlimmste war vorbei.
„Jawohl, mein Herr“, blökte der alte Mann. „Ich schwöre es!“
Der Zorn des Aufsehers verwandelte sich in Freundlichkeit, nachdem offensichtlich eine Systemmeldung den Eid bestätigt hatte.
„In Ordnung“, brummte er. „Besorge allen einen Platz zum Schlafen. Morgen werde ich darüber entscheiden, was ich mit ihnen anfange.“
Rasch erhob sich Burdoc und führte die Sklaven zur am weitesten entfernten Baracke.
Ich wollte mich umdrehen und folgen, doch plötzlich hörte ich:
„Du allerdings wirst mir nicht so leicht davonkommen!“
Wie mit Widerhaken bohrten sich seine zusammengekniffenen Augen in meine. Ich vergaß, wie man atmete.
„Der Meister wird außer sich sein. Die Bank hat Mist gebaut, und jetzt müssen wir die Scherben einsammeln. Du bist total wertlos! Das muss man sich nur einmal überlegen – Level 0! Wie kommt es, dass du überhaupt noch am Leben bist? Und wohin sollen wir dich bloß stecken?“
„Ing“, meldete sich ganz unerwartet der rotbärtige Hüne zu Wort, „sieh doch nur, wie zierlich er ist. Skorx hat für seine Spähern schon lange nach jemandem wie ihm gesucht.“
„Hast du den Verstand verloren?“, erwiderte der Aufseher erbost. „Wir sollen eine Null wie ihn in die Minen schicken? Wofür? Damit er schon in der ersten Stunde tot umfällt?“
Ich glaube, ich schluckte schwer. Mein Herz drohte, mir den Brustkorb zu zersprengen.
„Na und? Wen kümmert das?“, beharrte Valgard. „Dann kannst du eine Beschwerde gegen Skorx einreichen und behauptet, er hätte Eigentum des Meisters beschädigt. Wer weiß, am Ende stehst du mit der Entschädigung sogar besser da.“
„Bist du jetzt völlig durchgedreht? Seine Schuld beläuft sich auf nahezu 100 Goldstücke! Ein solches Risiko wird Skorx niemals eingehen. Für den Betrag könnte er ein Dutzend Jungen wie diesen anheuern!“
„Reden wir von demselben Skorx?“, lachte der Hüne. „Von dem, der für zehn Kupferstücke seine eigene Mutter verkaufen würde? Ha, ha! Du bist witzig! Der Geizhals würde zu Frischfleisch niemals nein sagen, wenn er dafür nichts bezahlen muss. Und wer sagt denn, dass der kleine Kerl tatsächlich schon am ersten Tag den Löffel abgibt? Er stammt schließlich aus einer Bergarbeiterfamilie. Er ist ein Bergmann!“
Fröhlich zwinkerte Valgard mir zu. Es ließ mir einen kalten Schauer den Rücken hinunterlaufen.
„Ja, aber warum ist er Skorx so scharf auf zierliche Kinder?“, fragte Ing interessiert.
„Nun ja, um die langen Tunnel zu erforschen. In die Höhlen der Steinwürmer passen lediglich winzige Körper.“
„Ich verstehe.“ Der Aufseher strich sich gedankenvoll den Bart.
„Überleg doch mal“, drängte Valgard, als er sah, dass Ing kurz davorstand nachzugeben. „Hat Skorx ein paar dürre Kinder verlangt? Das hat er. Hast du ihm eines geschickt? Das hast du. Anschließend ist es an Skorx, sich zu entscheiden. Wenn er den Jungen in die Tunnel schickt, trägt er das Risiko. Und wenn er ihn zurückschickt, hast du nichts verloren. Dann setzt du ihn eben in der Küche ein, bevor der Meister seinen Rundgang macht. Es heißt, bis zu seinem nächsten Besuch dauert es noch mindestens zwei Wochen.“
„Ja“, nickte Ing. „Er ist unterwegs, neue Gladiatoren zu kaufen. Der Nachschubzug von Marschall Vestar ist gerade in der Hauptstadt eingetroffen. Sie haben eine Menge Kriegsgefangene eingesammelt, Orks und Goblins.“
„Umso besser. Der Jungspund wird dem Meister gar nicht auffallen. Und du hast die Gelegenheit, es Skorx endlich heimzuzahlen. Hat er sich nicht letzten Monat beim Meister über dich beschwert?“
Aus Ings zornigem Gesicht schloss ich, Valgards Samen war auf fruchtbare Erde gefallen. Zu meinem großen Bedauern hatte Valgard nicht nur in seine Stärke investiert, sondern auch in Redegewandtheit.
„Und Skorx wird nie erfahren, wie hoch die Schuld ist. Der Junge wird uns einen Eid darauf schwören, es ihm nicht zu verraten“, schoss der Hüne seinen letzten Überredungspfeil ab.
Nach diesen Worten warf Ing mir einen Blick zu. Brrrr! Kalt wie Eis!
„Also dann, du Großmaul – es sieht danach aus, als würdest du den Fußstapfen deines lieben verstorbenen Papas folgen.“




Kapitel 3



„HIER, SCHÄTZCHEN, iss. Du hast bestimmt den ganzen Tag noch nichts gegessen.“
Eine hagere alte Dame hielt mir eine Tonschüssel mit Essen entgegen, das fantastisch roch. Ich hielt den Atem an, schluckte mühsam meine Spucke hinunter und suchte nach dem Level des Gerichts. Als ob sie meine Gedanken lesen könnte, erklärte die alte Lady beruhigend:
„Keine Angst, Schätzchen. Es ist ganz gewöhnliche Gemüsesuppe. Level 0.“
Als sie die Baracke verließ, fügte sie mit einem leisen Lachen hinzu:
„Etwas anderes gibt es hier ohnehin nicht.“
Trotz meines enormen Hungers bemühte ich mich darum, nicht alles gleich hinunterzuschlingen.
„Oh, Großes System, was für ein wundervoller Duft!“ Meine Augen rollten zurück in die Höhlen.
Der Reiseproviant, den Madam Horst mir gebracht hatte – möge Gott Zufall sie segnen! –, war mir schon am frühen Morgen ausgegangen. Zum Glück war Burdoc großzügig gewesen. Er hatte mir ein Stück Trockenzwiebel gegeben, und die Kanten von einem alten Laib Brot. Ich hätte nicht behaupten können, Leckereien gewöhnt zu sein, aber meine Mutter hatte immer versucht, mir genug zu essen zu geben, auch wenn es nur normales Essen war. Vater hatte mir einmal erklärt, das wäre ihre Art, unbegründete Schuldgefühle zu besänftigen.
Als ich an meine Eltern dachte, traten mir erneut Tränen in die Augen. Noch immer hatte ich das Gefühl, als müsste dieser Albtraum in der nächsten Sekunde wieder enden. Die breitschultrige Gestalt meines Vaters würde auf einmal in der Tür der schmutzigen Baracke stehen, in der ich vorübergehend Unterkunft gefunden hatte. Hinter ihm würde meine Mutter hervoreilen, mich umarmen und an ihre Brust drücken, wir würden in eine Kutsche steigen und zurück nach Hause fahren. Unterwegs würden wir über die unglückliche Verkettung an Umständen lachen, die mich hierhergebracht hatte.
Ich löffelte meine Suppe so schnell aus, es war, als wäre niemals etwas in der Schüssel gewesen. Den Rest wischte ich mit Brot auf, sehr vorsichtig, um die kostbaren Stücke Karotte nicht zu beschädigen. Anschließend trank ich das kühle Wasser und lehnte mich zufrieden auf dem staubigen Strohsack zurück, der mir als Bett diente.
„Na, wie geht es dir jetzt? Das hat dich ein wenig aufgemuntert, was?“
Die leise, heisere Stimme auf meiner rechten Seite riss mich aus der angenehmen Umarmung des Schlafs. Jemand drehte sich auf dem nächsten Strohsack um, der etwa einen halben Meter von meinem entfernt lag.
„Oh ja“, antwortete ich ebenso leise. Es waren mindestens 30 andere Leute in der dunklen Baracke. Sie schliefen alle. Der Arbeitstag hatte sie ersichtlich erschöpft, und ich wollte sie auf keinen Fall aufwecken.
„Ich liebe die Gemüsesuppe von Tante Agathe.“ Die Befriedigung in der Stimme des Mannes, den ich nicht sehen konnte, war hörbar. „Die ist Welten von der entfernt, die der hirnlose Trottel Hrika uns serviert. Du hast bestimmt doppelt so viele Karotten und Kohl bekommen.“
„Das ist mir gar nicht aufgefallen“, erwiderte ich. „Dazu habe ich zu schnell gegessen.“
„Allerdings“, flüsterte der Unbekannte. Ich glaubte, in der Dunkelheit ein Kopfnicken auszumachen.
„Aber warum hat sie mir mehr davon gegeben?“, entschied ich mich zu fragen.
„Was meinst du mit warum?“, erkundigte sich die Stimme aufgebracht. „Du hast heute ihrem Mann das Leben gerettet!“
„Das ist doch Unsinn – ich habe niemanden gerettet!“
„Und was ist mit Burdoc? Glaubst du etwa, er hätte eine Auspeitschung überlebt? Es ist ein Wunder, dass der alte Kerl sich von der Strafe im letzten Monat erholt hat! Es heißt, Agathe hätte einem Medizinmann ihre gesamten Ersparnisse gegeben, nur damit er wieder auf die Füße kommt.“
Mir wurde die Kehle trocken. Angesichts meines geringen Vorrats an Leben würde schon ein einziger Peitschenhieb ausreichen, um mein Leben zu beenden.
„Übrigens hast du dein Essen heute umsonst bekommen“, teilte die Stimme in der Dunkelheit weitere Informationen mit mir.
„Umsonst?“
„Natürlich! Glaubst du etwa, man würde uns Essen geben, nur weil es eine nette Geste ist? Hier musst du für dein Fressen bezahlen. Wohin hat man dich gesteckt?“
„In die Mine. Man hat einen gewissen Skorx erwähnt.“
„Du lieber Himmel!“ In der Stimme des Fremden schwang Mitleid mit. „Das ist Pech … Skorx ist ein echtes Tier. Und seine Mine ist praktisch eine Abfallgrube.“
Mir lief ein unangenehmer Schauer über den Rücken.
„Ich gebe dir kostenlos einen Rat, Junge. Zieh den Kopf ein. Pass gut auf deine Sachen auf. Du musst Augen im Hinterkopf haben. In Skorx‘ Mine arbeiten nicht nur Sklaven. Die haben dort auch eine Menge Sträflinge, die zu Zwangsarbeit verurteilt wurden. Da sind alle möglichen Gauner und Mörder. Und in den Schächten wimmelt es nur so von unterirdischen Kreaturen. Für die bist du nichts als ein Appetithappen. Aber es sind nicht sie, vor denen du dich fürchten musst. Nein, die wahren Monster an diesem gottverlassenen Ort sind Skorx und seine zwielichtigen Helfer. Folge meinem Rat, dann überstehst du es vielleicht lebend … Aber Junge, verbringe auf keinen Fall zu viel Zeit dort unten!“
Den letzten Satz sagte er noch leiser als den Rest. Ich hörte ihn dennoch. Es ließ mein Herz noch schneller schlagen.
„D-danke“, flüsterte ich und hickste. Es kam keine Antwort. Anscheinend hielt der Kerl unsere Unterhaltung für beendet und war eingeschlafen.
Ich lauschte noch lange. Was, wenn dieser Fremde mir weitere gute Ratschläge geben konnte? Doch leider hörte ich nichts mehr.
Ich drehte mich einige Male auf dem Sack um und glättete das kratzige Stroh ein wenig. Endlich konnte ich mich entspannen und fiel in einen tiefen Schlaf, begleitet vom lauten Schnarchen meiner Kameraden im Missgeschick. Vor dem Einschlafen hatte ich unwillkürlich an ein paar Dinge denken müssen, die vor zwei Tagen passiert waren …

Zwei Tage früher. Wenige Stunden vor dem Tod meiner Eltern.

Ich liebte diesen Tag! Kein Wunder – wer liebte nicht seinen eigenen Geburtstag? Ich wenigstens hatte noch nie jemanden getroffen, der so dumm gewesen wäre.
Nicht einmal der seit dem gestrigen Abend fallende Regen konnte mir die hervorragende Laune verderben, mit der ich aufgewacht war. Geweckt hatte mich das unterdrückte Klirren von Geschirr aus der Küche. Ein paar Minuten lang lag ich einfach da und grinste vor mich hin wie ein Honigkuchenpferd. Ich liebte diese Geräusche. Sie konnten nur eines bedeuten: Meine Mutter kochte etwas Leckeres.
Den Klängen folgte ein verführerischer Duft, der den Raum füllte. Mein Magen knurrte.
Oh, Großes System! Meine Mutter backte mein Lieblingsgericht – Zuckerbrot! Manchen mag dieses Brot zu einfach erscheinen, um es zu genießen, doch für mich gab es nichts Besseres als eine Scheibe warmes, frischgebackenes Zuckerbrot, bestrichen mit einer dicken Schicht Frischkäse und beträufelt mit bernsteinfarbenem Honig. Jeder Bissen war eine unvergessliche Explosion von süß und sauer, begleitet von einem Schluck Milch.
An diesem Tag taten meine Eltern so, als würden sie mich gar nicht weiter beachten. Aber das gehörte alles zum Spiel! So war es immer. Zuerst machten sie ernste Gesichter, als wäre es ein normaler Tag, doch dann überschütteten sie mich mit guten Wünschen und Geschenken. Oh, wie ich meine Geburtstage liebte!
Ein paar Tage zuvor hatte meine Mutter mir etwas verraten, das sie eigentlich hätte für sich behalten sollen. Vater hatte ein besonderes Geschenk für mich vorbereitet, etwas, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Seitdem brannte ich vor Ungeduld, und je näher der lang erwartete Tag kam, desto aufgeregter wurde ich.
Ich wusch mich, putzte mir die Zähne und ging ins Esszimmer. Meine Eltern saßen bereits am Tisch und unterhielten sich leise.
Ich versuchte, mannhaft zu wirken, wie ein Erwachsener, wünschte ihnen guten Morgen und setzte mich. Beinahe hätte ich es geschafft, ihnen etwas vorzumachen, doch meine zitternden Arme verrieten mich.
Ein paar Wochen zuvor war mein Vater auf einem Markt in der Hauptstadt gewesen. Er hatte viele tägliche Notwendigkeit mitgebracht, Mehl, Honig, Stoffe. Ein paar Schmuckstücke für meine Mutter. Allerdings hatte er bei seiner Rückkehr auch ein kleines Bündel im Gepäck gehabt, das er niemandem gezeigt hatte. Er verstaute es in dem speziellen Versteck, in dem er auch unsere Ersparnisse und wichtige Papiere aufbewahrte. Nicht einmal meine Mutter durfte es berühren. Wenigstens war es das, was sie mir erzählt hatte. Um ehrlich zu sein, lächelte sie dabei so verschmitzt, nur jemand, der extrem leichtgläubig war, hätte ihr das abgenommen.
Beinahe jeden Tag fragte ich meine Mutter über dieses Bündel aus, doch sie blieb stumm. Und jetzt lag dieses Bündel, wie erwartet, auf dem gegenüberliegenden Tischende! Mein Vater und meine Mutter taten so, als bemerkten sie nichts, und unterhielten sich weiter. Verdammt! Wenn sie so weitermachten, verlor ich noch den Verstand!
Endlich näherte das Frühstück sich seinem Ende. Mich hatte nicht einmal das leckere Essen von dem mysteriösen Objekt ablenken können, das nur eine Armlänge von mir entfernt lag.
Mein Vater sah mich an, nachdem er meiner Mutter fürs Essen gedankt hatte. In seinen Augen tanzten fröhliche Funken.
„Also gut, Mutter“, lachte er. „Jetzt haben wir den dummen Jungen lange genug aufgezogen!“
Zu mir sagte er:
„Komm her!“
Mit einem beglückten Grinsen ging ich auf wackeligen Knien zu meinen Eltern. Mein Vater entfaltete das Bündel. Ich sah ein Lederetui. Einen schlichten Knochengriff. Als ich erkannte, was es war, stockte mir der Atem. Ein Messer! Eine Waffe! Ich konnte endlich Schaden zufügen! Und wenn ich Schaden zufügen konnte, verdiente ich Erfahrungsessenzen und Tabletten!
„Das ist Libelle.“ Vater übergab mir das Geschenk. „Sie gehört dir!“
„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Sohn!“ Meine Mutter küsste mich auf die Stirn.
Geistesabwesend bedankte ich mich und nahm mit bebenden Händen das Messer aus der Lederhülle.
„Hier ist der Schalter“, erklärte mein Vater.
Sofort drückte ich mit dem Finger auf die Stelle, die er mir gezeigt hatte. Eine schmale Stahlklinge, etwa so lang wie meine Handfläche, sprang aus dem Knochengriff heraus.
„Sieh mal, die Klinge ist ein wenig gebogen“, sagte mein Vater. „Wie die Flügel einer Libelle. Es ist nur auf einer Seite scharf und sieht aus wie ein einfaches Messer. Aber es verfügt über eine sehr scharfe Spitze, ist also gut zum Zustechen.“
Ich drehte das Messer mehrfach in meiner Hand. Es war das erste Werkzeug, das ich fürs Arbeiten einsetzen konnte. Endlich! Die mickrige Schadenspunktzahl kümmerte mich nicht im Geringsten. Ich war überglücklich!
„Ja, der Schaden liegt nur bei 2 Punkten, aber mach dir keine Sorgen“, bemerkte mein Vater. „Das ist nur vorübergehend. Wenn du erst einmal in den Leveln aufsteigst, wächst auch der Schaden, den du damit zufügen kannst, und zwar sehr schnell. Es ist ein skalierbarer Gegenstand, und die sind kein Pappenstiel! He, he! 14 Jahre lang habe ich gespart, um das kaufen zu können. Ich weiß nicht, was wir ohne Dalia gemacht hätten!“
Ich stand auf und umarmte erst meinen Vater, dann meine Mutter.
„Ich danke euch! Ich bin euch so dankbar!“
Meine Mutter küsste mich lächelnd mehrfach, wischte sich mit einer Ecke ihrer Schürze die Tränen aus dem Gesicht und verschwand in der Küche.
„Nun sie mal einer an – deine Mutter ist sehr gerührt“, lachte mein Vater und fragte:
„Wartest du auf mich? Sollen wir heute gemeinsam ein Experiment durchführen? Sobald ich aus der Mine zurück bin, gehen wir gemeinsam in den Wald und probieren dein neues Messer aus. Was hältst du davon?“
„Natürlich, Vater! Ich werde auf dich warten!“
„Prima! Wer weiß, vielleicht schaffst du es sogar auf Level 1, bevor wir wieder zu Hause sind. Das wäre doch was, oder?“ Mein Vater war begeistert.
Ich weiß nicht, wer von uns beiden glücklicher war, er oder ich. Ich wollte ihn das später noch fragen. Doch weder er noch meine Mutter kamen jemals aus der Mine zurück …

Heute

„Hier, nimm das! Tante Agathe hat ein wenig Verpflegung für deine Reise vorbereitet.“
Neben dem Karren stand Jay, zusammen mit ein paar anderen Leuten, die in die Krummberge gebracht werden sollten. Dort lag die alte Kupfermine von Herrn Bardan. Ich wollte nicht zu pessimistisch sein, aber für mich war das wahrscheinlich mein letztes Ziel auf Erden.
„D-danke“, stammelte ich, hickste vor Nervosität und nahm das kleine Paket entgegen.
Jay war so hübsch! Nicht einmal Mia konnte ihr das Wasser reichen. Doch sie verfügte über eine Schönheit anderer Art. Mia war kalt wie Eis – Jay hingegen war wie eine Flamme. Das lag vor allem an ihren langen, dichten, roten Locken. Gestern auf der Reise hatte sie einmal das Kopftuch abgenommen, um sich die Haare zu richten. Ich konnte sie nur anstarren, konnte nicht atmen. Welche Schönheit! Ich konnte ihre Haare sogar riechen. Sie rochen nach Gras und Frühling.
Der Blick ihrer dunklen Smaragdaugen hatte in mir das Unterste zuoberst gekehrt. Was geschah bloß mit mir? So etwas hatte ich vorher noch nie erlebt!
„Pass auf dich auf in der Mine, Junge“, sagte sie beschützend und ging zurück zur Baracke, in der sich die Küche befand.
Junge? Sie sah in mir nichts als einen Jungen? Fest presste ich die Verpflegung an mich, doch ich war nicht wütend, eher sauer auf mich selbst, weil ich so hilflos und schwach war.
Plötzlich sah ich Valgard. Er stand in der Nähe und starrte auf Jays geschmeidige Gestalt, die Lippen in seinem roten Bart zu einem lüsternen Lächeln verzogen.
Täuschte ich mich, oder bemerkte sie ihn ebenfalls? Und es beschämte sie weder, noch ängstigte es sie. Ich verstand das Spielchen nicht, das die beiden spielten, doch mir wurde rasch klar, Jay war weit älter, als ich zuerst vermutet hatte.
„Hey, Jungchen, steig auf den Karren“, kommandierte Burdoc. „Wenn wir uns beeilen, können wir noch heute Abend eintreffen.“



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