Unterwerfung der Wirklichkeit, Buch 3
Spielwende von Michael Atamanov
Prolog. Feindliche Pläne
Pa-lin-thu, Hauptstadt der Ersten Präfektur
Palast von Mitregent Thumor-Anhu La-Fin
Kleine Ratskammer
„DAHER, ehrenwerter
Mitregent Thumor-Anhu La-Fin, hielten unsere Strategen auch diesen Plan für
ungenügend. Unsere Truppen würden in den feindlichen Verteidigungsanlagen
festgesetzt werden und nicht in der Lage sein, ihre Ziele innerhalb eines
vernünftigen Zeitrahmens zu erreichen. Das Überraschungsmoment ginge uns
gänzlich verloren. Dann müsste der Feind nur Verstärkung anfordern, und alles
wäre vorbei.“
Mit einer Handbewegung wimmelte der junge Magier-Wahrsager Mac-Peu Un-Roi
die schwebende Hilfsdrohne ab, die ihm die Stichworte für seine Rede geliefert
hatte. Dann verbeugte er sich ehrerbietig vor seinem Herrn und reihte sich
wieder unter die Dutzenden anderen Berater, so dass der Mitregent die Landkarte
betrachten und in Ruhe nachdenken konnte. Der große Magier Thumor-Anhu La-Fin,
einer der drei Mitregenten der Menschheit, war heute schlecht gelaunt, und mit
jedem weiteren Bericht setzte er eine noch düsterere Miene auf. Aber diesmal
brachte er keine Kritik hervor. Trotz seines jugendlichen Alters galt Un-Roi
als einer der begabtesten Wahrsager der Neuzeit. Seine detaillierte,
vielschichtige Analyse der Schicksalslinien war so bekannt, dass seine
Vorhersagen meist einfach für bare Münze genommen wurden.
Der Mitregent brauchte nicht lange, um die Informationen auf dem taktischen
Lagenbildschirm zu verinnerlichen. Bald strich er sie mit einer Handbewegung
aus dem Blickfeld und brachte die Landkarte in ihren ursprünglichen Zustand
zurück. Mit offensichtlicher Anstrengung, die zitternden Hände um seinen
magischen Stab geklammert, stand der alte Thumor-Anhu vom Vorsitzendenstuhl auf
und näherte sich steifen Schrittes dem leuchtenden Bildschirm an der Wand. Der
furchterregende alte Magier verbrachte drei Minuten damit, abwechselnd die
Taktikkarte und seinen immer nervöser werdenden Beraterstab anzufunkeln, der
vor Angst beinahe unter den Tischen verschwand. Schließlich hob er zu sprechen
an und machte sich kaum die Mühe, seinen Groll zu verbergen.
„Das heißt also, dass meine Berater trotz dreifacher Überlegenheit unserer
Truppen, einer Rapid-Response-Luftwaffenstaffel und eines Bataillons so gut wie
unzerstörbarer gepanzerter Fahrzeuge immer noch unfähig sind, auch nur eine
einzige Siegesstrategie zu finden? Und das soll ich einfach so hinnehmen?“ Mir
scheint, es ist an der Zeit, dass ich in diesem Kabinett einmal ordentlich
aufräume! Schließlich scheint keiner meiner Berater die nötigen Qualifikationen
für diese Aufgabe zu besitzen!“
Der mächtige Magier blickte grimmig von einem Berater zum nächsten und las
mühelos ihre Gefühle: Schrecken, Empörung über ungerechtfertigte Kritik (das
war Mac-Peu Un-Roi), Erschöpfung und Ärger über seine Launen, ja, sogar Hass. All
das tat nichts zur Sache. Angst vor einem Vorgesetzten war Teil der natürlichen
Ordnung der Dinge, völlig normal. Es war sogar akzeptabel, dass Untergebene
ihren Herrn hassten und ihn für einen Despoten hielten, solang sich diese
Feindseligkeiten nicht zu einem einschränkenden Faktor entwickelten. Vor allem
aber konnte Thumor-Anhu keine Hinweise auf Verrat oder absichtliche Sabotage in
den Gedanken seines Kabinetts finden. Seine Berater gaukelten ihm nichts vor.
Sie sahen wirklich keine Möglichkeit für einen schnellen Sieg über die
Human-3-Fraktion.
Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, kehrte Mitregent Thumor-Anhu an
seinen Platz zurück und bat seine Berater, die von ihm am wenigsten
kritisierten Szenarien zu überprüfen. Der erste Berater näherte sich dem
leuchtenden Bildschirm und stützte sich dabei auf einen schiefen, knorrigen
Stab. Der einst gefürchtete Kampfmagier Avir-Syn La-Pirez hatte seine besten
Jahre längst hinter sich, aber er war immer noch die rechte Hand des
Mitregenten, sowohl in der wirklichen Welt als auch im Spiel, das die
Wirklichkeit unterwirft.
Der große Magier vertraute seinem Ersten Berater voll und ganz. Er
erachtete ihn als seinen engsten Freund, als Familienmitglied. Thumor-Anhu
La-Fins einzige Tochter, die wunderschöne Prinzessin Onessa-Rati, war mit
Avir-Syns Enkel verheiratet gewesen. Beide starben bei einem Terroranschlag
feindlicher Magier. Das Paar hinterließ eine kleine Tochter, Prinzessin Minn-O
La-Fin. Die La-Pirez-Dynastie war zwar nicht sonderlich reich oder mächtig,
doch uralt und stolz. Sollte Thumor-Anhu unerwartet sterben, so würde nur sie
Prinzessin Minn-O Schutz und Unterstützung bieten können. Der Mitregent behielt
das immer im Hinterkopf und versuchte daher, gute Beziehungen zum Ersten
Berater und seinen Verwandten zu pflegen.
Unterdessen hatte der tattrige alte Magier Avir-Syn zwei magische
Kraftelixiere geschlürft, eins nach dem anderen. Er schämte sich nicht, das in
aller Öffentlichkeit zu tun. Danach legte er seinen schweren Stab beiseite. Der
alte Mann wusste mit den neumodischen Helferdrohnen nichts anzufangen, also nahm
er, wie in früheren Tagen, eine Fernbedienung und einen Laserpointer zur Hand.
„Nur bei zweien der von meinen Kollegen ausgearbeiteten Pläne lohnen sich
weitere Überlegungen. Da wäre erstens das Vorhaben, einen weiteren Blitzkrieg
durch den Morast und Dreck des Sumpfhexagon zu versuchen. Das hat sich vor zehn
Tagen als ziemlich wirkungslos erwiesen, aber wir könnten ja aus unseren
Fehlern lernen und uns, anstatt unsere Truppen auf die gesamte Front zu
verteilen, auf die Zerstörung der feindlichen Zitadelle konzentrieren. Unsere
3.500 Soldaten werden sicherlich genügen, um die gestaffelte Verteidigung des
Feindes zu durchschlagen und dieses Gebiet mit den vielen Ölvorkommen zu besetzen!“
„Da muss ich dir bereits widersprechen", sagte der große Magier und unterbrach
seinen alten Freund und Berater. "Wie ich bereits sagte, werde ich nicht
zulassen, dass alle unsere Truppen bei einem einzigen Angriff eingesetzt
werden! Es ist undenkbar und geht wider jede Vernunft. Eine reine Möglichkeit
für unseren Feind, daraus Kapital zu schlagen" Ich bezweifle, dass die
militärisch geführte H3-Fraktion einfach nur seelenruhig zusehen wird, während
wir ihr Hexagon zerstören. Wahrscheinlicher ist, dass sie unsere unbewachten
Grenzen ausnutzen und einen Gegenangriff starten werden!“
„Ganz meine Meinung“, warf ein geladener Militärexperte ein und bekräftigte
den Einwand des Führers. „Sobald wir versuchen, Pontons zu bauen, wird der
Feind das Feuer auf uns eröffnen. Unsere Rüstung wird zerstört oder bleibt wie
beim letzten Mal im Schlamm stecken. Und während Tausende unserer Spieler sich
von Landmarke zu Landmarke durch hüfthohen Schlamm kämpfen und sich verzweifelt
bemühen, ihre Waffen sauber zu halten, wird der Feind ins Korn- oder
Haupthexagon vordringen und Infrastruktur zerstören, deren Verlust wir uns
einfach nicht leisten können! Letztes Mal richteten sie mit einem einzigen
Stoßtrupp genauso viel Schaden an wie wir mit unserem ganzen Angriff. Aber
diesmal hat der Feind Hunderte von Zentauren auf dem Schlachtfeld und viele Stoßtrupps.
Vielleicht nehmen wir das Sumpfhexagon ja ein, aber es wird auf Kosten unserer
produktivsten und am weitesten entwickelten Länder gehen! Dann wäre die Lage
unserer Fraktion wirklich aussichtslos!“
„Die Höchstzahl der Soldaten, die
wir ohne Katastrophenrisiko für einen Angriff einsetzen können, liegt bei 2.300
Mann“, sagte Thumor-Anhu La-Fin und legte damit eine konkrete Grenze fest. Die
Berater verloren sich wieder in angestrengtem Nachdenken.
Lange Zeit sprach niemand auch nur ein Wort. Sie waren zu sehr in
Berechnungen und das Studium der Schicksalslinien vertieft. Schließlich wurde
die anhaltende Stille durch den jüngsten Berater, den Magier-Wahrsager Mac-Peu
Un-Roi, unterbrochen.
„Bei einer Angriffstruppe dieser Größe liegt die Wahrscheinlichkeit, das
Kornhexagon einzunehmen, bei nur 18 Prozent. Da dies der vielversprechendste
Angriffsvektor für uns ist, wird der Feind uns dort erwarten. Ich bin mir also
sicher, dass nicht nur ihre früheren Befestigungen wiederaufgebaut wurden,
sondern auch neue Verteidigungs- und Feuerlinien sowie Minenfelder entstanden
sind. Es besteht eine Chance von mehr als 80 Prozent, dass unsere erste
Angriffswelle komplett vernichtet wird. Aber außerdem, das muss ich zugeben,
gibt es etwas in den Schicksalslinien, das ich nicht deuten kann. Ich schätze,
dass der Feind eine Art Falle stellen wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass unsere
Fraktion das Sumpfhexagon länger als drei Tage hält, liegt genau bei null. Es ist
nicht möglich, dort eine Garnison zu versorgen, und dieses Hexagon liegt zu
nahe an der feindlichen Hauptstadt. Ich fürchte, dagegen kann nichts
unternommen werden.“
Nach einer so eindeutigen Aussage schien es unsinnig, den offensichtlich
hoffnungslosen Plan weiter zu diskutieren, und Thumor-Anhu befahl, die
Alternative auf dem Bildschirm anzuzeigen. Der Erste Ratgeber wechselte eifrig
zu einem weiteren Szenario, und die farbigen Markierungen und Pfeile auf der
Karte änderten die Position.
„Ein etwas aussichtsreicherer Plan ist es, einen konzentrierten
Massenangriff auf die unfertige feindliche Festung an der Felsküste zu starten.
Dann könnten wir mit voller Geschwindigkeit in Richtung der feindlichen
Hauptstadt vorstoßen und versuchen, so weit wie möglich vorzudringen, bevor sie
merken, was Sache ist, und unseren Fortschritt stoppen. Dieser Plan hat jedoch
gewisse Nachteile. Vor allem nach unseren jüngsten erfolglosen Versuchen, NPCs
gegen die feindlichen Befestigungen an der Felsküste einzusetzen, haben sie
ihre Garnison aufgestockt und sind immer noch in höchster Alarmbereitschaft.
Unser Angriff wäre außerdem keine Überraschung. Die Verluste in der ersten
Phase des Kampfes wären beachtlich. Zudem ist die gefürchtete Zweite Legion
dort für die Verteidigung zuständig ..."
„Gerd Tamara“, spie Thumor-Anhu verächtlich.
„Ja, genau. Der feindliche Paladin wird dort sein, und auch die neuen
Priester. Das bedeutet, dass ihre Soldaten psychischen Schutz haben. Magische
Angriffe haben also so gut wie gar keine Wirkung. Rohe Gewalt und Feuerkraft
werden entscheidend sein, aber zumindest haben wir ...“
Der Sprecher brach ab und verbeugte sich tief. Die Türen waren schwungvoll
geöffnet worden und Prinzessin Minn-O La-Fin hatte die Kammer betreten. Die
Enkelin des Mitregenten zog es normalerweise vor, keine offizielle Kleidung zu
tragen, da diese eindeutige Hinweise auf ihre Mitgliedschaft in einer
herrschenden Magierdynastie gab. Bei offiziellen Anlässen musste sie diese
Kleidung tragen, zog meist aber bei der ersten Gelegenheit etwas weniger Auffälliges
über. Bei ihrem persönlichen Stil legte sie mehr Wert auf Komfort und Eleganz.
Aber heute trug sie in ihrem eigenen Haus ein Kleid mit dem richtigen Schnitt
und all den Insignien, die einer Prinzessin ihres Ranges entsprachen.
Alle waren beeindruckt von der Veränderung, nicht zuletzt der große Magier
Thumor-Anhu selbst. Er beobachtete mit Genugtuung, wie sich alle Mitglieder des
Rates respektvoll und sogar unterwürfig vor seiner geliebten Enkelin
verbeugten, obwohl sie keine magische Gabe hatte und somit keine hohe Stellung
in der Gesellschaft für sich beanspruchen konnte. Diese Hochachtung war neu.
Nun, wenn man es genau nahm, hatten sie Minn-O immer mit zurückhaltender
Höflichkeit behandelt. Dies aber war das erste Mal, dass man ihr so etwas wie
Wertschätzung entgegenbrachte. Das bedeutete, dass irgendjemand etwas
ausgeplaudert haben musste. Jeder wusste genau, dass die schöne Prinzessin nun
einen Mann mit magischen Fähigkeiten hatte und erwartete daher, dass Minn-O
bald einen kleinen Magier des großen Herrscherhauses La-Fin zur Welt bringen
würde. Oder vielleicht - der alte Magier seufzte traurig, denn ihm war
eingefallen, dass er ja bereits 180 Jahre alt war – würde sie sogar Regentin
sein, wenn ihr Kind vor der Volljährigkeit auf den Thron erhoben würde.
„Ehrbare Magier, ich nehme eure Vorschläge für die bevorstehende Schlacht
zur Kenntnis, doch nun benötige ich etwas Zeit, um sie zu überdenken und eine
Entscheidung zu treffen. Und ich kenne genau die richtige Person, die mir dabei
helfen kann. Man möge General Ui-Taka einladen, den selbsternannten Monarchen
der Zweiten Präfektur! Ich möchte herausfinden, ob er wirklich ein so guter
Stratege und Kommandant ist, wie man sagt.“
„Hrmpf!“ Thumor-Anhus letzter Befehl verblüffte seine Berater. Sie
tauschten verständnislose Blicke aus. „Aber General Ui-Taka ist ein illegitimer
Heuchler, der vom Rat der Herrscher nicht anerkannt wird. Wünscht der
ehrenwerte Mitregent Thumor-Anhu, dass der rebellische General mit Gewalt
hierhergeschleppt wird?“
Minn-O kicherte ungehalten bei der Vorstellung, wie man versuchte, einen
Kommandanten zu verhaften, der von Hunderten von unerschütterlich treuen
Soldaten umgeben war. Mitregent Thumor-Anhu warf seiner Enkelin einen
stirnrunzelnden Blick zu und sie hörte sofort auf zu kichern.
„Nein, wir dürfen nicht unhöflich sein. Der General ist in der Armee
beliebt, und wir wollen unsere Soldaten bei Laune halten. Ich möchte ihn als
Gast und Militärexperten in meinen Palast einladen. Ich bin überzeugt, dass der
erste nichtmagische Machthaber seit 800 Jahren begierig darauf sein wird, mir
einen Besuch abzustatten. Er trachtet verzweifelt nach der Anerkennung der
anderen Herrscher. Ui-Taka wird nicht nur kommen, sondern sich hier auch
vorbildlich benehmen und alles tun, was ich verlange. Aber jetzt, verehrte
Magier, müsst ihr mich entschuldigen, ich möchte mit Prinzessin Minn-O
sprechen.“
Eine Minute später verblieben nur noch der alte Magier und seine geliebte Enkelin
in der Kammer. Thumor-Anhu stand sogar von seinem Stuhl auf und ging hinüber,
um die Türen zu verschließen und sicherzustellen, dass niemand lauschte.
„Also, Minn-O, ich sehe, dass du Neuigkeiten hast. Erzähle mir alles! Der
Feind Gerd Nat hat wieder deine Gefängniszelle besucht. Habe ich richtig
geraten? Hat er konkrete Zusagen gemacht, dir gesagt, wann du befreit werden
sollst?“
„Gefängniszelle?“ Die Prinzessin täuschte Überraschung vor. „Thumor-Anhu,
seit anderthalb Stunden fliege ich in einem Geckho-Schiff durch den Weltraum!“
Der Ausdruck von Überraschung und Verwirrung auf dem runzeligne Gesicht des
weisen Magiers war so unnatürlich und albern, dass die Prinzessin nicht anders
konnte und lachte. Er war es gewohnt, die Zukunft vorherzusehen und zeigte sich
selten überrascht. Doch der alte Mann hatte sich rasch wieder gefasst und
kombinierte klug.
„Nats Geckho-Freunde sind also gekommen, um ihn abzuholen, und dein Mann
hat dich mit ins All genommen!“
„Ja! Großvater, du hast oft gesagt, dass Nat etwas
Besonderes ist, und die Geckho nur ihn mit in den Kosmos nehmen. Aber das ist
nur teilweise wahr. Die Geckho verehren Nat und lesen ihm praktisch jeden
Wunsch von den Augen ab. Wenn du nur wüsstest, wie glücklich die Crew war, ihn
zu sehen! Die Geckho bleckten die Zähne und knurrten so laut, dass ich wohl
geglaubt hätte, sie wollten meinen Mann verschlingen, hätte ich ihre
Körpersprache nicht gelernt. Aber Gerd Nat ist nicht der Einzige! Dort gibt es
eine ganze Reihe von Feinden. Mindestens vier! Nat selbst, dann ein Pilot, ein
Weltraumkommandant und ein Gladiator, angeblich Nats Freund. Die beiden kleinen
Miyelonier nicht eingerechnet, die aus irgendeinem Grund nicht von Nats Seite
weichen. Zusammen mit ihnen ist es eine ganze Staffel! Tatsächlich fand ich es
seltsam, dass er seine Geliebte nicht mitgebracht hat.“
„Nun, Anya die
Heilerin wäre nie mitgekommen …" Der alte Magier unterbrach sich plötzlich
in der Mitte des Satzes. Er sah davon ab, seiner Enkelin diese Feinheiten zu
erklären und wechselte abrupt das Thema. Nein, das ging weit über den Horizont
eines einfachen Sterblichen hinaus. „Anya ist in einer interessanten Position.
Die erste Person, die der misstrauische Nat an sich heranlässt. Wir werden
sehen, was daraus wird. Die Miyelonier darfst du auch nicht außer Acht lassen.
Weißt du, was dieses kleine Mauerblümchen von Übersetzerin gestern getan hat?“
Minn-O schüttelte den Kopf. Sie hatte die letzten beiden Tage in einer
Gefängniszelle verbracht und wusste nicht, was draußen vor sich gegangen war.
„Ein Kampftraining
für die Erste und Zweite Legion veranstaltet! Ich weiß nicht, wie dieses
widerliche Stinktier es geschafft hat, aber meine Informanten bestätigen alle,
dass sich die Elitetruppen danach deutlich verbessert hatten. Sogar ihr
höchstrangiger Spieler, Gerd Tarasov, levelte zweimal. Es ist einfach
unglaublich! Und ich? Ich werde beinahe wahnsinnig hier bei dem Versuch, die
Armee auf die Schlacht vorzubereiten und zumindest den Level- und Skillmangel
etwas zu beheben. Nun hat diese kleine Übersetzerin auch diese Bemühungen
zunichte gemacht!“
Der alte Mann raufte sich die Haare. Die Spitze seines magischen Stabes
begann sogar zu leuchten und zu brodeln. Sicherheitshalber trat die Prinzessin
einen Schritt zurück. Falls irgendein Todeszauber hervorbrach, konnte er
zumindest nicht sie treffen. Ihr liebevoller Großvater würde ihr nie
absichtlich wehtun, doch der grimmige alte Mann war berüchtigt dafür,
versehentlich Löcher in Wände zu ätzen oder wutentbrannt ihm zufällig in die
Quere kommende Diener und Roboter mit bösen Flüchen zu belegen.
Um ihren Großvater von den ärgerlichen Gedanken abzulenken, begann Minn-O,
ihm von ihrer bisherigen Reise durch den Weltraum zu erzählen. Sie wohnte nicht
in der gleichen Koje wie Nat, wie sie eigentlich angenommen hatte, sondern
teilte sich den Schlafplatz mit einem Geckho-Händler, dessen dickes schwarzes
Fell mit unnatürlichen weißen Flecken gesprenkelt war. Nach ihrer Entlassung
aus der Gefängniszelle waren Minn-Os einzige Kleider ein Trainingsanzug und ein
Paar Pantoffeln gewesen.
„Nat bemerkte das und er brachte mir vor dem Start einen Damen-Raumanzug
mit. Er hielt ihn mir hin, schüttelte den Kopf, nannte mich eine Giraffe und
sagte, dass er den Raumanzug dem Schiffsmechaniker geben würde, um ihn anpassen
zu lassen. Und Nat gab mir Waffen, eine unserer gewöhnlichen Laserpistolen,
vielleicht sogar meine alte und ein veraltetes Jagdgewehr. Und ob du es glaubst
oder nicht, es schießt immer noch Kugeln, keine Laserstrahlen! Aber es hat
einen kunstvoll geschnitzten Schaft, eine Reihe von Modifikationen und einen
eigenen Namen: Krechet! Oh ja, ich hätte es fast vergessen, Nat hat
seine Spielerklasse von Prospektor auf Zuhörer geändert!“
Der große Magier, der zuvor mit mäßigem Interesse dem Geplapper seiner
Enkelin zugehört hatte, richtete sich ruckartig auf und starrte Minn-O an.
„Du bist so ein Dummkopf! Das hättest du gleich am Anfang sagen sollen,
nicht den Quatsch mit den Pantoffeln und der Giraffe! Erkläre mir sofort, was
das für eine Klasse ist! Welche Boni bietet diese? Und warum hat er sie
geändert? Finde auch heraus, wohin das Schiff unterwegs ist und warum. Und was
deine Rolle in dem Ganzen ist. Auf jeden Fall solltest du versuchen, auch ein
paar Informationen über die Miyelonier zu sammeln. Warum begleiten sie Nat,
kann man ihre Dienstleistungen kaufen und wie viel würde das kosten?“
Minn-O verzog unglücklich das Gesicht und nahm, indem sie den Saum des
unbequemen Rockes anhob, an einem Ende des hohen Tisches Platz. Sie überkreuzte
die langen Beine.
„Und warum sollte
ich das tun? Ich bin jetzt Nats Wayedda, er ist nun nicht mehr mein
Feind. Und nicht nur das! Ich bin jetzt verheiratet und werde mich
wahrscheinlich bald mit den Geckho und Nats Kollegen anfreunden. Du hast mich
in seine Arme gedrängt, also wundere dich nicht, wenn sich meine Einstellung zu
diesem ganzen Krieg ändert. Ich werde nicht für dich spionieren!“
Das war eine unangenehme Überraschung für den alten Magier. Mitregent
Thumor-Anhu La-Fin kannte die Prinzessin jedoch gut genug, also fand er schnell
die richtigen Worte.
„In deren Welt bist
du ein Schmarotzer, angewiesen auf einen armen Studenten. Und er wird dich sein
ganzes Leben lang mit Argwohn behandeln. Du wirst dort nie wirklich hingehören,
und niemand wird dir jemals vertrauen. Hier bist du eine stolze Prinzessin,
Mitglied eines Herrscherhauses und wirst von allen respektiert! Wenn du deine
Karten richtig spielst, kannst du dich hocharbeiten und in unserer Gesellschaft
eine wichtige Rolle einnehmen. Vielleicht bringst du eines Tages sogar zum
Herrscher über die Menschheit! Kannst du den Unterschied in deiner Position
zwischen hier und dort sehen? Und du würdest die gleiche Entscheidung für deine
zukünftigen Kinder treffen. Sie können entweder Kronprinzen und Prinzessinnen
sein, die zukünftigen Herrscher der Menschheit, oder ihr Leben als
Ausgestoßene, Unwürdige, als seltsame Freaks am Rande der Gesellschaft
verbringen!“
Wahrscheinlich hätte er es dabei belassen sollen. Der erfahrene Psioniker
Thumor-Anhu konnte spüren, dass er bereits ins Schwarze getroffen hatte. Aber
dieses Problem war zu ernst, um es einfach unter den Tisch fallen zu lassen,
also dachte er, er müsse ein wenig Gedankenkontrolle anwenden. Die Prinzessin
schniefte, sprang vom Tisch und fiel, wie damals, als sie ein kleines Mädchen
gewesen war, in die Arme ihres mächtigen Großvaters und suchte Trost.
„Es tut mir leid, Thumor-Anhu, ich hatte Unrecht! Natürlich werde ich dem
Haus La-Fin immer treu bleiben und alles mir Mögliche tun, um unserer Fraktion
und Welt den Sieg zu bringen! Aber Nat ist kein Fremder mehr für mich. Ich
denke die ganze Zeit an ihn und kann nichts dagegen tun. Zwing mich nicht, ihn
auszuspionieren! Du bist ein mächtiger und weiser Magier, also finde eine
Möglichkeit, Nat in unsere Welt zu bringen. Das ist der beste Weg, um das alles
zu lösen!“
Der alte Mann umarmte seine geliebte Enkelin und beruhigte sie, doch
innerlich war er aufgebracht. Prinzessin Minn-O distanzierte sich von ihm. Ein
immer größerer Teil ihres Herzens wurde von diesem anderen Mann eingenommen.
Sicher, heute vermochte er noch Gedankenkontrolle gegen sie anzuwenden, doch
das würde immer schwieriger werden. Eines Tages würde Minn-O ein für alle Mal
mit ihm brechen. Der kleine, in rosa Windeln gewickelte Wonneproppen,
verschnürt mit blumengemusterten Bändern, den er seiner tödlich verwundeten
Tochter Onessa-Rati abgenommen hatte, das süße Mädchen, das er von Geburt an aufgezogen
und das er immer für klein und naiv gehalten hatte, war plötzlich erwachsen
geworden.
Gleichzeitig brauchte es für den erfahrenen Psioniker nur ein klein wenig
Vertrauen und Offenheit, um alle Informationen, die er benötigte, im Kopf der
Prinzessin zu lesen. Minn-O wusste wirklich nicht, wohin das Schiff unterwegs
war und verstand keine Silbe der auf Geckho geführten Gespräche. Die einzige
merkwürdige Information war ein Streitgespräch zwischen vier Mitgliedern der
H3-Fraktion im Nebenraum, das sie mitangehört hatte.
Wie sich herausstellte, waren Nat und seine Gefährten nicht gerade erpicht
darauf, ins All zu fliegen, sondern wollten am nächsten Tag in der großen
Schlacht gegen den Dunklen Bruch kämpfen, die sie nun für unvermeidlich
hielten. Die Feinde respektierten seine Fraktion, fürchteten sie sogar ein
wenig, doch sie waren bereit, bis zum Tod zu kämpfen, zu respawnen und sofort
in die Schlacht zurückzukehren. Alles, nur kein Rückzug. Hmm. Der Sieg würde
nicht einfach werden.
Doch was hat der Magier-Wahrsager vorhin gesagt? Die Erfolgsaussichten
lagen bei nur 18 Prozent, und der Sieg würde nur eine vorübergehende
Veränderung der Grenzen bedeuten, keinen wirklichen Fortschritt im Krieg mit
der H3-Fraktion? Dies war ein ernsthaftes Problem. Außerdem erwartete der Feind
einen Angriff, hatte sogar Verbündete gefunden und war mehr denn je auf den
Kampf vorbereitet. Es war, gelinde gesagt, nicht der beste Zeitpunkt, um in die
Offensive zu gehen.
Andererseits würde ein Nichtangriff mit einem Mangel an Selbstvertrauen gleichgesetzt
werden, und das könnte der bitteren Propaganda zuwiderlaufen, die er mit allen
Mitteln im Lager der Feinde vorantrieb. Was sollte er also tun? Sie brauchten
Zeit, um ihre Truppen zu trainieren. Und Thumor-Anhu selbst würde sich
eingehend mit General Ui-Taka, dem erfahrensten und nicht zuletzt
erfolgreichsten Strategen der magischen Welt, beraten müssen. Hoffentlich würde
er gemeinsam mit ihm den Schlüssel zum Durchschlagen der feindlichen
Verteidigungen finden. Aber wie sollte er das erreichen, ohne die eigene
Autorität zu schädigen?
Der große Magier schenkte seiner geliebten Enkelin eine weitere warme
Umarmung und sah der Prinzessin lächelnd direkt in die feuchten Augen.
„Minn-O, geh zurück ins Spiel und sage Gerd Nat, dass ich eurem Bund
meinen Segen gebe! Wenn dein Mann hier in unserer Welt wäre, würde ich ihm den
alten Palast des Hauses La-Fin und zweihundert Diener zur Verfügung stellen.
Aber Nat ist vorerst nur im Spiel, also gewähre ich seiner erbärmlichen
Fraktion zu Ehren der Hochzeit meiner Enkeltochter weitere fünf Tage
Waffenruhe!“
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