Tuesday, October 1, 2019

Unterwerfung der Wirklichkeit: Spielwende von Michael Atamanov



Unterwerfung der Wirklichkeit, Buch 3
Spielwende von Michael Atamanov





Veröffentlichung am 10. Januar 2020


Prolog. Feindliche Pläne


Pa-lin-thu, Hauptstadt der Ersten Präfektur
Palast von Mitregent Thumor-Anhu La-Fin
Kleine Ratskammer


„DAHER, ehrenwerter Mitregent Thumor-Anhu La-Fin, hielten unsere Strategen auch diesen Plan für ungenügend. Unsere Truppen würden in den feindlichen Verteidigungsanlagen festgesetzt werden und nicht in der Lage sein, ihre Ziele innerhalb eines vernünftigen Zeitrahmens zu erreichen. Das Überraschungsmoment ginge uns gänzlich verloren. Dann müsste der Feind nur Verstärkung anfordern, und alles wäre vorbei.“


Mit einer Handbewegung wimmelte der junge Magier-Wahrsager Mac-Peu Un-Roi die schwebende Hilfsdrohne ab, die ihm die Stichworte für seine Rede geliefert hatte. Dann verbeugte er sich ehrerbietig vor seinem Herrn und reihte sich wieder unter die Dutzenden anderen Berater, so dass der Mitregent die Landkarte betrachten und in Ruhe nachdenken konnte. Der große Magier Thumor-Anhu La-Fin, einer der drei Mitregenten der Menschheit, war heute schlecht gelaunt, und mit jedem weiteren Bericht setzte er eine noch düsterere Miene auf. Aber diesmal brachte er keine Kritik hervor. Trotz seines jugendlichen Alters galt Un-Roi als einer der begabtesten Wahrsager der Neuzeit. Seine detaillierte, vielschichtige Analyse der Schicksalslinien war so bekannt, dass seine Vorhersagen meist einfach für bare Münze genommen wurden.
Der Mitregent brauchte nicht lange, um die Informationen auf dem taktischen Lagenbildschirm zu verinnerlichen. Bald strich er sie mit einer Handbewegung aus dem Blickfeld und brachte die Landkarte in ihren ursprünglichen Zustand zurück. Mit offensichtlicher Anstrengung, die zitternden Hände um seinen magischen Stab geklammert, stand der alte Thumor-Anhu vom Vorsitzendenstuhl auf und näherte sich steifen Schrittes dem leuchtenden Bildschirm an der Wand. Der furchterregende alte Magier verbrachte drei Minuten damit, abwechselnd die Taktikkarte und seinen immer nervöser werdenden Beraterstab anzufunkeln, der vor Angst beinahe unter den Tischen verschwand. Schließlich hob er zu sprechen an und machte sich kaum die Mühe, seinen Groll zu verbergen.
„Das heißt also, dass meine Berater trotz dreifacher Überlegenheit unserer Truppen, einer Rapid-Response-Luftwaffenstaffel und eines Bataillons so gut wie unzerstörbarer gepanzerter Fahrzeuge immer noch unfähig sind, auch nur eine einzige Siegesstrategie zu finden? Und das soll ich einfach so hinnehmen?“ Mir scheint, es ist an der Zeit, dass ich in diesem Kabinett einmal ordentlich aufräume! Schließlich scheint keiner meiner Berater die nötigen Qualifikationen für diese Aufgabe zu besitzen!“
Der mächtige Magier blickte grimmig von einem Berater zum nächsten und las mühelos ihre Gefühle: Schrecken, Empörung über ungerechtfertigte Kritik (das war Mac-Peu Un-Roi), Erschöpfung und Ärger über seine Launen, ja, sogar Hass. All das tat nichts zur Sache. Angst vor einem Vorgesetzten war Teil der natürlichen Ordnung der Dinge, völlig normal. Es war sogar akzeptabel, dass Untergebene ihren Herrn hassten und ihn für einen Despoten hielten, solang sich diese Feindseligkeiten nicht zu einem einschränkenden Faktor entwickelten. Vor allem aber konnte Thumor-Anhu keine Hinweise auf Verrat oder absichtliche Sabotage in den Gedanken seines Kabinetts finden. Seine Berater gaukelten ihm nichts vor. Sie sahen wirklich keine Möglichkeit für einen schnellen Sieg über die Human-3-Fraktion.
Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, kehrte Mitregent Thumor-Anhu an seinen Platz zurück und bat seine Berater, die von ihm am wenigsten kritisierten Szenarien zu überprüfen. Der erste Berater näherte sich dem leuchtenden Bildschirm und stützte sich dabei auf einen schiefen, knorrigen Stab. Der einst gefürchtete Kampfmagier Avir-Syn La-Pirez hatte seine besten Jahre längst hinter sich, aber er war immer noch die rechte Hand des Mitregenten, sowohl in der wirklichen Welt als auch im Spiel, das die Wirklichkeit unterwirft.
Der große Magier vertraute seinem Ersten Berater voll und ganz. Er erachtete ihn als seinen engsten Freund, als Familienmitglied. Thumor-Anhu La-Fins einzige Tochter, die wunderschöne Prinzessin Onessa-Rati, war mit Avir-Syns Enkel verheiratet gewesen. Beide starben bei einem Terroranschlag feindlicher Magier. Das Paar hinterließ eine kleine Tochter, Prinzessin Minn-O La-Fin. Die La-Pirez-Dynastie war zwar nicht sonderlich reich oder mächtig, doch uralt und stolz. Sollte Thumor-Anhu unerwartet sterben, so würde nur sie Prinzessin Minn-O Schutz und Unterstützung bieten können. Der Mitregent behielt das immer im Hinterkopf und versuchte daher, gute Beziehungen zum Ersten Berater und seinen Verwandten zu pflegen.
Unterdessen hatte der tattrige alte Magier Avir-Syn zwei magische Kraftelixiere geschlürft, eins nach dem anderen. Er schämte sich nicht, das in aller Öffentlichkeit zu tun. Danach legte er seinen schweren Stab beiseite. Der alte Mann wusste mit den neumodischen Helferdrohnen nichts anzufangen, also nahm er, wie in früheren Tagen, eine Fernbedienung und einen Laserpointer zur Hand.
„Nur bei zweien der von meinen Kollegen ausgearbeiteten Pläne lohnen sich weitere Überlegungen. Da wäre erstens das Vorhaben, einen weiteren Blitzkrieg durch den Morast und Dreck des Sumpfhexagon zu versuchen. Das hat sich vor zehn Tagen als ziemlich wirkungslos erwiesen, aber wir könnten ja aus unseren Fehlern lernen und uns, anstatt unsere Truppen auf die gesamte Front zu verteilen, auf die Zerstörung der feindlichen Zitadelle konzentrieren. Unsere 3.500 Soldaten werden sicherlich genügen, um die gestaffelte Verteidigung des Feindes zu durchschlagen und dieses Gebiet mit den vielen Ölvorkommen zu besetzen!“
„Da muss ich dir bereits widersprechen", sagte der große Magier und unterbrach seinen alten Freund und Berater. "Wie ich bereits sagte, werde ich nicht zulassen, dass alle unsere Truppen bei einem einzigen Angriff eingesetzt werden! Es ist undenkbar und geht wider jede Vernunft. Eine reine Möglichkeit für unseren Feind, daraus Kapital zu schlagen" Ich bezweifle, dass die militärisch geführte H3-Fraktion einfach nur seelenruhig zusehen wird, während wir ihr Hexagon zerstören. Wahrscheinlicher ist, dass sie unsere unbewachten Grenzen ausnutzen und einen Gegenangriff starten werden!“
„Ganz meine Meinung“, warf ein geladener Militärexperte ein und bekräftigte den Einwand des Führers. „Sobald wir versuchen, Pontons zu bauen, wird der Feind das Feuer auf uns eröffnen. Unsere Rüstung wird zerstört oder bleibt wie beim letzten Mal im Schlamm stecken. Und während Tausende unserer Spieler sich von Landmarke zu Landmarke durch hüfthohen Schlamm kämpfen und sich verzweifelt bemühen, ihre Waffen sauber zu halten, wird der Feind ins Korn- oder Haupthexagon vordringen und Infrastruktur zerstören, deren Verlust wir uns einfach nicht leisten können! Letztes Mal richteten sie mit einem einzigen Stoßtrupp genauso viel Schaden an wie wir mit unserem ganzen Angriff. Aber diesmal hat der Feind Hunderte von Zentauren auf dem Schlachtfeld und viele Stoßtrupps. Vielleicht nehmen wir das Sumpfhexagon ja ein, aber es wird auf Kosten unserer produktivsten und am weitesten entwickelten Länder gehen! Dann wäre die Lage unserer Fraktion wirklich aussichtslos!“
 „Die Höchstzahl der Soldaten, die wir ohne Katastrophenrisiko für einen Angriff einsetzen können, liegt bei 2.300 Mann“, sagte Thumor-Anhu La-Fin und legte damit eine konkrete Grenze fest. Die Berater verloren sich wieder in angestrengtem Nachdenken.
Lange Zeit sprach niemand auch nur ein Wort. Sie waren zu sehr in Berechnungen und das Studium der Schicksalslinien vertieft. Schließlich wurde die anhaltende Stille durch den jüngsten Berater, den Magier-Wahrsager Mac-Peu Un-Roi, unterbrochen.
„Bei einer Angriffstruppe dieser Größe liegt die Wahrscheinlichkeit, das Kornhexagon einzunehmen, bei nur 18 Prozent. Da dies der vielversprechendste Angriffsvektor für uns ist, wird der Feind uns dort erwarten. Ich bin mir also sicher, dass nicht nur ihre früheren Befestigungen wiederaufgebaut wurden, sondern auch neue Verteidigungs- und Feuerlinien sowie Minenfelder entstanden sind. Es besteht eine Chance von mehr als 80 Prozent, dass unsere erste Angriffswelle komplett vernichtet wird. Aber außerdem, das muss ich zugeben, gibt es etwas in den Schicksalslinien, das ich nicht deuten kann. Ich schätze, dass der Feind eine Art Falle stellen wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Fraktion das Sumpfhexagon länger als drei Tage hält, liegt genau bei null. Es ist nicht möglich, dort eine Garnison zu versorgen, und dieses Hexagon liegt zu nahe an der feindlichen Hauptstadt. Ich fürchte, dagegen kann nichts unternommen werden.“
Nach einer so eindeutigen Aussage schien es unsinnig, den offensichtlich hoffnungslosen Plan weiter zu diskutieren, und Thumor-Anhu befahl, die Alternative auf dem Bildschirm anzuzeigen. Der Erste Ratgeber wechselte eifrig zu einem weiteren Szenario, und die farbigen Markierungen und Pfeile auf der Karte änderten die Position.
„Ein etwas aussichtsreicherer Plan ist es, einen konzentrierten Massenangriff auf die unfertige feindliche Festung an der Felsküste zu starten. Dann könnten wir mit voller Geschwindigkeit in Richtung der feindlichen Hauptstadt vorstoßen und versuchen, so weit wie möglich vorzudringen, bevor sie merken, was Sache ist, und unseren Fortschritt stoppen. Dieser Plan hat jedoch gewisse Nachteile. Vor allem nach unseren jüngsten erfolglosen Versuchen, NPCs gegen die feindlichen Befestigungen an der Felsküste einzusetzen, haben sie ihre Garnison aufgestockt und sind immer noch in höchster Alarmbereitschaft. Unser Angriff wäre außerdem keine Überraschung. Die Verluste in der ersten Phase des Kampfes wären beachtlich. Zudem ist die gefürchtete Zweite Legion dort für die Verteidigung zuständig ..."
„Gerd Tamara“, spie Thumor-Anhu verächtlich.
„Ja, genau. Der feindliche Paladin wird dort sein, und auch die neuen Priester. Das bedeutet, dass ihre Soldaten psychischen Schutz haben. Magische Angriffe haben also so gut wie gar keine Wirkung. Rohe Gewalt und Feuerkraft werden entscheidend sein, aber zumindest haben wir ...“
Der Sprecher brach ab und verbeugte sich tief. Die Türen waren schwungvoll geöffnet worden und Prinzessin Minn-O La-Fin hatte die Kammer betreten. Die Enkelin des Mitregenten zog es normalerweise vor, keine offizielle Kleidung zu tragen, da diese eindeutige Hinweise auf ihre Mitgliedschaft in einer herrschenden Magierdynastie gab. Bei offiziellen Anlässen musste sie diese Kleidung tragen, zog meist aber bei der ersten Gelegenheit etwas weniger Auffälliges über. Bei ihrem persönlichen Stil legte sie mehr Wert auf Komfort und Eleganz. Aber heute trug sie in ihrem eigenen Haus ein Kleid mit dem richtigen Schnitt und all den Insignien, die einer Prinzessin ihres Ranges entsprachen.
Alle waren beeindruckt von der Veränderung, nicht zuletzt der große Magier Thumor-Anhu selbst. Er beobachtete mit Genugtuung, wie sich alle Mitglieder des Rates respektvoll und sogar unterwürfig vor seiner geliebten Enkelin verbeugten, obwohl sie keine magische Gabe hatte und somit keine hohe Stellung in der Gesellschaft für sich beanspruchen konnte. Diese Hochachtung war neu. Nun, wenn man es genau nahm, hatten sie Minn-O immer mit zurückhaltender Höflichkeit behandelt. Dies aber war das erste Mal, dass man ihr so etwas wie Wertschätzung entgegenbrachte. Das bedeutete, dass irgendjemand etwas ausgeplaudert haben musste. Jeder wusste genau, dass die schöne Prinzessin nun einen Mann mit magischen Fähigkeiten hatte und erwartete daher, dass Minn-O bald einen kleinen Magier des großen Herrscherhauses La-Fin zur Welt bringen würde. Oder vielleicht - der alte Magier seufzte traurig, denn ihm war eingefallen, dass er ja bereits 180 Jahre alt war – würde sie sogar Regentin sein, wenn ihr Kind vor der Volljährigkeit auf den Thron erhoben würde.
„Ehrbare Magier, ich nehme eure Vorschläge für die bevorstehende Schlacht zur Kenntnis, doch nun benötige ich etwas Zeit, um sie zu überdenken und eine Entscheidung zu treffen. Und ich kenne genau die richtige Person, die mir dabei helfen kann. Man möge General Ui-Taka einladen, den selbsternannten Monarchen der Zweiten Präfektur! Ich möchte herausfinden, ob er wirklich ein so guter Stratege und Kommandant ist, wie man sagt.“
„Hrmpf!“ Thumor-Anhus letzter Befehl verblüffte seine Berater. Sie tauschten verständnislose Blicke aus. „Aber General Ui-Taka ist ein illegitimer Heuchler, der vom Rat der Herrscher nicht anerkannt wird. Wünscht der ehrenwerte Mitregent Thumor-Anhu, dass der rebellische General mit Gewalt hierhergeschleppt wird?“
Minn-O kicherte ungehalten bei der Vorstellung, wie man versuchte, einen Kommandanten zu verhaften, der von Hunderten von unerschütterlich treuen Soldaten umgeben war. Mitregent Thumor-Anhu warf seiner Enkelin einen stirnrunzelnden Blick zu und sie hörte sofort auf zu kichern.
„Nein, wir dürfen nicht unhöflich sein. Der General ist in der Armee beliebt, und wir wollen unsere Soldaten bei Laune halten. Ich möchte ihn als Gast und Militärexperten in meinen Palast einladen. Ich bin überzeugt, dass der erste nichtmagische Machthaber seit 800 Jahren begierig darauf sein wird, mir einen Besuch abzustatten. Er trachtet verzweifelt nach der Anerkennung der anderen Herrscher. Ui-Taka wird nicht nur kommen, sondern sich hier auch vorbildlich benehmen und alles tun, was ich verlange. Aber jetzt, verehrte Magier, müsst ihr mich entschuldigen, ich möchte mit Prinzessin Minn-O sprechen.“
Eine Minute später verblieben nur noch der alte Magier und seine geliebte Enkelin in der Kammer. Thumor-Anhu stand sogar von seinem Stuhl auf und ging hinüber, um die Türen zu verschließen und sicherzustellen, dass niemand lauschte.
„Also, Minn-O, ich sehe, dass du Neuigkeiten hast. Erzähle mir alles! Der Feind Gerd Nat hat wieder deine Gefängniszelle besucht. Habe ich richtig geraten? Hat er konkrete Zusagen gemacht, dir gesagt, wann du befreit werden sollst?“
„Gefängniszelle?“ Die Prinzessin täuschte Überraschung vor. „Thumor-Anhu, seit anderthalb Stunden fliege ich in einem Geckho-Schiff durch den Weltraum!“
Der Ausdruck von Überraschung und Verwirrung auf dem runzeligne Gesicht des weisen Magiers war so unnatürlich und albern, dass die Prinzessin nicht anders konnte und lachte. Er war es gewohnt, die Zukunft vorherzusehen und zeigte sich selten überrascht. Doch der alte Mann hatte sich rasch wieder gefasst und kombinierte klug.
„Nats Geckho-Freunde sind also gekommen, um ihn abzuholen, und dein Mann hat dich mit ins All genommen!“
Ja! Großvater, du hast oft gesagt, dass Nat etwas Besonderes ist, und die Geckho nur ihn mit in den Kosmos nehmen. Aber das ist nur teilweise wahr. Die Geckho verehren Nat und lesen ihm praktisch jeden Wunsch von den Augen ab. Wenn du nur wüsstest, wie glücklich die Crew war, ihn zu sehen! Die Geckho bleckten die Zähne und knurrten so laut, dass ich wohl geglaubt hätte, sie wollten meinen Mann verschlingen, hätte ich ihre Körpersprache nicht gelernt. Aber Gerd Nat ist nicht der Einzige! Dort gibt es eine ganze Reihe von Feinden. Mindestens vier! Nat selbst, dann ein Pilot, ein Weltraumkommandant und ein Gladiator, angeblich Nats Freund. Die beiden kleinen Miyelonier nicht eingerechnet, die aus irgendeinem Grund nicht von Nats Seite weichen. Zusammen mit ihnen ist es eine ganze Staffel! Tatsächlich fand ich es seltsam, dass er seine Geliebte nicht mitgebracht hat.
Nun, Anya die Heilerin wäre nie mitgekommen …" Der alte Magier unterbrach sich plötzlich in der Mitte des Satzes. Er sah davon ab, seiner Enkelin diese Feinheiten zu erklären und wechselte abrupt das Thema. Nein, das ging weit über den Horizont eines einfachen Sterblichen hinaus. „Anya ist in einer interessanten Position. Die erste Person, die der misstrauische Nat an sich heranlässt. Wir werden sehen, was daraus wird. Die Miyelonier darfst du auch nicht außer Acht lassen. Weißt du, was dieses kleine Mauerblümchen von Übersetzerin gestern getan hat?“
Minn-O schüttelte den Kopf. Sie hatte die letzten beiden Tage in einer Gefängniszelle verbracht und wusste nicht, was draußen vor sich gegangen war.
Ein Kampftraining für die Erste und Zweite Legion veranstaltet! Ich weiß nicht, wie dieses widerliche Stinktier es geschafft hat, aber meine Informanten bestätigen alle, dass sich die Elitetruppen danach deutlich verbessert hatten. Sogar ihr höchstrangiger Spieler, Gerd Tarasov, levelte zweimal. Es ist einfach unglaublich! Und ich? Ich werde beinahe wahnsinnig hier bei dem Versuch, die Armee auf die Schlacht vorzubereiten und zumindest den Level- und Skillmangel etwas zu beheben. Nun hat diese kleine Übersetzerin auch diese Bemühungen zunichte gemacht!“
Der alte Mann raufte sich die Haare. Die Spitze seines magischen Stabes begann sogar zu leuchten und zu brodeln. Sicherheitshalber trat die Prinzessin einen Schritt zurück. Falls irgendein Todeszauber hervorbrach, konnte er zumindest nicht sie treffen. Ihr liebevoller Großvater würde ihr nie absichtlich wehtun, doch der grimmige alte Mann war berüchtigt dafür, versehentlich Löcher in Wände zu ätzen oder wutentbrannt ihm zufällig in die Quere kommende Diener und Roboter mit bösen Flüchen zu belegen.
Um ihren Großvater von den ärgerlichen Gedanken abzulenken, begann Minn-O, ihm von ihrer bisherigen Reise durch den Weltraum zu erzählen. Sie wohnte nicht in der gleichen Koje wie Nat, wie sie eigentlich angenommen hatte, sondern teilte sich den Schlafplatz mit einem Geckho-Händler, dessen dickes schwarzes Fell mit unnatürlichen weißen Flecken gesprenkelt war. Nach ihrer Entlassung aus der Gefängniszelle waren Minn-Os einzige Kleider ein Trainingsanzug und ein Paar Pantoffeln gewesen.
„Nat bemerkte das und er brachte mir vor dem Start einen Damen-Raumanzug mit. Er hielt ihn mir hin, schüttelte den Kopf, nannte mich eine Giraffe und sagte, dass er den Raumanzug dem Schiffsmechaniker geben würde, um ihn anpassen zu lassen. Und Nat gab mir Waffen, eine unserer gewöhnlichen Laserpistolen, vielleicht sogar meine alte und ein veraltetes Jagdgewehr. Und ob du es glaubst oder nicht, es schießt immer noch Kugeln, keine Laserstrahlen! Aber es hat einen kunstvoll geschnitzten Schaft, eine Reihe von Modifikationen und einen eigenen Namen: Krechet! Oh ja, ich hätte es fast vergessen, Nat hat seine Spielerklasse von Prospektor auf Zuhörer geändert!“
Der große Magier, der zuvor mit mäßigem Interesse dem Geplapper seiner Enkelin zugehört hatte, richtete sich ruckartig auf und starrte Minn-O an.
„Du bist so ein Dummkopf! Das hättest du gleich am Anfang sagen sollen, nicht den Quatsch mit den Pantoffeln und der Giraffe! Erkläre mir sofort, was das für eine Klasse ist! Welche Boni bietet diese? Und warum hat er sie geändert? Finde auch heraus, wohin das Schiff unterwegs ist und warum. Und was deine Rolle in dem Ganzen ist. Auf jeden Fall solltest du versuchen, auch ein paar Informationen über die Miyelonier zu sammeln. Warum begleiten sie Nat, kann man ihre Dienstleistungen kaufen und wie viel würde das kosten?“
Minn-O verzog unglücklich das Gesicht und nahm, indem sie den Saum des unbequemen Rockes anhob, an einem Ende des hohen Tisches Platz. Sie überkreuzte die langen Beine.
Und warum sollte ich das tun? Ich bin jetzt Nats Wayedda, er ist nun nicht mehr mein Feind. Und nicht nur das! Ich bin jetzt verheiratet und werde mich wahrscheinlich bald mit den Geckho und Nats Kollegen anfreunden. Du hast mich in seine Arme gedrängt, also wundere dich nicht, wenn sich meine Einstellung zu diesem ganzen Krieg ändert. Ich werde nicht für dich spionieren!“
Das war eine unangenehme Überraschung für den alten Magier. Mitregent Thumor-Anhu La-Fin kannte die Prinzessin jedoch gut genug, also fand er schnell die richtigen Worte.
In deren Welt bist du ein Schmarotzer, angewiesen auf einen armen Studenten. Und er wird dich sein ganzes Leben lang mit Argwohn behandeln. Du wirst dort nie wirklich hingehören, und niemand wird dir jemals vertrauen. Hier bist du eine stolze Prinzessin, Mitglied eines Herrscherhauses und wirst von allen respektiert! Wenn du deine Karten richtig spielst, kannst du dich hocharbeiten und in unserer Gesellschaft eine wichtige Rolle einnehmen. Vielleicht bringst du eines Tages sogar zum Herrscher über die Menschheit! Kannst du den Unterschied in deiner Position zwischen hier und dort sehen? Und du würdest die gleiche Entscheidung für deine zukünftigen Kinder treffen. Sie können entweder Kronprinzen und Prinzessinnen sein, die zukünftigen Herrscher der Menschheit, oder ihr Leben als Ausgestoßene, Unwürdige, als seltsame Freaks am Rande der Gesellschaft verbringen!“
Wahrscheinlich hätte er es dabei belassen sollen. Der erfahrene Psioniker Thumor-Anhu konnte spüren, dass er bereits ins Schwarze getroffen hatte. Aber dieses Problem war zu ernst, um es einfach unter den Tisch fallen zu lassen, also dachte er, er müsse ein wenig Gedankenkontrolle anwenden. Die Prinzessin schniefte, sprang vom Tisch und fiel, wie damals, als sie ein kleines Mädchen gewesen war, in die Arme ihres mächtigen Großvaters und suchte Trost.
„Es tut mir leid, Thumor-Anhu, ich hatte Unrecht! Natürlich werde ich dem Haus La-Fin immer treu bleiben und alles mir Mögliche tun, um unserer Fraktion und Welt den Sieg zu bringen! Aber Nat ist kein Fremder mehr für mich. Ich denke die ganze Zeit an ihn und kann nichts dagegen tun. Zwing mich nicht, ihn auszuspionieren! Du bist ein mächtiger und weiser Magier, also finde eine Möglichkeit, Nat in unsere Welt zu bringen. Das ist der beste Weg, um das alles zu lösen!“
Der alte Mann umarmte seine geliebte Enkelin und beruhigte sie, doch innerlich war er aufgebracht. Prinzessin Minn-O distanzierte sich von ihm. Ein immer größerer Teil ihres Herzens wurde von diesem anderen Mann eingenommen. Sicher, heute vermochte er noch Gedankenkontrolle gegen sie anzuwenden, doch das würde immer schwieriger werden. Eines Tages würde Minn-O ein für alle Mal mit ihm brechen. Der kleine, in rosa Windeln gewickelte Wonneproppen, verschnürt mit blumengemusterten Bändern, den er seiner tödlich verwundeten Tochter Onessa-Rati abgenommen hatte, das süße Mädchen, das er von Geburt an aufgezogen und das er immer für klein und naiv gehalten hatte, war plötzlich erwachsen geworden.
Gleichzeitig brauchte es für den erfahrenen Psioniker nur ein klein wenig Vertrauen und Offenheit, um alle Informationen, die er benötigte, im Kopf der Prinzessin zu lesen. Minn-O wusste wirklich nicht, wohin das Schiff unterwegs war und verstand keine Silbe der auf Geckho geführten Gespräche. Die einzige merkwürdige Information war ein Streitgespräch zwischen vier Mitgliedern der H3-Fraktion im Nebenraum, das sie mitangehört hatte.
Wie sich herausstellte, waren Nat und seine Gefährten nicht gerade erpicht darauf, ins All zu fliegen, sondern wollten am nächsten Tag in der großen Schlacht gegen den Dunklen Bruch kämpfen, die sie nun für unvermeidlich hielten. Die Feinde respektierten seine Fraktion, fürchteten sie sogar ein wenig, doch sie waren bereit, bis zum Tod zu kämpfen, zu respawnen und sofort in die Schlacht zurückzukehren. Alles, nur kein Rückzug. Hmm. Der Sieg würde nicht einfach werden.
Doch was hat der Magier-Wahrsager vorhin gesagt? Die Erfolgsaussichten lagen bei nur 18 Prozent, und der Sieg würde nur eine vorübergehende Veränderung der Grenzen bedeuten, keinen wirklichen Fortschritt im Krieg mit der H3-Fraktion? Dies war ein ernsthaftes Problem. Außerdem erwartete der Feind einen Angriff, hatte sogar Verbündete gefunden und war mehr denn je auf den Kampf vorbereitet. Es war, gelinde gesagt, nicht der beste Zeitpunkt, um in die Offensive zu gehen.
Andererseits würde ein Nichtangriff mit einem Mangel an Selbstvertrauen gleichgesetzt werden, und das könnte der bitteren Propaganda zuwiderlaufen, die er mit allen Mitteln im Lager der Feinde vorantrieb. Was sollte er also tun? Sie brauchten Zeit, um ihre Truppen zu trainieren. Und Thumor-Anhu selbst würde sich eingehend mit General Ui-Taka, dem erfahrensten und nicht zuletzt erfolgreichsten Strategen der magischen Welt, beraten müssen. Hoffentlich würde er gemeinsam mit ihm den Schlüssel zum Durchschlagen der feindlichen Verteidigungen finden. Aber wie sollte er das erreichen, ohne die eigene Autorität zu schädigen?
Der große Magier schenkte seiner geliebten Enkelin eine weitere warme Umarmung und sah der Prinzessin lächelnd direkt in die feuchten Augen.
„Minn-O, geh zurück ins Spiel und sage Gerd Nat, dass ich eurem Bund meinen Segen gebe! Wenn dein Mann hier in unserer Welt wäre, würde ich ihm den alten Palast des Hauses La-Fin und zweihundert Diener zur Verfügung stellen. Aber Nat ist vorerst nur im Spiel, also gewähre ich seiner erbärmlichen Fraktion zu Ehren der Hochzeit meiner Enkeltochter weitere fünf Tage Waffenruhe!“




Veröffentlichung am 10. Januar 2020



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