Sunday, September 22, 2019

Disgardium: Gefahrenklasse A von Dan Sugralinov




Disgardium, Buch 1
Gefahrenklasse A
von Dan Sugralinov



Veröffentlichung am 3. Januar 2020



Kapitel 1: Sandbox
MEINE ELTERN SCHENKTEN mir zum Geburtstag einen Infinitum 8. Kein besonders teures Modell einer Immersionskapsel, aber die beste ihrer Klasse. Es war das Geschenk, dass ich mir zu meinem 14. Geburtstag am meisten gewünscht hatte, denn mit 14 Jahren durfte man endlich das coolste, beliebteste Spiel auf dem Planeten spielen: Disgardium.
Sobald die Geburtstagsfeier vorbei war und die Gäste gegangen waren, fragte mein Vater lächelnd: „Willst du sie nicht ausprobieren?”
Ich nickte. Natürlich, ich konnte es kaum erwarten! Eine Immersionskapsel war viel besser als irgendein dampfbetriebener VR-Helm und Sensorhandschuhe!



„Geh schon, Alex”, sagte Mutter lachend und legte den Arm um Vater.
„Bleib beim ersten Mal nicht zu lange drin!”, rief er hinter mir her. „Alex, hast du gehört?”
„Ja, okay!”, rief ich zurück, während ich in mein Zimmer lief, wo die neue Kapsel auf mich wartete. Sie war bereits installiert, kalibriert und einsatzbereit. Eilig zog ich mich aus und stieg hinein. Sie war vertikal, konnte aber die Ausrichtung ändern, um die virtuelle Welt besser wiederzugeben. Schwerkraft war ein herzloses Miststück, es war schwierig, jemanden davon zu überzeugen, dass er stand, wenn sein realer Körper horizontal lag.
Ich hielt mich an den Metallgriffen fest und wartete. Einige Sekunden vergingen, doch nichts passierte. War das Ding etwa fehlerhaft? Gerade, als ich nach unten laufen wollte, um den Hersteller anzurufen, ertönte eine ernste Stimme in der Kapsel.
„Alex, dein Herz schlägt zu schnell für dein erstes Immersionserlebnis! Zugang verweigert.”
„Das darf ja wohl nicht wahr sein!” rief ich.
„Entschuldige die Unannehmlichkeit, aber Charaktere können nur in ruhigem Körperzustand generiert werden”, zitierte die Stimme aus der Bedienungsanleitung. Dann folgte ein hilfreicher Ratschlag. „Beruhige dich und versuche es dann noch einmal, Alex. Danke.”
Seufzend stieg ich wieder aus der Kapsel und ging auf den kleinen Balkon meines Zimmers hinaus. Es war eine sternenklare Nacht. Viele verschiedene, silberfarbene Lieferdrohnen flogen umher, landeten und hoben aus den Fenstern unserer riesigen Wohnanlage ab.
Weiter oben verdunkelte eine Prozession öffentlicher fliegender Autos den Himmel. Von heute an war es mir rechtlich erlaubt, ohne Computersteuerung zu fliegen. Ich konnte es nicht erwarten, es zu probieren. Zuerst musste ich natürlich die Führerscheinprüfung bestehen, doch das würde kein Problem sein.
Beim Ausatmen entstand ein Nebelschleier vor meinem Gesicht. Der kalte, feuchte Wind ließ mich zittern, obwohl das Wetter während des Tages fast schon frühlingshaft gewesen war. Nach einigen Minuten hatte ich mich entspannt und kletterte wieder in die Kapsel. Dieses Mal erschienen keine Warnmeldungen und der Immersionsprozess konnte beginnen.
Intragel füllte die Kapsel bis über meinen Kopf, doch ich hatte keine Schwierigkeiten beim Atmen. Ich schloss meine Augen. Als ich sie wieder öffnete, befand ich mich im Weltraum. Das Gefühl der Schwerelosigkeit war atemberaubend. Ich musste mich zurückhalten, um meine Arme und Beine nicht zu bewegen. Das brauchte ich auch nicht, denn die Kapsel hatte die Kontrolle über meine Muskeln übernommen und hielt sie statisch, während das Intragel meinen Körper in der Schwebe hielt und schützte. Sollte etwas schieflaufen und die Kapsel würde die Kontrolle über meinen Körper verlieren, würde das Gel mich vor Verletzungen schützen.
Guten Abend, Alex!
Bitte wähle deine gewünschte Immersionsumgebung.
Der Text wurde von einer weiblichen Stimme gelesen. Bei der Immersionsumgebung hatte ich keine große Auswahl. Es gab nur die Testwelt Infinitum von der Größe des Mondes, die erstellt worden war, um die Fähigkeiten der Kapsel zu demonstrieren, oder das riesige Disgardium, das in allen Kapseln vom Werk vorinstalliert war.
Ich wählte Disgardium. Einige Systemprotokolle liefen vor meinen Augen ab.
Biologisches Alter bestätigt.
Zugang zu Disgardium gestattet.
Bildungsministerium wird benachrichtigt ... Abgeschlossen ... Status bestätigt.
Erstes Immersionserlebnis wird eingeleitet!
Körper wird gescannt ... Abgeschlossen ... Aussehen des Charakters wird generiert.
Genehmigter Welttyp: Sandbox
Empfohlener Ort: Tristad
Leider würde ich bis zu meinem 16. Geburtstag auf eine Sandbox beschränkt sein. Es handelte sich dabei um private Orte, die nur minderjährige Spieler besuchen durften. Erwachsene aus der vollen Version waren dort nicht erlaubt, die Inhalte waren ausschließlich altersgerecht.
Um mich herum sah ich viele majestätische Städte und verlassene Dörfer, epische Kämpfe und schauerliche Monster, alle 6 teilweise noch unerforschten Kontinente, herrliche Gärten, hitzeglühende Wüstenlandschaften, Badeorte und Häuserblöcke voller verbotener Vergnügungen, eine Milliarde aktive Spieler und ebenso viele NPCs, ganz zu schweigen von den Nichtbürger-Arbeitern ...
Willkommen in Disgardium, Alex!
Willkommen in einer Welt, in der Dutzende von nichtmenschlichen Völkern harmonisch zusammenleben. Eine Welt, in der Schwerter und Magie herrschen! Eine Welt, in der jeder die Möglichkeit hat, eines Tages ein König oder ein Held zu werden! Eine Welt, in der du leben willst! Eine Welt, in der das Schicksal ...
Ich unterbrach die Einleitung nicht, sondern kostete das gewaltige Ausmaß und die brillanten Farben dieser Welt aus, die mir noch vor Kurzem verschlossen gewesen war. Von diesem Augenblick hatte ich lange geträumt.
Die Einleitung endete und ich war für einen Moment von Dunkelheit umgeben. Dann fand ich mich plötzlich in einem Raum voller Leute wieder. Es waren Jungen und Mädchen, die identische Kleidung aus Leinen trugen und sich erstaunt umsahen. Ich war überwältigt und konnte meine Freude nicht verstecken. Alles sah so echt aus! Der Holzboden unter unseren Füßen knarrte, an der hohen Decke waren Dachsparren zu sehen und das Licht, das durch die Fenster kam, bewegte sich an den Wänden entlang und ließ uns Schatten werfen. Ich konnte Baumharz riechen. Staub tanzte in den Sonnenstrahlen. Das Leinenhemd saß locker, und als ich es berührte, konnte ich meine Rippen durch den Stoff fühlen. Unglaublich!
„Aua!”, kreischte ein Mädchen mit langem, schwarzem Haar. „Wer hat mich gekniffen?”
Alle lachten. Das Mädchen nieste und löste damit erneut Gelächter aus.
„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!”, rief ich.
„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!”, schallte es aus allen Richtungen zurück. Wir waren alle 14 geworden, soviel war klar, denn niemand würde seine erste Kostprobe von Disgardium hinausschieben.
„He, Moment mal! Sollten wir nicht unsere Namen sehen können?”
„Wir haben doch noch keine Charaktere generiert, Dummkopf!”
In unserer fieberhaften Aufregung bemerkten wir nicht, dass sich die Tür geöffnet hatte.
„Willkommen, neue Besucher von Tristad!”, erklang eine sonore, männliche Stimme.
Als wir uns umdrehten, sahen wir im Türrahmen einen seriösen Mann mit grauen Locken, der ein Lächeln hinter seinem Schnurbart versteckte. Über ihm schwebten die Worte:
Peter Whiteacre, Level 30
Bürgermeister der Stadt Tristad
„Es ist mir ein Vergnügen, euch in der freien Stadt Tristad willkommen zu heißen. Hier hat jeder einen Platz, egal ob Held oder Krieger, Barde oder Weiser, Jäger oder Magier, Druide oder gewöhnlicher Arbeiter im Steinbruch ...” Der Bürgermeister listete noch weitere Klassen und Berufe auf. Dann ging er durch die Liste der Völker, die in der Staatengemeinschaft lebten. „Und wir freuen uns ebenso, Menschen, Elfen, Gnome ...”
Ich war fasziniert. Die Informationen online zu lesen, war eine Sache – endlich ein Teil dieser Welt zu werden, eine ganz andere. Der Bürgermeister gab uns einen kurzen Überblick über die Situation, in der sich die Welt befand. Die Völker der Staatengemeinschaft befanden sich im Krieg mit Horden von Orks und barbarischen, nichtmenschlichen Stämmen. Außerdem mussten sie Raids aus dem Nether und sinnlose Angriffe der Plünderer abwehren und sich den dunklen Bruderschaften, den Schlafenden Göttern und dem Bund der Goblins entgegenstellen.
In dieser Welt ging vieles vor sich und es war möglich, dass einige von uns in der Staatengemeinschaft bleiben würden, nachdem wir in die Welt der Erwachsenen übergewechselt waren, während andere sicher die Gelegenheit nutzen und ihren Charakter in eine andere Fraktion wechseln lassen würden.
„Sicher seid ihr alle erschöpft von der langen Reise”, sagte Whiteacre schließlich. „Nachdem ihr eure Registrierung beim Schreiber Carlson abgeschlossen habt, beantworte ich alle weiteren Fragen. Wenn ihr keine Fragen habt, geht in die Stadt und seht euch um, macht euch mit den Einwohnern bekannt und bringt Tristad Glück.”
Wir gingen zum Registrierungsschalter, an dem ein rundlicher, rotwangiger Schreiber saß. Ich stellte mich hinten in der Schlange an.
„Füllt diese Ankunftsformulare aus”, sagte Carlson und teilte die Formblätter aus.
Das Blatt Papier entfaltete sich zu einem Charakterregistrierungsformular, sobald man es in der Hand hielt. In der Sandbox konnte man nur eine Person spielen, darum wunderte ich mich, warum Whiteacre alle Völker der Staatengemeinschaft aufgezählt hatte. Eine Klasse konnten wir erst auf Level 10 wählen, daher konnten wir vorerst nur unseren Namen ausfüllen und Attributpunkte zuweisen.
Es gab einen Namen, den ich mir schon lange ausgesucht hatte. Er war in den Geschichten aus der Antike vorgekommen, die mein Vater mir immer vor dem Einschlafen vorgelesen hatte.
Name: Skyth
Bestätigt
Ich hätte sagen können, dass er keine Bedeutung hatte, doch das stimmte nicht. Ich hoffte, dass ich diesem Namen gerecht werden konnte.
Skythe, du hast 15 Hauptattributpunkte!
Deine Attribute werden dein Leben in Disgardium in vielerlei Hinsicht bestimmen, von deiner Kampfstrategie bis hin zu der Art und Weise, wie andere dich wahrnehmen.
Nimm dir Zeit und denke sorgfältig darüber nach. Deine Attribute können nicht zurückgesetzt werden!
In der Schule hatte ich gehört, dass man mindestens eine 10 in jedem Attribut brauchte, egal welche Klasse man wählte. Stärke, damit ich schwere Lasten tragen konnte. Beweglichkeit und Wahrnehmung, um meine Ziele nicht zu verfehlen und kritische Treffer landen konnte. Intelligenz bestimmte die Manaregeneration, und Mana brauchte man, um besondere Angriffe auszuführen, selbst als Krieger. Mit niedrigem Charisma würde ich keine guten Quest und Rabatte von Händlern erhalten. Glück hingegen hatte im Allgemeinen keinen großen Einfluss.
Nachdem ich kurz überlegt hatte, verteilte ich auf jedes Attribut 2 Punkte und wies den übrigen Punkt Ausdauer zu, ohne groß zu überlegen.
Skyth, Level 1, Mensch
Realer Name: Alex Sheppard
Reales Alter: 14
Klasse: Nicht gewählt
Hauptattribute:
Stärke: 2
Wahrnehmung: 2
Ausdauer: 3
Charisma: 2
Intelligenz: 2
Beweglichkeit: 2
Glück: 2
Als ich fertig war, reichte ich dem Schreiber mein Formular. Er überflog es, schnaubte, lächelte gequält und verkündete mit übertriebener Begeisterung: ”Willkommen in Tristad, Skyth!”
Als ich hinaustrat, hielt ich auf der Treppe an, blickte verträumt die Hauptstraße hinunter und lächelte.
Disgardium, begrüße deinen neuen Helden!
Kapitel 2: Eineinhalb Jahre später
ES WAREN NUR noch 5 Minuten bis zum Ende der Stunde und die Schüler wurden unruhig.
„Es hat noch nicht geklingelt”, bemerkte unser Geschichtslehrer Greg Kovacs streng. „Bleibt sitzen! Edward, setz dich sofort wieder hin!”
Ed Rodriguez, der Anführer des Clans der Dementoren, zog seinen Tisch am Boden entlang, doch er setzte sich wieder hin. Moderne Geschichte war unsere letzte Stunde, und er konnte es nicht erwarten, Disgardium wieder zu betreten.
„Ich bin noch nicht fertig”, sagte Herr Kovacs missbilligend. „Die Stunde wird um 2 Minuten verlängert! Ihr wisst, wem ihr das zu verdanken habt.”
Tissa, das blonde Mädchen, das hinter Ed saß, stieß etwas aus, das wie „Mist!” klang. Sie war Mitglied in Eds Clan. Scheinbar hatten sie für heute einen Raid geplant.
„Machen wir 3 Minuten daraus, Melissa Schäfer”, berichtigte der Lehrer sich locker. Er fuhr mit seinem Vortrag fort: „Nach dem globalen Zusammenbruch des Bankensystems ...”
Tissa rollte mit den Augen und seufzte laut mit zusammengepressten Lippen. Ed drehte sich um und gab ihr einen Luftkuss, woraufhin Tissa ihm den Stinkefinger zeigte.
„... der UN”, sagte Herr Kovacs, während er den Namen an die Tafel schrieb und ihn unterstrich. „Das führte zur Entstehung der Weltweiten Bank und der globalen Währungsunion. Wer kann mir sagen, wie die neue Währung hieß?”
„Phönix”, antwortete die ganze Klasse.
„Genau”, nickte Herr Kovacs. „Und wer weiß, wie ein Phönix aussieht?”
Allgemeines Schweigen. Es war besser, Herrn Kovacs zu antworten, sonst würden wir vielleicht noch eine halbe Stunde hier sitzen.
„Der Phönix ist ein mythischer Vogel, der sich selbst verbrennen kann und dann aus seiner Asche wiederaufersteht”, sagte ich. „Der Phönix-Mythos wurde zum ersten Mal von Herodot schriftlich erwähnt.”
„So sehr ich deine Kenntnisse der antiken Mythologie auch schätze, Alex, ich habe die Währung gemeint. Der Phönix hat keine materielle Form. Er ist eine digitale Währung, unabhängig von wirtschaftlichen und politischen Bedingungen. Im gleichen Jahr fand eine weitere wichtige Veränderung in der Gesellschaft statt ...”
Herr Kovacs war zu dem vorgeschriebenen Staatsbürgerschaftstest übergegangen, den wir bald würden ablegen müssen. Er erwähnte kurz die bemitleidenswerte Existenz der Nicht-Bürger, die Tatsache, dass sie die Bürger zahlenmäßig übertrafen und dass sie massenweise starben, von der Gesellschaft im Stich gelassen und vergessen. Am Ende hörte niemand mehr zu. Wir trommelten auf unsere Tische und zählten laut die letzten Sekunden der zusätzlichen 3 Minuten herunter.
„3! 2! 1!”
Die Stimme unseres Lehrers, der die Hausaufgaben und den Termin des bevorstehenden Tests verkündete, ging im Lärm zurückgeschobener Stühle unter. Die Dementoren liefen als erste aus der Klasse, allen voran Ed. Sie nahmen Disgardium sehr ernst, weil sie ihre Zukunft in der virtuellen Welt sahen. Der Entwickler Snowstorm Inc. war das erste Unternehmen gewesen, das Leute fürs Spielen bezahlte. Seither war Disgardium zum am häufigsten gespielten Spiel auf der Erde geworden, das Spielern ermöglichte, vollständig einzutauchen. Es hatte sogar eine Zertifizierung von den Vereinten Nationen erhalten. Nun verbrachten Nicht-Bürger und unterqualifizierte Bürger ihre Tage damit, dort ihr Geld zu verdienen. Für viele war es der einzige Weg, ihr Schicksal zu verbessern.
Doch nicht für mich. Eineinhalb Jahre waren vergangen, seit ich Dis zum ersten Mal geladen hatte. Damals hatte ich gedacht, sehr schlau zu sein, als ich allen Attributen die gleiche Punktzahl zugewiesen hatte. Das war jedoch ein großer Irrtum gewesen, denn ich hatte einen Charakter erhalten, der miesen Schaden und schlechte Zielgenauigkeit hatte. Ich konnte kaum überleben. Ich hatte zwar vor meiner ersten Spielsession ein paar Anleitungen gelesen, doch leider hatte ich mich nicht genügend über die Erstellung eines neuen Charakters informiert. Ich wusste, dass ich durch jedes Level 5 Attributpunkte erhalten würde, darum hatte ich gedacht, dass ich es schnell würde in Ordnung bringen können, falls etwas schiefgehen würde. Ein paar Levels aufzusteigen, hatte sich einfach angehört.
Wie sich jedoch herausstellte, war es schwieriger, als ich gedacht hatte. Bots hatten keine Eile, mir Quests zu geben, und Mobs zu farmen entpuppte sich als mühsam und schwierig. Level-1-Ratten waren schwer zu töten und erledigten mich bei jedem Versuch mit einigen Bissen. Ich musste etwa 10 Treffer landen und dabei ständig schwingen, um eine einzige Ratte zur Strecke zu bringen – und es gelang mir nur, wenn jemand die Ratte für mich festhielt.
Als ich mich einer Gruppe von Anfängern angeschlossen hatte, verdiente ich noch weniger Erfahrung. Meine Begeisterung verflog schnell. Meine Reaktion war nicht ungewöhnlich. Einige Spieler hörten einfach auf zu spielen, andere wählten soziale Quests.
Doch auf diese Weise zu leveln, war außerordentlich langweilig und dauerte ewig. Für nur 1 Erfahrungspunkt musste man einige Stunden gemeinnützige Arbeit leisten, wie zum Beispiel Ställe ausmisten oder Unkraut jäten. Ein halbes Jahr im Spiel verbringen, um einige Levels aufzusteigen? Oh Mann!
Eines Tages stieg ich aus dem Spiel aus, nur um am nächsten Tag, motiviert durch den Erfolg von ein paar Klassenkameraden, mit neuen Hoffnungen und Plänen wieder einzusteigen. Doch je länger ich spielte, desto enttäuschter wurde ich.
Am Anfang konnte ich keine Ausrüstung, Rüstung oder Waffen bekommen. Das schwächste Messer im Waffenladen kostete einige Silbermünzen und ich hätte 50 soziale Quests abschließen müssen, um nur 1 Silbermünze zu verdienen. Ratten mit bloßen Händen zu erledigen, war unmöglich. Die Dinger waren so groß, dass sie einen Rottweiler aus dem wirklichen Leben würden ausschalten können! Selbst wenn es mir gelungen wäre, 1 Ratte zu töten, hätte ich nur 1 oder höchstens 2 Erfahrungspunkte verdient. Schließlich konnte ich es nicht mehr ertragen. Nach mehreren Wochen, in denen ich alles Mögliche probiert hatte, um zu leveln, war mein Lebensbalken erst 5 Prozent gefüllt. Ich hatte noch nicht mal Level 2 erreicht.
Aus irgendeinem Grund, den nur die Entwickler kannten, war es nicht möglich, in Sandboxen einen Charakter zu löschen und einen ganz neuen zu erstellen. Vielleicht sollten wir dadurch lernen, Verantwortung für unsere Entscheidungen zu übernehmen.
Damals wie heute wollte ich auf keinen Fall reales Geld im Spiel ausgeben. Ich wusste, wie knapp das Geld bei meinen Eltern war. Eine Grundausrüstung würde zwar kein Vermögen kosten, doch bis ich die Möglichkeit in Erwägung gezogen hatte, hatte Dis seinen Reiz für mich verloren.
Sicher, zuerst hatte es Spaß gemacht, die völlig neue Welt mit ihrer eigenen Geographie, Geschichte, ihren eigenen Gesetzen, Regeln und Völkern zu erkunden. Sie hatte sogar ihre eigene Physik, denn Magie und Teleportation waren möglich. Doch das hatte mich nur in den ersten paar Tagen wirklich fasziniert. Nach dem tödlichen Biss einer riesigen Spinne immer wieder Unkraut jäten oder respawnen müssen? Nein, danke.
Außerdem sehnte ich mich nach dem Weltraum. Auf dem Mars wurden die ersten Siedlungen errichtet und ich dachte, eine reale neue Welt zu erforschen, würde viel interessanter sein, als eine virtuelle zu erkunden. Gierig verschlang ich alles, was ich über Expeditionen in den Weltraum finden konnte, informierte mich über die Zulassungsvoraussetzungen von Universitäten und bereitete mich auf Prüfungen vor. Meine Eltern unterstützten meine Ambitionen und hatten etwas Geld für mein Studium zur Seite gelegt.
Doch zusätzlich musste ich auch Dis spielen. Jeden Tag. Ab 14 mussten alle mindestens 1 Stunde pro Tag im Spiel verbringen. Snowstorm Inc. hatte seine Finger überall im UN-Bildungsministerium. Man war der Meinung, es wäre ein wichtiger Teil der Erziehung eines Kindes, die nötigen sozialen Fähigkeiten zu vermitteln und uns auf das Leben als Erwachsene vorzubereiten –entweder in der realen Welt oder in Disgardium.
Im Spiel glich ein Tag dem anderen. Gewöhnlich verbrachte ich die Stunde damit, auf einer Bank gegenüber des Gasthauses „Der sprudelnde Krug” zu sitzen. Nachdem ich das Spiel betreten hatte, gesellte sich meine Nachbarin Eve O‘Sullivan immer zu mir. Sie konnte keinerlei Schmerzen aushalten, daher fand sie das Spiel auch nicht so toll und vertrieb sich die Zeit damit, neben mir zu sitzen. Je früher wir unsere Staatsbürgerschaftstests würden ablegen können, desto besser. Dann würde ich diese lästige Anforderung hinter mir haben.
Mit diesem Gedanken verließ ich eilig die Schule. Unser Parkplatz hatte eine begrenzte Anzahl öffentlicher fliegender Autos und wenn ich nicht sofort eins erwischen würde, würde ich warten müssen, bis eins zurückkäme.
Doch genau das passierte. Oder, genauer gesagt, eines der letzten hatte noch einen leeren Platz, aber ich wollte eins für mich haben, sodass ich es manuell fahren konnte.
Der Schulparkplatz befand sich auf dem Dach neben den vielen Solarpanels. Dort saß Eve. Sie wartete immer auf mich, sodass wir zusammen nach Hause fliegen konnten. Das Geschäft ihres Vaters war inzwischen sehr erfolgreich, doch sie wohnten immer noch in unserer Wohnanlage.
„Alex!” Eves Gesicht leuchtete auf. Ich hatte den Verdacht, dass sie mich mochte, aber das bedeutete mir nichts. Sie war nett, aber nicht mein Geschmack. Außerdem achtete sie nicht auf ihre Figur, sondern aß viel mehr Schokoladenriegel, als vom Gesundheitsministerium empfohlen.
„Wie war dein Tag?”
„Wie immer, Eve. Eine Doppelstunde Ethik der modernen Gesellschaft, eine in Programmieren von Hausrobotertechnik und eine in Moderner Geschichte. Gähn!”
„Ich weiß nicht, wozu Geschichte gut sein soll!”, rief Eve aus. Dann sprach sie mit veränderter Stimme und versuchte, die unverwechselbare Sprechweise von Herrn Kovacs nachzuahmen. „Der letzte Präsident der Vereinigten Staaten ...”
„Genau”, erwiderte ich.
Eve war abgelenkt und wurde nachdenklich. Ich warf meinen Rucksack auf den Boden und setzte mich neben sie. Alle fliegenden Autos waren weg, wir würden mindestens 10 Minuten warten müssen. In dem Moment schoss eine teerhaltige Säule beißenden Bitumens vom Asphalt der Startrampe hoch in die Luft.
„Wieder dieses blöde Dis”, seufzte Eve. „Wann spielst du heute? Wie gewöhnlich nach dem Essen?”
„Mhm. Je schneller ich anfange, desto schneller kann ich aufhören und tun, was ich will.”
„Was würdest du denn lieber machen?”, fragte Eve und betonte dabei das Wort „lieber”. Sie versuchte sogar einen verführerischen Ton, zog das Wort hinaus und zwinkerte.
Oh nein! Flirten war nicht ihre starke Seite. Wo hatte sie das bloß gesehen? Trotzdem war ich überrascht.
„Wahrscheinlich nicht das, was du gemeint hast”, antwortete ich grinsend. Ich wollte sie nicht beleidigen. Sie war großartig, wir kannten uns, seit wir Kinder waren. „Ich will mir etwas über die Leman-Expedition zum Mars ansehen.”
„Aha. Ich dachte ... Vielleicht hättest du Lust, ...”
„Was?” Ich hatte nicht vor, sie in Verlegenheit zu bringen, aber es war besser, diese Sache zu beenden, bevor Eve sich unbegründete Hoffnungen machen würde.
„Vielleicht ... Vielleicht könnten wir es uns zusammen ansehen?”, platzte sie heraus.
„Sorry, heute nicht. Meine Eltern arbeiten an einem neuen Projekt. Ich möchte nicht, dass sie durch uns abgelenkt werden.”
Ich sagte taktisch „uns”, aber ich meinte nur sie. Mein Vater und meine Mutter hatten endlich einen einfachen Auftrag erhalten, doch der Kunde war pingelig, daher war es das Beste, sie so wenig wie möglich zu stören. In der letzten Zeit war das Geld bei uns knapp gewesen.
Mein Vater hatte den Verdacht, dass meine Mutter eine Affäre hätte, sodass er mehr und mehr trank, und wenn er betrunken war, wurde er paranoid, misstrauisch und aggressiv. Das gefiel meiner Mutter natürlich nicht. Dann verließ sie heimlich das Haus und kam erst am frühen Morgen zurück. Ich war sicher, dass sie einen Freund hatte.
Ihre ständigen Streitereien vermiesten mir die Stimmung so sehr, dass ich oft keine Lust hatte, meine Hausaufgaben zu machen. Das war ein Problem, denn um die Zulassung zu einer Universität zu bekommen, brauchte ich einen hohen Durchschnitt.
„Wir könnten es uns bei mir ansehen.” Eve gab nicht nach.
„Lass uns später darüber reden”, entgegnete ich in der Hoffnung, dass sie nicht mehr darauf zurückkommen würde.
Die ersten fliegenden Autos kamen zum Parkplatz zurück. Wir stiegen in eins ein und Eve fragte: „Fliegst du oder der Computer?”
„Ich”. Ich wechselte die Steuerung zu „manuell” und ließ das Fahrzeug abheben. Fliegen ... es gab nichts Besseres! Außer den Sternen natürlich.


Veröffentlichung am 3. Januar 2020

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