Disgardium, Buch 1
Gefahrenklasse A
von Dan Sugralinov
Vorbestellung: https://www.amazon.de/dp/B07XP7K1Q6
Veröffentlichung am 3. Januar 2020
Kapitel 1: Sandbox
MEINE
ELTERN SCHENKTEN mir zum Geburtstag einen Infinitum
8. Kein besonders teures Modell einer Immersionskapsel, aber die beste
ihrer Klasse. Es war das Geschenk, dass ich mir zu meinem 14. Geburtstag am
meisten gewünscht hatte, denn mit 14 Jahren durfte man endlich das coolste,
beliebteste Spiel auf dem Planeten spielen: Disgardium.
Sobald
die Geburtstagsfeier vorbei war und die Gäste gegangen waren, fragte mein Vater
lächelnd: „Willst du sie nicht ausprobieren?”
Ich
nickte. Natürlich, ich konnte es kaum erwarten! Eine Immersionskapsel war viel
besser als irgendein dampfbetriebener VR-Helm und Sensorhandschuhe!
„Geh
schon, Alex”, sagte Mutter lachend und legte den Arm um Vater.
„Bleib
beim ersten Mal nicht zu lange drin!”, rief er hinter mir her. „Alex, hast du
gehört?”
„Ja,
okay!”, rief ich zurück, während ich in mein Zimmer lief, wo die neue Kapsel
auf mich wartete. Sie war bereits installiert, kalibriert und einsatzbereit.
Eilig zog ich mich aus und stieg hinein. Sie war vertikal, konnte aber die
Ausrichtung ändern, um die virtuelle Welt besser wiederzugeben. Schwerkraft war
ein herzloses Miststück, es war schwierig, jemanden davon zu überzeugen, dass
er stand, wenn sein realer Körper horizontal lag.
Ich
hielt mich an den Metallgriffen fest und wartete. Einige Sekunden vergingen,
doch nichts passierte. War das Ding etwa fehlerhaft? Gerade, als ich nach unten
laufen wollte, um den Hersteller anzurufen, ertönte eine ernste Stimme in der
Kapsel.
„Alex,
dein Herz schlägt zu schnell für dein erstes Immersionserlebnis! Zugang
verweigert.”
„Das
darf ja wohl nicht wahr sein!” rief ich.
„Entschuldige
die Unannehmlichkeit, aber Charaktere können nur in ruhigem Körperzustand
generiert werden”, zitierte die Stimme aus der Bedienungsanleitung. Dann folgte
ein hilfreicher Ratschlag. „Beruhige dich und versuche es dann noch einmal,
Alex. Danke.”
Seufzend
stieg ich wieder aus der Kapsel und ging auf den kleinen Balkon meines Zimmers
hinaus. Es war eine sternenklare Nacht. Viele verschiedene, silberfarbene
Lieferdrohnen flogen umher, landeten und hoben aus den Fenstern unserer
riesigen Wohnanlage ab.
Weiter
oben verdunkelte eine Prozession öffentlicher fliegender Autos den Himmel. Von
heute an war es mir rechtlich erlaubt, ohne Computersteuerung zu fliegen. Ich
konnte es nicht erwarten, es zu probieren. Zuerst musste ich natürlich die
Führerscheinprüfung bestehen, doch das würde kein Problem sein.
Beim
Ausatmen entstand ein Nebelschleier vor meinem Gesicht. Der kalte, feuchte Wind
ließ mich zittern, obwohl das Wetter während des Tages fast schon frühlingshaft
gewesen war. Nach einigen Minuten hatte ich mich entspannt und kletterte wieder
in die Kapsel. Dieses Mal erschienen keine Warnmeldungen und der
Immersionsprozess konnte beginnen.
Intragel
füllte die Kapsel bis über meinen Kopf, doch ich hatte keine Schwierigkeiten
beim Atmen. Ich schloss meine Augen. Als ich sie wieder öffnete, befand ich
mich im Weltraum. Das Gefühl der Schwerelosigkeit war atemberaubend. Ich musste
mich zurückhalten, um meine Arme und Beine nicht zu bewegen. Das brauchte ich
auch nicht, denn die Kapsel hatte die Kontrolle über meine Muskeln übernommen
und hielt sie statisch, während das Intragel meinen Körper in der Schwebe hielt
und schützte. Sollte etwas schieflaufen und die Kapsel würde die Kontrolle über
meinen Körper verlieren, würde das Gel mich vor Verletzungen schützen.
Guten
Abend, Alex!
Bitte wähle deine gewünschte
Immersionsumgebung.
Der
Text wurde von einer weiblichen Stimme gelesen. Bei der Immersionsumgebung hatte
ich keine große Auswahl. Es gab nur die Testwelt Infinitum von der Größe des Mondes, die erstellt worden war, um die
Fähigkeiten der Kapsel zu demonstrieren, oder das riesige Disgardium, das in allen Kapseln vom Werk vorinstalliert war.
Ich
wählte Disgardium. Einige
Systemprotokolle liefen vor meinen Augen ab.
Biologisches
Alter bestätigt.
Zugang zu Disgardium gestattet.
Bildungsministerium wird
benachrichtigt ... Abgeschlossen ... Status bestätigt.
Erstes
Immersionserlebnis wird eingeleitet!
Körper wird gescannt ...
Abgeschlossen ... Aussehen des Charakters wird generiert.
Genehmigter Welttyp: Sandbox
Empfohlener Ort: Tristad
Leider
würde ich bis zu meinem 16. Geburtstag auf eine Sandbox beschränkt sein. Es
handelte sich dabei um private Orte, die nur minderjährige Spieler besuchen
durften. Erwachsene aus der vollen Version waren dort nicht erlaubt, die
Inhalte waren ausschließlich altersgerecht.
Um
mich herum sah ich viele majestätische Städte und verlassene Dörfer, epische
Kämpfe und schauerliche Monster, alle 6 teilweise noch unerforschten
Kontinente, herrliche Gärten, hitzeglühende Wüstenlandschaften, Badeorte und
Häuserblöcke voller verbotener Vergnügungen, eine Milliarde aktive Spieler und
ebenso viele NPCs, ganz zu schweigen von den Nichtbürger-Arbeitern ...
Willkommen
in Disgardium, Alex!
Willkommen in einer Welt, in
der Dutzende von nichtmenschlichen Völkern harmonisch zusammenleben. Eine Welt,
in der Schwerter und Magie herrschen! Eine Welt, in der jeder die Möglichkeit
hat, eines Tages ein König oder ein Held zu werden! Eine Welt, in der du leben
willst! Eine Welt, in der das Schicksal ...
Ich
unterbrach die Einleitung nicht, sondern kostete das gewaltige Ausmaß und die
brillanten Farben dieser Welt aus, die mir noch vor Kurzem verschlossen gewesen
war. Von diesem Augenblick hatte ich lange geträumt.
Die
Einleitung endete und ich war für einen Moment von Dunkelheit umgeben. Dann
fand ich mich plötzlich in einem Raum voller Leute wieder. Es waren Jungen und
Mädchen, die identische Kleidung aus Leinen trugen und sich erstaunt umsahen.
Ich war überwältigt und konnte meine Freude nicht verstecken. Alles sah so echt
aus! Der Holzboden unter unseren Füßen knarrte, an der hohen Decke waren
Dachsparren zu sehen und das Licht, das durch die Fenster kam, bewegte sich an
den Wänden entlang und ließ uns Schatten werfen. Ich konnte Baumharz riechen.
Staub tanzte in den Sonnenstrahlen. Das Leinenhemd saß locker, und als ich es
berührte, konnte ich meine Rippen durch den Stoff fühlen. Unglaublich!
„Aua!”,
kreischte ein Mädchen mit langem, schwarzem Haar. „Wer hat mich gekniffen?”
Alle
lachten. Das Mädchen nieste und löste damit erneut Gelächter aus.
„Herzlichen
Glückwunsch zum Geburtstag!”, rief ich.
„Herzlichen
Glückwunsch zum Geburtstag!”, schallte es aus allen Richtungen zurück. Wir
waren alle 14 geworden, soviel war klar, denn niemand würde seine erste
Kostprobe von Disgardium
hinausschieben.
„He,
Moment mal! Sollten wir nicht unsere Namen sehen können?”
„Wir
haben doch noch keine Charaktere generiert, Dummkopf!”
In
unserer fieberhaften Aufregung bemerkten wir nicht, dass sich die Tür geöffnet
hatte.
„Willkommen,
neue Besucher von Tristad!”, erklang eine sonore, männliche Stimme.
Als
wir uns umdrehten, sahen wir im Türrahmen einen seriösen Mann mit grauen
Locken, der ein Lächeln hinter seinem Schnurbart versteckte. Über ihm schwebten
die Worte:
Peter
Whiteacre, Level 30
Bürgermeister der Stadt
Tristad
„Es
ist mir ein Vergnügen, euch in der freien Stadt Tristad willkommen zu heißen.
Hier hat jeder einen Platz, egal ob Held oder Krieger, Barde oder Weiser, Jäger
oder Magier, Druide oder gewöhnlicher Arbeiter im Steinbruch ...” Der
Bürgermeister listete noch weitere Klassen und Berufe auf. Dann ging er durch
die Liste der Völker, die in der Staatengemeinschaft lebten. „Und wir freuen
uns ebenso, Menschen, Elfen, Gnome ...”
Ich
war fasziniert. Die Informationen online zu lesen, war eine Sache – endlich ein
Teil dieser Welt zu werden, eine ganz andere. Der Bürgermeister gab uns einen
kurzen Überblick über die Situation, in der sich die Welt befand. Die Völker
der Staatengemeinschaft befanden sich im Krieg mit Horden von Orks und
barbarischen, nichtmenschlichen Stämmen. Außerdem mussten sie Raids aus dem
Nether und sinnlose Angriffe der Plünderer abwehren und sich den dunklen
Bruderschaften, den Schlafenden Göttern und dem Bund der Goblins
entgegenstellen.
In
dieser Welt ging vieles vor sich und es war möglich, dass einige von uns in der
Staatengemeinschaft bleiben würden, nachdem wir in die Welt der Erwachsenen
übergewechselt waren, während andere sicher die Gelegenheit nutzen und ihren
Charakter in eine andere Fraktion wechseln lassen würden.
„Sicher
seid ihr alle erschöpft von der langen Reise”, sagte Whiteacre schließlich.
„Nachdem ihr eure Registrierung beim Schreiber Carlson abgeschlossen habt,
beantworte ich alle weiteren Fragen. Wenn ihr keine Fragen habt, geht in die
Stadt und seht euch um, macht euch mit den Einwohnern bekannt und bringt
Tristad Glück.”
Wir
gingen zum Registrierungsschalter, an dem ein rundlicher, rotwangiger Schreiber
saß. Ich stellte mich hinten in der Schlange an.
„Füllt
diese Ankunftsformulare aus”, sagte Carlson und teilte die Formblätter aus.
Das
Blatt Papier entfaltete sich zu einem Charakterregistrierungsformular, sobald
man es in der Hand hielt. In der Sandbox konnte man nur eine Person spielen,
darum wunderte ich mich, warum Whiteacre alle Völker der Staatengemeinschaft
aufgezählt hatte. Eine Klasse konnten wir erst auf Level 10 wählen, daher
konnten wir vorerst nur unseren Namen ausfüllen und Attributpunkte zuweisen.
Es
gab einen Namen, den ich mir schon lange ausgesucht hatte. Er war in den
Geschichten aus der Antike vorgekommen, die mein Vater mir immer vor dem
Einschlafen vorgelesen hatte.
Name:
Skyth
Bestätigt
Ich
hätte sagen können, dass er keine Bedeutung hatte, doch das stimmte nicht. Ich
hoffte, dass ich diesem Namen gerecht werden konnte.
Skythe,
du hast 15 Hauptattributpunkte!
Deine Attribute werden dein
Leben in Disgardium in vielerlei Hinsicht bestimmen, von deiner Kampfstrategie
bis hin zu der Art und Weise, wie andere dich wahrnehmen.
Nimm dir Zeit und denke
sorgfältig darüber nach. Deine Attribute können nicht zurückgesetzt werden!
In
der Schule hatte ich gehört, dass man mindestens eine 10 in jedem Attribut
brauchte, egal welche Klasse man wählte. Stärke, damit ich schwere Lasten
tragen konnte. Beweglichkeit und Wahrnehmung, um meine Ziele nicht zu verfehlen
und kritische Treffer landen konnte. Intelligenz bestimmte die Manaregeneration,
und Mana brauchte man, um besondere Angriffe auszuführen, selbst als Krieger.
Mit niedrigem Charisma würde ich keine guten Quest und Rabatte von Händlern
erhalten. Glück hingegen hatte im Allgemeinen keinen großen Einfluss.
Nachdem
ich kurz überlegt hatte, verteilte ich auf jedes Attribut 2 Punkte und wies den
übrigen Punkt Ausdauer zu, ohne groß zu überlegen.
Skyth,
Level 1, Mensch
Realer Name: Alex Sheppard
Reales Alter: 14
Klasse: Nicht gewählt
Hauptattribute:
Stärke: 2
Wahrnehmung: 2
Ausdauer: 3
Charisma: 2
Intelligenz: 2
Beweglichkeit: 2
Glück: 2
Als
ich fertig war, reichte ich dem Schreiber mein Formular. Er überflog es,
schnaubte, lächelte gequält und verkündete mit übertriebener Begeisterung:
”Willkommen in Tristad, Skyth!”
Als
ich hinaustrat, hielt ich auf der Treppe an, blickte verträumt die Hauptstraße
hinunter und lächelte.
Disgardium, begrüße deinen neuen
Helden!
Kapitel 2: Eineinhalb Jahre
später
ES
WAREN NUR noch 5 Minuten bis zum Ende der Stunde und die Schüler wurden unruhig.
„Es
hat noch nicht geklingelt”, bemerkte unser Geschichtslehrer Greg Kovacs streng.
„Bleibt sitzen! Edward, setz dich sofort wieder hin!”
Ed
Rodriguez, der Anführer des Clans der Dementoren, zog seinen Tisch am Boden
entlang, doch er setzte sich wieder hin. Moderne Geschichte war unsere letzte
Stunde, und er konnte es nicht erwarten, Disgardium
wieder zu betreten.
„Ich
bin noch nicht fertig”, sagte Herr Kovacs missbilligend. „Die Stunde wird um 2
Minuten verlängert! Ihr wisst, wem ihr das zu verdanken habt.”
Tissa,
das blonde Mädchen, das hinter Ed saß, stieß etwas aus, das wie „Mist!” klang.
Sie war Mitglied in Eds Clan. Scheinbar hatten sie für heute einen Raid
geplant.
„Machen
wir 3 Minuten daraus, Melissa Schäfer”, berichtigte der Lehrer sich locker. Er
fuhr mit seinem Vortrag fort: „Nach dem globalen Zusammenbruch des
Bankensystems ...”
Tissa
rollte mit den Augen und seufzte laut mit zusammengepressten Lippen. Ed drehte
sich um und gab ihr einen Luftkuss, woraufhin Tissa ihm den Stinkefinger
zeigte.
„...
der UN”, sagte Herr Kovacs, während er den Namen an die Tafel schrieb und ihn
unterstrich. „Das führte zur Entstehung der Weltweiten Bank und der globalen
Währungsunion. Wer kann mir sagen, wie die neue Währung hieß?”
„Phönix”,
antwortete die ganze Klasse.
„Genau”,
nickte Herr Kovacs. „Und wer weiß, wie ein Phönix aussieht?”
Allgemeines
Schweigen. Es war besser, Herrn Kovacs zu antworten, sonst würden wir
vielleicht noch eine halbe Stunde hier sitzen.
„Der
Phönix ist ein mythischer Vogel, der sich selbst verbrennen kann und dann aus
seiner Asche wiederaufersteht”, sagte ich. „Der Phönix-Mythos wurde zum ersten
Mal von Herodot schriftlich erwähnt.”
„So
sehr ich deine Kenntnisse der antiken Mythologie auch schätze, Alex, ich habe
die Währung gemeint. Der Phönix hat keine materielle Form. Er ist eine digitale
Währung, unabhängig von wirtschaftlichen und politischen Bedingungen. Im
gleichen Jahr fand eine weitere wichtige Veränderung in der Gesellschaft statt
...”
Herr
Kovacs war zu dem vorgeschriebenen Staatsbürgerschaftstest übergegangen, den
wir bald würden ablegen müssen. Er erwähnte kurz die bemitleidenswerte Existenz
der Nicht-Bürger, die Tatsache, dass sie die Bürger zahlenmäßig übertrafen und
dass sie massenweise starben, von der Gesellschaft im Stich gelassen und
vergessen. Am Ende hörte niemand mehr zu. Wir trommelten auf unsere Tische und
zählten laut die letzten Sekunden der zusätzlichen 3 Minuten herunter.
„3!
2! 1!”
Die
Stimme unseres Lehrers, der die Hausaufgaben und den Termin des bevorstehenden
Tests verkündete, ging im Lärm zurückgeschobener Stühle unter. Die Dementoren
liefen als erste aus der Klasse, allen voran Ed. Sie nahmen Disgardium sehr ernst, weil sie ihre
Zukunft in der virtuellen Welt sahen. Der Entwickler Snowstorm Inc. war das erste
Unternehmen gewesen, das Leute fürs Spielen bezahlte. Seither war Disgardium zum am häufigsten gespielten
Spiel auf der Erde geworden, das Spielern ermöglichte, vollständig einzutauchen.
Es hatte sogar eine Zertifizierung von den Vereinten Nationen erhalten. Nun
verbrachten Nicht-Bürger und unterqualifizierte Bürger ihre Tage damit, dort
ihr Geld zu verdienen. Für viele war es der einzige Weg, ihr Schicksal zu
verbessern.
Doch
nicht für mich. Eineinhalb Jahre waren vergangen, seit ich Dis zum ersten Mal geladen hatte. Damals hatte ich gedacht, sehr
schlau zu sein, als ich allen Attributen die gleiche Punktzahl zugewiesen
hatte. Das war jedoch ein großer Irrtum gewesen, denn ich hatte einen Charakter
erhalten, der miesen Schaden und schlechte Zielgenauigkeit hatte. Ich konnte
kaum überleben. Ich hatte zwar vor meiner ersten Spielsession ein paar
Anleitungen gelesen, doch leider hatte ich mich nicht genügend über die
Erstellung eines neuen Charakters informiert. Ich wusste, dass ich durch jedes
Level 5 Attributpunkte erhalten würde, darum hatte ich gedacht, dass ich es
schnell würde in Ordnung bringen können, falls etwas schiefgehen würde. Ein
paar Levels aufzusteigen, hatte sich einfach angehört.
Wie
sich jedoch herausstellte, war es schwieriger, als ich gedacht hatte. Bots
hatten keine Eile, mir Quests zu geben, und Mobs zu farmen entpuppte sich als
mühsam und schwierig. Level-1-Ratten waren schwer zu töten und erledigten mich
bei jedem Versuch mit einigen Bissen. Ich musste etwa 10 Treffer landen und
dabei ständig schwingen, um eine einzige Ratte zur Strecke zu bringen – und es
gelang mir nur, wenn jemand die Ratte für mich festhielt.
Als
ich mich einer Gruppe von Anfängern angeschlossen hatte, verdiente ich noch
weniger Erfahrung. Meine Begeisterung verflog schnell. Meine Reaktion war nicht
ungewöhnlich. Einige Spieler hörten einfach auf zu spielen, andere wählten
soziale Quests.
Doch
auf diese Weise zu leveln, war außerordentlich langweilig und dauerte ewig. Für
nur 1 Erfahrungspunkt musste man einige Stunden gemeinnützige Arbeit leisten,
wie zum Beispiel Ställe ausmisten oder Unkraut jäten. Ein halbes Jahr im Spiel
verbringen, um einige Levels aufzusteigen? Oh Mann!
Eines
Tages stieg ich aus dem Spiel aus, nur um am nächsten Tag, motiviert durch den
Erfolg von ein paar Klassenkameraden, mit neuen Hoffnungen und Plänen wieder
einzusteigen. Doch je länger ich spielte, desto enttäuschter wurde ich.
Am
Anfang konnte ich keine Ausrüstung, Rüstung oder Waffen bekommen. Das schwächste
Messer im Waffenladen kostete einige Silbermünzen und ich hätte 50 soziale
Quests abschließen müssen, um nur 1 Silbermünze zu verdienen. Ratten mit bloßen
Händen zu erledigen, war unmöglich. Die Dinger waren so groß, dass sie einen
Rottweiler aus dem wirklichen Leben würden ausschalten können! Selbst wenn es
mir gelungen wäre, 1 Ratte zu töten, hätte ich nur 1 oder höchstens 2
Erfahrungspunkte verdient. Schließlich konnte ich es nicht mehr ertragen. Nach
mehreren Wochen, in denen ich alles Mögliche probiert hatte, um zu leveln, war
mein Lebensbalken erst 5 Prozent gefüllt. Ich hatte noch nicht mal Level 2
erreicht.
Aus
irgendeinem Grund, den nur die Entwickler kannten, war es nicht möglich, in
Sandboxen einen Charakter zu löschen und einen ganz neuen zu erstellen.
Vielleicht sollten wir dadurch lernen, Verantwortung für unsere Entscheidungen
zu übernehmen.
Damals
wie heute wollte ich auf keinen Fall reales Geld im Spiel ausgeben. Ich wusste,
wie knapp das Geld bei meinen Eltern war. Eine Grundausrüstung würde zwar kein
Vermögen kosten, doch bis ich die Möglichkeit in Erwägung gezogen hatte, hatte Dis seinen Reiz für mich verloren.
Sicher,
zuerst hatte es Spaß gemacht, die völlig neue Welt mit ihrer eigenen
Geographie, Geschichte, ihren eigenen Gesetzen, Regeln und Völkern zu erkunden.
Sie hatte sogar ihre eigene Physik, denn Magie und Teleportation waren möglich.
Doch das hatte mich nur in den ersten paar Tagen wirklich fasziniert. Nach dem
tödlichen Biss einer riesigen Spinne immer wieder Unkraut jäten oder respawnen
müssen? Nein, danke.
Außerdem
sehnte ich mich nach dem Weltraum. Auf dem Mars wurden die ersten Siedlungen
errichtet und ich dachte, eine reale neue Welt zu erforschen, würde viel
interessanter sein, als eine virtuelle zu erkunden. Gierig verschlang ich
alles, was ich über Expeditionen in den Weltraum finden konnte, informierte
mich über die Zulassungsvoraussetzungen von Universitäten und bereitete mich
auf Prüfungen vor. Meine Eltern unterstützten meine Ambitionen und hatten etwas
Geld für mein Studium zur Seite gelegt.
Doch
zusätzlich musste ich auch Dis
spielen. Jeden Tag. Ab 14 mussten alle mindestens 1 Stunde pro Tag im Spiel
verbringen. Snowstorm Inc. hatte seine Finger überall im
UN-Bildungsministerium. Man war der Meinung, es wäre ein wichtiger Teil der
Erziehung eines Kindes, die nötigen sozialen Fähigkeiten zu vermitteln und uns
auf das Leben als Erwachsene vorzubereiten –entweder in der realen Welt oder in
Disgardium.
Im
Spiel glich ein Tag dem anderen. Gewöhnlich verbrachte ich die Stunde damit,
auf einer Bank gegenüber des Gasthauses „Der sprudelnde Krug” zu sitzen.
Nachdem ich das Spiel betreten hatte, gesellte sich meine Nachbarin Eve
O‘Sullivan immer zu mir. Sie konnte keinerlei Schmerzen aushalten, daher fand
sie das Spiel auch nicht so toll und vertrieb sich die Zeit damit, neben mir zu
sitzen. Je früher wir unsere Staatsbürgerschaftstests würden ablegen können,
desto besser. Dann würde ich diese lästige Anforderung hinter mir haben.
Mit
diesem Gedanken verließ ich eilig die Schule. Unser Parkplatz hatte eine
begrenzte Anzahl öffentlicher fliegender Autos und wenn ich nicht sofort eins
erwischen würde, würde ich warten müssen, bis eins zurückkäme.
Doch
genau das passierte. Oder, genauer gesagt, eines der letzten hatte noch einen
leeren Platz, aber ich wollte eins für mich haben, sodass ich es manuell fahren
konnte.
Der
Schulparkplatz befand sich auf dem Dach neben den vielen Solarpanels. Dort saß
Eve. Sie wartete immer auf mich, sodass wir zusammen nach Hause fliegen
konnten. Das Geschäft ihres Vaters war inzwischen sehr erfolgreich, doch sie
wohnten immer noch in unserer Wohnanlage.
„Alex!”
Eves Gesicht leuchtete auf. Ich hatte den Verdacht, dass sie mich mochte, aber
das bedeutete mir nichts. Sie war nett, aber nicht mein Geschmack. Außerdem
achtete sie nicht auf ihre Figur, sondern aß viel mehr Schokoladenriegel, als vom
Gesundheitsministerium empfohlen.
„Wie
war dein Tag?”
„Wie
immer, Eve. Eine Doppelstunde Ethik der modernen Gesellschaft, eine in Programmieren
von Hausrobotertechnik und eine in Moderner Geschichte. Gähn!”
„Ich
weiß nicht, wozu Geschichte gut sein soll!”, rief Eve aus. Dann sprach sie mit
veränderter Stimme und versuchte, die unverwechselbare Sprechweise von Herrn
Kovacs nachzuahmen. „Der letzte Präsident der Vereinigten Staaten ...”
„Genau”,
erwiderte ich.
Eve
war abgelenkt und wurde nachdenklich. Ich warf meinen Rucksack auf den Boden
und setzte mich neben sie. Alle fliegenden Autos waren weg, wir würden
mindestens 10 Minuten warten müssen. In dem Moment schoss eine teerhaltige
Säule beißenden Bitumens vom Asphalt der Startrampe hoch in die Luft.
„Wieder
dieses blöde Dis”, seufzte Eve. „Wann
spielst du heute? Wie gewöhnlich nach dem Essen?”
„Mhm.
Je schneller ich anfange, desto schneller kann ich aufhören und tun, was ich
will.”
„Was
würdest du denn lieber machen?”, fragte Eve und betonte dabei das Wort
„lieber”. Sie versuchte sogar einen verführerischen Ton, zog das Wort hinaus
und zwinkerte.
Oh
nein! Flirten war nicht ihre starke Seite. Wo hatte sie das bloß gesehen?
Trotzdem war ich überrascht.
„Wahrscheinlich
nicht das, was du gemeint hast”, antwortete ich grinsend. Ich wollte sie nicht
beleidigen. Sie war großartig, wir kannten uns, seit wir Kinder waren. „Ich
will mir etwas über die Leman-Expedition zum Mars ansehen.”
„Aha.
Ich dachte ... Vielleicht hättest du Lust, ...”
„Was?”
Ich hatte nicht vor, sie in Verlegenheit zu bringen, aber es war besser, diese
Sache zu beenden, bevor Eve sich unbegründete Hoffnungen machen würde.
„Vielleicht
... Vielleicht könnten wir es uns zusammen ansehen?”, platzte sie heraus.
„Sorry,
heute nicht. Meine Eltern arbeiten an einem neuen Projekt. Ich möchte nicht,
dass sie durch uns abgelenkt werden.”
Ich
sagte taktisch „uns”, aber ich meinte nur sie. Mein Vater und meine Mutter
hatten endlich einen einfachen Auftrag erhalten, doch der Kunde war pingelig,
daher war es das Beste, sie so wenig wie möglich zu stören. In der letzten Zeit
war das Geld bei uns knapp gewesen.
Mein
Vater hatte den Verdacht, dass meine Mutter eine Affäre hätte, sodass er mehr
und mehr trank, und wenn er betrunken war, wurde er paranoid, misstrauisch und
aggressiv. Das gefiel meiner Mutter natürlich nicht. Dann verließ sie heimlich
das Haus und kam erst am frühen Morgen zurück. Ich war sicher, dass sie einen
Freund hatte.
Ihre
ständigen Streitereien vermiesten mir die Stimmung so sehr, dass ich oft keine
Lust hatte, meine Hausaufgaben zu machen. Das war ein Problem, denn um die Zulassung
zu einer Universität zu bekommen, brauchte ich einen hohen Durchschnitt.
„Wir
könnten es uns bei mir ansehen.” Eve gab nicht nach.
„Lass
uns später darüber reden”, entgegnete ich in der Hoffnung, dass sie nicht mehr
darauf zurückkommen würde.
Die
ersten fliegenden Autos kamen zum Parkplatz zurück. Wir stiegen in eins ein und
Eve fragte: „Fliegst du oder der Computer?”
„Ich”.
Ich wechselte die Steuerung zu „manuell” und ließ das Fahrzeug abheben. Fliegen
... es gab nichts Besseres! Außer den Sternen natürlich.
Vorbestellung: https://www.amazon.de/dp/B07XP7K1Q6
Veröffentlichung am 3. Januar 2020
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