Kräutersammler der Finsternis Buch 2
Hart am Wind
von Michael Atamanov
Vorbestellung: Amazon, Google Play, iTunes, Kobo
Veröffentlichung am 10. März 2019
1.
Der Schluss einer langen Geschichte
„GIB ES ZU, AMRA. Die lange Suche ist umsonst
gewesen. Es gibt keine Spur von ihnen!”, sagte die zarte Waldnymphe. In ihrem
dünnen Kleid saß sie auf dem Stamm eines umgestürzten Baums und gähnte herzhaft,
sodass ihre scharfen, raubtierhaften Zähne sichtbar wurden.
Meine Schwester hatte die ganze Nacht
kein Auge zugetan und war offensichtlich völlig übermüdet. Und der Grund, warum
sie in dieser Herrgottsfrühe wach war, waren nicht das Licht oder die
Morgendämmerung, sondern ich. Valeria hatte ihre Missbilligung deutlich zum
Ausdruck gebracht und sich für einige Zeit geweigert, ins Spiel zu kommen, doch
die Gefahr, dass einige der vielen Mörder, die hinter mir her waren, beim
Verfluchten Haus auftauchen könnten, war sehr real, darum hatte Val sich
schließlich entschuldigt und eingewilligt, mit dem Rest unserer Gruppe weiterzuspielen.
Max Sochnier, den ich auf seinem Handy
angerufen hatte, hatte versprochen, so schnell wie möglich zur Arbeit zu kommen
und uns in der Nähe von Steinhang zu treffen. Auch Leon hatte mich nach kurzem
Überlegen gebeten, nicht ohne ihn zu gehen. Ich verstand genau, wie schwierig
diese Entscheidung für den früheren Bauarbeiter gewesen sein musste. Auf der
einen Seite war da das halb zerstörte Dorf Tysh, wo es für seinen Charakter,
einen Oger-Festungsbaumeister, genug Arbeit gab, um ihn für einen vollen Monat
zu beschäftigen. Er würde regelmäßig Missionen erhalten, könnte Erfahrung
sammeln und seine Levels erhöhen. Auf der anderen Seite hatten wir ihn gebeten,
sich unserer Gruppe anzuschließen. Das würde bedeuten, vor gedungenen Mördern
zu fliehen, ständig in Gefahr zu sein und sich verstecken zu müssen. Leon hatte
sich entschieden, bei seinen Freunden zu bleiben, was ich ihm hoch anrechnete.
Mittlerweile musste er das Gebäude des Unternehmens von Reich ohne Grenzen bereits erreicht haben und würde das Spiel jeden
Augenblick betreten. Danach würden wir alle um unser Leben rennen müssen, bis
wir Steinhang erreicht hatten.
Mit dem lahmenden Akella an ihrer Seite
kam Taisha zu mir herüber. Sie hatte sich eng in meinen Mantel eingehüllt. Als
Antwort auf meinen fragenden Blick sah die wunderschöne, grünhäutige Goblinfrau
zu Boden und schüttelte den Kopf.
„Ich konnte nichts herausfinden. Ich bin
um die Palisade von Steinhang herumgegangen und habe die Tore einige Male überprüft,
doch die Frau war nirgends zu sehen. Außerdem habe ich mir die Spuren noch
einmal angesehen, die die Landarbeiter hinterlassen haben. Keine davon gehörte
zu ihr. Die Flüchtige muss das Dorf vor einigen Tagen verlassen haben. Ich habe
Tamina Grimmigs Kinder noch einmal auf Lobo und Wolfsblut losgeschickt, um auf
der Straße von Steinhang nach Tysh in entgegengesetzter Richtung Ausschau nach
ihr zu halten, doch die Chancen, sie zu finden, stehen schlecht. Wir haben dort
schon ein paarmal nachgesehen ...”
Ich schlug nach einer lästigen Level-4-Fliege,
die um meinen Kopf herumschwirrte. Unser Najadenhändler hatte nicht übertrieben.
In der Nähe des Flusses gab es Fliegen, die so groß wie eine Faust waren.
Erschöpft setzte ich mich neben meine Schwester auf den umgestürzten Baumstamm.
Taisha fand einen Platz neben mir.
Es war kurz vor Tagesanbruch. Im Osten
verfärbte sich der Himmel langsam rosa, doch heute musste ich den Sonnenaufgang
nicht fürchten, denn ich konnte bereits viele dicke Regenwolken sehen, die wie
dunkle, zerrissene Lumpen am Himmel aufzogen. Es würde wahrscheinlich jeden
Augenblick anfangen zu regnen und dann würde unsere Suche nach der
dunkelhaarigen, jungen Frau zwecklos werden. Der Regen würde alle verbliebenen
Fußspuren fortspülen und die Wölfe des grauen Rudels würden ihre Fährte nicht
mehr aufnehmen können. Ich musste befürchten, die seltene Quest „Die Vergangenheit
des grauen Rudels” nicht abschließen zu können. Dabei hatte ich große Pläne,
die alle vom Abschluss der Mission abhingen, denn als Belohnung würde ich die
Fähigkeit erhalten, dem grauen Rudel wilde, schnellfüßige Wargs hinzuzufügen.
Das war sehr verlockend!
Ich seufzte schwer, als ich den bunten
Haarreif, den ich in der Höhle der Wargs gefunden hatte, aus meinem Inventar
nahm und ihn in den Händen drehte. Es war ein ganz gewöhnlicher Haarreif, den
Mädchen und Frauen trugen, um ihr Haar zurückzuhalten, doch als ich ihn
gefunden hatte, war die nächste Mission in der Kettenquest des grauen Rudels
ausgelöst worden. Wir konnten uns diese Mission nicht entgehen lassen, die
flüchtige Frau durfte uns nicht entkommen! Ich hoffte inständig, dass wir noch
eine Chance hatten. Wenn nicht, wäre die ganze Kettenquest vermasselt und das wäre
eine Katastrophe. Ärgerlich schlug ich mir mit der flachen Hand gegen die Stirn
und zerquetschte dabei eine unverschämte Fliege, die dort gelandet war.
Zugefügter
Schaden: 18 (Schlag)
Erhaltene
Erfahrung: 4 EP
Erhaltener
Gegenstand: Tote Fliege (Köder)
Dein
Charakter besitzt nicht die notwendige Fertigkeit, um diesen Gegenstand zu
benutzen.
Erforderliche
Fertigkeit: Fischen (Wah, Bew), Level 3
Ich schnippte die Fliege weg, denn sie
war nutzlos für mich. Dann rief ich wütend aus: „Eine schwangere Frau löst sich
nicht einfach in Luft auf, besonders wenn sie ihre Nichte und ihren Neffen bei
sich hat! Es muss einen Grund geben, warum sie plötzlich geflohen ist, nachdem
sie sich so lange in Steinhang aufgehalten hat. Es muss anstrengend für sie
sein, lange Strecken zu laufen! Verdammt noch mal, diese Fliegen machen mich
verrückt!”
Tatsächlich war ein ganzer Schwarm
summender Insekten aufgetaucht, nachdem ich die Fliege getötet hatte, und
kreiste nun mit bösartigem Surren über unseren Köpfen. Valerianna Schnellfuß
schüttelte kurz ihre rechte Faust und ihre Hornissengefährten flogen los, um
uns zu helfen. In wenigen Sekunden hatten sie den lästigen Blutsaugern den
Garaus gemacht.
Als Taisha die gefährlichen,
riesengroßen Hornissen gesehen hatte, hatte sie sich niedergekauert und ihren
Kopf mit dem Mantel bedeckt, doch ich pfiff anerkennend. Es waren mindestens 10
schwarze, braungelbe und orangerote Hornissen, von denen einige bereits Level
16 erreicht hatten. Wenn sie auf Level 20 waren, konnte die Bestienmeisterin
nützliche Zusatzfähigkeiten für sie wählen.
Wie ich meine Schwester kannte, hatte
Valerianna Schnellfuß sich bereits einen detaillierten Plan zur Entwicklung
ihrer Tierbegleiter überlegt und alle Stärken und Schwächen in Betracht
gezogen. Angesichts der verschiedenen Hornissenarten war klar, dass die
Waldnymphe ihren Schwarm nicht wahllos zusammengestellt hatte. Meine Schwester
fühlte sich durch die Aufmerksamkeit, die die verschiedenfarbigen Schönheiten
erregten, offenbar geschmeichelt. Kurz darauf schickte sie ihre fliegenden
Tiergefährten fort und setzte zu einer Antwort an.
„Es ist nicht schwer, zu erraten, warum die
Frau weggelaufen ist. In den letzten Tagen sind 11 ihrer Freunde getötet
worden. Wahrscheinlich wusste sie, dass sie Wargs waren. Sie selbst ist
vielleicht kein Warg, doch sie hatte trotzdem Angst um ihr Leben. Wir könnten
uns aber auch irren, Tim. Vielleicht hat die junge Frau überhaupt nichts mit
der ganzen Sache zu tun. Vielleicht war es nur ein Zufall, dass sie den
Bauernhof zur gleichen Zeit verlassen hat. Wie dem auch sei, wir sollten so
schnell wie möglich eine Entscheidung treffen. Wir können uns nicht viel länger
in der Nähe von Steinhang aufhalten. Wenn die Sonne aufgeht, machen sich die
Mörder wieder auf den Weg, um dich zu finden. Meiner Meinung nach sollten wir
die Suche abbrechen und diese Gegend schleunigst verlassen.”
Plötzlich verstummte Valerianna und
wurde nervös, als sie einen barfüßigen, grauhaarigen, alten Mann entdeckte, der
mit einer dunklen Chlamys bekleidet war und aus dem Dorf auf uns zukam. Einen
Augenblick später atmete sie jedoch erleichtert auf. Offenbar kannte sie diesen
alten Mann und er stellte keine Bedrohung für uns dar. Schnell las ich mir
seine Informationen durch.
Umar
Knochenrichter
Menschlicher
Level-45-Hexendoktor
Es musste sich um den Doktor aus
Steinhang handeln, den die Waldnymphe an unserem zweiten Tag im Spiel getroffen
hatte. Sie hatte mir mehrmals von ihm erzählt. Der grauhaarige Mann nickte
meiner Schwester kurz zu, als würde er eine alte Freundin begrüßen, und hielt dann
neben mir an. Er betrachtete mich von Kopf bis Fuß, bevor er gutmütig lachte.
„Du musst der segelohrige
Goblin-Kräutersammler sein, der in das Verfluchte Haus eingezogen ist. Ich
warte schon seit einiger Zeit auf deine Pflanzenlieferungen! Du bist spät
dran.”
Wenn der alte Mann gedacht hatte, er
könnte mich mit seinen Worten in Verlegenheit bringen, hatte er sich getäuscht.
Es war das erste Mal, dass ich ihn traf, und ich war nicht verpflichtet, ihm
Pflanzen zu verkaufen, darum fühlte ich mich kein bisschen schuldig. Außerdem
hatte ich noch nicht einmal genug Pflanzen für mich selbst, um meine Fertigkeit
Alchemie zu praktizieren. Der Hexendoktor würde also einen Fehler machen, wenn
er sich auf mich verließ.
Aber er wartete nicht einmal auf meine
Antwort, sondern lenkte seine Aufmerksamkeit auf Taisha. Meine Gefährtin wurde
unter seinem strengen Blick verlegen, senkte den Kopf und wickelte sich noch
fester in den Mantel, um ihre dünne Diebeskleidung zu verhüllen, die immer noch
an mehreren Stellen Brandlöcher aufwies.
„Zu meiner Zeit hätten sich die Frauen
geschämt, so herumzulaufen”, sagte der alte Mann vorwurfsvoll und schüttelte
den Kopf. „Du hast Erlaubnis, das Dorf zu betreten. Die Wachen am Tor kennen
dich und werden dich durchlassen. Das zweite Haus auf der rechten Seite gehört
mir. Im Regal beim Eingang findest du Nadel und Faden, um deine armselige
Kleidung zu flicken.”
Taisha drehte sich zu mir. Nachdem ich
zustimmend genickt hatte, sprang sie auf und machte sich auf den Weg zum Dorf. Gleich
darauf ließ sich der alte Hexendoktor stöhnend neben mir auf dem Baumstamm nieder.
Er beugte sich hinunter und kraulte Pirat hinter dem Ohr. Er hatte nicht die
geringste Angst vor dem Level-17-Waldwolf, der zu Valerianna Schnellfuß‘ Füßen
döste. Die mangelnde Vorsicht des Hexendoktors erstaunte mich. Der Tiergefährte
meiner Schwester war schließlich ein wildes Raubtier und der alte Mann konnte
nicht wissen, wie der Wolf reagieren würde, wenn er berührt wurde. Pirat zuckte
jedoch nur schläfrig mit dem Ohr, als ob er eine Fliege verscheuchen wollte, und
döste weiter. In dem Augenblick erhielt ich eine persönliche Nachricht von
Shrekson.
„Leon
und ich haben gerade das Spiel betreten und sind schon auf dem Weg zu euch. Wir
laufen so schnell wie möglich, aber wir brauchen trotzdem 1 Stunde bis
Steinhang. Wartet auf uns.”
Ich hatte also noch 1 Stunde Zeit, um
die Spur der flüchtigen Frau zu finden. Bis dahin würde auch die Sonne
aufgegangen sein und wir würden uns so weit wie möglich von Steinhang entfernen
müssen. Die Wahrscheinlichkeit, auf einen hochleveligen Feind zu treffen,
erhöhte sich von Minute zu Minute. Außerdem würden die Bewohner des
Menschendorfs bald aufwachen und uns neugierig beobachten, sodass es für die
Wölfe des grauen Rudels unmöglich sein würde, effektiv zu arbeiten.
Als ob er meine Gedanken gelesen hätte,
brummte der Hexendoktor: „Wenn ich es recht bedenke, ist diese ganze
Angelegenheit ziemlich merkwürdig: Eine Gruppe von Goblins mit einem Rudel
Wölfe und einer gefährlichen Mavka kommen zu unserem Menschendorf, kriechen
überall herum und versuchen, etwas oder jemandem auf die Spur zu kommen. Man
könnte misstrauisch werden und eure Absichten infrage stellen. Vielleicht
sollte ich einen Läufer zur Garnison schicken und um mehr Wachen bitten ...”
Alarmiert drehte ich mich zu dem alten
Mann, doch er grinste und konnte kaum ein Lachen zurückhalten.
„Ich mache nur Spaß, Dummkopf”,
versicherte der Hexendoktor mir eilig. „Die Mavka hat mir gestern erzählt, wen
ihr sucht. Du hast noch kein Wort gesagt, Amra, ich wollte nur ein Gespräch
beginnen.”
„Wir suchen Landarbeiterin, die von weit
entferntem Bauernhof weggelaufen. Viele Arbeiter weggelaufen. Bauer versteht
nicht, warum und wohin gelaufen”, erklärte ich, wobei ich meine Sprache
absichtlich verdrehte.
Der alte Mann strahlte, doch er
schüttelte vorwurfvoll den Kopf. „Goblin, du bist ein schlechter Lügner ... Der
habgierige Bauer Kariz würde niemals nach vermissten Arbeitern suchen,
besonders nicht kurz vor Ende der Saison, wenn er Lohn bezahlen muss. Für ihn
ist das Verschwinden der Landarbeiter von Vorteil – es bedeutet, dass er mehr
Münzen in seiner Tasche behalten kann.”
Nachdenklich betrachtete ich den Mann,
dessen faltiges Gesicht von einem langen Leben zeugte. Dann beschloss ich, ihm
die ganze Wahrheit zu erzählen und nichts zu verheimlichen. Ich sprach sogar
ohne meinen verdrehten „Goblinakzent”, damit er mich gut verstehen konnte. Umar
Knochenrichter hörte meiner Geschichte vom Töten der Wargs und der Entdeckung
ihrer Höhle aufmerksam zu, ohne mich zu unterbrechen.
Als ich bei dem Haarreif und meinen
Vermutungen in Bezug auf die flüchtige, dunkelhaarige Frau angelangt war, sagte
der Hexendoktor gedankenverloren: „Die Frau, nach der du suchst, heißt Belle.
Vom ersten Tag an habe ich gewusst, dass sie keine einfache Dorfbewohnerin ist.
Sie ist nicht sehr groß und hat kurzes Haar. Vor 5 Monaten tauchte sie
plötzlich im Dorf auf. Der Bauer Kariz hatte die Gruppe von Landarbeitern im
Frühling eingestellt, um die Saat auszubringen, und bat mich, sie zu
untersuchen. Sie war sehr dünn, erschöpft und sah unwohl aus, als ob sie krank
wäre. Ihr kurzes Haar machte die Leute misstrauisch. Welche Frau würde sich
einfach ihre Zöpfe abschneiden? Es trübte ihre weibliche Schönheit! Der einzige
Grund, den ich mir vorstellen konnte, war Typhus oder eine andere Krankheit.”
Der alte Mann verstummte für eine Weile,
als ob er versuchte, sich zu erinnern. Dann fuhr er merklich leiser fort: „Zu
der Zeit konnte man Belles Bauch noch nicht sehen. Keiner wusste, dass sie ein Kind
erwartete. Doch während der Untersuchung erzählte sie mir die ganze Geschichte.
Sie war vor schwerer körperlicher Arbeit, Streitereien und Demütigungen
geflohen. Am schlimmsten waren die täglichen unerwünschten Annäherungsversuche ihres
früheren Dienstherrn gewesen. Sie konnte nicht einmal einen Spaziergang machen,
ohne von ihm bedrängt zu werden. Die Frau des Dienstherrn hatte ihr die Haare
abgeschnitten, um zu verhindern, dass Belle ihr den Mann wegnahm. Sie tat mir
leid, darum sagte ich Kariz nichts von ihrer Schwangerschaft, sonst hätte er
sie fortgeschickt.”
„Wie hast du erkannt, dass sie
ungewöhnlich war?”, fragte die Waldnymphe. „Für mich hört sie sich an wie ein
typisches malträtiertes Mädchen vom Dorf, dem das Leben schlechte Karten ausgeteilt
hat.”
Auf einmal sah der alte Mann verlegen
aus und hüstelte. Als er fortfuhr, war seine Stimme kaum noch zu hören. „Alle
Frauen bitten den Hexendoktor um Hilfe, wenn es um eine Geburt geht:
Heilelixiere, Kräuter, Schmerzmittel und Ähnliches. Die Rezeptur für eine
Entbindung ist seit Anbeginn der Zeit bekannt, sie ist immer die gleiche.
Zuerst ein Absud aus Wiesenheide, sodass sich der Samen einnistet und sich mit
dem Kopf nach unten dreht, wenn die Zeit gekommen ist. Dann ein Trank aus Wildhonig,
weißer Kamille und Johanniskraut, um der Frau Stärke für die Geburt zu geben.
Frauen müssen viel verkraften, um ein Kind zu gebären, und ich kann alle
Rezepturen zubereiten. Belle hat mich jedoch um völlig andere Dinge gebeten:
Wolfs-Eisenhut, rote Alraune und einen starken Schlaftrunk, der einen
Bergtitanen umgehauen hätte. Ich fragte mich, woher eine arme Dorfbewohnerin
wie sie das Geld für diese teuren Elixiere hatte. Es passte nicht zu ihrer
Geschichte. Ich weiß nicht, warum sie einen Schlaftrunk benötigte, aber
Wolfs-Eisenhut ist nicht nur für seine betäubende Wirkung bekannt, sondern hält
Formwandler auch davon ab, ihre Gestalt zu wechseln. In dem Moment wurde mir
klar, dass etwas nicht stimmte. Ich ließ die junge Frau nicht mehr aus den Augen,
doch ich verriet den Dorfbewohnern trotzdem nichts über Belle, denn sie hat
sich unauffällig benommen. Der Wolfs-Eisenhut musste bedeuten, dass sie sich
selbst bei Vollmond nicht in eine Bestie verwandeln wollte. Die Geburt ihres
Kindes kam jedoch unweigerlich näher und vor den Geburtshelferinnen hätte sie
die Wahrheit nicht verbergen können, darum ist Belle mit ihrer Nichte und ihrem
Neffen geflohen.”
Der alte Mann verfiel in Schweigen und
hatte Tränen in seinen kreideweißen Augen, als er zum Wald hinüberblickte, der
aus dem Nebel auftauchte. Ich fragte den Hexendoktor, wann er die flüchtige
Frau zuletzt gesehen hatte.
Die
Prüfung von Umar Knochenrichters Reaktion dir gegenüber war negativ.
„Hör zu, Winzling”, erwiderte der
Hexendoktor des Dorfs ärgerlich, „wenn du keine Pflanzen für mich sammeln
willst, kannst du auch keine Hilfe von mir erwarten. Für einen jungen Kerl wie
dich ist es ganz einfach. Du kannst dir alles, was du brauchst, im Handumdrehen
besorgen. Aber mit meinen steifen Beinen ist es sehr beschwerlich, durch den
Sumpf zu waten und Brombeeren und Johannisbeeren zu sammeln ...“
Erhaltene Mission: Pflanzen für den Hexendoktor 1/3
Missionskategorie: Klassenbasiert, Training
Beschreibung: Je 5 Bündel Sumpf-Johannisbeeren,
Sumpf-Brombeeren und Sumpf-Zinnkraut für Umar Knochenrichter sammeln.
Belohnung: 160 EP, Fertigkeit Kräuterkunde + 1
Das war also der beste Weg für mich, in
Kräuterkunde zu leveln! Statt nachts durch den gefährlichen Wald zu wandern,
jedes Mal, wenn Büsche raschelten, vor Angst zu zittern, und mich ständig vor der
Begegnung mit einem blutrünstigen Monster zu fürchten, hätte ich einfach zu dem
Hexendoktor gehen und mit Trainingsquests leveln können. Doch wenn mein Goblin
früher in das Menschendorf gegangen wäre, hätte man ihn wegen seines niedrigen
Charismas und der Strafe von – 20 auf Beziehungen zu Menschen höchstwahrscheinlich
sofort zum Respawnen geschickt. Außerdem hätte ich das Dorf nicht während des
Tages besuchen können, und nachts schliefen die Leute, sodass Steinhangs Tore
geschlossen gewesen wären!
Ich sah mir mein Inventar an. Es
enthielt genügend Pflanzen, um die erste Mission des Hexendoktors umgehend
abzuschließen, doch mir fehlten nur noch einige Pflanzen, um mit Kräuterkunde
Level 7 zu erreichen, darum wäre es dumm gewesen, den geschenkten Levelaufstieg
zu verschwenden. Ich hatte noch genug Zeit, bis der Oger und der Najadenmann
eintreffen würden, darum erkundigte ich mich bei dem alten Mann, wie ich den
nächsten Sumpf erreichen könnte, und machte mich dann auf den Weg dorthin. Er
war nicht sehr weit entfernt und die Mission war einfach. Die Pflanzen, um die
er mich gebeten hatte, wuchsen dicht an dicht und 20 Minuten später kam ich mit
meiner Kräuterkunde auf Level 7 wieder zurück.
Umar Knochenrichter saß immer noch auf
dem Baumstamm und unterhielt sich friedlich mit der Waldnymphe. Ich übergab dem
alten Mann schweigend die von ihm gewünschten Pflanzen.
Die Mission „Pflanzen für den Hexendoktor 1/3” ist
abgeschlossen.
Verdiente Belohnung:
160 EP
Du hast mit der
Fertigkeit Kräuterkunde Level 8 erreicht!
„Danke! Wo warst du denn so lange?”,
rief der alte Mann erfreut aus. Er stopfte die Kräuterbündel in seinen schmutzigen,
zerknitterten Sack. „Also gut, ich beantworte deine Frage wie versprochen. Zum
letzten Mal habe ich Belle an dem Tag gesehen, als die Unsterblichen in Scharen
in unser Dorf gekommen sind. Ich glaube, es war um die Mittagszeit, aber ich
kann mich nicht genau entsinnen. Sie war am Bootssteg und holte in Eimern aus
Birkenrinde Wasser vom Fluss.”
Ich hatte das Gefühl, als ob über meinem
Kopf eine Glühbirne aufleuchten würde. Das war es! Der Fluss. Boote. Warum
waren wir nicht eher darauf gekommen?! Ich bemerkte, dass die Waldnymphe mir
einen durchdringenden Blick zuwarf, der mir verriet, dass sie gerade das
Gleiche dachte. Doch kurz darauf erstarrte sie und sah enttäuscht aus. Ich
erhielt eine persönliche Nachricht.
„Irgendwie
stimmt etwas mit dem Zeitablauf nicht. Wenn Umar die Wahrheit gesagt hat, muss
Belle aus Steinhang weggelaufen sein, BEVOR wir die ersten Wargs getötet haben.
Der Tod der Formwandler kann also nicht der Grund für ihre Angst gewesen sein,
denn sie war bereits weg.”
Ich antwortete meiner Schwester
ebenfalls in einer persönlichen Nachricht: „Offenbar
wusste sie nichts vom Tod der 11 Wargs, doch sie ist trotzdem geflohen. Der
Geburtstermin muss kurz bevorgestanden haben und sie befürchtete wohl, entdeckt
zu werden. Vielleicht hat sie das Dorf auch später verlassen und der alte Mann
hat sie einfach einige Tage nicht gesehen. Der Weg auf dem Fluss war die beste
Lösung für sie. Wir haben nicht eine einzige Fußspur an Land gefunden und ein
Boot wäre der einfachste Weg für eine schwangere Frau, aus dem Dorf
herauszukommen.”
„Ist in letzter Zeit ein Boot aus dem
Dorf verschwunden?”, wandte ich mich direkt an Umar Knochenrichter. Er
reagierte abermals mit einem erzürnten Gesichtsausdruck und ich erhielt eine
zweite Quest von dem Hexendoktor, die meine Hauptfertigkeit erforderte.
Erhaltene Mission: Pflanzen für den Hexendoktor 2/3
Missionskategorie: Klassenbasiert, Training
Beschreibung: Je 10 Bündel Berglilien, Gemeine
Stechpalme, Feld-Johanniskraut und Feuermohn für Umar Knochenrichter sammeln.
Belohnung: 320 EP, Fertigkeit Kräuterkunde + 1
Als ich die Beschreibung der Quest las, stockte
ich für einen Moment. Während der letzten Tage im Spiel hatte ich noch keine
dieser Pflanzen gesehen. Genauer gesagt hatte ich außer Feuermohn noch nie eine
dieser Pflanzen gesehen. Natürlich fragte ich den alten Hexendoktor, wo sie zu
finden waren, doch seine Antwort gefiel mir überhaupt nicht.
„Als Goblin solltest du das besser
wissen als ich. Soweit mir bekannt ist, wachsen ganze Felder des Mohns in der
Nähe von Tysh, irgendwo jenseits des Friedhofs der brennenden Skelette.”
Das war viel zu weit entfernt von hier,
selbst wenn ich mit dem grauen Rudel reiten würde. Der Weg nach Tysh und zurück
würde mich zu viel Zeit kosten. Ich dachte kurz nach und beschloss dann, dem
alten Hexendoktor einen anderen Vorschlag zu machen. Es war auf alle Fälle
einen Versuch wert.
„Hör zu, Umar Knochenrichter. Die
Pflanzen, die du haben willst, wachsen zwar nicht direkt vor deiner Haustür, doch
sie kommen recht häufig vor. Sie sind in den umliegenden Wäldern weit
verbreitet, du kannst sie leicht finden oder jemanden schicken, um sie zu
besorgen. Ich möchte dir den wahren Reichtum eines Kräutersammlers anbieten. Im
ersten Stock des Verfluchten Hauses hängen hunderte der seltensten Pflanzen zum
Trocknen an der Decke: Weißlilien, haarige Johannisbeeren, Goblinbeeren,
Wolfs-Eisenhut und bunte Alraunen. Neben der Treppe führt ein Weg in ein
Gewölbe mit einem kleinen, unterirdischen Bach. Dort unten gibt es rote
Stinkpilze, Höhlenmorcheln, schwarzes Moos und viele andere Pflanzen, die du an
der Oberfläche nicht finden kannst. Lass uns ein Geschäft machen: Diese
Reichtümer gehören dir, wenn ich nicht im Regen auf der nassen Straße nach Tysh
gehen muss.”
Ich wusste, dass der Hexendoktor mein
Angebot sehr interessant fand, denn seine Hände zitterten vor Aufregung. Doch
er war immer noch unschlüssig.
„Ich soll zum Verfluchten Haus gehen?
Komm schon, Amra ... Du bist unsterblich, du hast nichts zu verlieren. Was ist,
wenn mich das Monster, das dort lebt, bei lebendigem Leib auffrisst?”
„Mach dir darüber keine Sorgen, alter
Mann. Letzte Nacht habe ich die Kreatur, die die Hausbewohner immer getötet
hat, zur Strecke gebracht. Sie hieß ‚Mitternachtsgespenst‘. Jetzt gibt es dort
keine Gefahr mehr.”
Die
Prüfung von Umar Knochenrichters Reaktion dir gegenüber war positiv.
Verdiente
Erfahrung: 40 EP
Du hast mit der Fertigkeit Handel Level 12 erreicht!
„Ich hoffe, du sprichst die Wahrheit,
Segelohr ...”, brummte der alte Mann und versuchte vergeblich, seine Freude und
Ungeduld zu verbergen. „Also gut, ich bin mit dem Handel einverstanden.”
Die Mission „Pflanzen für den Hexendoktor 2/3” ist
abgeschlossen.
Verdiente Belohnung:
320 EP
Du hast mit der
Fertigkeit Kräuterkunde Level 9 erreicht!
Die Mission „Pflanzen für den Hexendoktor 3/3” ist
abgeschlossen.
Verdiente Belohnung:
480 EP
Du hast mit der
Fertigkeit Kräuterkunde Level 10 erreicht!
Die Waren, die ich dem Hexendoktor
angeboten hatte, waren so wertvoll, dass ich zwei Stufen seiner Quest auf
einmal abgeschlossen hatte? Das war ein unerwarteter Erfolg. Ich grinste von
einem Ohr zum anderen, doch meine Freude dauerte nicht lange an.
„Nein”, beantwortete der alte Mann nun
meine Frage, „in Steinhang ist kein Boot verschwunden. Unsere 3 Boote liegen am
Steg, du kannst es selbst überprüfen.”
Der alte Mann freute sich offenbar, dass
er mich mit seiner Antwort in eine schwierige Lage gebracht und diese banale
Information gegen eine Vielzahl wertvoller Pflanzen eingetauscht hatte. Ja,
Umar Knochenrichter war sehr zufrieden mit sich und erklärte auch den Grund
dafür.
„Goblin, du musst verstehen, dass die
junge Frau sehr freundlich zu mir war. Ich will nicht, dass sie jemand findet
und belästigt oder bedroht. Wenn das alles ist, mache ich mich jetzt auf den
Weg. Ich muss mir einen Wagen für deine Pflanzen beschaffen.”
Der Hexendoktor stand ächzend auf,
stützte sich auf seinen Stock und ging langsam zum Dorf zurück. Er war fast
angekommen, als meine Schwester ihm zurief: „Umar, kannst du mir etwas über
Belles Nichte und Neffen erzählen, oder muss ich erst eine Quest abschließen,
um die Wahrheit zu erfahren?”
Der Heiler drehte sich langsam um und
blickte finster zu uns herüber. Gerade als ich dachte, dass wir keine Antwort
bekommen würden, überraschte der alte Mann mich.
„Sicher kann ich dir von den beiden
erzählen. Es ist kein Geheimnis. Der Junge heißt Dar und das Mädchen Dara. Sie
sind etwa 12 oder 13 Jahre alt. Zwei Diebe, Schurken und Raufbolde, viel mehr
gibt es über die beiden Rowdys nicht zu sagen. Wenn etwas aus dem Dorf
verschwunden war oder ein Kind verletzt wurde, steckten die beiden dahinter.
Sie sind geborene Kriminelle, ihre Taten sollten mit schwerer Arbeit oder sogar
dem Richtblock geahndet werden. Sie haben keine Bildung, keine Disziplin und keine
Achtung gegenüber Älteren. Das Mädchen ist genauso schlimm wie ihr Bruder.
Vollkommen hoffnungslos. Die Dorfbewohner haben die beiden oft bestraft. Sie
haben sie verprügelt, in der Kälte ausgesperrt und sie sogar an den Schandpfahl
in der Dorfmitte gestellt ... Nichts hat geholfen. Als Belles Bauch noch nicht
so groß war, konnte sie sie wenigstens etwas im Zaum halten. Ab und zu hat sie
ihnen mit einer Rute oder einer Peitsche eine ordentliche Tracht Prügel gegeben.
Dann konnte man ihr Geschrei bis zum anderen Ende des Dorfs hören. Die beiden
Tollköpfe hatten Angst vor ihr und gehorchten ihr. Doch als ihr Bauch wuchs,
konnte sie sie nicht mehr unter Kontrolle behalten. Ehrlich gesagt war ich
froh, als die beiden Rowdys das Dorf verlassen haben. Niemand hat ihnen auch
nur eine einzige Träne nachgeweint.”
Nach diesen Worten spuckte der alte Mann
verdrossen auf den Boden. Im gleichen Augenblick öffnete der Himmel seine
Pforten und ein Wolkenbruch ging nieder. Der Hexendoktor demonstrierte eine
überraschende Beweglichkeit für solch einen ehrwürdigen, alten Mann, nahm
seinen Stock unter den Arm und rannte schnell wie ein Hase ins Dorf. Meine
Schwester und ich suchten unter dem nächsten Baum mit breiten Ästen Schutz, um
nicht völlig durchnässt zu werden. Dort äußerte ich einen Gedanken, der mir
gerade gekommen war.
„Diese Kinder sind ziemlich ungehobelt.
Vielleicht finden wir die drei schneller, wenn wir uns in den umliegenden
Dörfern nach aufmüpfigen Jugendlichen erkundigen. Wenn uns das nicht
weiterbringt, müssen wir wohl aufgeben, denn dieser Regen wird ihre Fußspuren
vollkommen vernichten.”
Meine Schwester sah mich mit einem vorwurfsvollen,
fast mitleidigen Blick an. „Tim, du bist heute wirklich nicht bei der Sache und
dabei ist ‚dein Mädchen‘ noch nicht mal in der Nähe, um dich mit ihren Kurven
abzulenken. Dir ist völlig entgangen, dass der alte Mann uns in seiner Antwort
ungewollt einen klaren Hinweis gegeben hat. Hast du es wirklich nicht
mitbekommen?”
Ich überlegte einen Moment, doch dann
musste ich mir eingestehen, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, worauf
meine Schwester anspielte. Die Waldnymphe musste mir die Fakten noch einmal vor
Augen führen, bevor ich begriff.
„Belle wurde am gleichen Tag am
Bootssteg gesehen, an dem die Spieler nach Steinhang geströmt sind, um die
einzigartige fliegende Schlange Kayervina zu töten. Die 3 Boote des Dorfs
befinden sich immer noch am Steg, darum kann sie keins davon benutzt haben.
Aber es gab noch ein weiteres Boot, erinnerst du dich nicht? An diesem Tag war
ein dir wohl bekannter Najadenhändler namens Max Sochnier in seinem mit
frischen und getrockneten Fischen beladenen Boot nach Steinhang unterwegs! Aber
er war gezwungen, seine Fracht zurückzulassen und ins Wasser zu tauchen, weil
er in der Nähe von Steinhang von Spielertötern angegriffen wurde! Dieses vierte
Boot muss irgendwo abgeblieben sein, meinst du nicht?”
„Val, du bist ein Genie! Ich schulde dir
ein Eis”, lächelte ich. Die Schlussfolgerung meiner Schwester ergab Sinn. „Es
ist unwahrscheinlich, dass sie in dem Boot flussaufwärts gerudert sind. Das
wäre für eine schwangere Frau mit 2 Teenagern viel zu schwer. Wir müssen also
flussabwärts nach ihnen suchen, aber zu Fuß können wir sie nicht einholen. Das
Ufer ist viel zu sumpfig, steinig und überwuchert. Außerdem wimmelt es dort von
allen möglichen aggressiven Monstern. Wir brauchen ein Boot. Nein, ein paar
Boote, denn eins ist zu klein für unsere ganze Gruppe.”
„Du bist schon wieder begriffsstutzig,
Segelohr”, erwiderte die Mavka und schüttelte den Kopf. „Kein normales
Flachbodenboot kann unseren gigantischen Oger tragen und du scheinst zu
vergessen, dass wir uns versteckt halten müssen. Es wäre dumm, unseren
Verfolgern eine deutliche Spur wie den Diebstahl eines Bootes zu hinterlassen.”
Wie immer hatte Valeria auch dieses Mal
recht. Ich öffnete meine Karte. Der Najadenhändler hatte mir seine Karte mit
den Orten, die er entdeckt hatte, geschickt, darum konnte ich den ganzen Weg
zum Meer sehen. Einige Kilometer vom Dorf entfernt machte der namenlose Fluss
eine scharfe Biegung und schlängelte sich um eine dicht bewaldete, enge
Landzunge. Als ich diesen Teil so weit wie möglich vergrößert hatte, bemerkte
ich ein Symbol mit 3 Kiefern. Das musste wohl der Ort, sein zu dem ich gehen
sollte. Ich schrieb eine persönliche Nachricht an den Oger und den Najadenmann,
um ihnen die Koordinaten dieses Treffpunktes zu schicken. Gleichzeitig fragte
ich den Oger-Festungsbaumeister, wie lange er brauchen würde, um ein stabiles
Floß zu bauen, das unsere Gruppe mitsamt den Wölfen tragen konnte. Seine
Antwort kam umgehend.
„Ich
habe die Werkzeuge bei mir. Wenn es in dem Waldgebiet genügend Kiefern mit
hohen, geraden Stämmen gibt, dauert es mit meinen aktuellen Fertigkeiten ungefähr
eineinhalb Stunden, höchstens 2. Vielleicht sogar weniger, wenn ihr mir beim
Bau des Floßes helft.”
„Natürlich
helfen wir dir. Schließlich profitieren wir alle davon”,
versprach ich ihm.
***
Ich hatte noch nie die Gelegenheit
gehabt, dem Oger-Festungsbaumeister bei der Arbeit zuzusehen. Jetzt konnte ich
ohne Übertreibung sagen, dass es ein fantastisches, eindrucksvolles Schauspiel
war. Mit unglaublicher Leichtigkeit fielen 50 Jahre alte Kiefern unter seiner
Axt. Baumrinde und Zweige flogen dabei wie Fontänen in die Luft. Der Riese trug
die dicken Baumstämme auf den Schultern, als würde es sich um Schilfrohr
handeln.
Nach 1 Stunde schob Shrekson Bastard das
fertige, aus schweren, festgezurrten Stämmen hergestellte Floß in seichtes
Wasser und half allen anderen Mitgliedern der Gruppe, darauf zu steigen, bevor
er selbst auf das Floß kletterte.
Obwohl der Regen nicht mehr so laut
prasselte, ließ er doch nicht nach. Die tropfnassen Wölfe des grauen Rudels
zitterten und pressten sich eng aneinander. Sie stolperten auf den rutschigen
Stämmen, während das Gefährt auf dem Wasser schaukelte. Die Tiere starrten
sehnsüchtig auf das nicht weit entfernte Ufer, doch keiner von ihnen wagte,
sich meinem Befehl zu widersetzen. Taisha und Valerianna, die unter einem
schwarzen Wargfell saßen, um sich vor dem Regen und dem kalten Wind zu
schützen, klapperten mit den Zähnen um die Wette. Tamina Grimmigs Kinder, die
Wolfsreiter Irek und Yunna, waren trotz ihrer leichten Bekleidung überraschend
lebhaft und fröhlich. Die beiden Goblins lachten, machten Spaß und konnten ihre
Freude und Aufregung nicht verbergen.
Dem Oger machte das Wetter nichts aus
und ich nahm den eiskalten Regen ebenfalls gelassen hin. Ab und zu musste ich
gähnen, denn nach der schlaflosen Nacht war ich müde. Max Sochnier war der
Einzige, der sich pudelwohl fühlte. Der Fischmensch war endlich in seinem
Element. Er saß vorne auf dem Floß und fing begeistert Fische mit einer
Harpune. Ab und zu forderte er den Oger auf, in die eine oder andere Richtung
zu lenken.
Während der ersten Minuten unserer Reise
war ich hinsichtlich der Stabilität und Lenkfähigkeit des Floßes etwas besorgt
gewesen, doch nach einer halben Stunde war ich überzeugt, dass es sicher war.
Wir fuhren in gleichmäßigem Tempo, umgingen problemlos Hindernisse und
Sandbanken und schlängelten uns um die Flussbiegungen.
Der Najadenmann hatte geschätzt, dass es
etwa 6 Stunden dauern würde, das Meer zu erreichen, darum suchte ich mir einen
bequemen Platz auf dem hinteren Teil des Floßes und warf mir zum Schutz vor dem
Regen ein Wargfell über. Doch bevor ich einschlafen konnte, rief Max Sochnier
plötzlich aufgeregt: „Rechts! Da drüben im Schilf!”
Alarmiert warf ich das Fell zur Seite.
Im Schilf am Ufer lag ein halb gesunkenes Boot, das aus dem Wasser ragte.
„Das ist mein Boot, ich erkenne es
wieder!”, rief der Najadenmann und breitete vor Aufregung seine leuchtend roten
Rückenflossen aus. Er sprang ins Wasser, schwamm zum Ufer und versuchte, mit
seinen mit Schwimmhäuten versehenen Händen das Wasser aus dem gesunkenen
Ruderboot zu schöpfen.
„Wir sollten am Ufer anlegen und die
Gegend absuchen!”, ordnete ich an. Der Oger-Festungsbaumeister riss das Ruder herum.
Der Weg durch das dichte Schilf am
Flussufer war mühsam. Ich musste uns sogar einen Pfad schlagen, nachdem der
Oger vom Floß gesprungen und es ans Ufer geschoben hatte. Nach einer Weile hatten
wir trockenen Boden unter den Füßen. Ich wollte den Wölfen die Mission geben,
nach menschlichen Spuren zu suchen, doch bevor ich Zeit gehabt hatte, war Irek
bereits am Ufer entlanggelaufen und rief der Gruppe nun zu, sich anzusehen, was
er gefunden hatte.
Es war eine kleine Hütte, die erst
wenige Tage zuvor gebaut worden sein musste. Die Blätter der Äste, die
verwendet worden waren, waren noch grün. Daneben fanden wir die Überreste einer
Feuerstelle und jede Menge sauber abgenagter Knochen, die von einem riesigen
Wiederkäuer stammen mussten. Die Wölfe näherten sich der Stelle, an der wir
standen, und begannen zu schnüffeln. Gleich darauf sträubte sich ihr Fell, sie
zogen vor Angst die Schwänze ein und liefen weg. Ich wollte mir die
Knochenreste jedoch einmal näher ansehen.
Die
Prüfung deiner Wahrnehmung war positiv.
Verdiente
Erfahrung: 80 EP
An den meisten Knochen fanden sich
Spuren scharfer Zähne und rohe Fleischfasern. Ich nahm einige in die Hand, um
meine Vermutung zu bestätigen. Ja, die Raubtiere, wer sie auch waren, hatten
ihre Beute in Stücke gerissen und sie verschlungen. Doch ich entdeckte noch
etwas anderes: Einige Knochen waren eindeutig in einem Topf gekocht worden. Als
ich meinen Gefährten davon erzählte, erhielt ich eine überraschende Reaktion.
„Wir könnten auch etwas zu essen
gebrauchen”, murmelte der Oger. „Seit heute Morgen blinkt das gelbe Gabel-und-Löffel-Symbol
in der Ecke meines Bildschirms und gerade eben hat es zu rot gewechselt ...”
Daraufhin drehten sich alle zu mir und
sahen mich fragend an, als ob ich Nahrung für die Gruppe bei mir haben würde.
Wo hätte ich die Vorräte wohl verstecken sollen?! Mein segelohriger Goblin war
selbst hungrig.
„Ich könnte mit meinem Angelzeug Fische
fangen”, schlug der Najadenmann vor. „Das dauert jedoch etwas und ich brauche
Köder.”
„Am Fluss gibt es mehr als genug davon!”,
antwortete ich, während ich nach einer weiteren roten Fliege schlug, die sich
auf mein Gesicht gesetzt hatte. Ich hielt ihm die kleine Tierleiche hin. „Ein
Fischer reicht nicht aus, um unsere ganze Gruppe zu versorgen. Wir sollten auf
die Jagd nach größerer Beute gehen. Ich werde meinen Lindwurm rufen, er kann
aus der Luft nach Tieren Ausschau halten, die sich in unserer Nähe aufhalten.”
Aus naheliegenden Gründen hatte ich
XANTHIPPE nicht nach Steinhang mitgenommen. Eine Horde von Goblins, die auf
Wölfen dahergeritten kamen, hatte sowieso schon genug ungewollte Aufmerksamkeit
bei den Bewohnern erregt. Doch wenn unsere Gruppe mit einer 3 Meter langen,
fliegenden Schlange aufgetaucht wäre, wären wir für einige Zeit das
Tagesgespräch gewesen, was den Unsterblichen, die mir auf den Fersen waren, sicher
nicht entgangen wäre.
Es dauerte nur 1 Minute, bis der
königliche Level-16-Wald-Lindwurm herangeflogen kam. Die Schnauze der
fliegenden Schlange war von frischem Blut verschmiert.
„Was für ein kluges Köpfchen! Du hast
Beute gefangen und sie ganz allein gefressen!”, sagte ich und streichelte die
gefährliche Bestie liebevoll an der Schulter. Ich bemerkte, dass meine
Tiergefährtin im Level aufgestiegen und gewachsen war.
Ich drückte meine Stirn gegen den Kopf
meines geflügelten Reittiers, um XANTHIPPE die Mission so deutlich wie möglich
in lebendigen Bildern zu übermitteln: Suche
aus der Luft im nahegelegenen Wald nach Kreaturen, die groß genug sind, um die
ganze Gruppe mit Nahrung zu versorgen. Ich war nicht sicher, wie gut sie mich
verstanden hatte, doch kurz darauf flog sie mit schlagenden Flügeln los und verschwand
in den niedrigen Regenwolken.
„Amra, welche Art von Mission hast du in
den Einstellungen für dein Reittier gewählt: Auskundschaften, Gebietskontrolle
oder Jagen?”, fragte meine Schwester.
Ich antwortete ihr ehrlich, dass ich es
selbst nicht wusste und erzählte ihr von meiner experimentellen Methode der
Kommunikation mit dem Lindwurm.
Die Waldnymphe schüttelte zweifelnd den
Kopf. „Ich glaube nicht, dass es so funktionieren wird. Es gibt ein normales
Spiel-Interface mit einem Popup-Menü, das alle möglichen Optionen beschreibt,
die man für Tierbegleiter und Reittiere wählen kann, aber die Option ‚Nach
großen Wildtieren suchen‘ ist nicht dabei. Du hättest vielleicht eine
Kombination verschiedener existierender Befehle benutzen können, aber ich weiß
nicht, ob das geklappt hätte ...”
In dem Moment verstummte Valerianna,
denn XANTHIPPE war bereits zurückgekehrt. Regennass landete der grüne Lindwurm
im Gras und kroch in meine Richtung, wobei sie nicht auf ihren Füßen ging,
sondern wie eine Schlange schlängelte. Die smaragdgrüne, geflügelte Bestie
beugte ihren Kopf hinunter und drückte ihn vorsichtig gegen meinen. Vor meinen
Augen erschien ein Kaleidoskop von Bildern, die beim Fliegen aufgenommenen
Screenshots glichen.
Durchbrochene
Wolken. Flussufer sichtbar. Dichtes Unterholz. Darin steht ein großes Tier, das
beschaulich junge Triebe kaut: Ein riesiger Elchbulle. Breite Hufe und
weitverzweigtes Geweih. Kraftvoller Rücken und Buckel. Großer, schwarzer Bart.
Beine wie Säulen. Und das Symbol eines roten Totenschädels, das bedeutete, dass
der Elch mehr als 20 Levels höher war als mein Lindwurm.
Ich überlegte, wo diese Bilder wohl
aufgenommen worden sein konnten. Der Fluss lag hinter mir. Flussaufwärts bog er
allmählich nach links. Ja, so ungefähr musste es aus der Luft aussehen.
Tatsächlich konnte ich flussaufwärts in der Ferne einen Hügel erkennen, der
dicht bewachsen war. Genau dort würden wir unsere Beute finden. Laut verkündete
ich meinen Freunden: „Einen halben Kilometer in dieser Richtung grast ein großer
Elch im Dickicht. Er ist zwischen Level 40 und 50. Lasst uns auf die Jagd
gehen.”
Langes Schweigen folgte als Antwort.
Dann fragte Max Sochnier vorsichtig: „Level 50? Und was machen wir, wenn er den
Spieß umdreht und beschließt, uns zu jagen? Ich meine, wir sind
nicht-kampfbezogene Charaktere. Wir haben keine guten Kampffähigkeiten!”
„Wir können ihn nicht ernsthaft
verwunden, Amra, der Levelunterschied ist zu groß!”, stimmte der
Oger-Festungsbaumeister mit seinem Freund überein.
Ich tauschte einen überraschten Blick
mit meiner Schwester aus. Die Waldnymphe konnte das Zögern der beiden auch
nicht verstehen.
„Ich bin sicher, dass wir als Gruppe ein
Level-50-Tier ohne Verluste erledigen können. Niemand zwingt euch, die starke
Kreatur mit dem Dreizack oder dem Vorschlaghammer anzugreifen”, versicherte ich
dem Bauarbeiter und dem Händler. „Es ist nur ein NPC-Tier auf hohem Level. Mit
einem guten Plan können wir es zur Strecke bringen!”
„Richtig!”, unterstützte meine Schwester
mich. „Wir könnten eine Fallgrube wie die beim Verfluchten Haus graben, den
Boden mit spitzen Stöcken spicken, sie mit Zweigen tarnen und den Elch zu uns
locken! Es ist ganz einfach. Die Hauptsache ist, dass wir uns weit genug
entfernen, damit das Tier uns nicht sieht oder eine Falle erwartet.”
„Onkel Amra, ich kann ein kleines Horn
aus Baumrinde herstellen, das wie ein Elch im Frühling röhrt”, warf Yunna ein.
„Der Schamane Kaiak Dachsbein hat es mir gezeigt. Es ist zwar kein Frühling,
doch ein ausgewachsener Elch wird angelaufen kommen, um zu sehen, wer in sein
Revier eingedrungen ist.”
Damit stand unser Plan fest. Der
Oger-Festungsbaumeister arbeitete so schnell wie ein Bagger mit einer normalen
Schaufel. Erst einige Minuten zuvor hatte er mit dem Graben begonnen, und nun
war das Loch bereits groß genug für einen mächtigen Elch. Während er grub,
sammelten die anderen spitze Stöcke für den Boden der Falle und Zweige, um sie
abzudecken. Taisha und ich legten die Zweige über die Grube, weil wir die
beiden Charaktere mit der höchsten Beweglichkeit waren. Bei uns bestand die
geringste Gefahr, in das Loch zu fallen.
Nun mussten wir nur noch das letzte
Problem lösen: Wie konnten wir es schaffen, das Tier anzulocken und es dazu zu
bringen, auf die Äste über der Falle zu treten? Meine Schwester hatte eine
Idee: „Gebt mir ein paar Minuten, dann erzeuge ich eine Illusion eines
unverschämten, jungen Elchs. Aber zuerst brauche ich das Bild eines Elchs ...”
Valerianna Schnellfuß erstarrte. Meine
Schwester musste den VR-Helm abgenommen haben, Reich ohne Grenzen verkleinert haben und sich jetzt Bilder von
Elchen auf ihrem Monitor ansehen, um die beste Darstellung zu finden. Kurz
darauf wurde sie wieder lebendig.
„Ich habe eins gefunden! Also gut,
versteckt euch im Wald und sagt Shrekson, in das Horn zu blasen. Er kann den
lautesten Ton damit erzeugen!”
Wir legten uns in ein Bachbett und
schickten die Wölfe und den Lindwurm fort, damit sie unseren Plan nicht
zunichtemachen konnten. Das ohrenbetäubende Röhren, das aus dem Horn schallte,
klang eher wie der Pfiff einer Lokomotive als der Ruf eines Tieres, doch Yunna
und Irek versicherten mir, dass es funktionieren würde. Shrekson lief auf uns
zu und versteckte sich dann ebenfalls in der Vertiefung.
Wir warteten, doch nichts passierte.
„Hat es nicht geklappt?”, flüsterte ich, doch die Waldnymphe legte nur den Finger
an die Lippen. „Leise, er kommt.”, flüsterte Valerianna kaum hörbar. „Ich sehe
ihn auf der Minikarte. Du wirst ihn auch gleich entdecken, Segelohr.”
Wenige Sekunden später erschien der rote
Totenschädel auch auf meiner Karte. Der Elch näherte sich langsam. Er machte
lange Pausen, um sich umzusehen und zu schnüffeln. Etwas löste den sechsten
Sinn des Tieres aus.
Die
Prüfung deiner Wahrnehmung war positiv.
Verdiente
Erfahrung: 16 EP
Wind! Das musste es sein! Der Wind blies
über die Falle und der Elch konnte offensichtlich die Wölfe, Goblins und die
anderen Kreaturen riechen, doch der Geruch seines vermeintlichen Rivalen, eines
selbstsicheren, jungen Elchs, fehlte. Ich schrieb meiner Schwester in einer
persönlichen Nachricht meine Vermutung.
„Was
soll ich machen? Ich kann keine illusorischen Gerüche erzeugen.”
Ich antwortete der Waldnymphe: „Wechsele den Köder zu einem weiblichen
Elch.”
„Tim,
es ist die falsche Jahreszeit. Außerdem würde er den weiblichen Elch auch nicht
riechen können.”
„Ich
habe noch eine Idee! Wie wäre es mit einem dummen Jungwolf, der nicht wegläuft
und frech genug ist, dem starken, stolzen Elch die Zähne zu zeigen? Es riecht hier
nach Wolf, darum klappt es vielleicht. Der Elch will dem unverschämten Wolf
bestimmt eine Lektion erteilen und ihn aus seinem Revier verjagen.”
Valerianna bewegte die Lippen und führte
eine Beschwörung aus oder wiederholte einfach die neue Mission für sich. Es
funktionierte! Der Elchbulle sah die neu erzeugte Illusion und brüllte so laut
in den Wald hinein, dass der Ton, den Leon zuvor mit dem Horn produziert hatte,
wie eine armselige Parodie erschien. Sein Röhren war buchstäblich
ohrenbetäubend und traf uns außerdem mit einer Vielzahl von unangenehmen
Effekten.
Erlittener
Schaden: 44 (Level-31-Angstzauber)
3
Sekunden Panikeffekt
15
Sekunden Taubheitseffekt
Die
Prüfung deiner Wahrnehmung war positiv.
Verdiente
Erfahrung: 80 EP
Die
Prüfung deiner Konstitution war positiv.
Verdiente
Erfahrung: 160 EP
Gesundheitslevel:
179/216
Ich konnte nicht sagen, welche beiden
negativen Effekte Amra vermieden hatte, doch diejenigen, denen er ausgesetzt
war, waren schlimm genug. Bis ich meinen Charakter wieder unter Kontrolle
gebracht hatte, war mein verängstigter Goblin bereits völlig kopflos durch den
Wald gerannt, ohne auf einen Weg zu achten. Als er endlich angehalten hatte,
fiel er erschöpft ins Gras. Ich hoffte inständig, dass der Elchbulle einem
kleinen Goblin, der in weiter Ferne wegrannte, keine Aufmerksamkeit schenken
würde und sich stattdessen auf sein eigentliches Ziel konzentrierte. Irek raste
an mir vorbei. Sein Mund war geöffnet, doch kein Schrei kam heraus.
Offensichtlich tat der Panikeffekt auch bei ihm seine Wirkung. Endlich erlangte
ich mein Gehör wieder. Hinter mir hörte ich das begeisterte Geschrei meiner
Freunde. Es waren eindeutig Freudenrufe. War unser Plan erfolgreich gewesen?
Die NPC-Markierung auf der Minikarte wechselte von gelb zu aggressivem Rot,
doch sie befand sich ungefähr an der Stelle, an der wir die Fallgrube gegraben
hatten, und bewegte sich nicht. Nun wurde ich wieder selbstsicherer. Ich lief
erst langsam, dann immer schneller auf die Falle zu. Trotzdem erreichten meine
Freunde die Grube vor mir.
Level-48-Elchbulle
Die mächtige Bestie war wie geplant in
die Falle gestürzt, doch durch einen glücklichen Zufall hatte sie sich an den spitzen
Stöcken am Boden der Grube nicht ernsthaft verletzt. An einigen Stellen war die
Haut des Tieres aufgerissen und an seinen Rippen waren zahlreiche blutige
Schürfwunden zu sehen. Der Lebensbalken des Elchs war jedoch nicht nennenswert
gesunken und befand sich nach wie vor im grünen Bereich. Hinzu kam, dass die
Regeneration des Elchs seine Gesundheit schneller wiederherstellte, als die
blutenden Wunden sie reduzieren konnten. Nach nur 1 Minute war der Lebensbalken
des gefangenen Tieres wieder auf seinem maximalen Stand.
Der Elch sah uns stumm an, obwohl er
noch einmal sein furchterregendes Röhren hätte erdröhnen lassen können. Dadurch
wäre er uns sicher losgeworden. Das Tier drehte seinen Kopf und besah sich die
schwachen Kreaturen, die es gefangen hatten, eine nach der anderen. Zuletzt
ruhte der traurige Blick der stolzen Bestie auf mir. Als ich in seine
intelligenten, fast menschlichen Augen blickte, fühlte ich mich plötzlich
unwohl. Ja, mir war klar, dass es sich bei dem Wesen nur um ein Codestück
handelte, das erstellt worden war, um in einem virtuellen Spiel geschlachtet zu
werden. Es gab keine moralische Verpflichtung, die uns daran hinderte, sein
Fleisch über einem Feuer zu rösten und uns damit vollzustopfen, doch bei dem
Gedanken fühlte ich mich unbehaglich.
Während ich noch überlegte, wie ich
meinen Gefährten erklären sollte, dass ich meine Meinung geändert hatte und den
stolzen Elch nicht mehr töten wollte, sagte der Oger-Festungsbaumeister
plötzlich: „Freunde, ich verzichte. Ich kann nicht mit ansehen, wie sich der
Elch quält. Teilt ihn meinetwegen unter euch auf, aber ich will nichts von seinem
Fleisch. Lieber bleibe ich hungrig oder begnüge mich mit Pflanzen und Fischen.”
Diese Empfindsamkeit hatte ich von
unserem Riesen nicht erwartet. Doch ich erinnerte mich schnell, dass der Anblick
des niedergebrannten Dorfs Tysh Shrekson so sehr mitgenommen hatte, dass er
eine Weile unter Nervosität und Schlaflosigkeit gelitten hatte. Obwohl der
ehemalige Bauarbeiter den Eindruck machte, dass er hart im Nehmen war, war er
feinfühlig und hatte ein gutes Herz. Der Oger drehte sich um und ging
entschieden in die entgegengesetzte Richtung der Fallgrube.
„Der Elch wäre ein großartiges Reittier.
Er könnte sicher das Gewicht des Ogers tragen ...”, bemerkte die Nymphe
nachdenklich. Plötzlich sahen alle zu Shrekson hinüber. Der Oger hielt abrupt an,
als ob er gegen eine Wand aus Stein gelaufen wäre, drehte sich um und dann
passierte es: Der rote Kreis des Elchs in der Falle wechselte zu blau für einen
Verbündeten. Über dem Geweih des Tieres erschien der Name „Kleiner_Timbo”.
„Nur ein Name, nicht schlechter als
Xanthippe oder Pirat”, murmelte der Riese, obwohl niemand überrascht ausgesehen
oder über den seltsamen, etwas ungeeigneten Namen für die riesige Bestie
gelacht hatte. Es waren genug Helfer da, um dem Elch aus der Grube heraus zu
helfen, obwohl der Oger es auch leicht allein geschafft hätte, darum nutzte ich
das Durcheinander, um eine Phiole mit dem Blut des Waldriesen zu füllen.
Elchblut
(alchemistische Zutat)
Danach entfernte ich mich von den anderen
und ging zurück zu der Hütte, die wir gefunden hatten. Dort kroch ich unter das
Dach aus Zweigen und trank die Phiole leer.
Freigeschaltetes Achievement: Geschmackstester
(14/1000)
Mein Balken für Durst löschen war fast
gefüllt, er zeigte 18/20 an. Mein Goblin-Vampir konnte also weitere 18 Stunden
ohne das Blut von Opfern auskommen. Mein Verlangen nach Schlaf wurde jedoch
immer stärker, ich gähnte ohne Unterbrechung. Nicht mehr lange und ich würde
vor Erschöpfung zusammenbrechen.
Als ich aus meinem Versteck gekrochen
war, nahm ich ganz in der Nähe gedämpfte Geräusche wahr, die einem Knurren und
Winseln ähnelten. Ich wechselte in den Tarnungsmodus und ging auf sie zu.
Vorsichtig schob ich die Äste der Büsche zur Seite. Das graue Rudel hatte sich
auf einer kleinen Lichtung versammelt und buddelte mit vollem Einsatz in der
Erde. Interessiert näherte ich mich.
Die Wölfe warfen die feuchte Erde
energisch hinter sich und hatten schon ein flaches Loch gegraben. Der Boden war
offensichtlich locker und gab leicht nach. Jemand hatte dort etwas vergraben.
Ich schob die Waldraubtiere beiseite, beugte mich hinunter und zog eine
schmutzige Stofftasche aus dem Loch. Neugierig entleerte ich ihren Inhalt ins
Gras. Es kamen einige zerknitterte Lumpen und ein Paar zerfledderte Sandalen
zum Vorschein. Ich hockte mich hin und betrachtete meinen Fund genauer.
Kleidung. Die Kleidung einer
Dorfbewohnerin. Zuoberst lag ein schmutziges, oft geflicktes, altes Kleid. Es
war schwer zu sagen, welche Farbe es ursprünglich gehabt hatte. Außerdem fand
ich eine zerrissene, ärmellose Bluse und eine kurze Leinenhose oder eher die
Shorts eines Jungen. Darunter entdeckte ich eine relativ saubere, doch
ebenfalls zerknitterte Schürze, schmutzige Arbeitskleidung, einige billige
Glasperlen, die ausgetretenen Sandalen einer Frau und einen vierfarbigen
Haarreif, den sich Dorfmädchen ins Haar steckten. Er sah genauso aus wie der
Reif in meinem Inventar. War das alles? Ich überprüfte noch einmal die
Kleidungsstücke, die vor mir im Gras lagen.
Die
Prüfung deiner Wahrnehmung war positiv.
Verdiente
Erfahrung: 40 EP
Auf dem schmutzigen, grauen Kleid
bemerkte ich schwarzes Haar, das am Stoff hing. Es war 60 Zentimeter lang und
zu rau für menschliches Haar. Ich wickelte es um meinen Finger und überlegte, von
wem es wohl stammen konnte.
Die
Prüfung deiner Wahrnehmung war positiv.
Verdiente
Erfahrung: 80 EP
Schwanzhaar
eines Wargs (Abfall)
Die drei Flüchtigen, nach denen wir auf
der Suche waren, mussten ihr Boot versenkt haben, auf Jagd gegangen sein, um
sich den Bauch zu füllen, und dann ihre menschliche Kleidung tief im Wald
vergraben haben. Danach hatten sie sich offenbar in ihre tierische Form
verwandelt. Das musste vor ein paar Tagen gewesen sein und es war unmöglich zu
sagen, wo sich die Wargs jetzt aufhielten. Der ununterbrochene Regen hatte die
Suche nach ihren Spuren zum Scheitern verurteilt ...
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