Wednesday, December 30, 2020

Die Triumphale Elektrizität: Die Illustren von Pavel Kornev


Die Triumphale Elektrizität
Die Illustren
von Pavel Kornev




Release 29. April 2021

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1

 

IST ES WAHR, dass alle Lebewesen, denen es bestimmt ist zu kriechen, nicht fliegen können? In der Tat!

Menschen sind nun einmal nicht dazu geschaffen, zu fliegen, weshalb jeder Versuch dazu verdammt war, in einem Absturz zu enden. Man nehme nur das Beispiel der Gefallenen

 

Ich öffnete die Augen. Ich kniff sie sofort wieder zu, aber es war zu spät. Als ich sie erneut öffnete, erhaschte ich einen Blick auf den grauen, rauchverhangenen Himmel, der sich wirbelnd über mir drehte und die Illusion erzeugte, ich läge auf einem Rettungsfloß inmitten eines riesigen Strudels. Der bloße Gedanke, aufstehen zu müssen, war schon schmerzhaft, also blieb ich, wo ich war, feige ausgestreckt auf dem Müllhaufen, der meinen Sturz abgefangen hatte.


Ich holte vorsichtig Luft und meine Rippen wurden sofort von einem scharfen Schmerz durchbohrt. Aber als ich ein zweites Mal einatmete, ließen die unangenehmen Empfindungen bereits nach und bestätigten mir, dass ich Glück gehabt hatte und mit einer Prellung am Rücken davongekommen war. In dem Müllhaufen, der mich so liebevoll umarmt hatte, befanden sich weder Ziegelsteine noch zerbrochenen Flaschen.

Das hob meine Stimmung. Ich fühlte mich immer noch nicht allzu gut, wenn man die Umstände meines Absturzes in Betracht zog, aber ich hatte immerhin etwas, worüber ich froh sein konnte.

Wieder öffnete ich die Augen.
          Um mich herum ragten düstere Gebäudewände auf, die den Eindruck erweckten, ich befände mich auf dem Grund eines tiefen Brunnens. Über ihnen brauten sich graue Wolken zusammen, feindselig und hässlich wie alles andere um mich herum. Plötzlich wurde die Dunkelheit noch dichter und kündigte die Ankunft eines Militärluftschiffs an. Seine Kabine war mit abwärts gerichteten, viereckigen Waffenluken gesäumt. Dann sah ich die Heckstabilisatoren, den Kiel und die Gatling-Geschützrohre, die einen Sonnenstrahl reflektierten. Doch im nächsten Augenblick war das Luftschiff spurlos verschwunden, als wäre es nie da gewesen.

Das spielte keine Rolle. Es war ja nicht so, als wäre ich aus der Kabine dieses fliegenden Monsters gestürzt. Ganz und gar nicht: Ich war durch das knurrende Maul eines zerbrochenen Fensters im zweiten Stock auf einen kurzen Flug geschickt worden.

Wobei es ehrlich gesagt ein wenig übertrieben war, zu behaupten, ich sei ‚geschickt‘ worden.

„Leopold!“ Das Echo eines fernen Schreis hallte über den Hof. Ich hörte ein dröhnendes Poltern und einen Moment später war die Stimme näher. „Leo! Verflucht, wo steckst du?“

Der Strahl einer elektrischen Taschenlampe tastete das Gelände ab, sein helles Licht lief über die Wände, schlängelte sich in meine Richtung und erlosch. Erst als sich meine Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich einen kleinen Wachtmeister in den Hof treten. Er trug einen Polizeiumhang und eine Dienstkappe. Seine großkalibrige Lupara gab mit dem Mündungsende ihrer vier Läufe ein hässliches Knurren in meine Richtung ab.

„Richte das Ding gefälligst nicht auf mich!“, forderte ich und runzelte verärgert die Stirn.

Ramon Miro zögerte einen Moment, dann klemmte er seine Waffe in seine linke Armbeuge.

„Bist du in Ordnung?“, fragte er und sah sich besorgt um.

„Das wird wieder“, antwortete ich knapp, aber nachdrücklich.

„Bist du sicher?“, fragte mein schwerfälliger schwarzhaariger Partner und streckte seine freie Hand aus.

Irritiert schlug ich sie weg. Ich nahm meine Kräfte zusammen, rollte ich mich auf die Seite und schaffte es sogar, mich auf einen Ellbogen zu stützen, bevor ich das Klirren von Glasscherben über mir hörte.

Ein rundlicher Herr mittleren Alters in einem dezenten grauen Dreiteiler, der eine ebenso unauffällige Melone trug, erschien hinter dem glaszahnigen Lächeln im Fenster. Mit dem Griff seines Gehstocks schlug er eine weitere Glasscherbe aus dem Rahmen und sah dann mich an, wobei sein Gesicht einen Ausdruck extremer Missbilligung annahm.

„Was ist mit diesem verdammten Sukkubus passiert, Leo?“, fragte Inspektor White.

Ich drehte meinen Kopf erst in die eine, dann in die andere Richtung, überblickte den ganzen Müllhaufen, auf dem ich ausgestreckt lag, und lächelte verzagt.

„Nun... ich kann mit Sicherheit sagen, dass ich sie hier nicht sehe, Inspektor.“

„Detective Constable Orso!“, donnerte Robert White und ließ mich wissen, dass Scherze gänzlich unerwünscht waren. „Das ist keine Antwort. Wo zum Teufel ist sie?“

„Ich weiß es nicht“, musste ich gestehen. „Ich erinnere mich nicht mehr an viel, nachdem ich aus dem Fenster geworfen wurde.“

„Eine überaus bedauerliche Wendung der Ereignisse.“ Der Inspektor zog sich vom Fenster zurück.

Ich legte mich wieder hin und seufzte hilflos, dann sah ich zu Ramon auf und fragte: „Was starrst du mich so an?“

Der Wachtmeister gab ein zweideutiges Schnauben von sich und wandte sich ab. Auf seinem unerschütterlichen, rötlichen Gesicht war nicht eine Spur von Emotion zu sehen, aber seine ostentative Gleichgültigkeit konnte mich nicht täuschen – die Enttäuschung meines Kollegen war geradezu körperlich zu spüren.

Aber darum konnte ich mich nicht kümmern. Es galt immer noch den Chef zu besänftigen...

Ich setzte mich zwischen dem Unrat auf und drehte ruckartig den Kopf. Ich hatte es noch nicht so ganz geschafft, zur Besinnung zu kommen. Trotzdem schwang die Hintertür auf und Inspektor White erschien auf einer hohen Treppe.

„Leo“, sagte er untypisch sanft und sah sich mit einer Grimasse in dem dunklen Hof um. „Leo, was zum Teufel ist hier passiert?“

Ich beeilte mich nicht, ihm zu antworten. Ich rappelte mich erst einmal hoch, zog meinen ausziehbaren zweipoligen Betäubungsstab an der gummibeschichteten Schnur zu mir heran und zuckte dann vage mit den Schultern.

„Eine echte Katastrophe“, verkündete ich, als die ausgedehnte Pause bereits eine ungebührliche Länge annahm.

„Ja, nicht wahr?“, schnaubte der Inspektor und seine grauen Augen verloren die letzte Spur ihrer bereits verblassten Farbe.

Der Illustre Robert White verfügte über ein Talent, das in unserer Branche äußerst wertvoll war: Er konnte Lügen riechen. Er konnte nicht immer erkennen, wann er angelogen wurde, aber wie ein trainierter Bluthund konnte er leicht die bewusste Absicht schnuppern, ihn in die Irre zu führen, wenn man mit ihm sprach. Dieses sehr, sehr nützliche Talent wurde ihm von seinen Eltern vererbt, die sich mit dem Blut der Gefallenen markiert hatten...

Genau aus diesem Grund versuchte ich gar nicht erst herumzureden und hob einfach meinen Betäubungsstab.

„Der Schock ist zu schwach“, erklärte ich dem Inspektor.

„Was Sie nicht sagen“, erwiderte Robert White verblüfft.

Ausgerechnet in diesem Moment kamen zwei Polizisten in Dienstmänteln auf uns zu, die ihre neumodischen halbautomatischen Karabiner bereithielten. Die Stangenmagazine der Gewehre ragten auf eine Weise hervor, die ihnen ein albernes Aussehen verlieh, aber Leute, die sich wirklich mit Schusswaffen auskannten, störte das nicht im Geringsten. In kleinen Gefechten sprach das kurzläufige Madsen-Biarnoff-Gewehr recht beredt für sich selbst.

   „Ich glaube, mit dem Elektroschocker stimmt etwas nicht", postulierte ich, ohne auf die skeptischen Blicke meiner Kollegen zu achten.

   „Mit deinem Kopf stimmt etwas nicht, Leo!“, rief der rothaarige Wachtmeister.

   „Nein, nein, Jimmy!“, mischte sich der andere junge Mann ein, dessen Zähne vom Tabakkauen braun waren, und präzisierte seine Beobachtung sofort. „Sein Problem ist, dass er verkorkste Arme hat.“

   Der Rotschopf lachte mit einem zufriedenen Blick. „Billy, alter Junge! Ich sehe keinen Grund, warum nicht beides gleichzeitig wahr sein könnte!“

   „Ich glaube, da hast du den Nagel auf den Kopf getroffen, Jimmy! In seinem Fall scheint sich das gegenseitig zu verstärken!“

Ich war nicht beleidigt; Jimmy und Billy waren notorische Witzbolde. Man musste ihnen nur etwas geben, worüber sie sich lustig machen konnten, und schon waren sie Feuer und Flamme. Aber der Inspektor wollte Erklärungen und so schien meine Idee, Billy mit meinem Betäubungsstab einen Schlag zu verpassen und ihm dabei das Maul zu stopfen, wie eine Chance, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Also tat ich genau das.

Gleißende Funken flogen durch die Gegend. Der Constable sprang ruckartig zurück und rieb sich die Brust.

   „Bist du total verrückt geworden?“ Er fletschte er die Zähne.

   „Vergiss es.“ Ich winkte ab und wandte mich dem Inspektor zu. „Wie ich schon sagte, der Stromschlag ist schwach!“

Teuflische Kreaturen reagierten besonders empfindlich auf Elektrizität, aber ein so schwacher Stromschlag, wie ich ihn verpasste, würde einen Sukkubus oder eine andere Ausgeburt der Hölle nicht betäuben.

Robert White kam mit seinem Gehstock über dem Arm die Treppe herunter und begann in aller Ruhe, seine Pfeife mit starkem persischem Tabak zu stopfen.

   „Sie hätten den Schocker heute Morgen überprüfen sollen, anstatt Ihr gelbes Schundblatt zu lesen“, sagte er vorwurfsvoll.

   „Aber ich habe ihn dreimal überprüft! Er funktionierte einwandfrei!“

   „Dann geben Sie mal her“, forderte der Inspektor und nahm die Hülle, die ich aus der Tasche gezogen hatte. Er betrachtete das kleine Etikett an der Unterseite.

   „Des Prez Electric?“, las er vor. „Leo, wo haben Sie diesen Mist ausgegraben?“, fragte er wütend.

   Ich antwortete mit der reinen Wahrheit. „Ich habe ihn aus unserem Lagerraum.“

   „Verflucht!“ schrie der Inspektor, riss in einem Anfall von Wut das Kabel heraus und warf den elektrischen Stab auf den Müllhaufen. „Leo, wir hatten dieses Biest zwei Wochen lang verfolgt! Zwei Wochen! Und alles war umsonst, wegen diesem Stück Schrott!"

   „Aber …“

   „Ruhe!“, forderte Robert White und zog wütend ein paar Mal an seiner Pfeife. „Ramon!“, rief er nach ein paar tiefen Zügen. „Wer hat den Elektroschocker in Ihrer Lupara hergestellt?“

   Das Gewehr mit vier kurzen zehn Kaliber-Läufen war ein Fabrikat der Firma Heim und verwendete elektrisch gezündete Patronen als Munition. Nach einem flüchtigen Blick auf seinen Klappschaft meldete der Constable zurück: „Edison Electric Lights, Inspektor!“

   „Sehen Sie, Leo?“, schimpfte mein Vorgesetzter. „Merken Sie sich das für die Zukunft. Nur Edison Electric Lights kommt in Frage, Tesla möge mir verzeihen. Haben Sie das verstanden?“

   „Ja, Sir.“

   „Und übrigens, warum sind Sie hineingegangen, ohne auf die anderen zu warten?“

   „Die Tür war offen. Ich wollte mich ein wenig umsehen.“

   „Ach, wollten Sie das? Und wohin hat das geführt?" Der Inspektor runzelte die Stirn, zuckte verärgert mit den Schultern und machte sich auf den Weg aus dem Innenhof. „Wir gehen!“, rief er, blieb aber sofort stehen und tastete seine Taschen ab. „Jimmy, wo sind meine Handschuhe?“

  „Ich weiß es nicht, Inspektor“, antwortete der Constable und stieß seinen Partner in die Seite. „Billy, wo sind die Handschuhe des Inspektors?“

   „Was fragst du mich?", knurrte er und sah sich um.

   „Vergessen Sie es!“, rief Robert White und duckte sich unter dem Torbogen durch.

Jimmy und Billy musterten mich mit unfreundlichen Blicken und eilten unserem Boss hinterher. Ich wischte mir den Schmutz vom Rücken und schlurfte hinter ihnen her. Ramon Miro ging schweigend neben mir und versuchte sich an meinen ungleichmäßigen Gang anzupassen.

   Ich muss dazusagen, dass der katalanische Wachtmeister ein überraschend wortkarger Mann war. Nebenbei bemerkt war er nur väterlicherseits Katalane. Seine Mutter stammte von den Ureinwohnern der Neuen Welt ab. Tatsächlich hatte Ramon vom Temperament her mehr mit dem Volk seiner Mutter gemeinsam als mit dem seines südländischen Vaters.

   In diesem Moment sprang eine verängstigte Ratte unter unseren Füßen hoch. Ramon kickte sie einfach mit der Spitze seines Stiefels weg und ging in aller Ruhe weiter. Ich ging über den Müllhaufen, der im Eingang lag, und zog den Kopf ein, um der rußverschmierten Unterseite des Bogens auszuweichen.

Groß zu sein, ist nicht annähernd so glamourös, wie manche Neider vermuten. Es ist einfach, was es ist.

   Dem stillen Hof folgte ein weiterer, der genauso schmutzig und unansehnlich war wie der vorige. Von dort gelangten wir in eine unbewohnte Gasse und blieben stehen, um auf weitere Anweisungen des Inspektors zu warten. Er klopfte in aller Ruhe seine Pfeife an der Hauswand aus, fischte eine silberne Taschenuhr aus seiner Weste und spitzte die Lippen, tief in Gedanken versunken.

   Ich nutzte den Moment der Ruhe, schüttelte den Rest des Mülls von meinem gummierten Umhang, klappte den Teleskopschocker wieder zusammen und nahm meine runde, getönte Brille aus der Brusttasche. Ich klemmte sie auf meine Nase und fühlte mich endlich wieder wohl.

   Anders als der Inspektor genoss ich es nicht, mit meinen unnatürlich farblosen Augen die Aufmerksamkeit der Anwohner zu erregen. Deshalb konnte ich es nicht ertragen, jemanden beim Reden direkt anzuschauen. Natürlich war da auch die Tatsache, dass ich die Menschen im Allgemeinen nicht besonders mochte. Sie waren gewöhnlich so beschränkt.

   „Lassen Sie uns zur Box zurückkehren“, beschloss Robert White in diesem Moment und begann, unruhig und sogar nervös mit seinem Stock wedelnd, in Richtung der nächstgelegenen Metrostation zu laufen.

   New Babylon war eine überraschende Stadt! Sie war immer wach und lebendig, Tag und Nacht. Hier lagen das Wundervolle und das Schreckliche so eng beieinander, dass es nicht zu unterscheiden war. Und es gab auch keine Winkel oder scharfen Kanten. Es waren alles nur Schattierungen und verschwommene Halbtöne, die nahtlos ineinander übergingen.

   Alte Paläste, deren marmorierte Verkleidungen längst rußgeschwärzt waren, stießen an neue Gebäude, die zwar noch sauber waren, deren Schlichtheit ihnen aber jede Schönheit nahm. Alleen, die in der Innenstadt breit waren, verloren sich in den Außenbezirken in einem Rattennest von kleinen, gewundenen Straßen, obwohl nicht genau klar war, wie. Die uralten Bäume im Emperor’s Park waren dicht mit raschelndem Laub bedeckt, aber ihre Blätter waren meistens gelb und starben vom ständigen Smog ab. Das azurblaue Wasser des Hafens brach sich in geschmeidigen Wellen am Ufer und der endlose Himmel war ständig dicht bewölkt von Rauchwolken aus Fabrikschornsteinen.

   So war alles in New Babylon. Selbst die Pflastersteine aus Granit waren rötlich, nicht wegen der natürlichen Färbung des Steins, sondern weil sie nun dauerhaft mit dem Blut der Gefallenen befleckt waren...

   New Babylon war die Hauptstadt des Zweiten Reiches, zugleich das Herz der Regierung, aber auch ein Geschwür, das sie von innen auffraß.

   Die kleine Straße mit rußverschmierten Wänden, durchsetzt mit vereinzelten angelaufenen, rechteckigen Fenstern, führte uns hinaus zu einer Kreuzung. Dort konnte ich Schornsteine sehen, hoch wie ein Gebirge und von langen Rauchwolken gekrönt. Zum Glück trug der Wind die Abgase heute von den Vororten weg, sodass es weniger dunstig war als sonst.

   Bald hatten wir die Baracken hinter uns gelassen. Die Straße wurde breiter, und der Gestank der fauligen Fabrikabwässer stieg aus den Kanalgittern auf. Wir gingen nun bergab und ein paar Blocks weiter erstreckte sich der Yarden Uferdamm. Die silbrige Wasserfläche wurde von einer Eisenbahnbrücke umklammert, die sich von einem Ufer zum anderen erstreckte. Klobige Schlepper und Lastkähne sahen vor dem Hintergrund ihrer Pfeiler wie Spielzeugboote aus, wodurch alle in den Hafen treibenden Fracht-Luftschiffe ebenfalls weniger eindrucksvoll aussahen, als sie waren.

   „Beeilt euch!“, hetzte der Inspektor uns weiter.

   Ich legte meine Hand an die Stirn, bemerkte eine Rauchfahne, die langsam in unsere Richtung kroch, erhöhte mein Tempo und eilte den anderen hinterher.

   Mit auf den Pflastersteinen des Damms klappernden Absätzen marschierten wir zum Bahnhof, vorbei am Zaun und den Fahrkartenschaltern. Zum Glück mussten wir nicht in den endlosen Schlangen warten. Auf dem Bahnsteig angekommen, war es zu voll, um sich zwischen den Arbeitern aus den umliegenden Fabriken hindurch zu drängen. Glücklicherweise machten die schmuddeligen Proleten einen weiten Bogen um unsere gut bewaffnete Abteilung, ohne dass sie geschubst werden mussten.

   Ein kräftiger Pfiff ertönte, und ein riesiger Zug rollte unter dem Vordach hindurch, eingehüllt in weiße Dampfwolken. Der Raum füllte sich sofort mit dem Rauch, der aus seinen Schornsteinen quoll. Mit einem metallischen Klirren kreischten die Bremsen und der Zug kam zum Stehen. Die Fahrgäste strömten auf den Bahnsteig, drängten sich gegen den arbeitenden Pöbel, der nach der Nachtschicht nach Hause wollte.

   Der Inspektor hatte keine Lust, sich mit gewöhnlichen Menschen abzugeben, und machte einen entschlossenen Schritt in einen Erste-Klasse-Wagen. Wir alle folgten unserem Chef. Am Eingang verscheuchte Robert White mit seinem Stock den Schaffner, der über seinen Mangel an Manieren verblüfft war. Er nahm neben dem Fenster Platz und wirkte ganz gesammelt. Für den Rest von uns gab es nicht genug Sitzplätze, aber das hielt den Zugbegleiter nicht davon ab, praktisch einen Anfall zu bekommen, während das distinguierte Publikum uns unverhohlen indigniert musterte.

   Ein zweimaliges kurzes Hupen ertönte. Der Zug setzte sich ruckelnd in Bewegung und Säulen und Zäune begannen mit zunehmendem Tempo an den Fenstern vorbeizuziehen. Bald tauchten die Gleise in einen Tunnel ein, und der Zug schoss unter die Erde und ließ das geschäftige Treiben der Straßen mit all ihren rasenden Taxifahrern und tagträumenden Fußgängern irgendwo weit, weit über uns zurück. Nun sauste der Zug mit Volldampf dahin und rüttelte uns gnadenlos durch. Wir mussten uns an den Griffstangen festhalten und die Rückenlehne des nächstgelegenen Sitzes umklammern, um überhaupt stehen zu können.

   Wenige Minuten später verlangsamte die Dampflok ihr Tempo und rollte mit ohrenbetäubendem Hupen aus dem Tunnel auf den Bahnsteig eines unterirdischen Bahnhofs, der nur von den ungleichmäßigen Flammen der Gaslampen beleuchtet wurde. Einige stiegen aus, einige stiegen ein, und der Zug rollte weiter.

   Die Metro war großartig! Nichts war damit zu vergleichen. Weder die Dampfstraßenbahnen noch die neumodischen selbstfahrenden Waggons. Sie produzierte allerdings eine Menge Rauch. Es war fast unmöglich zu atmen.

   Drei Stationen später stiegen wir aus dem Zug und traten auf die Straße. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes ragte der kolossale Newton Markt auf. Der Inspektor blickte nur mürrisch auf die Marmorsäulen seines Portals blicken, ehe er in die entgegengesetzte Richtung lief.

   „Ich muss mal meine Kehle befeuchten“, brummte er, nachdem er unsere neugierigen Blicken hinter seinem Rücken mitbekommen hatte.

   Niemand erhob Einwände. Was hätte wir auch dagegen haben sollen? Keiner von uns hatte es eilig, nach einem so großen Fiasko in die Box, wie alle das Polizeipräsidium nannten, zurückzukehren. Ich am allerwenigsten.

 

   Wir tranken normalerweise in der Schraube des Archimedes, einer kleinen Kneipe, die für ihre riesige Auswahl an flämischen Bieren und ihre Klientel, die vorwiegend aus Gesetzeshütern bestand, bekannt war.

   „Die Morgenausgabe ist da!“, rief ein heiserer Junge neben der Tür, der ein dickes Paket mit Zeitungen in der Hand hielt. „Die Spannungen im Meer von Judäa nehmen zu! Weitere Truppenbewegungen in Alexandria! Holen Sie sich Ihr Exemplar hier! Nur in der Samstagsausgabe! Spaltung in den Reihen der ‚Triumphalen Elektrizität‘! Tesla gegen Edison! Ganzseitiger Artikel!“

   Robert White warf dem Jungen eine Zehn-Cent-Münze zu, schnappte sich eine Ausgabe des Atlantic Telegraph und betrat die Bar.

   „Hallo, Almer!“, begrüßte er den korpulenten Besitzer der Bar und setzte sich an seinen Stammplatz am Fenster. „Das Übliche.“

   Der dicke Flame holte eine kleine Karaffe mit rotem Portwein hervor und stellte sie vor dem Inspektor ab. Danach schenkte er ein Glas Weißwein für Jimmy und Billy ein, die sich mit ihren Getränken, einem Teller Brot und ein paar Scheiben pikanter Schweineterrine in eine entfernte Ecke zurückzogen.

Als Ramon Miro sich mit einem Glas Weißwein entfernte, den er ziemlich stark mit Sodawasser verdünnt trank, nahm ich auf einem der hohen Hocker Platz und stützte mich mit den Ellbogen auf die Bar.

   „Limonade?“, fragte der Barkeeper seufzend.

   „Limonade“, bestätigte ich und blickte ohne besonderes Interesse auf die Reihe der Bierflaschen, von denen jede ein buntes, an dickem Garn um den Hals gebundenes Etikett trug und mit einem wachsversiegelten Deckel versehen war.

   „Ich kann diesen neuen Trend nicht ausstehen!“ Almer schüttelte den Kopf. „Bald werden die Leute Bier gemischt mit Limonade trinken!“

   „Igitt! Nein danke“, entgegnete ich kichernd.

   „Das werden sie aber. Sie werden noch an meine Worte denken!“, verkündete der Wirt selbstbewusst und machte sich auf den Weg zum Eiskeller. Bald war er mit einem beschlagenen Krug mit Limonade zurück. Er stellte ihn vor mir ab, und die Eisstücke begannen fröhlich darin zu klirren.

   Ich füllte mein hohes Glas, nahm ein paar Schlucke und nickte. „Großartig!“

Almer nahm das Lob als Selbstverständlichkeit und machte sich daran, einen der Bierkrüge mit einem Geschirrtuch abzutrocknen.

   „Ich kann mich nicht erinnern, dass Sie jemals ein richtiges Getränk bestellt hätten“, sagte er, ohne seine Arbeit zu unterbrechen.

   „Das ist richtig. Ich habe das Zeug nie angerührt“, bestätigte ich.

   „Erstaunlich.“

   „Wieso das denn? Ich dachte, das wäre alltäglich.“

   „Für einen moralverliebten Reduktionisten sicher“, sagte der Flame grinsend. „Aber Sie hätten weniger Mühe, eine Nutte zu finden, die zur Kirche geht, als einen Constable, der nicht trinkt.“

    „Von Alkohol bekomme ich Schlafprobleme“, erklärte ich meine Weigerung, ohne die Wahrheit besonders zu verbiegen.

   Der Besitzer des Etablissements brach in schallendes Gelächter aus. „Glauben Sie, dass sich viele Ihrer Kollegen um solche Nebensächlichkeiten sorgen?“

   Ich zuckte nur mit den Schultern und hatte nicht vor, seine Behauptung zu bestreiten. Um ganz ehrlich zu sein, kannte ich persönlich Leute, die man nur durch einen Schuss in den Kopf, vorzugsweise aus einem großkalibrigen Gewehr, vom Trinken abhalten konnte.

   Wenn ich nüchtern mit meinen betrunkenen Kollegen sprach, fühlte ich mich ihnen allerdings nicht weniger nahe. Schließlich sind Menschen nach ein paar Drinks normalerweise ziemlich offen und ehrlich. Alkohol erlaubt es den Menschen, ihre Ängste zu vergessen, zumindest für eine gewisse Zeit. Wer war ich schon, darüber zu urteilen?

   Ich nahm den Krug mit der Limonade und rutschte vom Barhocker, um mich zu Ramon zu gesellen, doch plötzlich rief mich der Inspektor, der in der Zeitung blätterte, zu sich.

   „Leopold!“, sagte er ohne sich von seiner Lektüre loszureißen. „Wollen Sie mir nicht Gesellschaft leisten?“

   Verdammt! Das war das Letzte, was ich brauchte!

   Ich fluchte innerlich, ging ohne besondere Eile zum Tisch und nahm meinem Chef gegenüber Platz. Nachdem ich mein Glas mit Limonade gefüllt hatte, verschränkte Robert White die Finger vor seinem Gesicht und sagte: „Würden Sie bitte Ihre Brille abnehmen?“

   Nachdem ich seinem Wunsch nachgekommen war, hauchte ich auf die runden schwarzen Gläser, wischte sie am Tischtuch ab und legte sie auf die Tischkante. Danach trank ich die Limonade aus und lenkte meinen Blick auf eine Blaupause für eine archimedische Schraube, die an die Wand gepinnt war, eine von vielen.

   „Sie sehen den Leuten nie in die Augen, nicht wahr, Leo?“, fragte der Inspektor unerwartet. „Ist das richtig?“

   „In der Regel nicht“, bestätigte ich und wandte meinen Blick von der vergilbten Zeichnung zu meinem Vorgesetzten. Ich begutachtete den Schnitt seines Maßanzugs, sein perfekt getrimmtes Haar und das fantasievolle Muster auf seinem seidenen Einstecktuch. Ich blickte ihm jedoch nicht in die Augen.

   Zwischen den Augen des Inspektors war eine tiefe Falte. Er trank seinen schweren Rotwein aus, wischte sich mit einer Serviette über die dünnen, blassen Lippen und sagte, nachdem er diese Prozedur beendet hatte: „Ich weiß von Ihrem illustren Talent. Es ist sicher nicht leicht, den Leuten in die Augen zu schauen, wenn alles, was man dort sieht, Angst ist.“

   „Es ist wenig Vergnügliches daran“, antwortete ich. „Jemandem in die Augen zu schauen, heißt schließlich immer noch, in die Seele des anderen zu steigen. Ich ziehe es vor ... Abstand zu halten.“

   „Das wird bei mir nicht funktionieren.“

   „Abstand halten?“, scherzte ich.

   „In die Seele zu gelangen“, antwortete Robert White völlig ernst. Dann fuhr er sich über das Kinn und bemerkte nachdenklich: „Ich hatte angenommen, dass Ihr Talent hier etwas nützlicher wäre ...“

   Nützlicher? Seine Worte hinterließen ein unangenehmes Gefühl.

   Sicher, mein Talent hätte ich bei der Arbeit hilfreicher sein können, aber ich konnte es einfach nicht ertragen, in den Ängsten anderer herumzuwühlen, sie in meinen eigenen Kopf zu lassen und sie zum Leben zu erwecken. Obwohl ich es ohne besondere Anstrengung tun konnte, fühlte ich mich, als hätte ich mich gerade in einer Schlammpfütze gesuhlt, wann immer ich mein Talent tatsächlich einsetzte.

   Andererseits ging es bei diesem Gespräch nicht um meine empfindliche Psyche...

   „Inspektor …“ Ich schauderte. „Mit dem Sukkubus ...“

   „Hören Sie mir zu, Leopold!“ Robert trommelte mit den Fingern auf die Tischkante und bat um Ruhe. „Hier geht es nicht um den Sukkubus! Sie verstehen es einfach nicht! Sie leben sich in dem Job nicht ein! Sie können nicht mit Menschen arbeiten und Sie wollen es auch gar nicht. In unserem Beruf ist das die halbe Miete. Warum wollten Sie eigentlich Polizist werden? Sie hätten Bibliothekar werden sollen!“

   „Ich muss irgendwie meine Rechnungen bezahlen“, antwortete ich, wie immer mit einer Halbwahrheit.

   Wenn der Inspektor mein Understatement bemerkte, ließ er es sich nicht anmerken.

   „Na schön.“ Er runzelte die Stirn und kam zum Kern der Sache. „Diese Stadt ist so voll von Dieben, dass sie wie Sardinen in einer Dose sind. Die Verhaftung von Einbrechern, Räubern und Mördern ist schon seit langem an der Tagesordnung. Separatisten und Anarcho-Christen? Dieses ganze Gesindel interessiert kaum jemanden. Und der Generalinspektor würde Ihnen nicht mal die Hand geben, wenn Sie einen ägyptischen Agenten fangen. Aber höllische Kreaturen, das ist eine ernste Sache! So kommt man auf die Titelseite der Zeitungen. Wir hatten diesen Sukkubus zwei Wochen lang verfolgt, Leo. Zwei Wochen lang haben wir alle anderen Aufträge ignoriert! Und jetzt ist das alles den Bach runtergegangen. Alles nur Ihretwegen.“

   Der Versuch, mich zu rechtfertigen, wäre zumindest dumm gewesen, weshalb ich meinen Blick auf mein Glas konzentrierte und mit den verbliebenen Eisstückchen herum klimperte.

   „Ich dachte, es wäre ein Zufall“, fuhr der Inspektor fort. „Ein simpler Zufall! Aber ich habe die Zeitungen gelesen und mir wurde klar: Nein, es ist kein Zufall. Klipp und klar, Leo, Sie haben bisher nichts als Ärger gemacht.“

   „Wie meinen Sie das?“ Ich war von der unerwarteten Wendung verwirrt.

   Robert White schob mir die Morgenausgabe des Atlantic Telegraph zu und gab mir einen Hinweis. „Die Gesellschaftsseite.“

   Ich warf einen Blick auf die Schlagzeile, auf die er zeigte, und zuckte bedauernd zusammen, las den Artikel aber trotzdem ganz durch und seufzte erst danach. „Was für eine Plage ...“

   Robert White nahm die Zeitung, schauderte, setzte sich aufrecht hin und las laut: „Der berühmte neubabylonische Dichter Albert Brandt hat im Gespräch mit unserem Korrespondenten angedeutet, dass er kürzlich ein Gedicht für seinen guten Freund, den Viscount Cruce, geschrieben hat, das er seiner Geliebten, der Illustren Elisabeth Maria N., gewidmet hat.“ Der Inspektor drückte die Zeitung mit der Handfläche auf den Tisch und verbrannte mich mit seinem hasserfüllten Blick. „Nun, Viscount Cruce, was glauben Sie, was der Vater der Illustren Elisabeth Maria N. mit Ihnen machen wird, nachdem er diese kleine Pikanterie gelesen hat?“

   „Moment mal“, fuhr ich dazwischen. „Sie verstehen das ganz und gar falsch!“

   „Ist das so?“, der Inspektor verzog skeptisch das Gesicht. „Man muss nicht die Weisheit Salomons besitzen, um zu erraten, worum es sich handelt. Ein blauäugiges, rothaariges Mädchen mit dem Namen ‚Elisabeth Maria N‘. Kennen Sie viele Menschen, auf die diese Beschreibung passt? Ich kenne nur eine! Und das ist die Tochter von Generalinspektor von Nalz! Verflucht! Der Kerl hat viele der Gefallenen selbst gefangen! Man munkelt, dass er sich von Kopf bis Fuß mit ihrem Blut eingeschmiert hat! Und jetzt versucht er mit allen Mitteln, sein Töchterchen mit dem Neffen des Justizministers zu verheiraten. Wenn die ganze Sache wegen eines kleinen Artikels schiefgeht ...“

   „Sie haben das ganz falsch verstanden ...“

   „Nein, das habe ich nicht!“ Robert White runzelte die Stirn. „Wenn das aus dem Ruder läuft, wird der Alte Sie zum Duell herausfordern und Sie umbringen. Es wäre nicht das erste Mal für ihn. Und, Leo, ob Sie es nun wissen oder nicht, er hätte jedes Recht dazu.“ Der Inspektor trank seinen Portwein aus und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. „Ich persönlich würde gerne meine Hände in Unschuld waschen, und zwar mit größtem Vergnügen. Das Problem ist, dass der Vorfall ein schlechtes Licht auf meine Karriere werfen wird.“

   „Es ist nur ein Zufall“, wiederholte ich hartnäckig. „Es besteht kein Zusammenhang zwischen ...“

   „Hören Sie doch auf!“, fauchte mein Chef. „Ihre Ausreden werden nichts ändern. Bis zu Mittag werden sogar die Putzfrauen im Hauptquartier von Ihrer Affäre mit der Tochter des Generalinspektors wissen. Der alte Mann wird nicht einmal zuhören!“

   „Ich könnte ...“

   „Sie können gar nichts“, fiel mir der Inspektor ins Wort, schnippte aber sofort mit den Fingern. „Doch, etwas können Sie! Verschwinden Sie für eine Woche. Zwei wären besser. Geben Sie Ihre Waffen ab und kommen Sie nicht zum Dienst. Danach können wir entscheiden, wie wir weiter vorgehen.“

   Ich war kategorisch dagegen, was auch immer er mit ‚weiter vorgehen‘ meinte, aber jeder Versuch, meinen Chef davon zu überzeugen, einen anderen Weg zu wählen, war sicher zum Scheitern verurteilt. Er hatte sich bereits entschieden. Ich hatte plötzlich einen unangenehm sauren Geschmack im Mund. Die Ungerechtigkeit des Seins ließ meine Augen brennen.

   Albert! Was für ein Mistkerl du doch bist! Wer war es denn, der deine Zunge zum Schwingen gebracht hat?

   „Jetzt machen Sie sich rar“, befahl der Inspektor und hielt seine Zeitung hoch, um mich auszusperren.

   Ich machte keine Anstalten, diesen Befehl schnell auszuführen. Ich fühlte mich wie ein geprügelter Hund, was äußerst unangenehm war. In einem kläglichen Versuch, einen letzten Rest meiner Würde zu bewahren, trank ich zuerst meine Limonade aus und stand erst danach vom Tisch auf. Dann nahm ich meinen gummierten Umhang vom Haken und wandte mich an den Barkeeper. „Almer, setzen Sie es auf meine Rechnung.“

   „So früh schon?“, erkundigte sich der schrullige Flame, der die Termine der Auszahlung unserer Mitarbeiter mindestens so gut kannte wie unser eigentlicher Buchhalter.

   Ich winkte allen zum Abschied, ging hinaus auf die Straße und schaute zum Himmel hinauf. Darin befanden sich spärliche Wolken, vermischt mit Rauchfahnen aus Fabrikschornsteinen. Ich fing an hilflos Schimpfwörter zu schreien. Dann klemmte ich mir mit einer gewohnten Bewegung meine dunkle Brille auf die Nase und machte mich auf den Weg zum Newton Markt.

   Ich würde meine Waffen abgeben und mich bei der Gelegenheit gleich umziehen.

Obwohl ich als Detective Constable nicht verpflichtet war, in Polizeiuniform zur Arbeit zu kommen, wie die meisten anderen, nutzte ich dieses Privileg normalerweise nicht aus. Sie bezahlten nicht dafür, dass ich meine eigene Kleidung reinigen oder flicken ließ, und der Viscount Cruce hatte in letzter Zeit nicht viel Geld herumliegen.

   In den Taschen des Viscount Cruce herrschte gähnende Leere, um genau zu sein. Die Hypothek auf meinem Haus entsprach dem Dreifachen seines Wertes und das Einzige, was mir erlaubte, auch nur vorsichtig optimistisch in die Zukunft zu blicken, war der Fonds, den ich von meinem Großvater mütterlicherseits geerbt hatte.

   Warum so vorsichtig? Weil der derzeitige Verwalter des Fonds, mein Onkel, der Graf Kósice, nicht gerade darauf brannte, sich von den zwanzigtausend Franken Jahreseinkommen zu trennen, die ihm dieser Fonds bescherte, und das Verfahren auf verschiedene Weise in die Länge zog, um mich so lange wie möglich von meinem rechtmäßigen Erbe fernzuhalten. Ich war vor einem Monat einundzwanzig geworden, aber die Treuhänder hatten es noch nicht einmal geschafft, das Vermögensverzeichnis zu erstellen, von den materiellen Überweisungen ganz zu schweigen. Und es war völlig unklar, wie lange es noch dauern würde, bis diese verwirrende Prozedur abgeschlossen war. Ich bezweifelte, dass mein Onkel es auf einen Rechtsstreit ankommen lassen würde, aber ich war mir sicher, dass ich um die restlichen ‚Annehmlichkeiten‘ der Nachlassaufteilung nicht herumkommen würde.

Andererseits, wozu brauchte ich das Geld jetzt? Ich konnte von Glück reden, dass ich nicht gerade meinen Kopf verloren hatte...

 

Release 29. April 2021

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