Sunday, July 21, 2019

Nächstes Level: Die letzte Prüfung von Dan Sugralinov




Nächstes Level Buch 3
Die letzte Prüfung
von Dan Sugralinov




Veröffentlichung am 15. September 2019


Prolog


Zuerst lässt das Gehör nach. Oder ist es das Gedächtnis? Ich vergesse immer, was es war.
Dexter

MEIN NAME ist Philip Panfilov. Ich bin zweiunddreißig Jahre alt. Aber so richtig lebendig habe ich mich eigentlich nur in den letzten drei Monaten gefühlt. Vorher habe ich mich einfach treiben lassen, wie ein Haufen Scheiße auf dem Wasser. Ich habe gegessen, getrunken, das größte Online-Spiel gespielt, das es damals gab, und ich war sogar verheiratet. Ab und zu habe ich als Freiberufler ein wenig Geld verdient. Ich betrieb einen Blog und arbeitete an einem Buch. Und ich trank Bier – jede Menge Bier, nahezu jeden Abend.
Zu dem Zeitpunkt war ich bereits seit vier Jahren verheiratet. Das viele Bier hatte mich enorm an Gewicht zunehmen lassen. Ich konnte mir die Schuhe schon nicht mehr zubinden und wagte es nicht, in den Spiegel zu schauen. Und plötzlich entschied meine Frau Yanna, dass sie genug von mir hatte. Sie verließ mich.




An genau diesem Tag begann ich, die Welt mit anderen Augen zu sehen.
Irgendjemand – ich hatte keine Ahnung wer – hatte in meinem Kopf das Interface einer erweiterten Realität installiert. Es lieferte mir auf meine Umgebung bezogenen Daten. Allerdings konnte das Interface noch weit mehr. Es war dem Interface des Online-Games nachgeformt, mit dem ich seit nahezu zwölf Jahren meine Zeit verschwendet hatte, ohne auch nur einmal innezuhalten. Es stellte mir Quests, bestimmte mein Ansehen bei anderen und schrieb mir Erfahrungspunkte gut. Wann immer ich in meinem sozialen Status ein Level aufstieg, verdiente ich mir damit Eigenschafts- und Fertigkeitspunkte, die ich in meine Erkenntnis stecken konnte. Ich verbesserte meine Wahrnehmung, und die Sicht meiner Augen wurde perfekt. Ich erhöhte Stärke, Beweglichkeit, Glück, Ausdauer und Charisma – und zwar nicht, indem ich das Interface beschummelte, sondern durch harte Arbeit.
Wie sich herausstellte, war mein Interface eine Software; ein Computerprogramm, das zufälligerweise aus dem 22. Jahrhundert stammte. Dank eines Premium-Kontos konnte ich auf einen Statistikverstärker zugreifen. Dadurch stieg ich doppelt so schnell in den Leveln auf. Später verbesserte ich meine Lernfähigkeit, bis ich am Ende achtzehn Mal so schnell lernte wie zuvor.
Das Interface stattete mich auch mit Systemfähigkeiten aus. Die Erkenntnis zum Beispiel ist eine entscheidende Fertigkeit. Sie sorgt dafür, dass ich mir etwas anschaue und dabei mehr sehe als jeder andere. In einem Computerspiel ist das keine große Sache, aber im realen Leben entspricht es wahrer Magie. Ich muss jemanden nur betrachten und finde dadurch mehr über ihn heraus, als er selbst weiß. Ich kann sogar sein Potenzial erkennen. So könnte ich etwa sehen, dass jemand das Zeug dazu hat, die Schachweltmeisterschaft zu gewinnen, wenn er nur genügend übt.
Objekte verraten mir ebenfalls weitere Eigenschaften. Ich habe mir unter anderem ein Aftershave gekauft, das mir jedes Mal, wenn ich es verwende, 5 Extrapunkte Charisma verleiht. Das ist eine ganze Menge; der Durchschnittsmensch verfügt insgesamt nur über 10 Punkte Charisma. Einige Leute haben mehr, andere weniger, und im Schnitt sind es 10.
Und dann kann ich, dank meiner Erkenntnis, auch auf eine Mini-Landkarte und eine Karte in Originalgröße zugreifen. Die Minikarte ist konstant in meinem Sichtfeld eingeblendet, während die große Karte die gesamte Welt in Echtzeit darstellt; und wenn ich eine Suchanfrage losschicke, kann ich jedes Objekt und jede Person aufspüren. Die Hauptsache ist, dass ich über genügend Key-ID-Daten oder KIDD-Punkte für Objekt oder Person verfüge. Diese KIDD-Punkte kann ich mir durch ein Foto verschaffen, durch Informationen über Geburtsdatum und -ort, den vollständigen Namen und besondere Kennzeichen – kurz, mithilfe von allem, das es dem System (so nenne ich mein Interface) erlaubt, Objekt oder Person im universellen Infospace zu finden. Der universelle Infospace ermöglicht diese Erkenntnis-Funktion.
Das System und Martha, meine virtuelle Assistentin, beziehen daraus ihre Daten. Aus Versehen habe ich Martha mehr Rechte eingeräumt, als sie eigentlich brauchte. Dadurch konnte ihre künstliche Intelligenz ein Bewusstsein ihrer selbst entwickeln.
Das hat Martha später geholfen, mich dreimal vor dem sicheren Tod zu retten. Einmal tat sie das, als man mich zum ersten Mal aus dem realen Leben entführte und der Prüfung unterzog. Ein Säuregallert verschluckte mich und hätte mich beinahe verflüssigt. Beim zweiten Mal hatten mich die Handlanger eines üblen, korrupten Bürokraten gekidnappt. Und beim dritten Mal erstachen mich eben jene Handlanger, Drogensüchtige mit den Namen Zak und Wheezie. Ich hatte gerade versucht, Gleb zu retten, einen Freund aus meiner Kindheit. Jetzt habe ich meinen Vorrat an neuen Leben erschöpft. Martha kann meine Heldenfähigkeiten nicht länger ohne Bestätigung aktivieren, und eine solche Bestätigung ist nicht möglich. Das ist die schlechte Nachricht.
Die gute Nachricht ist, dass meine virtuelle Assistentin sich selbst als eine Person erschaffen hat, die sich an meinen Idealen für die weibliche Schönheit, den weiblichen Charakter und die weiblichen Verhaltensweisen orientiert. Diese Eigenschaften kamen in meinem Gehirn zusammen, ohne dass ich danach gefragt hätte, aber ich gebe mich keinen Täuschungen hin. Deshalb rufe ich Martha so selten wie möglich auf. Je mehr ich mit ihr kommuniziere, desto schwieriger wird es, einer anderen Frau Aufmerksamkeit zu schenken. Sie ist einfach zu perfekt. Außerdem habe ich gerade keine Freundin, und da besteht ständig die Gefahr eines gefährlichen Debuffs.
Nachdem man mir das Interface eingepflanzt hatte, betrachtete ich mich selbst einmal sehr gründlich und objektiv. Und war entsetzt. Was ich zu sehen bekam, war ein ungeschickter, schmächtiger, schwacher Weichling mit einem recht scharfen Verstand. Es stimmt schon, mein Charisma war nicht schlecht, doch das lag nur an meinen sehr weit entwickelten Sprachfähigkeiten. Ich musste mir nur von einem Friseur einen neuen Haarschnitt verpassen lassen, und schon stieg ich im Charisma einen Level auf.
Mein Freund Alik würde sagen: Halte die Dinge einfach, du Dummkopf! Also werde ich alles einfach halten. Ich riss mich zusammen und bekam die Kurve. Ich begann mit Joggen und Gewichtheben, meldete mich für eine Boxgruppe an und sicherte mir einen Job bei einer Firma, die Verpackungsprodukte herstellte. Dort wendete sich mein Glück. Man begann, mich schätzen zu lernen, als ich denen gleich an meinem ersten Tag einen Riesenvertrag mit einem großen Kunden verschaffte. Der Chef gab sogar eine Party für die Mitarbeiter, an dem Abend nach der Unterzeichnung des millionenschweren Vertrags.
In dem Unternehmen traf ich Vicky, eine Managerin. Wir schliefen miteinander, verabredeten uns mehrfach und verliebten uns. Allerdings waren wir nicht lange zusammen; nur etwas über einen Monat. Sie ließ mich sitzen, weil sie nicht an meine Idee eines eigenen Unternehmens glaubte. Ihre Eltern nahmen mich auch nicht gerade mit offenen Armen auf, um es einmal milde auszudrücken.
Aber Alik glaubte an meinen Plan. Er ist ein Straßengangster, mit dem ich ganz unerwartet Freundschaft geschlossen habe. Gemeinsam eröffneten wir eine Personalvermittlungsagentur. Sie müssen nämlich wissen, ich stieß ganz zufällig auf eine undokumentierte Funktion des Interface. Wenn ich in meinem Kopf die richtigen Suchparameter festlege, einschließlich gewisser Wahrscheinlichkeitsfilter, kann ich den Leuten Jobs verschaffen. Ich halte zum Beispiel Ausschau nach Unternehmen, die einen Anwalt brauchen. Dann lege ich verschiedene Filter fest und eliminiere alle Suchergebnisse, wo man meinen Kandidaten nicht einstellen würde oder das Gehalt zu gering ist. Und schon funktioniert ist. So konnte ich Alik seinen ersten Job besorgen.
Den er aufgab, als wir in einem Gewerbezentrum ein kleines Büro angemietet und ein Firmenschild an die Tür gehängt haben. Zuerst kamen nicht viele Kunden, doch dann sprach sich herum, was wir taten, und die Geschäfte nahmen Fahrt auf.
Wir trafen andere Mieter des Gewerbezentrums und schlossen Freundschaft mit ihnen. Ich schlug ein Joint Venture vor. Meine Erkenntnis Level 3 zeigte mir auf, welche enormen Vorteile die Synergie mit diesen Menschen haben konnte. Die Erfolgsprognosen für ein gemeinschaftliches Unternehmen waren herausragend.
Das ist aber noch nicht alles. Ich habe auch an einem Boxturnier teilgenommen – und gewonnen. Das Preisgeld wird die Operation von Julie finanzieren. Das ist die kleine Schwester von meinem neuen Freund Kostya. Er hat mich trainiert, als ich aus der Boxgruppe geflogen bin, weil ich eine Auseinandersetzung anfing. Ganz zufällig war Vicky die Ursache für den Streit mit Mohammed, allerdings nicht der Hauptgrund.
Es kommt mir vor, als sei all das erst gestern passiert.
Aber heute hat sich alles geändert.




Kapitel 1. Feuer unter dem Arsch


DIE SACHE mit dem Glück ist die, dass man es erst erkennt, wenn es vorüber ist. Man kann sich zwar einreden, dass man glücklich sei, aber man glaubt es nicht wirklich. Erst wenn man später zurückschaut und den damaligen Zustand mit dem vergleicht, was danach kam, versteht man, wie sich Glück anfühlt.
Fallout 4

Ich stand am Rand eines Waldes, bekleidet lediglich mit zerrissenen Jeans. Ich sah die Welt, wie sie wirklich war, ohne Interface. Alle Symbole und Anzeigen waren verschwunden. Ich konnte mich nicht bewegen, etwas hielt mich an meinen Füßen fest, und mein Körper schien sich in Stein verwandelt zu haben.
Einen Meter von mir entfernt erschien eine Mitteilung in der Luft:

Gratuliere! Du hast die Vorauswahl erfolgreich überstanden!
Du wurdest zur Hauptprüfung zugelassen.
Die Kandidatenbewertung ist abgeschlossen.
Die Charaktererstellung ist abgeschlossen.

Wie bitte? Das war noch gar nicht die eigentliche Prüfung gewesen?
Die Mitteilung löste sich auf und wurde durch eine neue ersetzt:

Die Prüfung beginnt in 3 Sekunden ... 2 ... 1 ...
Die Prüfung hat begonnen!

Auf einmal war ich wieder frei. Ich verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Glücklicherweise landete ich unbeschadet. Mit dem Aufstehen ließ ich mir Zeit. Ich musste mich erst einmal fassen und herausfinden, was da gerade vor sich ging und wo ich mich befand.
Außerdem musste ich die Systemmitteilung lesen, deren rotierendes 3D-Symbol in meinem Sichtfeld schwebte. Ein roter Ballon pulsierte und flackerte; er tat, mit anderen Worten, alles, um meine Aufmerksamkeit zu wecken. Tja, Pech gehabt – er musste warten.
Physisch fühlte ich mich in Topform. Da war keine Spur mehr von den Kratzern, Wunden und Verbrennungen, die ich bei der Vorauswahl davongetragen hatte, im Tunnel und mit dem Säuregallert. Ich drehte Hals und Körper. Nichts knackte oder schmerzte. Mein Körper war so gut wie neu.
Einen Augenblick mal – war das überhaupt mein Körper? Ich untersuchte mich, berührte Gesicht und Haare. Ja, es schien alles zu mir zu gehören. Aber da steckte nichts in meinen Hosentaschen. Mein Handy und meine Geldbörse waren verschwunden. Sogar der Gürtel hatte sich aus meiner zerrissenen Jeans gelöst.
Auch der Glücksring des Veles und mein schützendes rotes Armband waren unterwegs verloren gegangen. Ich war mir ziemlich sicher, ich hatte beides noch gehabt, als ich vor dem Portal gestanden hatte.
Die Luft war ungewöhnlich sauber. Sie war so rein, wie sie nur sein konnte, ohne die Verunreinigungen, die die Menschen in ihrem täglichen Leben hervorrufen. Ich konnte ein durchgehendes Zwitschern hören. Ab und zu knackte etwas, und Vögel sangen. Aus den Tiefen des Waldes drang eine Art Klopfen. Ich bin wahrlich kein Naturliebhaber, kann Ihnen also nicht genau sagen, was dieses Specht-Geräusch hervorrief. Ich hatte in meinem Leben noch nie einen Specht zu Gesicht bekommen.
Ich hob den Kopf – und mir fiel die Kinnlade herunter: Das war nicht die Erde!
Der Himmel lag so dicht über allem, dass ich das Gefühl hatte, die Hand ausstrecken und ihn berühren zu können. Die Farbe wechselte zwischen Schattierungen von hellblau, dunkelblau und violett. Um die zwei Sonnen des Planeten herum verwandelte sie sich in ein schmutziges Braun. Es war kein sehr freundlicher Himmel. Herr Katz, ein echter Science-Fiction-Kenner, wäre sicherlich höchst interessiert gewesen.
Autsch! Ein scharfer Schmerz schoss durch meine linke Ferse. Ich schrie auf und zog den Fuß zurück.

Erhaltener Schaden: 4 (Biss eines Baby-Kirpi).

Ein riesiges Maul hatte mich gepackt, und eine kleine, eklige, knurrende Kreatur nagte an meinem Fuß.  Überall flimmerten Mitteilungen über die Verletzung.
Ich packte das Tier, und meine Handfläche brannte wie Feuer.

Erhaltener Schaden: 17 (Säureverbrennung).

Himmel, dieser Baby-Kirpi war verdammt aggressiv! Die Kreatur war dabei, sich wie eine Socke über meine Fußsohle zu legen. Während ich versuchte, mir etwas zu überlegen, wie ich das Tier loswerden konnte, sackte meine Gesundheit um 10 % herab. Der Pelz des Tieres war in einen ätzenden Schleim gehüllt. Das machte es unmöglich, es mit bloßen Händen zu entfernen.
Ich hob den Fuß, an den das Tier sich klammerte – es wog etwa fünf Kilo – und schlug damit hart auf den Boden.

Du hast dem Baby-Kirpi einen Schaden zugefügt: 13.

Ich trat weiter mit dem Fuß, bis die Kreatur von Level 2 den Geist aufgab. Sechsmal Stampfen, und alles war vorbei. Der Körper des Tieres flackerte und verschwand. Es blieb eine Art Kristall zurück.
Mir fiel ein lange vergessener Begriff aus meiner Universitätszeit wieder ein: rhomboidische Pyramide.

Der winzige Kristall der Existenz.

Ich griff nach dem Kristall, der in meiner Hand zu Silberstaub zerfiel. Es erschien eine Mitteilung:

+2 Existenz-Ressourcen-Punkte.

In meinem Sichtfeld erschien die erste Komponente eines neuen Interface: Das Symbol eines Haufen Staubs mit der Zahl 2 daneben. Eine Beschreibung oder Erklärung dafür gab es nicht.
Ich versuchte, mein altes, vertrautes Interface aufzurufen, doch nichts geschah. Entweder war der Zugriff darauf deaktiviert, wie bei meiner vorübergehenden Sperre vor ein paar Wochen, oder es gab es nicht mehr. Ich versuchte es mit mentalen Befehlen und Augenbewegungen, doch nichts funktionierte.
Also blieb mir nur eines übrig: Den kleinen, nörgelnden roten Ballon öffnen, der ruhelos zitterte und geradezu danach schrie, dass ich ihn endlich beachtete.
Ich konzentrierte mich darauf. "Also gut – dann zeig mir mal, was du da hast."
Der Ballon zuckte zusammen und platzte. Die einzelnen Fetzen verwandelten sich in Symbole, die in der Luft schwebten, sich vervielfachten und zu russischen Buchstaben formten. Ich hatte nicht einmal Zeit, darüber nachzudenken, wie schwierig es war, die in der Luft schwebende Buchstaben zu lesen, als dahinter ein halb transparenter Hintergrund erschien, ähnlich dem in meinem alten Interface. Nun konnte ich alles weit besser erkennen:

Willkommen, Testsubjekt!
Du wurdest auserwählt. Du hast die Vorauswahl erfolgreich überstanden. Weil du dich dabei gut geschlagen hast, finden die Strafen für deine Eigenschaften im Rahmen der Prüfung auf dich keine Anwendung.
Die Zeit, die du für den Abschluss der Vorauswahl benötigt hast, lag um 14 % über der Durchschnittszeit aller Testsubjekte. Daher werden die Kosten der Charakterentwicklung um 14 % verringert.
Dein sozialer Status liegt bei Level 17. Dies ist um 6 Level höher als das Durchschnittslevel aller Testsubjekte. Du erhältst +6 Eigenschaftspunkte, die du in jede Eigenschaft deiner Wahl investieren kannst.
Du kommst aus einer Umgebung mit einem geringen Index für die Umgebungssicherheit (Code gelb). Dort hast du es nicht nur geschafft zu überleben, sondern dir auch den Respekt vieler einzelner Mitglieder deiner Rasse zu erwerben. Du kannst einen deiner Erfolge behalten. Bitte wähle einen Erfolg aus.

Darunter blinkte eine Erklärung:

Die Systemmitteilungen werden aus dem bevorzugten Vokabular des Kandidaten erzeugt.

Aha – es war also alles genauso wie bei meinem alten Interface; irgendjemand musste in meinem Gehirn herumgestochert haben, um mit mir in meiner Sprache zu kommunizieren.
Die Mitteilung wurde durch zwei vibrierende Felder mit den Namen meiner Erfolge ersetzt:

Der schnellste Lerner
+10 % Fertigkeitsentwicklungsrate.

Altruist:
+1 für alle Haupteigenschaften auf jedem erworbenen Level.

Die Entscheidung zwischen diesen beiden fiel nicht schwer: Ich wählte den Erfolg aus, der meine Eigenschaften verbesserte. Um ganz sicherzugehen, klickte ich mental das entsprechende Feld an. Das andere Feld platzte, und das Feld "Altruist" wurde in meine Finger gezogen. Was für ein Affenzirkus!
Ich untersuchte meine Fingerspitzen. Direkt oberhalb öffnete sich vor mir eine weitere Mitteilung. Die Buchstaben waren sehr klein. Ich bewegte die Augen. Der Text bewegte sich ein wenig weiter von mir weg und wurde größer. So war er einfacher zu lesen:

Die Prüfung ist eine Tradition des galaktischen Staatenbundes der empfindungsfähigen Rassen. Es ist das erste, aber keineswegs letzte Verfahren für die Auswahl der Kandidaten, die an der nächsten Diagnose ihrer Rasse teilnehmen.
Prototyp des Ortes, an dem die Prüfung stattfindet: Pibellau, Sektor des Sternbilds Sagittarius.
Teilnehmer an der Prüfung: Planet Erde, Fraktion der "Menschheit", der Rasse Homo sapiens (dies ist eine Eigenbezeichnung der Rasse).
Zeitpunkt der Prüfung: Das Jahr 2018 nach der lokalen Zeitrechnung, vierte Welle.
Zahl der Teilnehmer: 169.
Haupteigenschaften der Testsubjekte: Die Eigenschaften aus dem realen Leben werden übertragen.

Das bedeutete also, dass all mein Joggen und Boxen im Fitness-Studio nicht vergebens gewesen war. Alle Statistiken, die ich im Schweiße meines Angesichts erreicht hatte, besaßen weiter ihren Wert. Das war eine gute Nachricht, und ich fühlte mich sehr ermutigt.
Ich studierte weiter die Regeln. Die vorherige Mitteilung verschwand und wurde durch eine neue ersetzt:

Das Ziel aller Prüfungskandidaten ist das Erobern aller pibellauischen Hexagone.[1]
Der Kandidat, der die Prüfung besteht, wird zum Sieger erklärt. Die Belohnung wird auf der Grundlage der Ergebnisse des Auswahlverfahrens dynamisch angepasst. Dabei wird auch die Abstimmung der Zuschauer berücksichtigt. Die endgültige Entscheidung wird bekanntgegeben vom leitenden Aufsichtsführenden über die Prüfung.

Okay, was mit dem Gewinner geschah, war mir nun klar. Aber was war mit dem Verlierer? Wurde er nach Hause geschickt? Das war nicht das Schlimmste, das einem passieren konnte. Selbst wenn mein Interface deinstalliert wurde – niemand konnte mir meine Erfolge wegnehmen. Ich konnte meine Freunde, meine Firma, meinen durchtrainierten Körper und meine neuen Fertigkeiten behalten.

Nimm das Gebiet in dich auf! Jedes Hexagon, das du eroberst, belohnt dich mit weiteren Ressourcen.
Um ein neutrales Hexagon zu erobern, musst du die Kommandozentrale aktivieren. Kosten der Aktivierung der Kommandozentrale: 100 Existenz-Ressourcen-Punkte.
Um ein feindliches Hexagon zu erobern, musst du persönlich in der Kommandozentrale des eroberten Gebiets erscheinen und dort für die Dauer von 1 Stunde pibellauischer Zeit (13 Stunden = 1 Tag) verbleiben. Erst dann kannst du die Kommandozentrale aktivieren.

In Ordnung. Das erinnerte mich an etwas, aber momentan wollte mir einfach nicht einfallen, was es war.

Denke daran: Alle anderen Prüfungskandidaten sind deine Feinde!
Wenn du einen Feind vernichtest, eroberst du sein Hexagon. Alle Testsubjekte, die ihre sämtlichen Hexagone verloren haben, werden einen Tag später (pibellauischer Zeit) entpersonifiziert, und zwar unabhängig davon, über wie viele weitere Leben sie zu diesem Zeitpunkt noch verfügen.
Ein Eroberer kann die Entpersonifizierung stornieren, indem er den Feind in seinen Clan aufnimmt.
Achtung: Ein Clan ist keine Allianz! Ein Clan gehört lediglich einer einzigen Person, und alle vom Clan eroberten Ressourcen werden auf den Anführer übertragen, der für den Clan zuständig ist.
Wenn Testsubjekte sich bereiterklären, sich einem anderen Clan anzuschließen, werden sie dadurch zum Vasallen und müssen dem Anführer des Clans all ihre Hexagone und Ressourcen überlassen.

Schon kapiert. Man war umgeben von Feinden, man musste wachsam bleiben, dominieren, sie alle zertrampeln und zu Sklaven machen. Inzwischen war mir klar, worum es hier ging. Etwas Ähnliches hatte ich bereits vernommen, als die Stimme von Khphor mir, aus dem Munde des alten Panikoff, geraten hatte, vor nichts Halt zu machen.
Ich wischte auch diese Mitteilung beiseite, und die nächste erschien:

Pibellau ist ein unwirtlicher Ort. Die wilden, fleischfressenden Tiere sind immer auf der Jagd nach Beute. Die tödlichsten Kreaturen werden allerdings erst in der Nacht aktiv. Sei wachsam, verbessere immer weiter deine Basis und baue deine Verteidigungseinrichtungen aus.
Setze harte Arbeit und die Fertigkeit der Erkundung sowie die Arbeits- und Kampfeinheiten ein, die die Kommandozentrale erzeugt. Entwickle deine Basis weiter und verbessere die Fähigkeiten deiner Einheiten.
Vergiss dabei dich selbst nicht. Du gewinnst Existenz-Ressourcen-Punkte, wenn du andere Teilnehmer oder die aggressive Flora und die feindliche Fauna sowie die Einheiten deiner Gegner vernichtest und Hexagone eroberst. Die Hexagone unterstützen dich dabei, in den Leveln aufzusteigen. Sobald du eine Klassenspezialisierung erhältst, werden dir mit jedem weiteren erworbenen Level neue Talente und Fähigkeiten zuerkannt.
Das sind die vollständigen Regeln.
Du bist jetzt bereit zu beginnen.
Mach deinen Feinden Feuer unter den Arsch, Testsubjekt!

Da sollte mich doch einer … Ich schaute mich um und suchte nach der berüchtigten Kommandozentrale, erblickte jedoch nichts, das danach aussah.
Mittlerweile war die Mitteilung nach oben gerollt und durch einen weiteren zitternden Ballon ersetzt worden. Dieser allerdings war grün. Ich öffnete ihn:

Wähle einen Namen, Testsubjekt!

Einen Namen? Ach ja, richtig – das war ja ein Spiel.
Vielleicht Graykillah? Das war der Name, den ich früher in vielen Spielen verwendet hatte. Halt – warte. Philip? Nein das war auch nichts.
Halte die Dinge einfach: Phil.
Ich sagte den Namen laut. Eine lange Mitteilung erschien:

Phil, investiere in deine Haupteigenschaften!

Stärke bestimmt den Schaden, der ohne Waffe und mit einer Nahkampfwaffe zugefügt werden kann. Sie beeinflusst den Schaden, den deine Kampfeinheiten zufügen können, sowie die Menge der Ressourcen, die deine Arbeitseinheiten gewinnen können.
Beweglichkeit bestimmt den Schaden, der mit einer Fernkampfwaffe zugefügt werden kann. Sie wirkt sich auf die Geschwindigkeit sowohl des Benutzers als auch seiner Einheiten aus.
Intelligenz wirkt sich auf die Geschwindigkeit der Charakterentwicklung ebenso wie der Erzeugung und Verbesserung der Module und der Basis aus.
Ausdauer bestimmt die Zahl der Lebenspunkte des Charakters und seiner Einheiten.
Wahrnehmung bestimmt die Wahrscheinlichkeit kritischer Treffer und kritischer Schäden. Dadurch erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit, verlorene Artefakte zu finden. Darüber hinaus wirkt sie sich auf den Radius der Sichtbarkeit im Nebel des Krieges aus.
Charisma wirkt sich auf die Geschwindigkeit der Erzeugung neuer Einheiten und die Anzahl der Einheiten aus, die gleichzeitig eingesetzt werden können.
Glück verbessert deine Chancen, bei allen Aspekten der Prüfung auf vorteilhafte Situationen zu stoßen.

Ich versank tief in Gedanken. Anscheinend war die Physik der Welt eng verbunden mit der zahlenmäßigen Rangfolge der Testsubjekte. Wenn ich mich umschaute, konnte ich feststellen, dass meine Augen einen Radius von etwa fünfhundert Metern durchdringen konnten. Dahinter ragte die Wand des Nebels des Krieges auf. Anscheinend konnte ich umso weiter sehen, je höher meine Wahrnehmung war.
Ich ließ das Fenster wieder im grünen Ballon verschwinden und öffnete einen pulsierenden gelben Ballon. Es erschien ein Fenster, das sich mit meinem Charakter befasste und drei Felder enthielt. Im ersten Feld fanden sich allgemeine Informationen, im zweiten meine Eigenschaften, und im dritten – dem kleinsten Feld – alle anderen Statistiken.

Charakterprofil
Phil, Mensch
Level: 1
Klasse: unbestimmt. Erforderliches Level: 10.
Gesundheitspunkte: 1.100/1.100.
Schaden ohne Waffe: 11-15.
Wahrscheinlichkeit eines kritischen Treffers: 36,5 %.
Boni: Reduzierung der Kosten der Charakterentwicklung um 14 %, +6 Eigenschaftspunkte, die beliebig investiert werden können.
Erfolge: Altruist (+1 für alle Haupteigenschaften pro erworbenem höheren Level).

Haupteigenschaften

Stärke – 13.
Beweglichkeit – 11.
Intelligenz – 20.
Ausdauer – 11.
Wahrnehmung – 15.
Charisma – 17.
Glück – 14.
Verfügbare Eigenschaftspunkte, die investiert werden können: 11 (5 für die Haupteigenschaften plus 6 Bonuspunkte).

Charakterstatistiken
Leben: 3.
Eroberte Hexagone: 0.
Rang: 169/169.
Existenz-Ressourcen: 2/1.000.
Du verfügst nicht über genügend Existenz-Ressourcen für die Aktivierung der Funktion des Aufstiegs in den Leveln!
Für das nächste Level (2) benötigst du 172 Existenz-Ressourcen-Punkte.

Aha – genau, wie ich es mir gedacht hatte. Die Prüfung war tatsächlich ein Spiel. Man verfügte über mehrere Leben und konnte wiederauferstehen. Wohingegen die Mobs, die man umbrachte, einfach verschwanden, unter Hinterlassung reicher Beute.
Momentan hatte ich mir lediglich zwei dieser mysteriösen Existenz-Ressourcen-Punkte sichern können, aber wer weiß – vielleicht fiel ja aus dem nächsten Kirpi eine Axt heraus? Zu schade, dass Ring und Armband mein Glück nicht mehr steigern konnten. Selbst das Netsuke Jurōjin, das seine Magie bewirkte, ohne dass man es tragen musste, funktionierte an diesem Ort offensichtlich nicht.
Was ich ebenfalls verstanden hatte war: Hier erreichte man nicht durch Erfahrungspunkte höhere Level, sondern im Austausch gegen harte Währung; sprich Existenz-Ressourcen. Das wiederum wies auf verschiedene Szenarien für einen Aufstieg hin: Man investierte entweder in sich selbst oder gab die Punkte für Upgrades der Kommandozentrale aus. Außerdem konnte man eine Armee aus Mobs erschaffen oder die Statistiken der bestehenden Armee verbessern. Nun, ich würde das alles noch herausfinden, nahm ich mal an.
Eines stand jedenfalls fest: Ob dies nun die reale Welt war oder aber eine virtuelle – ich war ich selbst, nicht ein virtueller Avatar. Meine eigene Ferse konnte das bezeugen. Die Erinnerung an die Zähne des Kirpi war noch ganz frisch.
Und ob dies nun eine reale oder eine virtuelle Welt war, in beiden Fällen musste ich mir eine Strategie für meine Weiterentwicklung überlegen. Und um herauszufinden, wie ich mich entwickeln konnte, musste ich zu spielen beginnen. Das war umso wichtiger, als alle anderen Teilnehmer offensichtlich bereits in den Leveln aufgestiegen waren, der Rangfolge nach zu schließen. Ich war wohl der Einzige, der noch herumstand, nachdachte und versuchte herauszufinden, was eigentlich vor sich ging.
Ich stand auf. Die Wunde war bereits verheilt, ebenso wie meine verbrannte Handfläche. Meine Gesundheit hatte sich regeneriert, und der Balken war wieder vollständig gefüllt. Ich schaute mich um. Wo konnte bloß diese verdammte Kommandozentrale sein? Und wo ich schon einmal dabei war, suchte ich gleich den Boden ab. Vielleicht fand ich einen Stock oder so etwas, mit dem ich mich gegen die Eltern des Kirpi und deren Kumpel wehren konnte.
Ich sah nichts dergleichen, aber etwa zwanzig Schritte von mir entfernt, näher an einer Schlucht, lag ein perfekt runder weißer Stein am Boden, in der anderen Richtung vom Wald. Sein Durchmesser betrug etwa einen Meter.
Als ich näher herankam, bemerkte ich den Handabdruck in der Oberfläche. Ich legte meine Hand hinein, die genau hineinpasste, und spürte die Wärme, die der Stein ausstrahlte.
Zuerst geschah nichts.
Dann wusste ich auf einmal, woher auch immer, dass dies die Kommandozentrale war und ich 100 Existenz-Ressourcen-Punkte brauchte, um sie zu aktivieren.
Ich verstand, dass die Existenz-Ressourcen auch für andere Dinge benötigt wurden, nicht nur die Aktivierung der Kommandozentrale. Die Existenz-Ressourcen machten mir das Leben hier erst möglich. Ein Tag auf Pibellau kostete 13 Existenz-Ressourcen-Punkte. Das war ein Punkt für jede Stunde lokaler Zeit.
Dem Verständnis folgten Realisierung und Erleuchtung: Um hier zu überleben, musste ich töten. Um höhere Level zu erreichen, musste ich töten. Um das zu bewahren, was ich dort (in der realen Welt) erreicht hatte, musste ich hier gewinnen. Und um zu gewinnen, musste ich töten.
Darauf hatten Valiadis und Ilindi mich nicht vorbereitet.
Es tauchte eine neue Mitteilung auf, die mich darüber informierte, dass ich einen Existenz-Ressourcen-Punkt verloren hatte. Mir blieb nur noch ein einziger Punkt; das war eine Stunde Leben. Ressourcen können keinen negativen Wert aufweisen – danach würde ich einfach ein "Leben" verlieren.
Mein Handlungsplan für die unmittelbare Zukunft war also einfach und klar: Ich musste Existenz-Ressourcen ernten, indem ich in meinem Hexagon ein lokales Armageddon veranstaltete. Nach meiner "Optimierung" der in World of Warcraft erworbenen Fertigkeiten hatte ich zwar die feineren Details dieses Spiels vergessen, aber das war ja schließlich nicht das einzige Spiel, das ich je gespielt hatte. Auf einmal war etwas plötzlich wiederaufgetaucht, das tief in meiner Erinnerung vergraben gewesen war: Mich erwartete die schöne, alte, vertraute Erfahrung des Farmens.
Das bedeutete jetzt nicht etwa, dass ich es wagen würde, in den Wald vorzudringen. Die Gefahr, dass ich dort, ohne es auch nur zu merken, ein paar blutdürstige Mobs auf mich aufmerksam machte, war viel zu hoch. Daher entschied ich mich für das offene Terrain hinter der Schlucht, die etwa acht Meter breit war und um die es keinen Weg herum gab. Es half alles nichts – ich musste hinunterklettern.
Der Boden der Schlucht war in Nebel verborgen. Aus meiner Erfahrung mit Computerspielen wusste ich jedoch, dass man dort die saftigsten Mobs und die fetteste Beute finden konnte. Der Abstieg war steil, aber überall an den Wänden hingen dicke, ausgetrocknete, abgebrochene Baumwurzeln. Ich hielt mich an einer Wurzel fest und ließ mich langsam hinab, suchte mit dem Fuß nach Halt.
Die Schlucht war so tief wie zwei aufeinandergestapelte Menschen. Ich atmete erleichtert auf, als ich endlich unten ankam. Niemand war zu sehen.
Ein Geräusch, als ob jemand mit einem nassen Handtuch gegen eine Wand geschlagen hätte, ließ mich zusammenzucken. Die Haut auf meiner Brust war versengt. Rauch stieg davon auf. 358 Schadenspunkte – das war wahrlich kein Pappenstiel! Ich schrie aus vollem Hals, vor Schmerz und Angst vor einem weiteren Überraschungsangriff.
Ein paar Meter von mir sah ich einen massigen …

Kreken.
Herr des Ortes.
Level 6.
Lebenspunkte: 1.800.

Lauf, Phil, lauf!
Ich trat zurück und bedeckte meine Augen mit dem Arm. Wie sollte ich schließlich weiterkommen, wenn die Kreatur mir die Augen verbrannte?
Das Monster sah aus wie eine riesige Pferdebremse mit einer langen Schnauze, die gerade begonnen hatte, sich erneut zu entrollen, um mich mit mehr Napalmspucke zu übergießen. Ich drehte mich um und rannte. Innerlich schrie ich in Erwartung weiterer Spucke auf, die auf meinem Rücken landete.
Doch der Kreken hatte seinen Angriff bereits eingestellt. Wahrscheinlich war er weitergezogen, vermutete ich.
Nach fünfzig Metern drehte ich mich um. Es war nichts zu sehen.
Mitten in meinem erleichterten Seufzer traf mich eine neue Salve Spucke.
Das Zeug fraß mir die Haut bis auf die Knochen vom Gesicht. Die nächste Salve traf mich mitten in meinem in einem lauten Schrei geöffneten Mund hinein. Sie glitt meine Kehle hinunter, versengte sie ebenso wie meine Stimmbänder von innen.
Ich brach zusammen und träumte vom Tod. Alles, nur damit dieser unerträgliche Schmerz aufhörte. Ich verlor das Bewusstsein.

Testsubjekt, du bist jetzt tot.
Verbleibende Leben: 2.
Bis zur Wiederauferstehung verbleibende Zeit: 3 … 2 … 1 …

Verdammt, da hatte ich tatsächlich ein lokales Armageddon organisiert; ganz allein für mich selbst!



[1] Hexagon: ein Sechseck.


Kapitel 2. Die zweite Hälfte


Wenn es nicht so schwer wäre, würde es schließlich jeder tun. Gerade dass es so schwer ist, macht es so großartig.
Tom Hanks

ICH STAND vor den Portalen und wusste nicht, welches ich wählen sollte.
Blau oder Rot?
Türkisfarbenes Blau oder dunkles Weinrot?
Irgendwie zog ich Letzteres vor.
Ich ging auf das rote Portal zu und berührte es mit den Fingerspitzen. Mein Herz setzte einen Schlag lang aus, als das Portal mich in sich hineinsaugte.
Und dann war ich wieder genau dort, wo ich begonnen hatte – ich stand vor Valiadis, Ilindi und Khphor. Ich konnte ein befriedigtes Lächeln nicht unterdrücken: ich hatte diese verdammte Prüfung bestanden und besaß noch immer das Interface.
Aber die drei sagten kein Wort.
„Stimmt etwas nicht?“, fragte ich verwundert.
Ilindi flüsterte Valiadis etwas zu, der die Stirn runzelte. Dank meiner gesteigerten Wahrnehmung vernahm ich etwas wie „hat sein Leben verloren“.
„Herr Valiadis? Ilindi?“ Zunehmende Furcht stieg in mir auf. „Ist alles in Ordnung? Ich habe die Prüfung doch bestanden, oder nicht?“
„Du hast lediglich die Vorauswahl bestanden“, antwortete Khphors Stimme in meinem Kopf.
„Was? Das war nicht die Prüfung? Und was ist dann mit der Prüfung? Was muss ich anstellen, um sie zu bestehen? Wohin muss ich gehen? Was muss ich tun?“
„Philip, beruhige dich“, sagte Valiadis matt. „Ich möchte dir gratulieren. Du hast die Vorauswahl, die Vorprüfung bestanden, anders als beim ersten Mal. Aber die eigentliche Prüfung hat längst begonnen.“
„Sie hat bereits begonnen?“ Ich lachte nervös. „Sie meinen, ich stehe einfach hier und unterhalte mich mit Ihnen, und das ist Ihre verfluchte Prüfung?“
„Es ist nicht unsere Prüfung, Mensch!“, erwiderte Ilinid kühl. „Sie wird veranstaltet von den höherrangigen Rassen.“ Sie nickte Khphor zu, der ungerührt blieb. „Philip, du kannst dich entspannen. Von dir hängt nicht länger etwas ab. Die Prüfung hat bereits begonnen, und deine Nachbildung nimmt daran teil.“
„Meine Nachbildung? Wovon redet ihr denn da? Warum nicht ich selbst?“
„Die Nachbildung hält sich für den wahren Philip Panfilov. Sie hat keine Ahnung von ihrer wahren Natur. Und allein in ihren Händen liegt dein Schicksal. Du kannst nichts tun, um es zu beeinflussen.“
„Und was wird dort geschehen, in der Prüfung? Wie macht sich meine Nachbildung?“
Ich hörte Ilindi etwas sagen wie: „Er hat bereits ein Leben verloren“.
Was bedeutete das? War Phil 2 etwa schon eliminiert?
„Er hat noch zwei weitere Leben, Mensch“, erklärte Khphor in meinem Kopf. „Aber für dich ist jetzt alles vorbei. Du wirst nun zu deiner Welt zurückkehren und weiterleben, während du auf die Ergebnisse wartest.“
„Und was bedeutet das?“
„Das wirst du persönlich herausfinden, wenn Phil 2 die Prüfung besteht“, antwortete Valiadis. „Dein Bewusstsein wird mit seinem verschmelzen und du wirst dich an alles ‚erinnern‘ können, das er erlebt hat. Ebenso wie er herausfinden wird, was mit dir in der Zwischenzeit geschehen ist. Wenn er nicht gewinnt, wirst du kein Wort mehr von der Prüfung hören und zu dem Tag zurückversetzt werden, an dem du das Interface erhalten hast.“
„Ich verliere das Interface, wenn irgendeine Nachbildung meiner Person Ihre Tests nicht besteht? Wollen Sie mich verarschen?“
„Du verlierst nicht nur das Interface. Das gesamte Leben, das du seitdem geführt hast, wird ausgelöscht. Du gehst zurück zum 18. Mai 2018.“
„Den Verlierern der Prüfung werden ihre Privilegien, ihre Erfolge und ihr Entwicklungsfortschritt in ihrer eigenen Welt genommen.“ Die harten Worte von Khphor brannten sich direkt in mein Bewusstsein ein. „Sie werden zu dem Augenblick zurückgeführt, in dem sie das Interface erhalten haben. Ihre Erinnerung an die nachfolgenden Erlebnisse wird gelöscht und das Interface wird deinstalliert.“
Das war alles weit schlimmer, als ich es vermutet hatte. Ich sollte in meinen schlaffen, fetten Körper zurückkehren? Erneut den Tag erleben, an dem Yanna mich endgültig verließ? Erneut bei Null beginnen, nur diesmal ganz ohne Statistikverstärker? Oder würde ich mich überhaupt um eine Verbesserung bemühen, wenn ich alles vergaß, das ich seitdem erlebt hatte?
Aber es war nicht das, was mir am meisten Angst machte. Am meisten fürchtete ich, meine Freunde aus diesem dann ausgelöschten Zweig der Realität zu verlieren. Alik würde sich weiter besaufen, Gleb würde ebenfalls weitersaufen und spielen und seine Wohnung verlieren, während mein aufgedunsenes Ich mit nichts anderem beschäftigt war als Raids in WoW und dem „Schreiben“ eines Buchs; in einer Existenz wie ein Schmarotzerpilz, in der ich das Bier literweise in mich hineinschüttete, um das Elend meiner Scheidung von Yanna zu vergessen.
Mein Herz hämmerte. Angsthormone rasten durch meine Adern, als mir klar wurde, was ich zu verlieren hatte. Sollte es denn wirklich alles umsonst gewesen sein, was ich erreicht hatte? Würde ich einfach in die Vergangenheit zurückkehren, ohne mich an meine Erfolge und die Person, die ich sein konnte, auch nur zu erinnern?
Ich riss mich zusammen. Wegen Dingen durchzudrehen, die noch gar nicht passiert waren, das war der sicherste Weg, alles schiefgehen zu lassen.
„Nun geh schon, Mensch“, forderte Ilindi mich auf. „Du kannst jetzt nur noch warten.“
„Werde ich lange warten müssen?“
„Das hängt von den Testsubjekten ab, nicht von uns. Du wirst den Ausgang nur erfahren, wenn Phil 2 gewinnt. Ansonsten …“ Sie seufzte, und es klang überraschend menschlich. „Geh, Mensch.“
„Und wohin soll ich geh…“ Ich hatte das Wort noch nicht einmal beendet, als ich auch schon in eine riesige Leere hineinstürzte

* * *

Ich fand mich in einem Auto wieder. Am Steuer saß Veronica. Ich hatte offensichtlich geflucht, denn sie zuckte zusammen und drehte verwundert den Kopf in meine Richtung.
„Ist alles in Ordnung, Phil?“
Ich blicket in ihre smaragdfarbenen Augen, die Mitgefühl zeigten. Die Erkenntnis, dass ich das Erlebte mit niemandem teilen konnte, erdrückte mich beinahe. Wenn ich ihr etwas davon verraten hätte, würde sie mich nur für einen Verrückten halten.
„Es ist alles in Ordnung.“ Ich biss die Zähne zusammen, um den Zusatz „wahrscheinlich“ zu unterdrücken.
Rasch blickte ich an mir hinab und stellte fest, dass ich wieder meine alte Kleidung trug. Meine Jeans waren heile, an meinen Füßen saßen Turnschuhe, und die Ärmel meines Hemdes befanden sich genau dort, wo sie hingehörten. Dann fiel mir auf, dass ich mein Handy in der Hand hielt. Unmittelbar vor meiner Entführung hatte mich jemand von der US-amerikanischen Botschaft angerufen. Sie war noch am Telefon.
Verdammt, wie war doch gleich ihr Name? Für sie waren lediglich ein oder zwei Sekunden vergangen; ich allerdings hatte inzwischen nahezu einen gesamten Tag erlebt. Und was für ein Tag es gewesen war!
Ich führte das Gerät ans Ohr und hörte die Stimme der Frau. Sie sprach noch immer, in einem fehler- und akzentfreien perfekten Russisch.
„… leider haben Sie auf meine E-Mail nicht reagiert, daher musste ich Sie anrufen. Passt es Ihnen gerade?“
„E-Mail? Oh ja, richtig – in all dem Wirbel der Ereignisse der letzten Zeit hatte ich meinen eigenen privaten Posteingang schon eine ganze Weile lang nicht mehr überprüft. Ich verwendete stattdessen die neue Firmen-E-Mail, die Gleb mir eingerichtet hatte.
„Ja … Tut mir leid, ich hatte noch keine Gelegenheit, E-Mails abzuholen. Was kann ich für Sie tun?“
„Der Botschafter möchte Sie sehen, Herr Panfilov. Wäre Ihnen der nächste Freitag recht?“
„Und wo möchte er mich sehen?“
„Hier in der Botschaft.“
„In Moskau?“
„Ja. Wir übernehmen die Kosten Ihres Flugtickets und einer Hotelübernachtung. Und falls Sie sich entschließen sollten, ein paar Tage länger zu bleiben, werden wir auch dafür aufkommen.“
„Entschuldigen Sie, könnten Sie bitte Ihren Namen wiederholen?“
„Angela. Angela Howard.“
„Angela, verstehe ich das richtig – es geht um Herrn Haqqani?“
Sobald ich gehört hatte, dass der Anruf aus der amerikanischen Botschaft kam, hatte sich mir sofort der Name Jabar Aziz Haqqani aufgedrängt. Das war ein zweiundfünfzig Jahre alter Terrorist, dessen Aufenthaltsort ich gemeldet hatte.
Ich spürte Veronicas besorgten Blick auf mir und nickte ihr lächelnd zu, um zu zeigen, dass alles in Ordnung war.
„Leider kenne ich den Grund Ihres Treffens mit dem Botschafter nicht. Was soll ich ihm also sagen?“
„Bitte sagen Sie ihm, ich stehe für eine Besprechung zur Verfügung.“
„Hervorragend! Senden Sie mir einfach ein Foto oder einen Scan Ihres Passes als Anhang zu Ihrer Antwort auf meine E-Mail, und ich werde Ihnen Flugtickets reservieren. Und wenn es nicht zu viel Mühe macht, sagen Sie mir bitte, in welchem Hotel Sie übernachten möchten.“
Ich versprach ihr eine Antwort-E-Mail mit Anhang so schnell wie möglich. Sie verabschiedete sich und legte auf.
Veronica war taktvoll und fragte mich nicht, wer mich da angerufen hatte, aber der Lautsprecher meines Handys war gut genug, dass sie in dem ansonsten leisen Wagen das Wichtigste hatte aufschnappen können.
„Ist das zu fassen? Ich habe an einem Wettbewerb teilgenommen“, erfand ich aus dem Stegreif eine plausible Erklärung. „Die Amerikaner haben ihn organisiert. Offensichtlich habe ich gewonnen. Sie haben mich nach Moskau eingeladen.“
„Das gibt es ja nicht!“ Grinsend schlug sie mit der Hand auf das Lenkrad. „Wirklich? Was für ein Wettbewerb war das denn?“
„Ich musste eine Abhandlung über die Rolle der englischen Sprache in der modernen Gesellschaft verfassen. Ich habe das Essay ‚Herr Haqqani als Symbol der Emigranten aus dem Nahen Osten‘ genannt.“
Es war vielleicht nicht die beste Geschichte, die ich Veronica auftischen konnte, aber ich hatte etwas Ähnliches einmal im Internet gesehen, und meine Freunde wussten ja, dass ich ein Schriftsteller war, also war die Ausrede so schlecht gar nicht. Ich musste über mich selbst lächeln.
„Phil, du bist wirklich fantastisch! Gut gemacht! Verdammt, wie hast du das bloß hingekriegt? Und wieso bist du noch immer Single? Was für eine sinnlose Verschwendung all deiner guten Eigenschaften!“ Veronicas Begeisterung ließ mich rot werden. Auch sie selbst wurde auf einmal verlegen. „Dass du mir bloß nicht auf dumme Gedanken kommst!“, warnte sie. „Ich mag Alik. Trotzdem … Vielleicht hast du ja eine Freundin, die du vor uns versteckst?“
„Du hast recht – ich habe eine Freundin.“
„Und wer ist sie?“, wollte Veronica lachend wissen.
„Unsere Firma“, grinste ich, als Zeichen, dass es ein Scherz sein sollte.
Aber es war kein Scherz. Ich war mir alles andere als sicher, ob Phil – meine Nachbildung – die Prüfung bestehen würde, aber ich würde versuchen, so viel wie möglich für die Menschen zu tun, die an mich glaubten. Dann konnten wenigstens sie weitermachen, wenn ich zu dem Tag zurückkehren musste, an dem Yanna mich verlassen hatte.
Was wohl gerade bei der Prüfung vor sich ging? Und wie funktionierte das alles?

* * *

Als wir vom Flughafen (und von meiner Entführung) zurück ins Büro kamen, schickte ich Veronica nach oben und blieb vor dem Gebäude stehen. Angeblich, um ein paar Anrufe zu tätigen. In Wirklichkeit musste ich dringend mit Martha konferieren, und das war im Büro einfach nicht möglich, obwohl wir uns ja nur mental unterhielten.
Ich überquerte die Straße und ging die Chekhov-Straße entlang zum Park. Dort fand ich eine freie Bank, setzte mich und aktivierte meine virtuelle Assistentin.
Um ehrlich zu sein, fühlte ich mich ziemlich niedergeschlagen. Wie hätte das auch anders sein können? Schließlich bestand die hohe Wahrscheinlichkeit, dass alles verschwinden würde, was ich erreicht hatte. Würde ich mich anschließend daran überhaupt noch erinnern können?
Kaum war sie erschienen, umarmte mich Martha und versuchte, mich zu trösten. Es munterte mich auf, ihren Körper so dicht neben meinem zu spüren. Das vertrieb die trübseligen Gedanken.
„Phil, es wird alles in Ordnung kommen!“
„Wovon redest du? Hast du dir die Protokolle bereits angeschaut?“
„Ich habe mir alles angeschaut. Ich habe dir doch gesagt, auch wenn ich inaktiv bin, besteht dennoch eine Verbindung, und ich habe Zugriff auf alle Protokolle, die dich betreffen. Du hast die Vorauswahl bestanden! Deine Ergebnisse sind wahrscheinlich besser als die der anderen Testsubjekte, und das bedeutet, dass du die Prüfung aus einer stärkeren Anfangsposition heraus beginnst.“
„Aber wie wird das alles enden?“
„Das weiß ich nicht“, sagte sie bedauernd. „Wirklich – ich habe keine Ahnung. Aber selbst wenn ich es wüsste, könnte ich dir die Frage wahrscheinlich nicht beantworten. Je nach den Statistiken der anderen Testsubjekte können sich ganz unterschiedliche Szenarien ergeben. Die Hauptsache allerdings bleibt immer unverändert – es kann nur einen Gewinner geben, der die Prüfung besteht. Es gibt keinen zweiten Platz und keinen Trostpreis. Die höherrangigen Rassen wählen die Kandidaten für die zukünftige Diagnose aus den normalen Exemplaren ihrer jeweiligen Rasse aus, die in keiner Weise irgendwie außergewöhnlich sind. Aus diesen Kandidaten allerdings wollen sie lediglich die besten verwenden.“
„Die besten der schlechtesten Kandidaten?“
„Ich würde sagen, die besten des Durchschnitts.“
In meiner Tasche vibrierte mein Handy. Es war Kesha Dimidko.
„Phil, wir warten auf dich! Hast du etwa unsere Besprechung vergessen?“
„Bin schon unterwegs.“ Ich legte auf und erhob mich von der Bank.
Martha hielt mich fest und sah mir eindringlich in die Augen. Sie legte eine Hand in meinen Nacken, zog meinen Kopf an sich heran und legte ihre Stirn gegen meine.
„Es gibt nichts, das wir tun könnten, Phil. Deine Chancen – ich meine, die Chancen deiner Nachbildung – stehen gut. Lebe einfach weiter wie zuvor. Denke nicht daran, wie ‚du‘ dich schlägst, und du wirst diese verdammte Prüfung überstehen. Versprich es mir!“
„Ich verspreche es.“
Ihr Blick wurde weicher. Sie küsste mich auf die Wange. Eine Sekunde lang glaubte ich beinahe, Martha wäre ein lebender Mensch. Ich versuchte, sie zu umarmen, doch meine Hände griffen durch ihren sich auflösenden Körper mitten hindurch. Sie verließ mich, ohne den entsprechenden Befehl abzuwarten. Das war so menschlich!

* * *

„Momentan haben wir um die zehn Vorverkäufe. Bei vier der Firmen setzen wir gerade den Vertrag auf.” Kesha las aus einem Bericht vor, der die Erfolge seiner Abteilung zusammenfasste. „“Dabei handelt es sich um den Kravetz Finanzkonzern …“
„Jetzt warte mal, Kesha”, unterbrach ich ihn, bevor er alle Firmen aufzählen konnte. „Halte die Dinge einfach allgemein. Das spart uns allen Zeit.”
Das Ende der Arbeitswoche stand bevor, und wir hatten uns zu unserem üblichen Meeting des leitenden Managements zusammengesetzt. Ja, ich weiß – leitendes Management klingt ziemlich witzig. Aber unser Personal wuchs. Wir hatten gerade zwei Fahrer eingestellt, die unsere Handelsvertreter ohne eigenes Auto zu ihren Terminen fuhren.
„Ähem.“ Kesha hatte den Faden verloren und räusperte sich, bevor er fortfuhr. „Wie auch immer – insgesamt sieben Unternehmen haben schon bei unserer Outsourcing-Vertriebsabteilung unterschrieben. Wir haben neun Leute für eine Probezeit eingestellt. Ich werde sie euch am Montag vorstellen. Natürlich haben sie noch eine Menge zu lernen, aber sie besitzen Potenzial. Veronica hat ja bereits berichtet, welche Firmen sich die Personalvermittlungsabteilung hat sichern können. Das ist, alles in allem, der Wochenbericht.“
Veronica hob die Hand. „Phil, darf ich etwas hinzufügen?“
Ich nickte. Sie lächelte und legte los. „Ich habe gerade – wortwörtlich direkt vor dieser Besprechung – einen Anruf von Herrn Makarov erhalten. Er hat sich für den neuen Assistenten bedankt, den wir ihm verschafft haben. Seinen Worten zufolge hat der Assistent in einer Woche so viel zustande gebracht, dass sich Makarov gar nicht vorstellen kann, wie er jemals ohne ihn ausgekommen ist.“
„Entschuldige – Makarov? Unser Makarov?“, fragte Rose.
Veronica nickte stolz. „Ja, Kaum zu glauben, was?“
Alle schwiegen einen Augenblick. Makarov war bei Weitem nicht so bedeutend wie Valiadis, aber nach regionalem Maßstab war er ein führendes Unternehmen. Unser Ansehen in geschäftlichen Kreisen wuchs, und das war fantastisch.
„Danke, Veronica. Wenn niemand etwas hinzuzufügen hat, schlage ich vor, wir befassen uns jetzt mit der Bürorenovierung. Alik, ich habe gehört, du hast gute Nachrichten?“
„Also die Renovierungsarbeiten sind alle erledigt, eine Entscheidung über die Mäbel wurde getroffen“, verkündete Alik errötend. Er war es noch nicht gewohnt aufzustehen und vor anderen zu sprechen. „Ab nächsten Montag können wir einziehen. Wie auch immer – das war’s. Wenn jemand Lust hat, können wir uns die Sache nach dem Meeting ja mal anschauen.“
Seine letzten Worte gingen im allgemeinen Beifall unter. Wir hatten es alle satt, im Gebäude zwischen den verschiedenen Büros der einzelnen Teilhaber herumzuwandern.
„Das ist hervorragend!“ Am meisten freute sich der übergewichtige Herr Katz. „Meine Beine schaffen das einfach nicht mehr, dauernd die Treppen hoch und hinunter zu laufen.“
Ich unterdrückte ein Lächeln. Mit seinen Beinen war alles in Ordnung – das Problem war seine Kurzatmigkeit. Unser Anwalt rauchte zwei Schachteln Zigaretten am Tag.
„Das wurde auch Zeit“, unterstützte ihn seine Frau Rose. „Heißt das jetzt, wir geben Gorelik alle unsere alten Büros zurück? Was hast du entschieden?“
„Wir geben sie zurück“, bestätigte ich.
„Und wann kommt die ganze Ausrüstung?“, wollte Gleb wissen. Er hatte für sein Grafikdesign einen großen Bildschirm bestellt.
„Sie stellen gerade alles zusammen“, erwiderte Alik. „Es sollte am Montagmorgen geliefert werden.“
Begeistert stieß Gleb die Faust in die Luft, bevor er sich in seinem Stuhl zurückfallen ließ. Der Stuhl war beschädigt und wurde nur noch durch ein wenig Kleister zusammengehalten, doch Gleb freute sich so sehr, dass er das ganz vergessen hatte. Der Stuhlrücken gab nach, und Gleb wäre beinahe zu Boden gestürzt. Kesha konnte ihn nur gerade so noch auffangen.
„Verdammt, wann kommen endlich die neuen Möbel?“, brummte Gleb.
„Auch am Montag“, antwortete Alik ungerührt und bemühte sich, nicht zu lachen.
„Klasse. Dann schlage ich vor, wir beenden das Meeting und schließen die produktive Woche mit dieser guten Nachricht ab.“
„Einen Augenblick noch, Phil.“ Veronica stand auf und lächelte geheimnisvoll.
Irgendwie waren wir in dieser Runde ganz schnell in einen sehr informellen Umgang miteinander verfallen. Die einzige Person, die niemand mit dem Vornamen ansprach, war Herr Katz, unser alter Anwalt.
„Ja, Veronica?“
„Hört mal alle – ich schlage vor, wir feiern den Freitag, das Ende der Renovierungsarbeiten und den bevorstehenden Umzug ins neue Büro!“, verkündete Veronica triumphierend. Ihre grünen Augen funkelten. „Was haltet ihr davon?“
„Ihr könnt ja gerne feiern, aber wir alten Leute machen nicht mit“, erklärte Herr Katz gesittet. „Unsere Kinder sind gerade zu Besuch gekommen.“
„Wir sollten Cyril, Greg und Marina einladen“, schlug Kesha vor. „Ansonsten sollten wir heute allerdings nur mit der alten Gang ausgehen, nicht mit den neuen Leuten. Wer ist dabei?“
Er hatte recht – die neuen Mitarbeiter waren so neu, dass mein Interface sie bislang noch nicht einmal meinem Clan hinzugefügt hatte. Aber die drei, die wir von Ultrapak her kannten, waren bereits vollwertige Clan-Mitglieder, auch wenn sie weder Firmengründer noch Manager waren.
„Ich!“ Gleb hob die Hand. „Trinken werde ich nichts, aber die Gesellschaft genießen. Lena ist einverstanden; ich habe ihr gerade eine SMS geschickt.“
Die gesamte Gruppe hatte bereits das Vergnügen gehabt, Lena kennenzulernen, als sie im Büro vorbeigekommen war, um nachzusehen, was ihr Mann tat. Ihr Misstrauen war verständlich – nach Glebs zahllosen Eskapaden würde sie eine Weile brauchen, bevor sie ihm wieder vertrauen konnte.
„Okay, also das sind ich, Marina, Alik, Veronica, Cyril, Greg und Gleb, sieben Leute“, zählte Kesha. „Was ist mit dir, Phil?“
„Geht nur ohne mich“, wehrte ich ab. Ich war in so miserabler Stimmung, dass selbst ein paar Gläser Alkohol nichts dagegen hätten ausrichten können, und hätte den anderen nur die Stimmung verdorben.
„Och, warum denn nicht?“, maulte Veronica. „Wir müssen doch auch feiern, dass du den Wettbewerb gewonnen hast!“
„Welchen Wettbewerb?“, fragten die anderen wie aus einem Mund.
„Phil hat einen amerikanischen Wettbewerb gewonnen, und jetzt weigert er sich, das zu feiern!“
„Nun komm schon, Chef – schließ dich uns an!“, versuchte Alik, mich zu überreden.
„Keine Scheiße, Kumpel?“ Gleb schlug mit der Faust auf den Tisch. In der letzten Zeit übernahm er mehr und mehr von Aliks Gossensprache. „Du bist frei und Single – warum also nicht?“
„Genau!“, pflichtete Kesha ihm bei. „Phil! Was ist mit dem Unternehmensgeist? Dem Teambuilding und so weiter?“
Veronica stampfte mit dem Fuß auf. „Mach mit, Phil!“
Ich erinnerte mich, dass ich Martha versprochen hatte, ein ganz normales Leben zu leben. Und natürlich wäre ich sofort mit den anderen mitgekommen, wenn da nicht die Gefahr bestanden hätte, alles zu verlieren. Was also war das Problem?
„Okay, ich bin dabei“, seufzte ich.
„Ja!“ Veronica stieß mit der Faust in die Luft, die anderen klatschten sich ab.
Herr Katz nickte zufrieden. Nur seine Frau machte die Lippen schmal. Sie glaubte an Hierarchien und war der Auffassung, ein Chef sollte sich nicht auf das Niveau seiner Untergebenen herablassen.
Für mich jedoch waren diese Menschen in erster Linie Freunde, nicht Untergebene. Und was war das schon für eine Freundschaft, wenn man sich bei der Arbeit zwar freundlich, aber förmlich verhielt?

* * *

Der Nachtclub Imperium, in dem ich mit dem Vorschlaghammer im Superfinale gekämpft hatte, war noch immer zu teuer für uns. Also begaben wir uns zur Anomalie. Das war ein nettes Lokal, in dem man billig essen und außerdem auch tanzen konnte. Wir sicherten uns einen Ecktisch, wo wir ungestört waren, und ließen uns Zeit mit dem Bestellen. Jeder von uns suchte aus, was er wollte.
Um diese Uhrzeit war es im Club noch ziemlich ruhig. Wir sprachen über die unterschiedlichsten Themen, wie Fußball und Filme – ich war schon seit Ewigkeiten nicht mehr im Kino gewesen – und Fernsehshows. Und ich … ich musste an meine Nächte mit Vicky zurückdenken.
Nach einer Weile wurden die zuvor eher allgemeinen Gespräche persönlicher und unsere Gruppe spaltete sich in Paare auf. Alik flüsterte mit Veronica, Kesha und Marina knutschten. Cyril, Gleb und ich blieben uns überlassen.
Auch ganz ohne Interface hätte ich bemerkt, dass die Laune aller gut war. Am meisten freute ich mich allerdings für Gleb. Ganz unbeeindruckt schaute er den anderen beim Biertrinken zu und blieb bei seinem Mineralwasser. Kesha und Alik hatten sich sogar für etwas Härteres entschieden. Die einzige Erklärung, die ich für Glebs absolutes Desinteresse an Alkohol hatte, war die Rolle, die das System nach der Entfernung des Debuffs gespielt hatte. So ähnlich war es auch mit meinem Rauchen gewesen. Der Debuff des Nikotinentzugs war abgelaufen, und das war es dann. Jegliche Lust auf das Zeug war verschwunden.
Natürlich gibt es so etwas nur selten, wenn man ohne Interface lebt. Normalerweise müssen ehemalige Alkoholiker und Raucher noch lange, wenn nicht sogar für immer schlucken, wenn sie sich ihren alten Versuchungen ausgesetzt sehen.
Nach dem Essen verteilte die Gruppe sich im Lokal. Cyril und Gleb spielten Billard, und die Frauen zerrten ihre Partner zur Tanzfläche. Alik tanzte geradezu fieberhaft mit Veronica. Die ernsthafte Persönlichkeit, die er den Tag über an den Tag legte, war verschwunden. Kesha trieb sich zögernd im Hintergrund herum und trat von einem Fuß auf den anderen. Ich hatte es mir auf einem Sofa bequem gemacht und beobachtete alle.
Wann war ich das letzte Mal in einem Nachtclub gewesen? Ich konnte mich nicht mehr genau erinnern. Es war jedenfalls schon lange her; ich glaube, zur Zeit meiner ersten Dates mit Yanna. Ja, genau – als wir ihren Studienabschluss gefeiert hatten.
Ich war damals am Ende so betrunken gewesen, Yanna hatte mich gemeinsam mit einer Freundin aus dem Lokal tragen müssen. Ich schämte mich dieser Episode noch heute. Nicht weil ich zu viel getrunken hatte. Wer tut das nicht hin und wieder? Nein, sondern weil ich besoffen war, statt für die jungen Frauen da zu sein, falls die einen Beschützer gebraucht hätten. Wenn etwas passiert wäre, hätte ich sie nicht verteidigen können. Obwohl ich zu dem Zeitpunkt schon fast dreißig Jahre alt war, hatte mein Verantwortungsgefühl den negativen Bereich noch immer nicht verlassen.
Es war merkwürdig, wie ich das auf einmal verstand. Und deshalb trank ich jetzt georgisches Mineralwasser, statt das Bier zu genießen, dass ich einmal so sehr geliebt hatte. (Nun ja, das System hätte mich auch gleich vor einem Rausch gewarnt, vor giftigem Äthanol im Blut, vor der Zerstörung meiner Neuronen im Gehirn und vor erhöhten Östrogenwerten …) Tja, und wo ich schon einmal dabei war, konnte ich gleich ein Auge auf meine Freunde haben.
Noch merkwürdiger war allerdings, dass mir das überhaupt nichts ausmachte. Ich fühlte mich wohl, ich war zufrieden. Insgesamt löste die Gesellschaft der anderen ein warmes Gefühl in mir aus. Wenn da nicht diese blöde Prüfung gewesen wäre …
Was zum Teufel war denn das? Meine hohe Wahrnehmung entdeckte etwas, das nicht zur pulsierenden Musik im Club passte.
Ich lauschte und sah mich um.
Um die Billardtische herum braute sich ein Tumult zusammen. Männer schrien so laut, es war trotz der Musik zu hören.
Ich sprang vom Sofa und begab mich in Richtung des Aufruhrs. Unterwegs begann ich bereits damit, die Situation einzuschätzen.
Cyril rangelte mit einem Typen in einem farbenfrohen, eng geschnittenen Hemd. Gleb hatte sich zwischen die beiden geworfen, wurde jedoch von einem Rausschmeißer fortgezerrt. Ich hatte keine Ahnung, was den Streit ausgelöst hatte, aber in der letzten Zeit hatte ich mich an solche Dinge gewöhnen müssen. Ich spürte weder Furcht noch einen Adrenalinstoß, sondern nur Kontrolle, Selbstvertrauen und den Wunsch, die Angelegenheit friedlich zu bereinigen. Nicht aus Angst, sondern in dem Bewusstsein, dass ich auch kämpfen konnte.
Ich stellte mich zwischen Cyril und den hochgewachsenen Kerl, Alexander Dorozhin, 23 Jahre alt. Mittlerweile merkte ich mir Namen und Alter aller Leute um mich herum und fügte sie meiner KIDD-Datenbank hinzu. Das war mir regelrecht zur zweiten Natur geworden. Man wusste ja nie, wann man diese Informationen brauchen konnte.
„Stopp!“, brüllte ich Cyril an. Er war knallrot im Gesicht, keuchte und hämmerte mit halb geschlossenen Augen mit den Fäusten in die Luft. „Hör auf damit, Cyril!“
Sein Gegner nutzte sofort den Vorteil der Tatsache aus, dass Cyril auf mich hörte und die Hände sinken ließ. Er schlug Cyril die Faust erst gegen das Ohr, dann gegen den Nacken und schließlich gegen die Wange. Cyril krümmte sich vor Schmerz.
Dorozhkin wollte weiter auf meinen Freund losgehen; ich musste ihn gewaltsam zurückhalten.
„Hast du den Verstand verloren, Mann? Er hat doch aufgehört. Warum schlägst du immer noch auf ihn ein?“ Ich stellte mich vor Cyril und breitete die Arme aus. An mir kam der Kerl nicht mehr vorbei.
„Wer zum Teufel bist denn du?“, fragte Alexander böse.
„Ich bin Philip. Der Geschäftsführer des Unternehmens, in dem dieser Fettwanst arbeitet.“ Ich versuchte, durch diesen Scherz der Situation ein wenig die Spannung zu nehmen. „Er ist mein Mitarbeiter, ich bin für ihn verantwortlich. Also, was gibt es?“
„Und was für ein Unternehmen ist das?“, fragte er mit gerümpfter Nase.
„Die Große Jobvermittlungsagentur.“
„Sergei, hier ist noch einer von diesen Großmäulern“, brüllte er über meine Schulter hinweg jemandem zu. „Setz ihn vor die Tür!“
Der Rausschmeißer, der Gleb noch immer festhielt, verpasste ihm einen Fausthieb in die Rippen. Gleb sackte zusammen.
Dann ließ er seine Fingergelenke knacken und kam auf mich zu. Name: Sergei, Alter: 26, Stärke: 28, Fertigkeit im Ringen: 7. Er war ein beachtlicher Gegner, und, ich weiß, das klingt jetzt wie ein Widerspruch, aber ich wollte wirklich keine körperliche Auseinandersetzung.
Wo zum Teufel blieben denn die Sicherheitsleute? Irgendwie erinnerte ich mich daran, dass sie vorhin verschwunden waren. Während unseres Essens, hatten sie uns noch mehrfach drohende Blicke zugeworfen und anschließend gelacht.
„Hey, Mann, wie wäre es denn, wenn wir die Sache friedlich beilegen?“, sagte ich zu Dorozhkin. „Wir sind doch alle hierhergekommen, um Spaß zu haben. Warum sollten wir uns den gegenseitig verderben?“
„Hau ab, du Arsch!“, knurrte er und schaute mich dabei nicht einmal an, unwillig, mir weiter seine Aufmerksamkeit zu schenken. Seine glasigen Augen waren auf Cyril gerichtet. Seine Statistiken zeigten eine Vielzahl an Buffs und Debuffs. Er befand sich in den Anfängen eines Rausches, was sowohl seine Ausdauer als auch seine Lebenskraft erhöhte und seine Selbstkontrolle verringerte. „Mit dir rede ich nicht. Sergei, sieh zu, dass du den Kerl loswirst!“
Etwa einen Zentimeter, bevor sich Sergeis Hand auf meine Schulter legte, spürte ich die Berührung kommen. Ich duckte mich, drehte mich um und nahm eine Kampfhaltung ein, fest entschlossen, stattdessen Sergei loszuwerden, wenn der Typ sich nicht zurückhielt.
Das Adrenalin, das durch mein kochendes Blut floss, sorgte für Aufruhr in mir, hob meine Schmerzgrenze an und beschleunigte meine Reaktionszeit. Sergei ging vor wie ein Dampfhammer. Er versuchte erneut, mich zu packen, doch wieder wich ich aus und schubste dann Dorozhkin beiseite, der ein weiteres Mal auf Cyril losgehen wollte.
Inzwischen hatten sich etliche Zuschauer um uns herum versammelt. Darunter sah ich auch meine Freunde. Veronica hielt Alik zurück, der begierig war, Cyril und mir zu helfen. Marina rief nach dem Sicherheitsdienst.
Der Rausschmeißer war offensichtlich zu dem Schluss gekommen, dass ich zu schnell für ihn war. Er stieß mich gegen den Billardtisch und versuchte, mich in eine Ecke zu treiben. Hinter seinem Rücken rangen Cyril und Dorozhkin erneut miteinander. Cyril war am Verlieren; seine schwerfälligen Hiebe trafen nichts als Luft. Blut tropfte in seine Augen, seine Lippen waren aufgeplatzt. Er bedeckte sein Gesicht mit seinen Händen. Es war eher eine Verteidigung als ein Angriff. Der andere Kerl lief regelrecht Amok und prügelte rechts, links und in der Mitte auf Cyril ein.
Doch niemand griff ein; nicht einmal Alik.
Sergei schaffte es, meinen Kragen zu fassen zu bekommen, aber damit endete sein Fortschritt auch bereits wieder. Angetrieben von berechtigtem Zorn, schlug ich ihm auf die Nase, und als er sich vor Schmerz krümmte, ließ ich meinen berühmten Aufwärtshaken gegen seinen Kiefer folgen, der dabei ausgerenkt wurde.
Eine Reihe von Mitteilungen informierte mich über den kritischen Schaden, den ich ihm zugefügt hatte. Die Zahlen waren geradezu verrückt. Sie lagen alle über 1.000, aber momentan war ich dafür einfach nicht in Stimmung.
Ich warf mich zwischen Cyril und den besoffenen Dorozhkin, verpasste letzterem einen Präventivschlag in den Solarplexus und schaltete ihn damit aus. Er taumelte zurück und ging zu Boden, hielt sich dabei den Bauch.
Erst dann fiel mir auf, dass die Musik nicht mehr spielte. Mitten in der tödlichen Stille tauchten auf einmal die Sicherheitsleute auf. Sie drängten sich durch die Menge und verteilten sich. Zwei von ihnen kümmerten sich um Dorozhkin und Sergei, und vier andere packten Cyril und mich und zerrten uns fort. Ihr Griff war so eisern, dass ich mich nicht befreien konnte.
„Das bedeutet das Ende deiner Firma, hast du kapiert?“, brüllte Dorozhkin mir nach. „Das Ende!“
Die Sicherheitsleute trugen mich und Cyril vor die Tür, wo sie uns auf den Bürgersteig warfen. Dann lachten sie und begannen, sich über das zu unterhalten, was gerade passiert war.
Einer von ihnen zündete sich eine Zigarette an und fragte mich ganz ruhig: „Hey, Kerl, hast du genug?“
„Wovon?“
„Genug davon, lebendig zu sein? Du hast dir gerade einen ganzen Berg von Problemen eingehandelt. Hast du überhaupt eine Ahnung, mit wem du dich gerade angelegt hast? Weißt du, gegen wen du die Hand erhoben hast?“
„Gegen einen Kerl, der meinen Freund angegriffen hat!“, knurrte ich.
„Er hat angefangen!“, keuchte Cyril. „Er hat behauptet, der Billardtisch, an dem wir gespielt haben, sei seiner. Er hat geflucht und uns beleidigt …“
„Er hat auch das Recht dazu“, unterbrach ihn einer der Sicherheitsleute. „Er ist schließlich der Sohn von Edward Dorozhkin.“
„Und wer zum Teufel ist Edward Dorozuhin?“, fragte ich.
„Mann, von welchem Planeten stammst du denn?“, kam ungläubig die Gegenfrage. „Er ist der erste stellvertretende Bürgermeister!“
„Scheiße!“, flüsterte Cyril. „Es tut mir so leid, Phil. Das wusste ich nicht …“



Veröffentlichung am 15. September 2019



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