Tuesday, March 26, 2019

Falle für den Herrscher von Michael Atamanov



Kräutersammler der Finsternis Buch 3
Falle für den Herrscher
von Michael Atamanov



Vorbestellung: Amazon
Veröffentlichung am 24. Juni 2019



                    
  
Der neue Direktor
„SIE WOLLTEN MICH sprechen?”, fragte ich, klopfte höflich und trat durch die weit geöffnete Tür in das Büro meines neuen Chefs. Ich hielt einen Moment inne und las den Namen auf dem kupfernen Schild, das der Handwerker gerade an die Tür schraubte.
Max Tohner
Direktor für Sonderprojekte
Er war bereits die vierte Person in einem Monat, die dieses Büro bezog. Es war eine Position, auf der ein Fluch liegen musste. Der neue Leiter der Abteilung für Sonderprojekte sah jedoch überhaupt nicht bedrückt aus. Seine ganze Erscheinung strahlte Selbstvertrauen, Autorität und Kraft aus. Als ich eintrat, nickte er nur knapp und deutete auf einen Stuhl.



Aufgrund der nächtlichen Unterhaltung, die ich vor Kurzem mit dem Wächter geführt hatte, hatte ich mir ein völlig falsches Bild von meinem neuen Chef gemacht. Die Stimme und das Verhalten der leuchtenden, geflügelten Gestalt hatten angedeutet, dass die Person, die den Wächter gespielt hatte, jünger, etwa in meinem Alter war. Doch der Mann, der jetzt im riesigen Sessel des früheren, beleibten Direktors Mark Tobius saß, war klein, etwa 50 Jahre alt und hatte bereits graue Strähnen in seinem kastanienbraunen Haar. Eine kahle Stelle reicht bis auf seinen Hinterkopf. Seine Augen waren besonders auffällig: Sie waren kalt, weißlich mit einer hellfarbigen Iris. Irgendwie sahen sie nicht menschlich aus, eher wie die Augen einer Schlange oder eines Fisches.
„Sie kennen meinen Namen bereits”, sagte Max Tohner mit einem Nicken auf das Schild an der Tür, „und ich kenne Ihren. Darum lassen Sie uns gleich zum Geschäft kommen. Welche Art von Charakter spielen Sie, Timothy?”
„Einen Goblin-Kräutersammler”, antwortete ich.
Seine Unwissenheit überraschte mich. Wie war es möglich, dass er es nicht wusste?! Er hatte mich schließlich in Reich ohne Grenzen getroffen und meinen segelohrigen Amra selbst gesehen. Sicher hatte er die Meldung über das Volk, den Beruf und das Level meines Charakters gelesen! Hatte er diese Informationen tatsächlich vergessen? Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass er die Frage nicht aus Vergesslichkeit oder Unwissenheit gestellt hatte.
„Sie sind also ein Kräutersammler und kein Pirat, Wolfsreiter oder Bestienmeister! Trotzdem ist Kräuterkunde Ihre am wenigsten entwickelte, am meisten vernachlässigte Fertigkeit! Sie haben es noch nicht einmal geschafft, sie bis zur ersten Spezialisierung zu leveln, obwohl Ihr Charakter auf Level 40 ist! Das ist unakzeptabel! Das Unternehmen hat Sie eingestellt, um eine ganz bestimmte Aufgabe zu erfüllen: Sie sollen unseren Nutzern zeigen, welche Vorzüge es hat, als Goblin-Kräutersammler zu spielen, doch aus irgendeinem Grund tun Sie alles andere, als diese ausdrückliche Aufgabe zu erfüllen!”
Mit jedem neuen Satz wurde die Stimme meines Chefs lauter. Am Ende schrie er mir seine Anschuldigungen ins Gesicht. Ich versuchte, mich zu rechtfertigen, indem ich den Direktor lächelnd daran erinnerte, dass mein Amra wegen der großen Jagd ständig auf der Flucht gewesen war und keine Zeit gehabt hatte, Pflanzen zu sammeln, doch ich hätte einfach den Mund halten sollen ...
Der Direktor war nicht zum Scherzen aufgelegt und fand meine Erwiderung völlig unpassend. Außerdem missfiel es ihm außerordentlich, dass ein Untergebener ihm widersprach. Vorwürfe und Flüche hagelten auf mich herab. Er beschuldigte mich, meine Vorgesetzten nicht zu respektieren, trotzig zu sein, mich wie ein Flegel zu benehmen, meine Arbeit zu vernachlässigen und warf mir zu guter Letzt vor, Verrat am Unternehmen von Reich ohne Grenzen zu begehen.
Als er seinen wütenden Monolog beendet hatte, beruhigte Max Tohner sich etwas und bemerkte in einem mehr oder weniger normalen Ton: „Die große Jagd ist schon seit mehreren Tagen beendet. Seitdem haben Sie einige Arbeitsschichten versäumt und Ihr Goblin ist während Ihrer letzten Spielsession kein einziges Level in Kräuterkunde aufgestiegen. Ihr Charakter hat sich ebenfalls nicht weiterentwickelt. Sie sind nachts einfach nach Herzenslust über die Wüste geflogen und haben Ihre Zeit vertrödelt statt zu arbeiten.”
Seinen letzten Vorwurf konnte ich nicht leugnen. Nachdem der königliche Wald-Lindwurm ein Level erreicht hatte, auf dem er mein Gewicht tragen konnte, hatte ich alles vergessen, was auf der Erde vor sich ging, und nur das Gefühl des Fliegens genossen, während meine Ork-Armee auf dem Weg durch die Große Wüste war. Doch die anderen Beschwerden waren nicht so leicht hinzunehmen. Ich war schockiert und wusste nicht, was ich tun sollte.
Es war lange her, dass mich jemand abgekanzelt hatte. Damals hatte mich der Schuldirektor heruntergeputzt, weil ich nicht zu meinem letzten Mathematiktest erschienen war. Ich hatte mich nicht gut genug auf den wichtigen Test vorbereitet und stattdessen beschlossen, einfach zu schwänzen und zu behaupten, ich hätte Schmerzen in der Brust. Ich war erst 10 Jahre alt gewesen und hatte in meiner Naivität angenommen, dass man mich nach Hause gehen lassen würde und ich den Test einige Tage später schreiben könnte. Ich hatte mir die Fragen von meinen Klassenkameraden besorgen und die Antworten zu Hause herausfinden wollen. Doch die ganze Sache war natürlich schief gegangen. Mein unbeholfener Versuch, eine Krankheit vorzutäuschen, war von den Sanitätern schnell entdeckt worden, und statt die höchste Punktzahl im Test zu erreichen, war ich zu dem wütenden Schuldirektor zitiert worden ...
Damals war mir klar gewesen, dass der Direktor nichts Gutes zu sagen haben würde, und war moralisch auf seine Vorwürfe vorbereitet gewesen. Doch jetzt hatte mich der neue Direktor für Sonderprojekte des Unternehmens von Reich ohne Grenzen mit seiner scharfen Kritik überrascht. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Ich konnte unterwürfig sein und ihm zustimmen oder dem rüpelhaften Mann sagen, was ich von der Art und Weise hielt, wie er seine Untergebenen behandelte, und auf der Stelle meine Kündigung einreichen.
Das Leben würde nach Reich ohne Grenzen weitergehen. Ich würde eine neue Arbeitsstelle finden, wo mich die Vorgesetzten gut behandeln würden. Die 250.000 Credits, die ich bei der großen Jagd verdient hatte, erlaubten mir, optimistisch in die Zukunft zu schauen und mir keine zu großen Sorgen darüber machen zu müssen, dass ich diese Stelle verloren hatte. Trotzdem wollte ich keine vorschnelle Entscheidung treffen, die sich nicht mehr rückgängig machen lassen würde. Mein Chef hatte mir die Meinung gesagt, Dampf abgelassen und fasste sich langsam wieder.
Einige Dinge, die er gesagt hatte, entsprachen der Wahrheit. Zudem bemerkte ich, dass er müde aussah, als ob er nicht genügend Schlaf bekommen hatte. Wahrscheinlich war er deshalb übermäßig gereizt. Dazu kam, dass Max Tohner wahrscheinlich von seinen Chefs unter Druck gesetzt worden war, sich möglichst schnell in seine neue Position einzuarbeiten. Sicher übertrug er seine Wut darüber nun auf seine Untergebenen.
Bezüglich meines Gameplays erwartete ich hingegen eine vollkommen andere Bewertung. So oder so, Amra war es gelungen, das wunderbare fliegende Reittier zu behalten, er hatte dem grauen Rudel einen mythischen Hund hinzugefügt, war seinen Verfolgern entkommen und hatte die ganze Zeit ein rasantes Tempo vorgelegt. Meine in den Ranglisten weit oben stehenden Videoclips waren der Beweis für meinen Erfolg. Ich nutzte die Pause, die der Direktor eingelegt hatte, und erinnerte ihn an meine Leistungen.
Doch auch in diesem Punkt war mein Chef völlig anderer Ansicht. „Dieser plötzliche Anstieg in Popularität hat kaum etwas mit Ihren Leistungen zu tun. Dass Sie den einzigartigen Wald-Lindwurm bekommen haben, war nur ein Glücksfall. Mir sind die Einzelheiten nicht bekannt, doch ich habe Gerüchte darüber gehört, dass Sie sich in Ihrer viel gerühmten Quest nicht immer an die Regeln gehalten haben und dass andere Direktoren für Sonderprojekte wegen einiger undurchsichtiger Details entlassen worden sind. Von da an sind Sie mit dem Strom geschwommen. Ihre Clips sind so beliebt, weil die Spieler an der wertvollen Trophäe der großen Jagd interessiert waren, nicht weil Sie so ein fantastischer Spieler sind. Ihr Ruhm wird schon bald verfliegen und übrig bleibt nur ein trauriger Rest: ein abscheulicher Goblin-Kräutersammler, der noch nicht einmal seine Hauptfertigkeiten entwickelt hat.”
Ich wollte ihm widersprechen und hatte bereits meinen Mund geöffnet, um zu sprechen, doch ich blieb stumm und senkte den Kopf. Was meinen Charakter betraf, musste ich dem Direktor zustimmen.
Max Tohner fuhr fort: „Wenn Sie nur ein normaler Spieler wären, würde niemand etwas über das niedrige Level Ihrer Fertigkeit erwähnen, aber Sie sind ein Angestellter des Unternehmens von Reich ohne Grenzen und alle wissen es! Sie müssen ein Vorbild für andere Spieler sein, ihnen zeigen, welche Vorteile es hat, einen Kräutersammler zu spielen, das Potenzial dieses Pfades aufdecken und es wenigstens schaffen, nicht in Ihrem Beruf hinterherzuhinken. Im Moment sind Sie eine verdammte Schande! Die Fertigkeit Kräuterkunde eines durchschnittlichen Level-40-Kräutersammlers ist ungefähr auf Level 42 oder 43. Sie sind erst auf Level 15 ... Ich mache keinen Hehl daraus: Jemand, der für einen Spieleentwickler wie Reich ohne Grenzen arbeitet, sollte sich deswegen schämen. Wie viel Zeit brauchen Sie, um das Problem in den Griff zu bekommen? Ist 1 Woche genug?”
„Mehr als genug”, antwortete ich mit gleichmäßiger, selbstbewusster Stimme. Ich versuchte, meine wahren Gefühle zu verbergen, doch im Innern zog sich mein Magen vor Schreck zusammen. Würde ich es wirklich schaffen können, meine Fertigkeit Kräuterkunde in 1 Woche um 30 Levels zu erhöhen? Selbst wenn ich Tag und Nacht in Wäldern und Sümpfen herumkriechen würde, um Kräuter und Blumen zu sammeln, war ich nicht sicher, ob es ausreichen würde. Doch ich wollte mein mangelndes Selbstvertrauen vor meinem Chef nicht zeigen. Ich war immer noch ein leitender Tester und ein ziemlich berühmter Spieler. Mein Chef sollte mich als erfahrenen Angestellten sehen, der seinen Wert kannte.
„Großartig!” Max Tohner sah erfreut aus. „Lassen Sie uns sehen, wie weit Sie in 1 Woche kommen. Jetzt sollten wir einen Blick darauf werfen, wie Sie Ihre einzigartige fliegende Schlange für das gemeinsame Interesse und zum Vorteil des gesamten Unternehmens von Reich ohne Grenzen einsetzen können. Es gibt nur wenige fliegende Reittiere und Ihr Vorteil gegenüber anderen Spielern muss ständig betont werden. Wie wäre es, wenn Sie einige unentdeckte Länder erforschen würden?”
Ich hatte große Mühe, eine bissige Bemerkung zurückzuhalten. Es war kaum unmöglich, die ganze nächste Woche Kräuter zu sammeln und gleichzeitig ausgedehnte Flüge mit XANTHIPPE zu unternehmen. Doch ich wollte meinen Chef nicht provozieren, sondern antwortete stattdessen, dass ich bereits etwas Ähnliches planen würde.
„Den Lindwurm zu haben, ist natürlich ein großer Vorteil, doch er allein reicht nicht aus, um lange Entdeckungsmissionen auszuführen. Die fliegende Schlange ist noch zu klein und schwach. Sie ist schnell erschöpft und muss oft landen. An von gefährlichen Monstern bewohnten Orten würden wir gefressen werden, sobald XANTHIPPE landen würde. Und vergessen Sie nicht die fliegenden Bestien. In Reich ohne Grenzen gibt es jede Menge davon. In weit entfernten, unbekannten Gegenden haben sie unglaublich hohe Levels erreicht, XANTHIPPE und ich wären für sie nur kleine Häppchen. Aber ich habe zurzeit etwa 300 gnadenlose Orks unter meinem Kommando. Ich hätte die NPC-Piraten einfach freilassen können, aber das wäre meiner Meinung nach die falsche Entscheidung gewesen. Sie sind eine wertvolle Ressource, die nur darauf wartet, an der richtigen Stelle eingesetzt zu werden. Vielleicht könnte ich mit ihnen auf eine große Expedition zu schwer zugänglichen, unentdeckten Ländern gehen.”
„Fahren Sie fort”, erwiderte der Direktor interessiert. Er faltete seine Hände und lehnte sich über den Schreibtisch in meine Richtung.
„Meine Truppe ist gerade auf dem Weg durch den engsten Teil der Großen Wüste. Heute oder morgen werden wir die andere Seite erreicht haben. Ich habe meinen Kriegern den Weg beschrieben und die gante Nacht damit verbracht, hin und her zu fliegen, um sie mit Wasser aus einer verzauberten Quelle nahe der Kupfermine zu versorgen, das Stärke wiederherstellt. Es ist ein besonderes Elixier, aber es verdirbt schnell. Ich musste es auf dem königlichen Wald-Lindwurm transportieren, um es den Orks rechtzeitig zu bringen. Jedenfalls kommen sie schnell voran und werden die Wüste bald durchquert haben. Dann werden sie einen tiefen, breiten, schwarzen Fluss erreichen, der sich an der äußersten Grenze der bekannten Welt befindet. Ich könnte eine Karte dieser neuen Gebiete erstellen oder sogar einen Verteidigungsposten am Fluss bauen, an dem Spieler die gefährlichen Nächte in Sicherheit verbringen können.”
Der Direktor schaltete seinen Bildschirm an, überprüfte einige Minuten etwas und scrollte durch den Text. Dann lehnte er sich in seinem Ledersessel zurück und sah mich spöttisch an.
„Timothy, Sie haben keine Ahnung, wovon Sie reden. Der schwarze Fluss, zu dem Sie Ihre Orks führen, heißt Styx. Er ist auch als ‚Fluss des Todes‘ bekannt, weil sein Wasser tödlich ist. Es kann nicht getrunken werden. Seine Ufer sind sumpfig, überwuchert und es wimmelt dort von blutsaugenden Tieren, die unheilbare Krankheiten übertragen. Die größte Attraktion in seiner Umgebung sind die unzähligen gefährlichen, hochleveligen Kreaturen. Weiter flussaufwärts werden die Monster noch tödlicher. Ihre Zähne werden immer größer und schärfer.”
„In Spielwelten gibt es ein durchgängiges Gesetz: Je weiter man sich von leicht erreichbaren Orten entfernt, desto schwieriger werden die Bedingungen, desto gefährlicher werden die Bestien, aber desto wertvoller wird auch die Beute”, bemerkte ich in ruhigem Ton, obwohl diese neuen Informationen mich in höchste Alarmbereitschaft versetzt hatten.
„Richtig,” stimmte der Direktor mir zu. „Am Oberlauf des Styx verbergen sich viele interessante Orte mit einzigartigen Trophäen. Sich diese Trophäen zu holen, ist jedoch sehr schwierig. Ich habe einige aufschlussreiche Hinweise gefunden, die besagen, dass bereits 26 große Expeditionen von ernstzunehmenden Clans organisiert wurden. Dazu kommen unzählige Alleinreisende und kleine Gruppen, die versucht haben, den Oberlauf des Styx zu finden. Keiner von ihnen hat es geschafft, alle mussten früher oder später umkehren. Jetzt wollen Sie mir erzählen, dass Sie hoffen, erfolgreich zu sein, wo viele hochlevelige und besser vorbereitete Spieler sich geschlagen geben mussten?”
Ich gab dem Direktor keine klare Antwort auf seine Frage, doch ich versprach ihm, ernsthaft über die Sache nachzudenken und ihm um 20:00 Uhr in diesem Büro mitzuteilen, ob ich die Mission unternehmen wollte. Einerseits war ich nicht gerade erfreut, dass der Fluss, den ich von XANTHIPPES Rücken aus gesehen hatte, der legendäre, grausige Styx war. Andererseits stand mir ein fliegender Lindwurm zur Verfügung, der es mir bedeutend erleichterte, abgelegene Gegenden zu erreichen.
Mein Chef war von meiner Vorsicht nicht sehr beeindruckt und versuchte offen, mich zu verleiten, die Mission anzunehmen. „Wenn Sie diese Quest abschließen, nehme ich zurück, dass Ihr Goblin-Kräutersammler nutzlos ist. Weil die Mission dazu beiträgt, Reich ohne Grenzen zu erkunden, und allen Spielern zugute kommt, werde ich außerdem versuchen, die Unternehmensführung dazu zu bringen, Ihnen eine wertvolle Belohnung zu geben, die dem Schwierigkeitsgrad der Quest angemessen ist.”
Ich wiederholte jedoch nur mein Versprechen, ernsthaft darüber nachdenken zu wollen, verabschiedete mich und verließ das Büro. Obwohl die Mission offensichtlich sehr schwierig war, wollte ich sie nicht gleich ablehnen. Die Vorstellung von der sinkenden Popularität von Amras Videoclips, nachdem die große Jagd beendet war, versetzte mir einen unerwarteten Schock. Ich hatte mich schnell an meine Beliebtheit und den Ruhm gewöhnt. Sie waren wie eine Droge. Nachdem Millionen von Spielern jeden Tag mit angehaltenem Atem auf meine Clips gewartet hatten, wäre es unerträglich schmerzhaft, plötzlich wieder zu einem unbekannten Niemand zu werden.
Ich war bereit, an diesem großen, gefährlichen Abenteuer teilzunehmen, wenn es dazu führen würde, das Interesse der Zuschauer an meinem segelohrigen Goblin wieder zu steigern. Doch eine wichtige Entscheidung wie diese musste ich erst mit meiner Schwester besprechen. Wir spielten als Team und ich würde Val niemals zwingen, mich an solche düsteren und bedrohlichen Orte zu begleiten, wenn sie nicht einverstanden war.
***
Gleich nachdem ich aufgewacht war, ging ich zu meinem Computer, um herauszufinden, wie viele Zuschauer sich meinen neuen Videoclip über die Reise der Orks durch die Große Wüste und meine Ritte auf dem Lindwurm angesehen hatte. Es waren 2.104. Vor nicht allzu langer Zeit hätte mich diese Zahl vor Freude an die Decke springen lassen, doch verglichen mit den Millionen von Views während der großen Jagd waren es erbärmlich wenige, was mich äußerst unzufrieden machte ...
Mein Chef hatte recht gehabt, der Ruhm meines Goblin-Kräutersammlers verflog schnell. Diese traurige Tatsache ging mir im Kopf herum, als ich aus dem Schlafzimmer trat ... und sofort haltmachte.
Kira lag, von einer leichten Decke bedeckt, auf dem Sofa und schlief. Ihr leuchtend rotes Haar war auf dem Kissen ausgebreitet, sie hielt einen großen Stoffhasen im Arm. Wann meine Freundin in die Wohnung gekommen war, wusste ich nicht. Ich hatte einen halben Tag tief und fest geschlafen, weil ich während der Nacht gespielt hatte. Ich war nicht sicher, was ich tun sollte. Zuerst sollte ich mich wohl anziehen und nicht nur in meiner Unterwäsche in der Wohnung herumlaufen. Ich ging auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer zurück, doch Kira wachte trotzdem auf.
„Wie spät ist es?”, murmelte sie schlaftrunken, ohne die Augen zu öffnen.
„19:00 Uhr”, antwortete ich.
„Verflixt, schon 19:00 Uhr? Dann muss ich aufstehen. Mir brummt der Kopf ... Muss ich heute wirklich zur Arbeit gehen, Timothy?”
Die seltsame Frage brachte mich zum Lächeln und ich antwortete fröhlich, dass ich ihr gerne den Tag frei geben würde, doch angesichts der Tatsache, dass sie in der Unternehmenshierarchie viel höher stünde als ich, vielleicht sogar die Präsidentin von Reich ohne Grenzen wäre, würde es praktisch einem Putsch gleichen, wenn ich ihr vorschreiben würde, was sie tun sollte.
Kira öffnete die Augen und warf die Decke zur Seite. Sie trug nichts weiter, als ein halb durchsichtiges Nachthemd. Sie setzte sich auf und sagte: „Machst du Witze, Timothy? Wie lange arbeitest du jetzt als Tester für das Unternehmen? Einen Monat? Willst du mir erzählen, dass du während dieser Zeit nicht versucht hast, herauszufinden, wer das Unternehmen von Reich ohne Grenzen leitet?”
Ich wurde verlegen, blickte zu Boden und zuckte mit den Schultern. Ja, ich war nur ein leitender Tester und meine Aufgabe war es, in Reich ohne Grenzen einen Goblin-Kräutersammler mit flatternden Ohren zu spielen. Die Ernennung und der Wechsel von Direktoren, Gewinnauszahlungen an Aktionäre und ähnliche Themen lagen nicht unbedingt in meinem Arbeitsfeld.
Kira schüttelte den Kopf, sah mir direkt in die Augen und informierte mich: „Der Präsident unseres Unternehmens heißt Thomas Heywood. Er ist hochgewachsener, stattlicher Mann mit dunklen Haaren. Er besitzt ein bemerkenswertes Charisma, ist sehr gebildet und verfügt über einen überraschenden Weitblick. Ich habe den Eindruck, dass er alles weiß! Auf jeder Etage des Unternehmensgebäudes hängen Porträts und Zitate aus seinen Reden! Sind sie dir noch nie aufgefallen? Wie dem auch sei, ich kenne Thomas persönlich. Vor einiger Zeit hat meine Großmutter Inessa versucht, mich mit ihm zu verheiraten. Thomas und ich hatten einige Dates, doch bald darauf haben wir uns in gegenseitigem Einvernehmen getrennt. Er war an mir als Frau nicht interessiert. Er benötigte ein Werkzeug, um Einfluss auf den Vorstand nehmen zu können, und ein Sprungbrett zur Macht. Wir sind gute Freunde geblieben und treffen uns manchmal bei privaten Unternehmensfeiern und Zusammenkünften hoher Persönlichkeiten der Stadt.”
Kira wollte mich nicht absichtlich meinen niedrigen gesellschaftlichen Stand spüren lassen, doch es war genau das, was passierte. Die schöne, rothaarige Frau hatte noch nie zuvor den Abgrund erwähnt, der unsere soziale Stellung trennte. Es war ein schmerzhafter Schlag ins Gesicht, doch es stimmte: Meine Freundin wies zwar nicht bei jeder Gelegenheit darauf hin, aber sie gehörte zur Elite der Metropole und war schwerreich. Sie erlaubte mir aus einer flüchtigen Laune heraus, in ihrer Nähe zu sein, weil sie von reichen Bewunderern und Männern, die nach einer interessanten Ablenkung suchten, genug hatte.
Ich sagte nichts zu Kira und zeigte ihr nicht, dass ihre Worte mich verletzt hatten, doch in dem Moment traf ich eine Entscheidung: Ich musste den Oberlauf des Styx finden, selbst wenn meine Schwester sich weigern würde, mich zu begleiten! Ich ging in die Küche und kochte Kaffee für uns. Gerade wollte ich die Tassen holen, als mein Handy klingelte. Der Klingelton und die Nummer waren mir unbekannt ... Sehr merkwürdig. Trotzdem nahm ich den Anruf an.
„Hallo?”
„Hallo Amra! Wann kommst du wieder ins Reich ohne Grenzen zurück? Ich vermisse dich und bin nach dem endlosen Tag sehr erschöpft. Die heiße Wüste hat uns alle erledigt. Selbst die Orks mit der höchsten Ausdauer taumeln bereits. Egal, wohin ich schaue, überall sehe ich brennend heiße Dünen ...”
Taisha? Was war hier los? Ich schüttelte den Kopf und kniff mir sogar in den Arm, um sicherzugehen, dass ich nicht träumte oder den Verstand verloren hatte. Eine NPC aus dem Spiel hatte mich in der realen Welt angerufen! Wie war das möglich? Ein Freund musste mir einen Streich gespielt haben!
Ich fragte die verdächtige Stimme einige Fragen, die nur meine NPC-Braut beantworten können würde. Sie kannte die Antworten! Es gab keinen Zweifel: Es war Taisha, ein von einem Computer erstellter Charakter aus einem virtuellen Spiel!
„Wie hast du meine Nummer herausgefunden? Und wie hast du es geschafft, in der Welt der Unsterblichen anzurufen?”
Die grünhäutige Schönheit am anderen Ende lachte laut und war sehr zufrieden mit der Überraschung, die sie bei mir ausgelöst hatte. „Du hast mir doch selbst gezeigt, wie es gemacht wird, Amra! Du hast in meiner Anwesenheit deine Nummer angegeben, als du den Notdienst angerufen hast. Hast du das vergessen?”
Nein, ich hatte es nicht vergessen ... Ich erinnerte mich genau an den schrecklichsten Moment meines Lebens. Mein ängstlicher, segelohriger Goblin hatte die bewusstlose Waldnymphe, meine Schwester, verzweifelt im Arm gehalten, während Valeria in der realen Welt fast gestorben wäre. Ich hatte den Notdienst direkt aus dem Spiel angerufen und der Mitarbeiterin des Notrufdienstes meine Adresse und Telefonnummer gegeben. Doch es wäre mir nicht im Traum eingefallen, dass meine NPC-Braut sich die Nummer merken und mich in der realen Welt anrufen würde.
Ich musste Taisha eine Antwort geben. Um sie zu beruhigen und aufzumuntern, versicherte ich der NPC-Diebin, dass ich ins Spiel zurückkehren würde, sobald die Sonne untergegangen wäre, wenn für meinen Goblin-Vampir keine Gefahr mehr von den glühenden Sonnenstrahlen ausgehen würde. Außerdem bat ich Taisha, dem Quartiermeister Ziabash Robust meinen Befehl zu übermitteln, die Gruppe weitermarschieren zu lassen. Sie mussten die Große Wüste durchqueren, egal, wie beschwerlich es war, über den heißen Sand zu laufen. Taisha versprach mir, den Quartiermeister zu informieren und legte auf. Ich senkte meine Hand, in der ich das Handy hielt.
„Wer war die Frau, mit der du gerade gesprochen hast? In welcher Sprache hast du gesprochen?”, fragte Kira beunruhigt. Sie war vom Sofa aufgestanden und stand nun in der Küchentür, um herauszufinden, wer mich angerufen hatte.
„Was meinst du mit ‚in welcher Sprache‘?”, fragte ich lächelnd ... und erstarrte gleich darauf. Sie hatte recht! Ich hatte nicht in meiner Muttersprache gesprochen, sondern ... Ich war mir nicht einmal sicher, wie ich es nennen sollte. Goblinsprache? Besser konnte ich es meiner Freundin nicht erklären. Ich fügte hinzu, dass der Anruf von einer NPC-Diebin namens Taisha gekommen war, ein von einem Computer erstellter Charakter aus dem Spiel Reich ohne Grenzen.
„Willst du dich über mich lustig machen? Hältst du mich für so naiv, dass ich dir eine solche Lügengeschichte glauben würde? Sag mir die Wahrheit oder ich werde sehr ärgerlich!”, schrie Kira.
Ich blieb jedoch dabei und wiederholte mehrmals, dass ich die Wahrheit gesagt hatte: Ich war wirklich von einem digitalen Charakter angerufen worden, der mich gefragt hatte, wann ich ins Spiel zurückkehren würde. Meine rothaarige Freundin fauchte wie eine wütende Katze und sagte mit zusammengebissenen Zähnen: „Ich werde dir natürlich eine Chance geben und deine Geschichte von den Experten des Unternehmens überprüfen lassen, obwohl es offensichtlich keinen Sinn ergibt. Sollte es sich jedoch als Lüge herausstellen und du machst mich vor wichtigen Leuten lächerlich, dann werde ich ... Dann werde ich ...”
Kira beendete ihren Satz nicht, sondern drehte sich einfach um, ging ins Wohnzimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Ich wusste nicht, was sie tun würde, falls der Anruf der NPC-Diebin nicht von den Experten bemerkt worden war. Würde sie sich von mir trennen? Mich aus der Wohnung werfen? Sich bei ihrer einflussreichen Großmutter über mich beschweren? Ich konnte mir sicher sein, dass es auf jeden Fall zu negative Konsequenzen führen würde.
Als ich einige Minuten später mit 2 Tassen frischem, duftenden Kaffee ins Wohnzimmer kam, hatte Kira die Wohnung bereits verlassen.
***
Als ich im Krankenhaus ankam, war Val nicht in ihrem Zimmer. Ihr Rollstuhl war ebenfalls nicht da. War sie nur kurz weg und würde gleich wieder zurück sein? Doch eine Krankenschwester, die ich auf dem Flur traf, erzählte mir, dass sie meine Schwester auf einer der unteren Etagen mit anderen Teenagern gesehen hatte. Ich zog überrascht die Augenbrauen hoch. Meine schüchterne, reservierte Schwester war mit anderen Gleichaltrigen spazieren gegangen und hatte mit ihnen gesprochen? Das würde ich erst glauben, wenn ich es mit eigenen Augen gesehen hatte!
Doch die Krankenschwester hatte recht gehabt. Schon auf der Treppe schallten mir fröhliches Gelächter und freudig erregte Stimmen entgegen, einschließlich der meiner Schwester. Ich hielt abrupt an. Für ein Mädchen, das sich erst vor einigen Tagen das Leben nehmen wollte, weil die reale Welt unerträglich grau und langweilig für sie war, waren positive Gefühle so wichtig wie die Luft zum Atmen. Es würde keine gute Idee sein, meine Schwester aus dem Gemeinschaftsraum zu holen, wo sie im Moment Spaß hatte, um sie mit meinen Problemen zu belasten. Darum unterbrach ich sie nicht und kehrte in Vals Krankenzimmer zurück. Ich hatte nicht mehr viel Zeit, bevor ich zur Arbeit gehen musste, darum legte ich eine Tüte mit Obst und ein Geschenk für meine Schwester aufs Bett und schrieb ihr eine kurze Nachricht.
„Ich habe mit dem neuen Direktor gesprochen. Ich muss unbedingt meine Fertigkeit Kräuterkunde verbessern. Wenn du Zeit hast, lies bitte mal nach, wie ich sie innerhalb 1 Woche um 30 Levels erhöhen kann. Wir sehen uns heute Abend um 21:00 Uhr im Spiel.”
Heute Morgen hatte ich dem neuen Direktor versprochen, ihm meine Entscheidung hinsichtlich der Expedition zum Oberlauf des Flusses Styx um genau 20:00 Uhr mitzuteilen. Es war bereits kurz vor 20:00 Uhr und ich war besorgt, zu einem Treffen zu spät zu kommen, das ich selbst vorgeschlagen hatte. Das wäre ausgesprochen verantwortungslos und respektlos gegenüber meinem Vorgesetzten gewesen. Angespannt hastete ich die Treppen zum Gebäude des Unternehmens hoch, rannte zum Aufzug und um 19:55 stand ich vor der Tür mit dem Schild „Max Tohner. Direktor für Sonderprojekte.”
Die Tür war jedoch verschlossen ... Hatte der Direktor nicht auf mich gewartet? Kurz darauf piepte mein Handy. Es war mein Freund Max Sochnier, der Najadenhändler.
„Hallo, Timothy. Hast du schon mit dem neuen Direktor gesprochen?”
Ich konnte eine gewisse Andeutung in der scheinbar normalen Frage hören. Bevor ich antwortete, fragte ich meinen Freund, warum er es wissen wollte.
„Ich habe sein Büro vor 10 Minuten verlassen und jetzt bin ich vollkommen verzweifelt ... Wenn er nicht zu irgendeinem Notfall gerufen worden wäre, hätte er mir den Kopf abgerissen. Leon sitzt gerade neben mir am Tisch. Er ist ganz blass, seine Hände zittern und er raucht im Gebäude.”
Ich konnte die aufgebrachte Stimme des ehemaligen Bauarbeiters hören. „Ja, der hat mich richtig wütend gemacht. Wenn sie mich rauswerfen, weil ich hier drinnen rauche, dann zur Hölle mit dieser Arbeit! Ich musste mich schwer zusammenreißen, um dem alten Mistkerl nicht mit einem Aufwärtshaken den Kiefer zu brechen!”
Ich gab zu, dass ich heute Morgen während meines Gesprächs mit Max Tohner die gleiche Wut empfunden hatte. Ich sagte, dass ich es ebenfalls nicht gewohnt war, derart anschrien zu werden, und dass ich nicht wusste, ob ich mich darüber freuen sollte, vor der verschlossenen Tür seines Büros zu stehen, weil der zweite Teil des schwierigen Gesprächs offenbar auf später verschoben worden war.
„Ja, das verstehe ich!”, entgegnete Max Sochnier. „Komm auf die Etage der Tester hinunter. Leon und ich warten auf dich. Wir sitzen in einer Ecke bei den Verkaufsautomaten. Es gibt viel zu besprechen.”
Exakt 3 Minuten später trat ich aus dem Fahrstuhl und ging zu meinen Freunden hinüber. Leon und Max Sochnier standen auf, als sie mich sahen. Wir begrüßten uns herzlich.
„Jungs, der neue Direktor ist ein wildes Tier”, sagte der ehemalige Musiklehrer und kam gleich zum Thema. „Er hat mich angeschrien und mir fast mit einer Gefängnisstrafe gedroht, nur weil ich Geld vom Spielkonto meines Charakters abgehoben habe. Ich habe tatsächlich 30.000 Spielmünzen in 3.000 Credits umgetauscht, weil ich mein altes Elektroauto gegen ein neueres Modell auswechseln wollte.”
„Was ist denn daran kriminell?”, fragte ich. „Du bist ein Angestellter und wenn es in deinem Vertrag steht, hast du das Recht, Geld zu entnehmen.”
„Das dachte ich auch!”, brauste Max Sochnier auf. „Aber offenbar ist es nicht so einfach. Die Finanzabteilung hat sich beim Direktor über mich beschwert. Da mein Charakter mehrere Kredite und Kundengelder verwaltet, musste unser Chef sich mit der Situation vertraut machen und die Finanzleute beruhigen. Danach hat er mich angebrüllt, dass eine Person in meiner Position, die Geld aus Reich ohne Grenzen entnimmt, der Unterschlagung beschuldigt werden könnte. Es würde sowohl gegen die Regeln des Unternehmens als auch gegen die allgemeinen Steuergesetze verstoßen. Das ist total verrückt. Ohne Zustimmung eines vom Unternehmen speziell eingesetzten Prüfers, der jede meiner Geldentnahmen auf ihre Rechtmäßigkeit hin überprüft, kann ich noch nicht mal an mein eigenes Gehalt kommen! Ich bin ein Händler, ich werde immer Geld haben, dass eine Vorauszahlung von jemandem ist. Warum soll ich deshalb ohne Gehalt dasitzen?”
„Ja, das ist völliger Unsinn”, stimmte ich ihm zu. ”Und wenn du die Zahlungsart deines Gehalts im Vertrag änderst und ein monatliches Festgehalt wählst?”
Max Sochnier lachte düster und antwortete, dass der neue Direktor versucht hatte, ihn genau dazu zu zwingen. Doch in dem Fall wäre sein Gehalt viermal geringer ...
Als Nächstes erzählte Leon die Geschichte seines Gesprächs mit dem neuen Chef. Er versuchte, angemessene Worte zu finden, doch das gelang ihm nicht immer. Dem Direktor hatte einfach alles missfallen: Das niedrige Level des Oger-Festungsbaumeisters, das Fehlen eines durchdachten Spielplans, der starke Rückgang seiner Fortschritte und sogar seine romantische Beziehung mit einer angestellten Testerin. All das nutzte er, um dem früheren Bauarbeiter ein schlechtes Gewissen zu machen.
Ich berichtete ebenfalls von meiner Erfahrung mit unserem neuen Chef. Danach waren meine Freunde vollkommen entmutigt und ließen die Köpfe hängen. Als ich sah, wie bedrückt sie waren, nahm ich meinen Mut zusammen und erzählte ihnen von meinem Plan: Wir würden zusammen an einen Ort gehen, den niemand je betreten hatte, nicht nur kein einziger Mensch, sondern kein einziger Spieler aus Reich ohne Grenzen, egal welchen Volkes: Den Oberlauf des Styx!
„Und was bringt uns das?”, fragte Leon verdrossen.
„Popularität und einzigartige Trophäen, aber nicht nur das”, grinste ich. „Der Direktor wird gezwungen sein, uns respektvoll zu behandeln, wenn wir öffentlich ankündigen, dass wir Angestellte des Unternehmens sind, die eine besondere, äußerst gefährliche Mission zum Wohle des ganzen Reich ohne Grenzen ausführen. Wir könnten unseren Chef sogar beim Namen nennen und sagen, dass das Unternehmen ihn direkt beauftragt hat, uns diese Mission zu geben!”
Max Sochnier und Leon tauschten einige Blicke aus und feixten, als sie sich das Gesicht unseres Chefs vorstellten, nachdem er diese Nachricht erhalten würde.
„Das wird er uns sicher heimzahlen wollen ...”, warf der vorsichtige Najadenhändler ein.
„Wird er nicht. Erstens hat er mich selbst angestachelt, diese abenteuerliche Reise zu unternehmen, darum ist es die Wahrheit. Zweitens werde ich mein Bestes tun, um eine Menge Spieler dazu zu bringen, unserer Expedition zuzuschauen. Ich habe ein paar Trumpfkarten im Ärmel. Statt täglicher Videoclips könnten wir dazu übergehen, live zu streamen, ohne irgendetwas herauszuschneiden, damit die Zuschauer alle unsere Hindernisse, Gefahren und Tode miterleben können. Aber das Wichtigste ist, die Mission so zu präsentieren, dass die Zuschauer sie nicht als private Initiative einer kleinen Gruppe von Spielern verstehen, sondern als ein Projekt, das vom Unternehmen von Reich ohne Grenzen organisiert wurde. Wir müssen sie auf eine Weise vorstellen, dass unser Erfolg oder Misserfolg als der Erfolg oder Misserfolg des Unternehmens gesehen wird.”
Meine Freunde dachten lange nach. Schließlich hörte Max Sochnier auf, vor Nervosität mit seinen Fingern auf dem Tisch zu trommeln, und entgegnete: „Das ist ja alles schön und gut und ich bin bereit, dich auf dieses Abenteuer zu begleiten. Aber ich verstehe nicht ganz, wie du es schaffen willst, das Interesse an deinen Videoclips zu erhöhen. Es gibt tausende und abertausende von Spielern in Reich ohne Grenzen, die ihre Clips streamen, doch nur wenigen gelingt es, bekannt zu werden.”
Ich stieß ein kurzes Lachen aus und offenbarte meinen Kollegen schwer seufzend: „Es gibt eine wichtige Einzelheit, die mich von den anderen unterscheidet: Mein Charakter ist mit Vampirismus infiziert! Er ist von Anfang des Spiels an so erstellt worden, darum ist mein Goblin-Vampir gezwungen, nachts zu spielen und regelmäßig Blut zu trinken. Ich glaube, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um der ganzen Welt mein Geheimnis zu verraten. Wir könnten es sogar als eine weitere Laune der Entwickler präsentieren.”
Meine Freunde waren über mein Geständnis vor Schreck verstummt. Nach einer Weile presste Leon heraus: „Jetzt wird mir Vieles am Verhalten deines Goblin-Kräutersammlers klar. Zum Beispiel, warum du nie am Tag spielst und Blutproben für ‚Gegengifte‘ nimmst.”
„Ich wette, die Spieler werden sich deine Streams wirklich ansehen”, fuhr Max Sochnier nachdenklich fort. „Stellt euch das vor! Einer der letzten Vampire im Spiel! Unsere Gruppe darf bloß keiner Gruppe von Paladinen, Kämpfern der Untoten oder anderen Vampirjägern begegnen ...”
Die Befürchtungen meines Freundes waren durchaus begründet. Tatsächlich hatte ich für den Fall schon vorausgeplant.
„Darum werden wir meinen Vampirismus erst verraten, wenn unsere Gruppe sich von bewohnten Gebieten entfernt hat. Wenn ein Spieler sich einen Vampir holen will, muss er uns in die düsteren, gefährlichen Gegenden um den Fluss des Todes folgen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es viele geben wird, die ungeduldig genug sind, dieses Wagnis einzugehen. Die meisten Spieler werden unsere Reise verfolgen, auf unsere Rückkehr warten und hoffen, meinen Goblin-Kräutersammler nach dem gefährlichen Abenteuer zu erwischen.”
„Aber früher oder später wird unsere Mission beendet sein”, wandte Leon ein. „Was wirst du machen, wenn dein Vampir zurückkehrt und jede Menge Spieler mit Holzpflöcken, silbernen Kreuzen und Knoblauchketten auf ihn warten?”
Ich zuckte mit den Schultern. Warum sollte ich mir über etwas Gedanken machen, das vielleicht in ferner Zukunft oder gar nicht passieren würde? Außerdem gab es ein bedeutendes Detail: Es war für die Spieler nicht genug, in meinen Videos vom Vampirismus des Goblin-Kräutersammlers zu erfahren. Im Spiel würde es ihren Charakteren kein bisschen weiterhelfen. Um die Quest auszulösen, müssten sie den Vampir im Spiel entdecken, und das würde ich ihnen so schwer wie möglich machen. Mit meiner Level-20-Fertigkeit Verschleiern konnte ich meinen Namen verbergen und meine Schwester konnte ihre Illusionen einsetzen, um meinen segelohrigen Goblin auf viele verschiedene Arten zu tarnen. Dann sollte mal jemand versuchen, den Vampir in der Menge ausfindig zu machen, wenn er völlig anders aussah und einen anderen Namen hatte! Und wenn es wirklich gefährlich werden sollte, hatte ich immer noch die Möglichkeit, auf XANTHIPPE davonzufliegen. Alles in allem sah ich mich keinesfalls in einer ausweglosen Lage, sondern war zuversichtlich, dass ich in jeder Situation entkommen konnte.
Meine Freunde und ich saßen noch 1 Stunde am Tisch und planten die konkreten Einzelheiten unserer bevorstehenden Mission. Vor allem musste das Problem der Vorräte und des Proviants gelöst werden. Um Max Sochnier die Schikanen durch den Finanzprüfer zu ersparen, beschlossen wir, Vorräte für 300 Orks von dem Geld zu kaufen, das er sich von mir geliehen hatte. Besondere Aufmerksamkeit widmeten wir der Auswahl der Käufe und dem Lieferungsort.
Ich bat meine Freunde, nach alten Karten der 26 gescheiterten Expeditionen zum Oberlauf des Styx zu suchen. Ich wusste, dass diese Karten nicht öffentlich verfügbar waren, denn ich hatte bereits nachgesehen, doch vielleicht könnten wir Spieler finden, die bereit waren, eine zu verkaufen.
Darüber hinaus benötigten wir zusätzliche Gefährten, vorzugsweise NPCs, die als Reiseführer und Kundschafter in gefährlichen, unbekannten Wildnissen dienen konnten. Weder wir noch meine Goblins und Piraten hatten die nötige Erfahrung und das Wissen, um in rauen, sumpfigen Gegenden zu überleben. Diese Charaktere konnten wir sicher im Spiel finden, darum bat ich Max Sochnier, sich in den Häfen und Städten umzusehen, an denen seine Beschwipster Tölpel auf ihrer Handelsroute vorbei kam, und einige anzuheuern.
Es gab noch weitere Einzelheiten, die Planung erforderten, doch als mein Alarm um 21:00 Uhr klingelte, mussten wir unser Gespräch vorerst beenden. Die Welt von Reich ohne Grenzen erwartete mich.


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Veröffentlichung am 24. Juni 2019



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