Tuesday, July 30, 2019

Königreich der Toten von Pavel Kornev




Der Weg eines NPCs Buch # 2
Königreich der Toten
von Pavel Kornev


Veröffentlichung am 28. Oktober 2019



Kapitel Eins. Flaute



1

DER TURM DER Finsternis war beeindruckend. Geradezu überwältigend.
Die ungeheure Pracht und Größe des tiefschwarzen Obelisken, der die Bucht überragte, ließ sich auch mit den schillerndsten Worten nicht beschreiben. In Wirklichkeit sah er viel —
In Wirklichkeit?
Ich stieß einen Fluch aus und erschauderte.
In Wirklichkeit! Verdammt noch mal! Das Spiel war für mich schon Wirklichkeit geworden! Andererseits … in gewisser Weise traf das ja auch zu, oder?
Ich konnte mich nicht mehr ausloggen. Ich hatte keine Hoffnung mehr, jemals in meiner Virtual-Reality-Kapsel aufzuwachen. Der tote Körper meines Charakters gehörte mittlerweile fest zum Inventar des Spiels. Er hielt mich wie ein teuflisches Netz umschlungen und würde mich erst wieder loslassen, wenn ich wiedergeboren würde.




Im Spiel wiedergeboren natürlich. Oder wenn ich im wahren Leben starb. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Traurig, aber so sah es aus.
Sobald mir das klar geworden war, konnte die eindrucksvolle Illusion des Turms mich nicht mehr fesseln. Ich wollte ihn nicht mehr betrachten, sondern hätte mich sogar am liebsten wieder in meiner Kabine verkrochen. Dennoch zwang ich mich dazu, an Deck zu bleiben. Verdammt noch mal! Schon so lange hatte ich versucht, in die Hauptstadt zu gelangen, da durfte ich jetzt nicht im Dunkeln kauern und mir alles Interessante entgehen lassen.
Das Schiff glitt den Azurfluss hinunter, dessen entlegenes Ufer vom Morgennebel verhüllt war. Ab und an tauchten kleine Inselchen aus dem milchigen Dunst auf, der über dem Wasser schwebte. Wohin ich auch schaute, flackerten Navigationslichter.
Schon bald teilte sich der Fluss in zahlreiche schmalere Wasserläufe. Die Strömung wurde stärker. Die Ork-Crew stand mit langen Stangen in den Händen an Deck, um das Boot bei Bedarf um Hindernisse herum zu lenken.
Auf der Mastspitze breitete mein untotes Haustier seine Flügel aus und stieß ein donnerndes Kraah! in die Lüfte.
Elendes Vieh! Leider erkannte das Spiel mich nicht als echten Spieler, sodass ich mein Haustier nicht kontrollieren konnte. Das Miststück machte, was es wollte.
Die Orks hoben die Köpfe und funkelten den Vogel an. Dennoch wollte sich keiner von ihnen auf den Mast wagen. Sie wussten aus Erfahrung, dass der Vogel sich nur für kurze Zeit vertreiben ließ.
So oder so hatten sie Wichtigeres zu tun: Der Steuermann kam mit der Strömung nicht zurecht, sodass der Rest der Crew das Boot von zahlreichen Strudeln und Wellenbrechern wegbewegen musste.
Nach den jüngsten Statistiken befanden sich stets etwa eine halbe Million Spieler in der Stadt. Selbst die horrenden Preise vor Ort konnten sie nicht abschrecken. Da die Hauptstadt der dunklen Seite in weiser Voraussicht auf einer Vielzahl kleiner Inseln errichtet worden war, ließen sich die rastlosen Bewohner ein wenig besser im Griff halten. Gerüchten zufolge gab es sogar Pläne, neuen Spielern erst ab Level 25 Zugang zur Stadt zu gewähren, umgesetzt hatte man dies jedoch noch nicht.
Ich erhaschte einen Blick auf die steinernen Uferbefestigungen, die durch den Dunst zu erkennen waren. Dann glitt das Schiff hinaus ins Freie, der Wind pustete den trüben Nebel davon. Die Strahlen der aufgehenden Sonne glitzerten auf dem unruhigen Wasser.
Sofort verschlechterte sich meine Wahrnehmung. Ich zog mir die Kapuze über den Kopf.
Von hinten fiel ein dunkler Schatten auf mich. Ich drehte mich um. Neben uns ragte der Rumpf einer unfassbar hohen Galeere auf. Auf ihrem Weg zum offenen Meer überholte sie unseren Kahn in wenigen Sekunden, und die Spieler an Deck machten kein Hehl daraus, wie sehr sie uns verachteten.
Eilig setzten die Orks die Segel, die sich sofort im Wind blähten und das Schiff in den Hafen trieben. Zwischen den Wellen blitzte der enorme Rücken eines Seeungeheuers auf und verschwand dann in den Tiefen.
Ich löste die Finger von der Reling, die ich fest umklammert hatte. Was für ein gigantisches Monster! Was, wenn es uns mit Haut und Haar verschlungen hätte?
Doch der Leviathan war schnell vergessen, als ich einen riesigen, goldenen Drachen erspähte, der von einer der Inseln in die Luft stieg, zwei Greife im Gefolge. Die funkelnde Rüstung der Reiter spiegelte die Sonnenstrahlen gleißend hell. Und zu allem Überfluss tauchte hinter dem Turm der Finsternis ein fliegender Dreimaster auf.
Mir war die Kinnlade heruntergefallen, doch langsam kam ich wieder zu mir und zuckte die Schultern. Das war alles nur virtuell. Es war nur ein Spiel.
Allerdings konnte ich mir das einreden, wie ich wollte — es half mir auch nicht weiter. Die Hauptstadt der dunklen Seite wirkte so grenzenlos, dass mein Gehirn schier überfordert war. Wo sollte ich hingehen? Und wie? Und wozu? In dieser riesigen Welt spielten die Probleme eines Toten nicht die geringste Rolle.
Ich knirschte verbissen mit den Zähnen. Egal! Schließlich ging es mir gerade auch nicht anders als bei den Malen zuvor, als ich einer unbekannten Karte gefolgt war. Ich hatte nie gewusst, was mich erwartete. Ich würde es schon herausfinden, das stand fest. Vielleicht war das noch nicht einmal nötig, falls Isabella die Zeit sinnvoll genutzt und die richtigen Leute gefunden hatte.
Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter. Für mich stand zu viel auf dem Spiel, als dass ich meine ganze Hoffnung auf eine flüchtige Bekanntschaft setzen durfte. Ich wusste nicht einmal, wie sie nach so langer Trennung auf meine Ankunft reagieren würde. Geduld war bislang nicht die Stärke der Priesterin gewesen.
Ich zwang mich, meine Zweifel zu verbannen. Mittlerweile lagen nicht mehr so viele Level zwischen uns. Sie konnte mich nicht mehr mit einem einzigen Stabhieb vernichten.
Ich lachte. Nun würde ich mich nicht mehr unterdrücken lassen. Ich würde dafür sorgen, dass sie meine Sichtweise verstand. Alles würde bestens laufen.
Ganz sicher würde ich Isabella schon sehr bald sehen. Schließlich verband uns eine Quest. Wir konnten uns gegenseitig auf der Karte finden. Und wenn ich ihrer Markierung Glauben schenken durfte, wartete sie bereits am Pier auf mich. Die ideale Gelegenheit, sich in Ruhe auszusprechen.

WIE SICH HERAUSSTELLTE, war der Hafen einfach gigantisch, größer als die gesamte Insel, auf der Stone Harbor lag. Auf der einen Seite war er mit Tiefwasserkais für ozeantaugliche Schiffe gesäumt, auf der anderen mit Stegen für kleinere Flussgefährte. Der Hafen war vollkommen überfüllt, doch wie durch ein Wunder gab es keinerlei Kollisionen zwischen den Booten.
Ein Wunder? Von wegen. Hier war Navigationszauber am Werke. Der Ork-Steuermann starrte durchdringend auf die geisterhafte Zauberkugel, die ihn lotste.
Nach und nach kamen die anderen Passagiere an Deck. Sehr viele waren es allerdings nicht, denn nur wenigen Spielern war es gelungen, ihren Login genau auf die Ankunft in der Hauptstadt abzustimmen. Das war auch gar nicht nötig. Sobald das Schiff angelegt hatte, wurden ihre jeweiligen Respawn-Punkte automatisch an einen der örtlichen Türme der Macht verlegt. In der Hauptstadt gab es davon eine ganze Menge. Auf jeder auch nur im Entferntesten wichtigen Insel befanden sich kleinere Orte der Macht.
Auch Neo war an Deck erschienen und blieb mit offenem Mund wie angewurzelt stehen. Die anderen Spieler musterten unsere weißen Mönchsgewänder mit den aufgestickten Silberphönixen aus den Augenwinkeln. Sie wagten es zwar nicht, Fragen zu stellen, doch ihre Aufmerksamkeit war mir äußerst unangenehm.
Es gab kein Vertun: In Gewändern eines Gottes des Lichts am Turm der Finsternis zu erscheinen, war nicht die beste Idee. Welchen Sinn hatte mein Inkognito, wenn jeder Dahergelaufene in mir einen potenziellen Unruhestifter sah? Je eher ich diese Gewänder loswurde, desto besser.
Einige größere Boote, die an chinesische Dschunken erinnerten, segelten an uns vorbei. Unser Steuermann ließ sie durch und lenkte unser Schiff dann in die entlegenste Ecke des Hafens zu einem schiefen Anleger, der hin und wieder vom Kielwasser anderer Schiffe überspült wurde.
Hier standen statt malerischer Gebäude mit Buntglasfenstern nur flache Lagerhallen, statt der betriebsamen Tätigkeit am Hafen herrschte in den menschenleeren, schmalen Gassen Stille.
Nicht weit von unserer Anlegestelle tanzten ein paar Fischerboote auf den Wellen. Da ich als Nachtjäger über einen besonders ausgeprägten Geruchssinn verfügte, nahm ich den widerlichen Gestank von verwesendem Fisch wahr.
Unser Boot stieß mit der Seite sanft gegen die hölzernen Stegpfosten. Ich spürte einen leichten Ruck. Kaum hatten die Seeleute die Laufplanken hingelegt, schrie der gefährlich aussehende Kapitän aus Leibeskräften:
„Alle von Bord! Schnell! Beeilt euch!”
Die Passagiere eilten über die wackeligen Planken auf den Steg. Eine Gruppe lärmender Hafenarbeiter ging an ihnen vorbei auf das Schiff zu und verschmolz mit der unruhigen Menge an Spielern, die bereits Karten für die Rückfahrt gekauft hatten.
Ich befreite mich aus der wogenden Menschenmasse und blieb mitten auf dem mit Fischschuppen übersäten Anleger stehen. Während ich die Schwerter hinter meinem Rücken zurechtrückte, sah ich mich nach Isabella um.
Die Elfe wartete am nächsten Lagerhaus. Zu meiner großen Überraschung trug sie nicht ihre übliche auffällige Kampfrüstung, sondern einen schlichten Umhang, lang und unförmig.
Neo zupfte mich am Ärmel. „Tante Bella!“
„Bitte sprich leise“, sagte ich, während ich auf Isabella zuging. Sie hatte sich bereits erhoben und starrte uns ungläubig an.
Ungläubig? — Allerdings! Ihr fielen fast die Augen aus dem Kopf!
„Was zum Teufel?“, stieß sie hervor, als wir näherkamen. „Was hast du mit dem Jungen gemacht, Schätzchen?“
Ich zuckte die Schultern. „Das ist einfach so passiert.“
„Einfach so passiert?“, zischte sie wütend. „Einfach passiert?“
Neo versteckte sich schnell hinter meinem Rücken.
„Ja“, erwiderte ich.
„Man kann dich auch nicht eine Minute allein lassen“, schimpfte sie. „Wo warst du? Warum hast du nicht auf meine Nachrichten reagiert?“
„Äh“, zögerte ich. „Wie wär’s, wenn ich dir unterwegs alles erzähle? Okay?“
Sie schüttelte den Kopf. Der Schädel oben auf ihrem Stab klapperte mit den Zähnen. „Kommt nicht infrage! Los, raus mit der Sprache!“
Unser Wortwechsel hatte zur Folge, dass sich einige Köpfe nach uns umdrehten. Ich tippte mit dem Finger auf den Silberphönix auf meiner weißgewandeten Brust. „Ich fürchte, unsere Kleidung ist hier ziemlich fehl am Platz. Wir müssen uns erst umziehen.“
Isabella funkelte mich an, doch zum Glück war sie offenbar bereit, vorerst nachzugeben. Sie deutete auf einen dunklen Durchgang zwischen den fensterlosen Wänden der angrenzenden Lagerhäuser. „Na warte, Schätzchen. Darüber reden wir noch … später.“ Und es gelang ihr, dieses letzte Wort unheilvoll klingen zu lassen.
Ich zuckte die Schultern und verließ als Erster den Steg. Hinter mir ertönte ein langes, verzweifeltes Kraah!, als der untote, schwarze Phönix den Schiffsmast verließ und in den Himmel aufstieg. Die Schläge seiner zerrupften Flügel waren nicht besonders anmutig, hielten ihn jedoch immerhin in der Luft. Als eine neugierige Möwe ihm zu nahe kam, hieb er heftig mit dem Schnabel nach ihr, sodass sie ins Wasser taumelte.
„Beweg dich!“, fuhr Isabella mich an. „Wo um alles in der Welt hast du diese dämlichen Kleider her? Was ist mit dem Jungen passiert? Nein, das kann warten! Fang am Anfang an! Warum hast du das Portal nicht benutzt?“
„Das ist eine lange, traurige Geschichte …“
Isabella drehte sich zornerfüllt zu mir um. „Du solltest meine Geduld nicht überstrapazieren, Schätzchen!“
Ich schenkte ihr ein genauso giftiges Lächeln. Nicht, dass sie das hinter meiner Maske hätte sehen können.
„Okay“, seufzte ich tief, da ich unser Verhältnis nicht unnötig belasten wollte. „Ich war zu spät dran, weil ein Bösewicht mir im schlimmstmöglichen Moment Ärger gemacht hat. Und nachdem ich ihn erledigt hatte, war das Portal bereits geschlossen.“
„Aber warum hast du nicht auf meine Nachrichten geantwortet?“, wollte sie erbost wissen.
„Mit meinen Nachrichten stimmt irgendetwas nicht“, log ich. „Ich kann sie zwar lesen, aber nicht darauf antworten.“
„Wie sinnvoll!“
„Hör mal, wieso sollte ich dich anlügen? Du hast schließlich noch die Scherbe der Seelensphäre!“
Dieses letzte Argument beruhigte sie ein wenig. „Okay“, murrte sie. „Also was hast du die ganze Zeit getrieben?“
Ich bekam nicht die Gelegenheit, darauf zu antworten. Der Durchgang zwischen den beiden Wänden hatte uns auf einen großen Platz geführt, auf dem sich so viele Spieler tummelten, dass uns von dem Lärm die Ohren klingelten.
„Billige Levelerhöhung!“, rief ein Ritter in voller Rüstung, der eine riesige Hellebarde auf dem Rücken trug. „In einer Woche bringe ich jeden von Level 25 auf 50!“
„Kommt mit auf einen Überfall auf die Lichtanhänger!“, schrie ein Angehöriger von Isabellas Elfenvolk, wobei er theatralisch mit dem Langbogen wedelte. „Einzelheiten per Privatnachricht!“
„Eine Inselquest!“, grölte ein Pirat mit blauer Haut und goldenen Ohrringen. „Der Schatz des Korsarenkönigs! Stapelweise Gold, das nur abgeholt werden muss.“
„Verkaufe komplette Bernsteinkreuz-Ausrüstung!“”
„Ein Raubzug in die grauen Berge! Zwergen-Mithril!“
„Das Schwert des Sternzerstörers! Zum halben Preis! Ich brauche dringend Geld!“
„Stärke-Runen auf Bestellung!“
Ich war von der ganzen Kakophonie vollkommen überfordert. Isabella zog mich hinter sich her, vorbei an einem Dämonologen, der die Menge überragte, blass wie der Tod höchstpersönlich. Ein Höllenhund, dem teuflische, schwarze Flammen aus dem glatten Fell sickerten, trottete an der Leine folgsam hinter ihm her.
„Portale zur Höllenebene, ich sorge für Hin- und Rücktransport, aber erhebe keinen Anspruch auf Beute“, murmelte er von Zeit zu Zeit halblaut.
Seltsamerweise schien er zu den beliebtesten Gestalten zu gehören und wurde ständig von anderen Spielern belagert, die ihn nach seinem Preis fragten.
Die Menge bestand zum größten Teil aus Menschen und Elfen, doch es gab auch etliche Zwerge und Orks. Hin und wieder fiel mein Blick auf ein paar wirklich seltsame Kreaturen. Und die Vielfalt an Rüstungen und Waffen war einfach überwältigend. Im Vergleich dazu wirkte mein Flammenschwert geradezu unscheinbar.
Als wir uns außen um die Menge herumschoben, schärfte Isabella mir ein: „Halt die Augen auf. Die Taschendiebe haben es auf Neulinge wie dich abgesehen.“
Tatsächlich schien hier ein Paradies für Diebe jeglicher Art zu sein. Die meisten neuen Spieler kamen übers Meer in die Hauptstadt. Viele waren so ungeduldig, dass sie gar nicht erst in die Geschäfte gingen, sondern ihr hart verdientes Geld direkt auf diesem improvisierten Flohmarkt ausgaben. Und manche bekamen gar nicht erst die Chance, überhaupt etwas auszugeben.
Ich hörte auf zu gaffen und überprüfte eilig mein Inventar. Der elende Schädel war noch an Ort und Stelle. Große Erleichterung!
Isabella wandte sich wieder zu mir um. „Du, Schätzchen, und du … was immer du jetzt sein magst … bewegt euch!“
Wir folgten ihr in eine Nebenstraße und hatten den Lärm und das Geschrei der Menge bald hinter uns gelassen. Isabella führte uns durch dunkle, verlassene Gassen, bis wir schließlich wieder auf den bunten Strom aus Spielern stießen. Nach kurzer Zeit fanden wir uns auf dem Platz hinter dem Hauptgebäude des Hafens wieder.
„Wow“, flüsterte Neo, der seine Freude nicht verbergen konnte.
Auch ich wurde langsamer und ließ den Blick über den weitläufigen Platz schweifen, der vor mir lag. Begrenzt wurde er von einem Kanal, an dessen gegenüberliegendem Ufer ein Tempel aufragte, auf dessen Kuppel ein Türmchen saß. Das majestätische Gebäude schien sich direkt aus dem Wasser zu erheben, was es besonders geheimnisvoll und zauberhaft erscheinen ließ. Hinter ihm schwebte ein fliegender Teppich vorbei. Ich schüttelte den Kopf, um die Illusion daraus zu verbannen.
Das war nur ein Spiel. Nur ein paar Pixel, die in meinem Gehirn ein Bild entstehen ließen. Virtuelle Realität machte die verrücktesten Dinge möglich.
„Komm, Schätzchen, weiter!“, rief Isabella.
Ich folgte ihr und zog Neo hinter mir her. Er wirkte wie ein ganz gewöhnlicher Junge vom Land, der von der großen Stadt überwältigt war.
Diese Erkenntnis versetzte mir einen Stich. Auch dieser Junge bestand angeblich nur aus ein paar Pixeln. Aus einer Kombination aus Einsen und Nullen. Nur ein Teil des Programmcodes.
Ich holte Isabella ein. „Wohin gehen wir?“
„Weg von hier“, erwiderte die Elfenpriesterin. „In euren weißen Gewändern könntet ihr genauso gut Zielschreiben auf dem Rücken haben.“
Das ließ sich nicht bestreiten. Ich wurde unablässig benachrichtigt, dass andere mich interessiert anstarrten. Wenn wir vorbeigingen, wurden die verschiedensten unangenehmen Bemerkungen geflüstert. Ich tat so, als würde ich nichts hören, obwohl ich manchmal nur zu gern einen der Witzbolde mit meinem Flammenschwert erledigt hätte.
Die Vorstellung war verlockend, doch es kam nicht infrage. Die stämmigen Stadtwächter in ihren schwarzen Rüstungen würden alle Unruhestifter im Handumdrehen in Stücke hacken. Falls ich zum Angriff überginge, würden sie mich sofort ins Jenseits befördern. Und selbst wenn sie nicht stark genug wären, würden die Zauberer der Stadt ihnen sicherlich bereitwillig zur Hilfe kommen. Auch die anderen Spieler würden nicht tatenlos zusehen. Jeder würde sich nur zu gern ein paar Erfahrungspunkte verdienen und sich Ruhm sichern, indem er ein paar Außenseiter niedermachte.
„Sollen wir eine Gondel mieten?“, schlug ich vor, als Isabella die Mietanleger ignorierte und auf die Brücke zuging.
„Heißt du etwa Rockefeller?“, schnaubte sie verächtlich. „Du weißt doch nicht einmal, wieviel das kostet!“
Ich fluchte halblaut.
Plötzlich bohrte sich ein quälender Schmerz in meinen Schädel, als hätte man mich mit einem glühend heißen Stab gestochen.
Oder war das tatsächlich passiert?
Ich wirbelte herum und konnte gerade noch sehen, wie mein untoter Phönix von einem Pfeil getroffen in den Kanal stürzte. Mein Haustier!
Ein Drow-Bogenschütze schwenkte triumphierend seinen Bogen, während er einen durchdringenden Pfiff ausstieß. Einige Passanten applaudierten ihm für seine Leistung.
Ein purpurroter Schleier legte sich über meinen Blick.
Zum einen tat es weh. Verdammt noch mal! Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich in diesem Spiel zuletzt Schmerzen verspürt hatte. Und zum zweiten war das mein Haustier gewesen! Hässlich und tot, aber trotzdem meins!
Die Schmerzen ließen einfach nicht nach. Eine Systemnachricht erschien ganz am Rand meines Sichtfelds und informierte mich über den Angriff. Die Stadtwächter hatten den Schuss ignoriert. Ihr Schutz erstreckte sich nicht auf Tote.
So ein Abschaum.
Unbändige Wut überkam mich, doch der letzte Rest meines gesunden Menschenverstands ließ mich innehalten, bevor ich direkt zum Angriff überging. Zu seinem Pech hatte der Drow erst Level 28 erreicht. Und er war allein.
„Halt das mal kurz, Neo.“ Ich reichte ihm das schwarze Ork-Langschwert und wechselte in den Tarnmodus.
„John!“, schrie Isabella auf. „Was um alles in der Welt hast du vor?“
Ich hörte nicht auf sie. Der Drow hatte sich den Langbogen schon wieder auf den Rücken geschwungen und stolzierte auf den Steg mit den Mietbooten zu. Offenbar dachte er nicht im Traum daran, dass ihn jemand vor den Augen der Stadtwächter und der anderen Spieler angreifen könnte.
Er hatte einen Vogel abgeschossen, na und?
Der Bogenschütze wirkte schlank und hager. Seine Beweglichkeit war sicherlich gut. Doch mit seiner Konstitution war es bestimmt nicht weit her. Ich hatte beste Aussichten, mit ein paar kraftvollen Hieben den Sieg davonzutragen — doch wenn ich nicht traf, konnte der Kampf lang und schmerzhaft werden.
Ich wollte nicht länger warten, sondern griff ihn mit einer bewährten Kombination an. Nach unten, von links nach rechts und dann zur Seite!

Kombination Sichel des Todes!

Die Wellenklinge meines Flammenschwerts traf seine rechte Schulter und glitt durch sein feines Kettenhemd. Sie drang erstaunlich leicht direkt in seinen Brustkorb und dann auf der linken Seite wieder hinaus, sodass sie auf das Kopfsteinpflaster aufschlug. Das Drehmoment ließ mich herumwirbeln, doch ich konnte mich gerade noch rechtzeitig fangen und landete nicht auf dem Hinterteil.
Schon hob ich das Schwert wieder, hielt dann jedoch mitten im Schwung inne. Ein weiterer Angriff war nicht nötig.

Spieler Lucas III wurde getötet!

Erfahrung: +1496 [25 674/28 300]; +1496 [25 718/28 300]

Untoter, du steigst ein Level auf! Schurke, du steigst ein Level auf!

Mit einem einzigen Hieb hatte ich ihn in zwei Teile geteilt und stand nun über seinem Leichnam in der Mitte des belebten Platzes, von Kopf bis Fuß mit Blut bedeckt. In meinem eigenen Blut rauschte das Adrenalin.
Und nicht nur in meinem. In der Menge um mich herum funkelte kalter Stahl. Doch da die Markierung als Spielermörder nicht über meinem Kopf erschien, beruhigten sich die Spieler allmählich wieder.
„Habt ihr beide eine Vendetta?“, erkundigte sich ein bärtiger Zauberer, während er widerwillig einen Kampfzauber deaktivierte, der ihm schon zwischen den Fingerspitzen flackerte.
„Ja, so etwas Ähnliches“, murmelte ich und machte einen Schritt zurück von der Blutlache, die sich auf dem Kopfsteinpflaster ausbreitete. Dann drehte ich mich um und eilte auf die Brücke zu. Die anderen Spieler wichen mir weiträumig aus. Jetzt wagten sie nicht mehr, mich aufzuhalten, zumal die Stadtwächter dem Mord keinerlei Beachtung geschenkt hatten.
„Hast du den Verstand verloren?“, zischte Isabella.
Ich zuckte die Schultern. Meine Kopfschmerzen hatten endlich nachgelassen und die blinkende Systemnachricht in meinem Augenwinkel war nun verschwunden.
„Hör mal, Roger“, wandte Isabella sich an den Schädel oben auf ihrem Stab, „meinst du nicht auch, dass unser Schätzchen komplett von der Rolle ist?“
„Lass es doch gut sein“, sagte ich, während ich Neo das schwarze Schwert wieder abnahm. „Er hat meinen Vogel getötet. Ich habe es ihm nur heimgezahlt.“
Fluchend zerrte sie mich in eine dunkle Seitengasse. „Warte hier auf mich“, sagte sie. „Wenn du dich auch nur das kleinste Bisschen rührst, hacke ich dir die Beine ab.“
Ich wollte ihr sagen, wohin sie sich ihre Drohung stecken konnte, überlegte es mir aber gerade noch rechtzeitig anders. Es hatte keinen Sinn, die Situation noch schlimmer zu machen. Stattdessen wischte ich mir das Drow-Blut von Maske und Handschuhen. Von meinem weißen Gewand ließ es sich unmöglich entfernen.
„Armer Vogel“, seufzte Neo. „Er war so lustig ...“
Ich zuckte die Schultern, denn ich hatte keineswegs an dem untoten Phönix gehangen. Alles, was er konnte, war krächzen. Zudem war er für mich unkontrollierbar. Und so hatte ich ihn gerächt und war dabei sogar ein Level aufgestiegen. Ich war sehr gespannt, welcher neuer Typus Untoter auf den Nachtjäger folgen würde.
Allerdings hatte ich keine Zeit, meine Statistik zu prüfen, denn Isabella kam schon zurück.
„Zieht euch um“, befahl sie, als sie mir einen unförmigen, grauen Umhang zuwarf.
Der Junge bekam einen identischen in einer kleineren Größe. Trotzdem wollte ich mein weißes Gewand nur ungern hergeben. Ich warf es in mein Inventar und legte den Umhang um. „Wohin jetzt?“
„In die Hölle“, fuhr sie mich an.
„Du wirkst heute etwas gereizt“, sagte ich. „Liegt das daran, dass deine Verhandlungen über das Fragment der Seelensphäre gescheitert sind, oder was ist los?“
„Damit hat das gar nichts zu tun! Was ist nur in dich gefahren, dass du vor aller Augen einen Kampf anfängst? Und wenn der Drow deinem ersten Hieb ausgewichen wäre? Dann hättest du jetzt immer noch mit ihm zu tun!“
„Ich hätte nur zu gern gesehen, wie er ausweicht“, grinste ich, während wir auf die Straße traten. „Ich habe ihn in den Rücken gestochen, nicht wahr? Außerdem war ich getarnt.“
„Sei dir da nicht zu sicher! Dagegen gibt es Amulette! Und viele andere besondere Beweglichkeits-Fähigkeiten, von denen du gar nichts ahnst. Oh, verdammt! Ich habe ganz vergessen, mit wem ich hier gerade rede!“
Sie lief die Straße entlang. Ich eilte ihr hinterher. „Was ist denn jetzt mit der Sphäre?“
„Wir haben eine erste Absprache getroffen, aber ich wollte den Kunden nicht ohne dich treffen“, erwiderte sie. Doch bevor ich weitere Fragen stellen konnte, ergänzte sie eilig: „Nein! Erst deine Geschichte!“
Ich seufzte gequält.

2

DER GASTHOF, ZU dem Isabella uns geführt hatte, befand sich auf der dritten oder vierten Insel vom Hafen aus. Einen direkten Weg dorthin gab es nicht. Wohlhabendere Spieler nahmen ein Boot, während alle anderen durch feuchte Gassen stolpern mussten, in denen keine zwei Wagen nebeneinander her passten. Und selbst wenn es mir gelang, eine Abkürzung durch gewundene Nebenstraßen zu finden, musste ich mir stets mit den Ellenbogen den Weg durch die Menge anderer Spieler bahnen, die das Gleiche im Sinn hatten.
Wir überquerten eine Brücke, dann noch eine und noch eine, bis wir endlich mit einer Fähre über einen breiten Kanal setzen konnten. Als wir schließlich wieder am Uferdamm ankamen, wollte ich protestieren:
„Warte mal! Warum bewegen wir uns im Kreis? Gibt es keinen direkteren Weg?“
Isabella blieb stehen und schüttelte den Kopf. „Das hier ist die Höllenbrut-Insel, Privatbesitz des Clans.“
„Ach wirklich?“ Ich stieß einen Pfiff aus, während ich einen Turm hinaufblickte, der die Häuser überragte. Auf seinem spitzen Dach thronte die Statue eines dunklen Engels. „Die ganze Insel? Denen muss es ja gut gehen!“
„Halt den Mund und beweg dich!“

DER GASTHOF ZUM Alten Bogenschützen befand sich im Eckhaus an einer belebten Kreuzung. Wir nahmen den Hintereingang und stiegen die Treppe zur dritten Etage hinauf. Das Zimmer war nicht allzu geräumig, aber immerhin handelte es sich um eine Suite. In der echten Welt hätten mindesten fünf Personen darin Platz gefunden. Hier jedoch diente es lediglich als dauerhafter Respawn-Punkt. Langfristig war das preiswerter und praktischer, als ständig neben einem der Türme der Macht ins Spiel wiedereinzusteigen.

Soll diese gemietete Unterkunft deine neue Login-Stelle werden?

Nichts wäre mir lieber gewesen, aber leider war diese Option für mich nach wie vor blockiert.
„Neo, leg dich etwas hin.“ Isabella bedeutete dem Jungen, in das andere Zimmer zu gehen. Als er verschwunden war, wirbelte sie herum und funkelte mich an. „Was ist los mit dir, Schätzchen?“
Ich deaktivierte das Inkognito, nahm die Maske ab und grinste sie breit an. „Wieso, was soll schon los sein?“
„Oh“, höhnte sie. „Mein kleines Schätzchen ist ein räudiger Straßenköter geworden! Mein Schätzchen ist jetzt ein zäher Bursche!“
„Dein Schätzchen“, — ich brachte das Wort kaum über die Lippen — „will nur ins Königreich der Toten. Also was ist mit der Sphäre?“
Sie ließ sich aufs Bett fallen und schlug die Beine übereinander, sodass ihre wohlgeformten Schenkel deutlich zu sehen waren. „Erzähl mir, was euch beiden passiert ist. Ich will alles wissen.“
„Wozu? Das ist doch Zeitverschwendung.“
„Los!“
Schulterzuckend zog ich meine beiden Schwerter hinter dem Rücken hervor und stellte sie in die Ecke. Ich hockte mich auf die Fensterbank und sah hinunter auf die Straße. Es wurde bereits dunkel. Die Flut an Spielern, die zum Hafen strömten, hatte nachgelassen. Sie schlenderten gemächlich herum, musterten Ladenschilder und sahen sich in verschiedenen Vergnügungslokalen um.
Allerdings wollte ich die Geduld meiner Elfenfreundin nicht überstrapazieren, deshalb lieferte ich ihr einen kurzen Überblick über meine vielen Abenteuer, vom Angriff des Nekromanten und der Verteidigung von Stone Harbor bis hin zum Tempel des Silberphönix, den wir wiederhergestellt hatten.
„Ihr habt also eine Vendetta“, sagte Isabella nachdenklich, während sie sich meine Geschichte anhörte. „Das könnte problematisch werden.“
„Das ist nicht der Rede wert“, tat ich ihre Bedenken ab. „Er kann mich jetzt nicht mehr finden. Ich habe die Funktion auf der Karte deaktiviert.“
Sie schüttelte den Kopf. „Sei dir da nicht so sicher, Schätzchen. Es gibt viele andere Möglichkeiten, um einen Feind ausfindig zu machen.“
„Zum Beispiel?“, fragte ich eher lässig.
Isabella erhob sich bereits. „Bleib hier im Zimmer. Ich werde ein Treffen arrangieren und komme dich dann holen.“
„Ein Treffen mit wem?“, fragte ich.
Statt einer Antwort fiel hinter ihr die Tür ins Schloss.
Mir war das gleichgültig. Schulterzuckend öffnete ich meine Statistik. Ich sollte die Zeit wirklich nutzen, um die verfügbaren Punkte zu verteilen. Selbst wenn es nur ein Spiel war, brannte ich darauf zu erfahren, wie sich mein Untoter diesmal verändert hatte.
Ohne lang zu überlegen erhöhte ich sowohl Kraft als auch Wahrnehmung. Doch als ich einen Fähigkeitspunkt in Tarnung investieren wollte, blieb mir vor Erstaunen der Mund offen stehen.
Ich hatte nicht nur einen Extrapunkt. Auch nicht zwei. Mir standen ganze sechsundzwanzig Punkte zur Verfügung!
Was ging hier vor sich?
Konnte das ein Fehler sein? Das wollte ich überprüfen, indem ich meine Tarnung auf 15 Punkte erhöhte. Und gerade als ich noch einen weiteren Punkt dazugeben wollte, erschien eine neue Systemnachricht:

Weitere Steigerung der Fähigkeit nach zusätzlichem Training möglich!

Noch immer ungläubig erhöhte ich die Ausweichfähigkeit auf 15. Eine neue Nachricht erschien, doch ich öffnete zunächst mein Charakterprofil.

John Doe, Scharfrichter, Henker

Untoter, Junior-Lich. Level: 25./ Mensch, Schurke. Level: 25

Erfahrung: [25 674/28 300]; [25 718/28 300]

Stärke: 28.

Beweglichkeit: 27.

Konstitution: 24.

Intelligenz: 5.

Wahrnehmung: 14.

Leben: 1200.

Ausdauer: 1300.

Interne Energie: 475.

Schaden: 216 - 324.

Verdeckte Bewegung: +15.

Abwehr von Angriffen: +15.

Kritische Schäden bei Angriffen im Tarn-Modus, Hinterhalten oder Angriffen auf ein gelähmtes Ziel.

Berufliche Fähigkeiten: „Inkognito“ (3), „Hinrichtung“, „Henker“.

Fechter: beidhändige Waffen (3), Waffen in einer Hand, „Rundumhieb“, „Kraftvoller Hieb“, „Kraftvoller Ausfallschritt“, „Plötzlicher Hieb“, „Präziser Hieb“, „Verkrüppelnder Hieb“, „Blind-Hieb“, „Schnell-Hieb“.

Kreatur der Finsternis: Nachtsicht, Einschränkung im Sonnenlicht, Herr der Toten, Fast lebendig, Haut aus Stein +5.

Neutralität: die Untoten, Untertanen des Herrschers vom Turm der Verwesung

Feinde: Orden der Feuerhand, Clan Schwerter des Chaos.

Immunität: Todeszauber, Gift, Verfluchung, Bluten, Krankheit, Heilungen und Segen.

Errungenschaften: „Hundetöter“ Stufe 3, „Beharrlich“, „Gewohnheitstäter“, „Verteidiger von Stone Harbor“ Stufe 1.

Moment mal. Ein Junior-Lich?
Aber ein Lich war doch ein toter Hexenmeister, oder? Wie konnte ich mit meinen fünf mageren Intellekt-Punkten ein Hexenmeister sein? Und wo waren meine alten Fähigkeiten, verdammt noch mal? Wo war der Sprint? Und was war mit den Klauen der Finsternis passiert?
Plötzlich wurde mir klar, wo die vielen zusätzlichen Fähigkeitspunkte herkamen. Sie stammten von den gelöschten Fähigkeiten!
Mistkerle! Gebt sie mir zurück!
Diese neueste Entwicklungsstufe meines Untoten erwies sich also als reinste Enttäuschung. Aber vielleicht war es doch gar nicht so schlimm, wie es aussah?
Ich öffnete den Tab „Zauber“. Zwecklos. Ich konnte keinen einzigen Spruch aus dem Zauberbuch aktivieren.

Erlernbare Zaubersprüche der Stufe 1: 0

Verdammt! Mit meinem reduzierten Intellekt bestand keine Hoffnung, jemals Zauberkräfte einzusetzen. Aber wozu wurde ich dann in einen Lich verwandelt?
Ich ging zu einem Spiegel an der Wand und starrte mein Abbild an.
Leichenblasse Haut spannte sich straff über meinen Schädel. In meinen tiefliegenden Augen flackerten purpurrote Höllenflammen. Sonst nichts. Die schicken schwarzen Linien auf meinem Gesicht waren nun verschwunden, stattdessen sah man Runen und magische Formeln. Zugegeben, damit sah ich besser aus. Aber mit dem Rest stand ich eindeutig schlechter da als vorher.
Meine Zähne waren noch genauso spitz wie vorher. Meine Nägel erinnerten immer noch an Krallen. Aber mit einem Biss konnte ich jetzt keine Lebenskraft und Ausdauer mehr aus meinen Opfern saugen. Außerdem hatte ich die Fähigkeit verloren, einen Gegner mit einem einzigen Hieb zu betäuben. Auch die Sprintfähigkeit als Nachtjäger war verschwunden. Und was hatte ich dafür bekommen? Einen Zauber, den ich nicht einmal benutzen konnte? Mist!
Ich hockte mich auf die Fensterbank und starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Auf der abendlichen Straße tummelten sich Zecher. Viele der Spieler trugen nicht einmal Rüstung oder Waffen. Sie waren in die Welt der Türme der Macht gekommen, um sich zu amüsieren und Spaß zu haben.
Bei mir stand Spaß nicht auf dem Programm. Ganz im Gegenteil, ich steckte ganz schön in Schwierigkeiten.
Allerdings — wenn ich weitere Level aufstieg, könnte ich meinen Intellekt theoretisch auf die erforderlichen zehn Punkte erhöhen. Ich überlegte eine Weile, doch letztendlich erschien mir das nicht ratsam. Magie war zwar schön und gut, aber ich konnte schließlich nicht ahnen, wie ich mich bei Level 60 verändern würde. Sollte ich wirklich fünf Punkte auf die Gefahr hin opfern, dass ich die Zauberfähigkeit später wieder verlor? Das war zu riskant.
Gegen echte Zauberer hatte mein Lich ehrlich gesagt nicht die leiseste Chance, und gegen einen erfahrenen Krieger waren meine Zaubersprüche der Stufe 1 ein jämmerlicher Schutz. Der bloße Gedanke war lächerlich.
Was für ein Dilemma.
Ich seufzte resigniert. Ich sollte wirklich nicht so viel nachgrübeln. Wenn Isabella uns tatsächlich die Teilnahme am Überfall auf das Königreich der Toten sichern konnte, spielte es keine Rolle mehr, ob ich beim Hochleveln Fehler machte. Und ich glaubte fest an sie. Man sah ihr schon auf den ersten Blick an, wie penetrant sie sein konnte.
Statt weiter mit meinem Schicksal zu hadern, widmete ich mich nun lieber meinen beruflichen Fähigkeiten. Da ich noch schmerzlich in Erinnerung hatte, wie viel Zeit mich die Vernichtung des reglosen Nestjägers gekostet hatte, erhöhte ich die Fähigkeit Hinrichtung. Damit stieg die Wahrscheinlichkeit, einen Charakter mit gleich hohem Level mit einem Hieb zu töten, auf 12 %.
Aber das war noch nicht alles.

Hinrichtung II

Mit deiner starken Hand und deinem scharfen Blick kannst du dort zuschlagen, wo dein Feind am verletzlichsten ist!

+4 % für die Wahrscheinlichkeit, einen kritischen Treffer zu landen

+2 % für die Wahrscheinlichkeit, einen verkrüppelnder Hieb zu landen

Nicht übel. Gar nicht übel. Mehr aber auch nicht.
Ich seufzte und sah mir dann die Fähigkeiten des Lich genauer an. Die Haut aus Stein war keine Überraschung: sie bot lediglich etwas zusätzlichen Schutz. Für einen Neuling war das nicht so schlecht, klang für einen Spieler mit Level 50 aber nicht besonders sinnvoll. Trotzdem besser als gar nichts. Immerhin stand ich damit nicht schlechter da als vorher.
Auch der Herr der Toten erklärte sich im Prinzip von selbst: Mit dieser Fähigkeit konnte man Untote kontrollieren. Das klang recht interessant, allerdings durfte das Level der kontrollierten Kreaturen gemeinsam nicht mehr betragen als die halbe Levelzahl des Lichs.
Die Beschreibung meiner letzten neuen Fähigkeit — „Fast lebendig“ — gab mir dagegen Rätsel auf:

„Fast lebendig“

Du bist noch nicht sehr lange tot, deshalb weißt du noch, wie es sich anfühlt, lebendig zu sein. Du kannst selbst den aufmerksamsten Beobachter hinters Licht führen, aber denke daran: Sobald die Sonne aufgeht, wird ihr Licht deine Tarnung zunichtemachen.

Sehr interessant. Was genau bedeutete das? Dass ich das Inkognito nicht mehr brauchte?
Ich stellte mich vor den Spiegel und aktivierte die neue Fähigkeit.
Sofort wurde mein Gesicht runter. Meine Wangen nahmen etwas Farbe an, meine Augen loderten nicht mehr so finster. Das war jedoch alles, abgesehen davon, dass meine interne Energie nachließ. Wer mir auf den Zahn fühlen wollte, konnte nach wie vor auf mein Profil zugreifen, in dem ich immer noch als Untoter eingestuft war. Allerdings nicht, wenn ich noch dazu das Inkognito benutzte ...
Der Anblick eines Maskierten macht die meisten Leute nervös. Doch mit dieser neuen Fähigkeit sah ich auch ohne eine derart plumpe Verkleidung vollkommen lebendig aus.
„Neo?“, rief ich und wandte mich zu ihm um. „Was meinst du?“
Der Junge gähnte schläfrig. „Du hast dich schon wieder verändert, Onkel John!“, verkündete er.
Ich lachte. „Da hast du völlig recht!“
„Du hast dich verändert, aber du bist immer noch der Gleiche!“
„Wie kommst du darauf?“
„Ich fühle es einfach.“
Ich runzelte die Stirn. „Was kannst du fühlen?“
Der Kleine zögerte. „Ich fühle, dass du auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden solltest. Tut mir leid, Onkel John.“
Ich prustete los. „Sehr nett von dir!“
Das geschah etwas, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Quietschend öffnete sich die Schranktür einen Spalt weit. Zwischen den leeren Kleiderbügel wirbelte etwas Dunkles, schwärzer und dichter als im tiefsten Keller.
Ich legte die Hand an den Griff meines Seelentöter-Hakens. Doch den brauchte ich nicht. Die Dunkelheit löste sich auf und der struppige Kopf eines Vogels erschien. Mein untoter Phönix richtete seine blinden weißen Augen auf mich.
Dann öffnete er den Schnabel „Kraah!“
Ich fluchte erleichtert. „Was für eine Vogelscheuche!“
Der tote Phönix hüpfte aus dem Schrank und flatterte auf die Kommode, sodass seine mächtigen Krallen tiefe Kratzer auf dem polierten Holz hinterließen.
„Das Vögelchen ist wieder da!“, rief Neo begeistert aus.
„Das ist kein Vogel. Er heißt Vogelscheuche.“
Der schwarze Phönix öffnete schon wieder seinen Schnabel, um einen weiteren ohrenbetäubenden Krächzer auszustoßen. Mir reichte es langsam. Ich hob die Hand, um zu protestieren — und er erstarrte.

„Herr der Toten!“

Eine innere Verbindung zu meinem Haustier hatte ich noch immer nicht verspürt. Doch irgendwie machte sich meine neue Fähigkeit bemerkbar. Weil er untot war, hatte ich Vogelscheuche jetzt voll und ganz unter Kontrolle.
„Das kann ja wohl nicht sein!“, murmelte ich, während ich mit Mühe eines der schiefen Fenster aufschob.
Der Lärm der nächtlichen Stadt drang ins Zimmer. Auf meinen Befehl sprang der untote Phönix auf die Fensterbank, stieß einen weiteren schrillen Krächzer aus und stieg in die Luft auf.
Seltsamerweise hatte ich das Gefühl, als würde ich hinter ihm her in die Luft gezogen. Die Dächer der Stadt und die gewundenen Kanäle zuckten vor meinem geistigen Auge auf. Mir drehte sich der Kopf. Erschöpft sank ich auf die Knie.
„Onkel John! Alles in Ordnung?“
„Mir geht es gut“, sagte ich. „Alles gut. Mach dir keine Sorgen.“
Fast musste ich mich übergeben, doch zum Glück konnte ich das verhindern. Schließlich hatte ich schon ziemlich lange nichts mehr in den Magen bekommen. Ich ließ mich aufs Bett fallen und lehnte den Rücken an die Wand. Mein erster Versuch, ein untotes Flugtier zu kontrollieren, war nicht allzu angenehm gewesen.
Inzwischen war Vogelscheuche auf dem Kamin des Nachbarhauses gelandet und wetzte sich den Schnabel an den schwarzen Schamottesteinen, wobei er mir immer wieder hämische Blicke zuwarf. Aus irgendeinem Grund hatte ich keinerlei Zweifel daran, dass ich diesen aufsässigen Vogel wieder unter geistige Kontrolle bringen konnte, wenn es darauf ankam. Und das eröffnete einige sehr interessante Möglichkeiten …
„Onkel John? Ich habe Hunger!“, sagte der Junge.
Ich sah erst ihn an, dann zur Tür. Widerwillig erhob ich mich wieder. „Dann komm.“
Ich war mir nicht sicher, ob ich das Flammenschwert mitnehmen sollte. Letztendlich ließ ich es im Zimmer, weil es mir in den schmalen Korridoren des Gasthauses sowieso nicht viel genutzt hätte. Im Falle eines Angriffs wäre ich besser beraten, meinen Knochenhaken, den Seelentöter, zu schwingen.
Der Zimmerschlüssel hing an einem Haken im Türrahmen. Ich nahm ihn ab und ging zuerst hinaus. Neo folgte mir. Nachdem ich abgeschlossen hatte, stieg ich die quietschenden Stufen zum Erdgeschoss hinunter.
Als wir den geräumigen Speisesaal erreicht hatten, der leer und schwach beleuchtet war, erwartete mich die nächste Überraschung. Der Gastwirt — ein stämmiger kleiner Kerl mittleren Alters, der gerade Bierkrüge abtrocknete — stellte sich als Spieler heraus.
Meine Welt geriet ins Wanken. Wieso sollte man gutes Geld für den Zutritt zur virtuellen Realität bezahlen, um dann in einer Bar zu arbeiten, und noch dazu in einer so unvorteilhaften Gestalt?
„Hi“, stieß ich hervor, ohne mir meine Verwunderung anhören zu lassen.
„Guten Abend“, erwiderte der Gastwirt. Er entdeckte Neo und hob fragend die Augenbrauen.
„Eine Quest“, erwiderte ich knapp, was mir langsam zur Gewohnheit wurde. „Kann er etwas zu essen bekommen?“
„Kein Problem“, lachte er und schlug sein Gästebuch auf. „Und ihr heißt …“
„Wir gehören zu Isabella“, gab ich an. „Die Dunkelelfe.“
„Richtig. Das ist Vollpension. Setzt euch bitte.“
Ich schickte Neo an einen der Tische und blieb an der Bar, denn ich wollte dringend ausprobieren, ob meine neue Fähigkeit „Fast lebendig“ verbergen konnte, dass ich untot war.
„Nur der Junge isst!“, rief ich dem Wirt hinterher, als er in der Küche verschwand. „Ich brauche nichts!“
Er spähte mit einem voll beladenen Tablett aus der Küchentür. „Bier?“
„Nein, danke“, entgegnete ich. „Ich habe noch einen geschäftlichen Termin.“
Er zwinkerte mir zu. „Einen geschäftlichen Termin. Im Spiel?“
„Tja, du bist ja auch nicht gerade mit Drachentöten beschäftigt.“
Der Gastwirt lachte. Er stellte das Tablett auf die Theke und streckte mir eine Hand entgegen. „Mark.“
„John“, erwiderte ich, hielt mein Profil aber sicherheitshalber geschlossen.
Er lächelte. „Freut mich, John. Hau rein, Junge!“
Das ließ sich Neo nicht zweimal sagen. Er schnappte sich das Tablett und trug es an seinen Tisch.
„Man merkt, dass du neugierig bist“, lächelte Mark. „Du fragst dich vermutlich, warum ich das mache, oder?“
Ich ließ den Blick durch den geräumigen Saal mit den getäfelten Wänden, geschnitzten Möbeln und den Wagenrädern als Deckenleuchter schweifen. „Nun, es ist schön gemütlich.“
Mark holte eine staubige Flasche hervor und goss giftgrüne Flüssigkeit in ein Schnapsglas. „Netter Witz!“, lachte er, bevor er das seltsame Getränk hinunterschüttete. Er atmetet geräuschvoll aus und ergänzte dann ohne eine Spur von Heiterkeit: „Damit kommt du der Wahrheit eigentlich ziemlich nah. Gemütlich ist es wirklich. Nicht jeder steht auf Raubzüge und dergleichen. Manche gönnen sich lieber ein schönes Essen und ein Glas Wein, ohne danach einen Kater und Bluthochdruck fürchten zu müssen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass man nach einer Nacht virtueller Leidenschaft nicht zum Arzt muss, wie es in der echten Welt durchaus passieren kann. Und wenn dir jemand die Kehle durchschneidet, nun … es ist schließlich nur ein Spiel, nicht wahr?“
Ich lachte leise. Auf die Idee, dass man die virtuelle Welt aufsuchen könnte, nur um sein langweiliges kleines Leben unverändert fortzusetzen, war ich noch nie gekommen.
„Du würdest dich wundern, wie viele nur wegen der Bordelle und Bars hier sind. An Drachen haben sie nicht das leiseste Interesse.“
„Wie komisch“, murmelte ich. „Aber für dich ist es doch sicher mehr als nur Vergnügen?“
Er nickte und rieb sich die Nase, die sich durch das Getränk rasch rötete. „Hier konnte ich mir endlich meinen Lebenstraum erfüllen und eine kleine Kneipe eröffnen. Ich habe die Hälfte meiner Ersparnisse dafür investiert, was ich kein Bisschen bereue. Etwa 40 % habe ich davon bereits zurückgewonnen, das Geschäft läuft also nicht schlecht.“
Während wir uns unterhielten, erschien ein vornehm wirkender Herr mit schwarzem Umhang und breitkrempigem Hut oben an der Treppe. An seinem Gürtel hing ein langer Degen: keine besonders ernstzunehmende Waffe, sondern eher ein Statussymbol, das für den richtigen Kampf nicht gut geeignet war.
Mark begrüßte ihn. Der Mann nickte nur, durchquerte den Raum und ging hinaus.
„Dieser Laden ist hervorragend“, berichtete der Gastwirt. „Es ist viel los. So etwas bekommt man heutzutage nicht mehr zu vernünftigen Preisen.“
Ich konnte ein Lachen nicht unterdrücken. „Man hat aber nicht gerade den Eindruck, als könntest du dich vor Gästen nicht retten!“
„Wieso auch?“ Er klang ehrlich überrascht. „Das läuft hier anders als im echten Leben. Geld funktioniert anders. Wer einen geeigneten Login-Punkt braucht, muss sich ein Zimmer mieten. Ich zahle für die Serverleistung, die Differenz wandert in meine Tasche. Öffentliche Stripshows sind nicht mein Ding. Versteh mich nicht falsch, damit kann man gut verdienen. Aber man kann auch im Handumdrehen pleitegehen. Die Ortsansässigen haben schon alles gesehen. Die Konkurrenz ist groß. Hier steckt hinter jedem einzelnen Mädchen ein echter Mensch. Niemand will mehr NPCs.“
„Das ist nicht dein Ernst!“
Er nickte. „Oh doch. Wozu also das ganze Theater. Jeder sollte das machen, was ihm am besten liegt.“
„Soll das heißen, dass alle örtlichen Lokalitäten von Spielern gekauft wurden?“
„In großen Stadtzentren schon, fast alle“, bestätigte er. „Natürlich gibt es bestimmte Beschränkungen. Manche Lokalitäten stehen gar nicht zum Verkauf. Aber das gilt für die dunkle Seite. Die Hellen haben was gegen Privatunternehmen.“
„Wieso?“
„Dort steht die Interaktion der Spieler im Vordergrund. Quests, Raubzüge und Veranstaltungen. Zehn Orks töten, fünfzig goldene Lotusse suchen, hundert Botschaften übermitteln … Ich übertreibe natürlich ein wenig, aber ich persönlich finde das etwas anstrengend. Dort gibt es keine Opiumhöhlen oder leichte Mädchen. Wenn man die Altersgrenze auf 14 senken wollte, müsste man dort nicht das Geringste ändern!“
Ich lächelte ihm höflich zu, denn ich erkannte, dass zu Marks unerfülltem Traum aus dem echten Leben auch ein dankbarer Zuhörer an der Bar gehörte. Während unseres Gesprächs waren mindestens zehn Personen die Treppe hinuntergekommen und aus der Tür verschwunden, ohne ein Wort an den Gastwirt zu richten.
„Willst du etwas trinken?“, bot er wieder an.
„Nein, danke. Ich passe.“
Er füllte sein Glas erneut und schüttelte den Kopf. „Weißt du, John, mittlerweile würde ich nicht mehr wagen, so viel Geld in das Spiel zu investieren.“
„Wieso denn?“, fragte ich nach, wie er es sich offensichtlich erhoffte.
Er kippte den Drink hinunter und seufzte. „Früher war mir klar, wie die Strategie dieser Welt funktionierte. Und ich fand sie in Ordnung. Aber in letzter Zeit ist etwas Merkwürdiges im Gange. Sag mir eins: Wie konnten sie das Intuit-Projekt absägen? Hm?“
Davon hatte ich noch nie gehört, und das sagte ich ihm.
„Die vielen kleinen Icons und Logos, die einem vor den Augen herumflackern“, erläuterte er. „Ich finde sie so lästig. Sie lenken nur ab. Eigentlich sollten sie komplett abgeschafft werden, sodass die besonderen Fähigkeiten nur noch intuitiv gesteuert werden konnten. Aber irgendwer ist in seiner unendlicher Weisheit offenbar zu dem Schluss gekommen, das sei für den Durchschnittsspieler zu kompliziert. Es hieß, die Implementierung sei zu langwierig und der Kontrast zur Konkurrenz wäre dann zu krass.“
Ich nickte nachdenklich. Er hatte Recht. Ich hatte schon eine ganze Weile keine Icons mehr in meinem Gesichtsfeld gesehen. Wie war es mir dann gelungen, meine besonderen Fähigkeiten zu aktivieren? Für mich war mein Inventar nur eine ganz gewöhnliche Tasche. Hatte ich vielleicht schon zu viel Zeit im Spiel verbracht? Möglich.
Obwohl ich mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt war, redete Mark weiter auf mich ein.
„Manchmal glaube ich, dass diese ganze Konfrontation zwischen den Mächten des Lichts und der Dunkelheit im Spiel nur die Auseinandersetzungen innerhalb des Vorstands widerspiegelt.“ Er nahm die Flasche und verstaute sie widerwillig unter der Theke.
Jetzt ging er wirklich zu weit. Seine Verschwörungstheorien wollte ich mir nicht mehr anhören, deshalb erhob ich mich. „Das halte ich nicht für möglich.“
Er machte eine abschätzige Handbewegung. „Es mag verrückt klingen, aber nur, wenn man die Aktionäre nicht kennt. Die Hälfte der Anteile gehört den Spielentwicklern und die andere Hälfte einem Unternehmen, das das Patent an den Algorithmen hält, mit dem die Gehirndaten der Spieler verarbeitet werden. Sie sind sich wohl über die Zukunft des Spiels nicht einig.“
Ich zuckte die Schultern. „Kann sein.“
Der Gastwirt wollte noch etwas hinzufügen, als die Eingangstür aufschwang und Isabella hereinkam.
„Guten Abend, Frau Ash-Rizt!“, setzte der Gastwirt an.
Sie lächelte ihm beiläufig zu. „Schätzchen?“ Mit einer Geste wies sie zur Treppe. „Wir müssen reden.“
„Neo“, wandte ich mich an den Jungen. „Iss auf und geh dann wieder in dein Zimmer.“
„Ich bin schon fertig!“, erwiderte er und lief uns hinterher.
Ich holte Isabella auf der Treppe ein. „Und?“
„Wir reden oben“, fuhr sie mich an.
Als wir im Zimmer waren und die Tür verriegelt hatten, machte sie mir natürlich Vorwürfe: „Hatte ich dir nicht gesagt, dass du das Zimmer nicht verlassen sollst?“
„Ah, lass doch gut sein“, winkte ich ab, während ich „Inkognito“ und „Fast lebendig“ deaktivierte.
Mein unechtes Gesicht verschwand, sodass sich die Haut wieder straff über meinem Schädel spannte. Isabella wich zurück.
„Was zum Teufel ist —?“, entfuhr ihr, dann verstummte sie. „Ein Lich?“
„Ein Junior-Lich.“
„Aber wie hast du — “
„Ich steige eben immer weiter auf.“
„Du steckst voller Überraschungen, Schätzchen“, räumte sie erstaunt ein. „Ausgerechnet ein Lich!“
Ich zuckte die Schultern. „Na und? Ein toter Nekromant, was ist daran schon so besonders!“
Sie schüttelte den Kopf. „O nein. Das ist etwas ganz anderes. Todeszauber und die Magie der Untoten ist keineswegs zu vergleichen.“
Ein gequältes Seufzen entwich mir. Die Magie der Untoten! Nicht im Traum war daran zu denken, dass ich diese jemals erlernen würde. Allerdings hatte ich nicht vor, jetzt mit ihr über meine Probleme zu reden. „Also, was ist jetzt mit dem Treffen?“
Sie strahlte und freute sich offenbar wie ein Schneekönig. „Entspann dich, Schätzchen. Man erwartet uns.“
„Wann?“
„Genau jetzt.“ Sie schenkte mir ein geheimnisvolles Lächeln. „Aber erst müssen wir uns vorbereiten.“
Als sie ihren unförmigen Umhang ablegte, entfuhr mir vor Überraschung ein leiser Pfiff.
Ihre Rüstung war mit schwarzem Lackleder besetzt, das sie äußerst sexy wirken ließ. Ihre Kleidung hatte schon immer etwas aufreizend oder gar frivol gewirkt — zumindest wenn sie sich nicht gerade in eine wütende Harpyie verwandelt hatte —, doch jetzt erinnerte sie an eines der leichten Mädchen, von denen Mark gerade gesprochen hatte.
„Steht mein Schätzchen etwa auf Hardcore?“ Sie blinzelte mich an, während sie mit ihrer neunschwänzigen Katze spielte. „Ich wäre eine gute Domina, das kannst du mir glauben!“
„Was ist das denn für eine abartige Verkleidung?“
„Das ist noch nicht alles.“ Isabella fuhr sich mit der Zunge gierig über die grell geschminkten Lippen und warf mir ein Halsband mit Kette zu. „Probier das an.“
„Was zum Teufel?“
„Komm schon, Schätzchen, hab dich nicht so! Wir haben nicht ewig Zeit!“
„Aber —“
„Leg es einfach an!“

3

Ich wurde an einer Kette zu den Verhandlungen geführt.
Isabella ging voran, wobei sie verführerisch die Hüften schwenkte. Entweder versuchte sie, sich an ihre Rolle zu gewöhnen, oder sie konnte auf ihren unmöglich hohen Stilettos nicht normal laufen. Für Kopfsteinpflaster waren das Schuhwerk eindeutig nicht gemacht. Nicht, dass mich das gekümmert hätte. Meinetwegen konnte sie sich ruhig den Hals brechen. Sie hatte es gewagt, mir dieses Halsband zu verpassen! Noch mehr beunruhigte mich die Tatsache, dass ich keine Maske trug, denn obwohl das Inkognito meinen Status vor anderen Spielern verbarg, konnte jeder das kränkliche Gesicht eines Toten sehen.
Ja, ich sollte ein Zombie an der Leine sein. Keine besonders erstrebenswerte Rolle. Aber immerhin diente sie einem guten Zweck.
Leise fluchend legte ich einen Schritt zu, damit sich die Kette nicht so straff spannte. Es war gar nicht so einfach, einen lethargischen Zombie zu mimen und gleichzeitig mit Isabella Schritt zu halten.
„Nicht so schnell!“, zischte die Elfe aus dem Mundwinkel.
Gehorsam ließ ich mich zurückfallen.
Der Turm der Finsternis war in dichte Düsternis gehüllt. Die schmalen Gassen, die ihn umgaben, waren notdürftig mit Fackeln und magischen Laternen beleuchtet. Um die fragwürdigen Etablissements drängten sich angetrunkene Spieler, während die leisen Schatten der Stadtwächter durch die Straßen schlichen und Damen der Nacht Kundschaft anlocken wollten. Das ganz gewöhnlich Nachtleben in einer ganz gewöhnlichen Stadt: Ausgehen, Alkohol und Huren.
Ich wurde zwar unfreundlich angestarrt, aber niemand versuchte mich anzugreifen. Niemand wollte wegen Sachbeschädigung angezeigt werden. Solange ich an der Kette war, konnte man mir nichts anhaben. Demütigend, aber sicher.
Als wir in eine verlassende Gasse abbogen, schloss ich wieder zu Isabella auf.
„Würdest du mir bitte verraten, was die Maskerade soll?“, flüsterte ich wütend.
Sie drehte sich zu mir um und musterte mich ungnädig. „Erstens merken unsere potentiellen Partner sowieso, dass du tot bist. Und zweitens bist du mein Trumpf. Jetzt tu mir einen Gefallen und halt die Klappe.“
Wir gelangten auf eine belebte Kreuzung, auf der ein hoch aufgeschossener Elf versuchte, ihr auf den Hintern zu hauen. Ohne aus dem Tritt zu kommen, verpasste ihm Isabella im Vorbeigehen einen Hieb mit der neunschwänzigen Katze. Ich ließ den Kiefer knacken und riss die Augen auf.
Der Elf lachte auf. Zumindest hatte er Humor.
„Wo gehen wir hin?“, fragte ich erneut.
Isabella zuckte zusammen. „Das wirst du gleich sehen.“
Durch die Dunkelheit hörten wir kalten Stahl klirren. Ich hätte nicht auf Isabella hören sollen. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, das Flammenschwert im Gasthof zu lassen.
Als wir um die Ecke bogen, sahen wir zwei Krieger, die mitten auf der Straße erbittert miteinander kämpften. Sie waren von einer dichten, lärmenden Menge umgeben, doch offenbar wollte sich keiner der Schaulustigen einmischen.
Ich musterte die Szene. Ein Hinweis erschien:

Ein Duell!

Jemand kreischte auf. Eine Stimme donnerte: „Haltet den Dieb!“
Ein junger Bursche glitt geschmeidig an mir vorbei und verschwand in den dunklen Schatten. Ein durchsichtiges Lasso kam hinter ihm hergeflogen und machte seine Tarnung zunichte, doch der Dieb hatte sich bereits in einen finsteren Durchgang geflüchtet. Niemand wagte, ihm weiter zu folgen. Die wütenden Rufe seines Opfers hallten noch lange hinter uns.
Die Straße führte an ein schmales, verlassenes Kanalufer. Dort schloss ich wieder zu Isabella auf und ging neben ihr her, wobei ich mich bemühte, nicht auf die Kette zu treten, die auf dem Kopfsteinpflaster klirrte.
„Kann man sich irgendwie vor Taschendieben schützen?“
Isabella zuckte die Schultern. „Alles ist möglich. Kommt darauf an, wie viel du zahlst.“
„Könntest du etwas deutlicher werden?“
Da niemand in der Nähe war, ließ sie sich zu einer Antwort herab.
„Wenn du den Herrscher des örtlichen Turms schmierst, kann er dein Inventar eine Zeitlang schützen. Das ist nicht billig. Außerdem erlischt sein Schutz, sobald du die Stadt verlässt.“
„Aha. Und wenn man für einen bestimmten Gegenstand dauerhaften Schutz braucht, unabhängig davon, wo sich sein Besitzer gerade aufhält?“
Sie blieb stehen und seufzte schwer. „Wozu brauchst du das? Was hat du noch für Geheimnisse vor mir?“
„Tja“, zögerte ich. „Der Nekro, mit dem ich diese Vendetta habe, will mir ein bestimmtes Artefakt wegnehmen …“
„Das ist dein Problem.“ Ohne meine Erklärung abzuwarten, ging sie weiter.
Ich packte die Kette und zwang sie zum Stehenbleiben. „Das sehe ich anders! Dieses Artefakt ist für meine Wiedergeburt unerlässlich. Und wenn es gestohlen wird —“
Mehr musste ich nicht sagen.
„Zeig es mir“, gab Isabella nach.
Ich zog den verzauberten Schädel hervor und legte ihn widerwillig in ihre Hand.
Sie musterte ihn eine Weile und sah dann zu mir auf. „Wenn du mich verarschen willst —“
„Auf keinen Fall!“
„Dann mache ich dich fertig“, versicherte sie mir. „Um diesen lausigen Stein zu beschützen, muss ich das Wohlwollen meiner Göttin in Anspruch nehmen! Kannst du dir eigentlich vorstellen, was es mich gekostet hat, es überhaupt zu gewinnen?“
„Ich werde mich revanchieren.“
Sie lachte auf und legte eine Hand auf das Artefakt. Als sie sie wieder wegzog, leuchtete in den leeren Augenhöhlen des Schädels ein purpurroter Schein. „Hier.“
Eilig verstaute ich den Schädel wieder in meinem Inventar. „Wie funktioniert das nun?“
„Ein Dieb wird seine Finger verlieren.“
„Ausgezeichnet!“, rief ich aus.
Plötzlich ließ mich irgendetwas aufmerken. „Warte mal.“
Wir näherten uns der nächsten Brücke, als mein untoter Phönix — der aus Gründen, die nur er selbst kannte, hinter uns hergeflogen war —, plötzlich über dem Wasser kreiste. Ich ließ meinen Geist zu ihm schweben und versuchte, aus der Vogelperspektive in die Dunkelheit zu spähen, die über der Stadt lag. Es war nichts Verdächtiges zu erkennen. Trotzdem war etwas nicht in Ordnung.
„Können wir diese Brücke umgehen?“, fragte ich Isabella.
„Dazu ist keine Zeit“, fuhr sie mich an. Dann wies sie auf ein Paar, das gerade aus einer Seitenstraße kam und auch auf die Brücke zuging. „Schau nur, andere benutzen sie auch.“
Doch da irrte sie sich. Kaum hatten die beiden Nachtschwärmer die Brücke erreicht, wurden sie von Schatten umringt. Im nächsten Augenblick schienen sie friedlich auf dem Boden zu ruhen. Allerdings schliefen sie nicht — sondern verbluteten.
Vier mörderische Schurken filzten die Leichen gekonnt und sprangen dann in ein Boot, das auf den Wellen neben dem Ufer tanzte. Sekunden später gab es bis auf das leise Knarren der Ruderdollen keine Spur mehr von ihnen.
„Wer hätte das gedacht ...“, bemerkte Isabella gedehnt und mit verblüffter Miene. „Komm, Schätzchen!” Sie riss an der Kette. „Wir sind fast da.“
An den leblosen Körpern vorbei eilten wir auf die Brücke. Dank meiner Nachtsicht konnte ich erkennen, wie das Boot auf dem Kanal verschwand. Leider war nicht genau auszumachen, wer sich daran befand.
„Nette, ruhige Stadt“, höhnte ich.
„Nur ein paar Minderjährige auf einem Adrenalin-Trip“, erwiderte Isabella, die ihren Schritt beschleunigte.
Widerwillig folgte ich ihr. Der Phönix stieß wieder ein Krächzen aus und flatterte in die Dunkelheit davon.
Kaum hatten wir den Kanal überquert, trafen wir direkt auf eine Gruppe von Spielern, die sich auf einen Raubzug vorbereiteten. Ein hoch konzentrierter Hexenmeister zeichnete mit Kreide die Umrisse eines Portals auf das Kopfsteinpflaster. Eine Priesterin erteilte Segen, während alle anderen ihre Ausrüstung prüften oder Heiltränke und Mana-Fläschchen verteilten. Ihr Durchschnittslevel war nicht besonders hoch, doch ausgestattet waren sie beeindruckend. Selbst ich, der ich mich in dem Spiel nicht besonders gut auskannte, erkannte einige legendäre Ausrüstungsteile.
Genauso hatten die Spieler auch mich erkannt.
Natürlich nicht im wahrsten Sinne des Wortes. Sie sahen eine Dame in schwarzem Leder mit einer Kreatur an einer Kette und hatten es geschafft, diese zu identifizieren.
„Ein Zombie!“, rief jemand. „Wer will sich ein paar Erfahrungspunkte sichern?“
„Ich bin dabei!“, knurrte ein stämmiger Krieger, der über zwei Meter maß, und zog ein glühendes Schwert aus seiner Scheide.
Diesmal war Isabella nicht so dumm, sie mit der Peitsche zu bedrohen. Sie packte ihren Stab fester. „Versucht es nur!“
Ihr wütendes Knurren ließ den Krieger unentschlossen zaudern.
Isabella hatte sich teilweise in eine Furie verwandelt. Ihr Gesicht war spitzer geworden. Ihr Blick zeigte ein finsteres Glühen. Gegen eine solche Übermacht hatten wir dennoch keine Chance.
Zum Glück kam es nicht so weit.
„Lasst sie in Ruhe!“, befahl der Hexenmeister. Gehorsam schob der Krieger sein Schwert wieder in die Scheide.
Eilig bogen wir um die Ecke.
„Nette, ruhige Stadt“, wiederholte ich.
„Diese elenden zahlenden Spieler!“, fluchte Isabella. „Ich kann diese verwöhnten Schnösel nicht ausstehen!“
Ich nickte. Ihr Level war so niedrig gewesen, dass sie ordentlich investiert haben mussten, um sich so eindrucksvolle Ausrüstungsgegenstände leisten zu können. Aber was sollte ich sagen? Jeder nach seiner Fasson. Manche Spieler kaufen sich mit echtem Geld Fantasiewaffen und -rüstungen, während andere in virtuelle Gastronomie investierten. Die Weltwirtschaft hatte die Grenzen der echten Welt längst überschritten. Börsenspekulanten sorgten immer wieder dafür, dass die Aktien von Online-Startups in die Höhe schossen, selbst wenn sich sämtliche Vermögenswerte dieser Start-ups nur auf einem einzigen Server befanden.
Jegliche Gedanken über die Verschmelzung der virtuellen und der echten Wirtschaft verschwanden jedoch auf einen Schlag aus meinem Kopf, als ich auf der anderen Seite eines weiteren Kanals ein düsteres Gebäude erblickte, hinter dem ein imposanter Turm mit einem dunklen Engel auf der Spitze aufragte.
„Warte mal“, sagte ich verwirrt. „Dort haben doch die Sprösslinge der Finsternis ihren Sitz!“
„Natürlich“, erwiderte Isabella.
Ich traute meinen Ohren nicht. „Soll das etwa heißen, dass sich der mächtigste Clan der dunklen Seite dazu herablässt, mit uns Geschäfte zu machen?“
Sie lachte. „Die würden mit dem Teufel höchstpersönlich einen Deal machen, um den Söhnen des Lichts eins auszuwischen. Oder meinst du wirklich, dass auf der hellen Seite niemand die Seelensphäre einsammeln will?“
Ich sah das etwas anders, deshalb zuckte ich nur die Schultern, sagte jedoch nichts.
Die Brücke auf die andere Seite war mit Marmorplatten belegt und von Statuen verschiedener fantastischer Kreaturen gesäumt, die wie kämpfende Schlangen ineinander verschlungen waren. Wachposten waren nicht zu sehen.
„Wir können doch sicher nicht einfach das Territorium des Clans betreten?“, fragte ich.
„Sei still!“, zischte Isabella. „Du bist ein hirnloser Zombie, vergiss das nicht!“
Ich fluchte halblaut, gehorchte jedoch.
Kaum lag die Hälfte der Brücke hinter mir, bohrte sich ein durchdringender Schmerz oben in meinen Kopf. Es war, als hätte mich ein Hammer getroffen. Fast wand ich mich vor Qualen. Ein Büschel versengter schwarzer Federn schwebte zu Boden.
Meinen schwarzen Phönix hatte offenbar niemand auf die Gästeliste gesetzt.
„Beweg dich!“, zischte Isabella.
Mit Mühe richtete ich mich auf, straffte die Schultern und stolperte ihr mit dem stockenden Gang der wandelnden Toten hinterher.
Die Wachposten warteten am anderen Ende der Brücke auf uns: zehn Schwertkämpfer, zwei Hexenmeister und als einziger Spieler ein dunkler Priester. Er hob seinen Stab, dessen Kristallspitze zu leuchten begann und die nächtlichen Schatten vertrieb.
Die Kontrolle dauerte nicht lange. Der Priester winkte uns durch.
„Geht geradeaus weiter“, sagte er. „Ihr werdet erwartet.“
Unmittelbar hinter der Brücke stießen wir auf ein unglaublich hohes schmiedeeisernes Tor, auf dem scharfe Spitzen saßen. Allerdings waren wir nicht wichtig genug, als dass man uns dieses geöffnet hätte. Wir durften lediglich durch ein kleines Seitentor eintreten.
„Folgt mir“. Der Torwächter schritt über den Platz auf den Turm des Clans zu, der auf der gegenüberliegenden Seite aufragte. Erstaunlicherweise hob sich die Statue des dunklen Engels in der Finsternis, die uns umgab, deutlich ab.
Leider konnte ich sie mir nicht in Ruhe ansehen. Von einem Zombie wird nicht erwartet, dass er Sehenswürdigkeiten betrachtet. Wir sollen mit gesenkten Köpfen herumlaufen, genau wie Schweine.
Die Tore zum Sitz des Ordens waren weit geöffnet. Der Torwächter geleitete uns in eine geräumige Eingangshalle und befahl uns, dort zu warten.
Selbst als er fort war, gab ich weiterhin die emotionslose Leiche, obwohl es mir immer schwerer fiel, eine reglose Miene zu behalten. Minuten verstrichen, doch wir wurden nicht gerufen. In der echten Welt wäre das weder seltsam noch erniedrigend gewesen, doch angesichts der Kosten für den Aufenthalt in der virtuellen Realität ließ das Verhalten unseres Gastgebers nichts Gutes ahnen.
Nach einer Weile fluchte Isabella halblaut. Sie stellte sich vor die Eingangstür und starrte finster auf die Statue des dunklen Engels, die sich darüber befand: er war schmal, mit kräftigen Schwingen und energischer Miene auf dem schönen Gesicht. Mit der rechten Hand reckte die Kreatur ein schwarzes Schwert hoch in die Luft, die linke umklammerte passend dazu eine flammende Peitsche.
„Das ist der Schutzpatron des Clans“, sagte Isabella. „Sie haben sich nicht einmal die Mühe gemacht, einen Namen für sie zu überlegen. Hauptsache billig.“
Ihre Stimme klang unverhohlen sarkastisch, als wolle sie die unsichtbaren Beobachter wissen lassen, wie sehr sie sich über die unerwartete Verzögerung ärgerte, aber vorerst nicht zu weit gehen.
Ihre wütende Tirade zeigte keine Wirkung. Die Türen blieben verschlossen.
Nach und nach erschienen andere Spieler in der Eingangshalle. Niemand sprach mit anderen, jeder blieb für sich. Ich versuchte, sie nicht anzustarren: Sie waren so schon nervös genug und hatten es nicht gerne mit einem Zombie zu tun.
Endlich öffneten sich die Türen, und ein Diener in prächtiger Livree verkündete:
„Isabella Ash-Rizt! Bitte folgt mir!“
Die vielen Spieler im Raum warfen ihr ungnädige, neidische Blicke zu, die Isabella ignorierte, als sie mit hoch erhobenem Kopf stolz den Korridor hinunterlief.
Der Durchgang war mit vierarmigen Statuen gesäumt. Ich brauchte eine Weile, um zu erkennen, dass es keine ganz gewöhnlichen Statuen waren, sondern Golem-Wächter. Ihre Schwerter und Rüstungen bestanden aus einem Metall, das sehr nach Mithril aussah, aber dunkelrot schimmerte.
Der Audienzsaal war wirklich gigantisch. Seine Wände und die unfassbar hohe Decke verschwanden in den Schatten über unseren Köpfen. Die Beleuchtung stammte von einem gespenstischen Licht, das sich auf die drei Throne gegenüber dem Eingang konzentrierte.
Auf diese ging der Diener zu. Bei jedem seiner Schritte leuchteten die Steinfliesen hinter ihm auf. Wir folgten ihm. Sofort stießen die Steinplatten unter unseren Füßen einen deutlichen roten Schein aus, als wollten sie jedermann vor einem nahenden Feind warnen.
„Der Fall der Scherbe der Seelensphäre!“, donnerte der Diener. Daraufhin trat er zur Seite und ließ uns mit den Herrschern des Clans allein.
Auf dem mittleren Thron saß ein unfassbar groß gewachsener Ritter mit schwarzer Rüstung und geschlossenem Visier. Er hatte nichts Helles an sich. Es war, als sei er ganz und gar in Finsternis gehüllt, die ihn in Hunderten von gespenstischen Schatten umgab.

Oberster Hofmeister

Das war der einzige Hinweis, der erschien, wenn ich mich auf ihn konzentrierte.
Der linke Thron war von einer weiblichen Gestalt in einer Rüstung aus Eis belegt, deren Gesicht hinter einem Schleier aus Schneeflocken verborgen war. Zu ihren Füßen lag ein ungeheurer weißer Wolf.
Auf dem gegenüberliegen Thron befand sich ein Spieler in einem Feuergewand. Ihre Namen — Lady Blizzard und Fürst Inferno — sagten mir nichts.
Isabella senkte respektvoll den Kopf. Ich blieb unbeholfen stehen und starrte reglos auf die Menge, die sich hinter den Thronen regte. Alle Spieler hier hatten Level 80 bis 90 und sahen mit ihren legendären Waffen, maßgeschneiderten Rüstungen und einzigartigen Haustieren auch entsprechend aus. Von manchen der Klassen und Berufe hatte ich noch nie gehört.
Und wir waren gekommen, um ihnen ein Geschäft anzubieten. Na klar.
Der Oberste Hofmeister schnippte mit den Fingern. Ein Alchemist trat vor.
„Erlaubt mir, das Artefakt zu prüfen“, sagte er.
Isabella holte die Scherbe der Seelensphäre hervor, zeigte sich jedoch nicht bereit, sie ihm zu übergeben, sondern streckte sie auf der Handfläche vor sich aus.
Das war kein Problem. Der Alchemist studierte den kalten Schein des Objekts mit einem ausgefeilten optischen Gerät.
„Drei von Hundert!“, lautete sein Urteil.
Der Oberste Hofmeister nickte zustimmend. „Wie viel?“
Isabella verstaute das Fragment wieder. „Euer Geld interessiert mich nicht.“
Ein Raunen ging durch die Halle, doch der Oberste Hofmeister blieb ruhig. „Erklärt euch“, verlangte er.
„Eine Hand wäscht die andere“, erwiderte Isabella.
„Sucht ihr unseren Schutz?“, erkundigte sich Lady Blizzard.
„Oder wollt ihr dem Clan beitreten?“, lachte Fürst Inferno. „Unsere Warteliste ist jahrelang. Und Ihr seid keine besonders wertvolle Ergänzung, Priesterin.“
Isabella schüttelte den Kopf. „Ich möchte mich dem Raubzug ins Königreich der Toten anschließen. Und glaubt mir, ihr werdet sicher feststellen, dass ich eine sehr wertvolle Ergänzung sein kann.“
Die Menge der Spieler hinter den Thronen begann durcheinander zu reden, um ihrer Empörung Luft zu machen. Ich fand, wir sollten verschwinden.
Der Oberste Hofmeister blieb jedoch weiterhin ungerührt. „Fahrt fort“, sagte er und bedeutete der Menge, sich zu beruhigen.
„Ich bin den Untertanen des Herrschers vom Turm der Verwesung gegenüber neutral. Eine bessere Späherin als mich werdet ihr nicht finden.“
Der schwarze Ritter schüttelte den Kopf. „Dieser Status ist nicht so einzigartig, wie Ihr glaubt, Priesterin. Wir brauchen eure Dienste nicht.“
Isabella ließ sich von seiner Ablehnung nicht beeindrucken, sondern zog an der Kette, sodass die allgemeine Aufmerksamkeit auf meine Wenigkeit fiel. „Und wie viele zahme Zombies habt ihr, wenn ich fragen darf? Keine hirnlosen Idioten, sondern sensible Geschöpfe? Die mit freiem Willen handeln und die Artefakte der Untertanen des Turms Verwesung einsetzen können? Und noch dazu in der Lage sind, magische Verteidigungen zu überwinden?“
Sie wandte mich zu mir um. „Schätzchen, sag was!“
Gehorsam sagte ich mit absichtlich undeutlicher Stimme: „Es ist mir eine Ehre, meine Damen und Herren!“
Die Spieler begannen sofort, das außergewöhnliche Angebot zu diskutieren.
Wieder brachte der Oberste Hofmeister alle zur Ruhe. „Einen Augenblick.“ Er wandte sich an die beiden anderen, um sich zu beraten.
Isabella ließ ein leises Lächeln um ihre Lippen spielen, das verschwand, sobald der schwarze Ritter wieder sprach und die Entscheidung des Clans verkündete.
„Wir zahlen euch fünfzigtausend für das Fragment. Und weitere dreißig für die Zombie-Kontrolle.“
Das unverschämte Angebot schien Isabella zu schockieren. Stolz warf sie den Kopf in den Nacken. „Tja, wie Ihr wollt. Komm, Schätzchen. Du bist weitaus mehr wert als jämmerliche Dreißigtausend!“
Der Oberste Hofmeister beugte sich ein wenig vor. „Sagen wir sechzig und vierzig. Das sind insgesamt hunderttausend. Unser letztes Angebot.“
„Ich brauche das Geld nicht. Ich will an dem Raubzug teilnehmen!“
Er schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Dann werden wir uns nicht einig.“
Isabella zuckte empört die Schultern und wandte sich zum Gehen. Doch bevor sie einen Schritt tun konnte, trat einer der Spieler — ein gewisser Prinz Julien — vor.
„Was zum Teufel?“, wollt er wissen. „Lassen wir sie einfach gehen? Das Fragment ist so gut wie unser!“
Schweigen machte sich breit. Ich hörte es deutlich klirren, als Isabellas Stab seine Gelenke bewegte. In Erwartung der Hölle, die gleich losbrechen würde, taten mir schon die Zähne weh.
Ein Prinz? Wer um alles in der Welt hatte diesen Dreckskerl zum Prinzen gemacht?
Für Isabella war das kein Problem. Sie würde einfach im Gasthof respawnen und fertig. Aber ich, wie sollte ich hier wieder herauskommen? Oder standen meine Chancen, das Königreich der Toten zu erreichen, etwa besser, wenn ich bei dem Clan blieb? Auf keinen Fall. Sie würden mich auf der Stelle durchschauen.
Die Pause dauerte nur wenige Sekunden. Der Oberste Hofmeister schüttelte den Kopf. „Wir verstoßen nicht gegen die Gesetze.“
„Aber wir machen sie doch!“, rief der Prinz leidenschaftlich aus.
Ich war mir ziemlich sicher, dass ihm viele in der Menge von ganzem Herzen zustimmten.
Diesmal stand die Entscheidung bereits fest. „Geht!“ Der schwarze Ritter wies Isabella an, den Raum zu verlassen.
Eilig gehorchte sie. Ich trottete hinter ihr her wie ein Hund an der Leine.
Isabella sagte kein Wort, als wir uns unseren Weg durch die Menge der anderen Bittsteller bahnten, die in der Empfangshalle darauf warteten, bis sie an die Reihe kamen. Erst als wir die Brücke überquerten, wurde sie wieder normal.
„Egal“, stieß sie durch zusammengebissene Zähne hervor. „Was der kann, kann ich auch.“
Mit diesen Worten eilte sie nach Hause.
„Warum haben die uns gehenlassen?“, fragte ich, als ich die Rolle des dummen Zombies abgelegt hatte.
Sie zuckte die Schultern. „Da kann ich auch nur raten. Vielleicht haben sie gedacht, dass wir zu einem größeren Betrug gehören. Denn glaub mir, auch mit den Sprösslingen der Finsternis kann man es aufnehmen, wenn sie zu weit gehen.“
„Aber was, wenn sie uns loswerden wollen? Daran hast du nicht gedacht, oder?“ Ich war wütend und versuchte gar nicht, das zu verbergen.
Die Priesterin lächelte nur. „Vertrau mir, Schätzchen. Ich wusste genau, was ich mache.“
Mit weiteren Erklärungen gab sie sich nicht ab, und mir war klar, dass ich ihr besser nicht zusetzen sollten.
Aus der Finsternis über unseren Köpfen erschallte ein „Kraah!“. Offenbar war mein toter Phönix wieder im Spiel.
„Und was jetzt?“, fragte ich.
Isabella lachte zweideutig. „Keine Sorge. Wir werden von ihnen hören.“
„Aber uns läuft die Zeit davon!“
„Wirst du etwa unruhig, Schätzchen?“
„Leck mich!“ Ich wollte ihr gerade die Kette aus der Hand reißen, als aus einer angrenzenden Straße eine laute Prozession auftauchte.
Den Anfang machte ein halbes Dutzend bis an die Zähne bewaffnete Söldner, darauf folgte ein Feuermagier mit Level 85. Neben ihm eilte eine wohlgeformte Elfe daher, während uns die drei Spieler-Leibwächter am Ende der Prozession mit unverhohlenem Misstrauen musterten.
So seltsam es klingen mag, das war der erste Charakter mit richtig hohem Level, der mir auf den Straßen der Hauptstadt begegnete. Am Sitz des Clans, den wir gerade verlassen hatten, hatte es davon gewimmelt, doch in der Stadt selbst keineswegs. Ich fragte Isabella nach einer Erklärung.
Sie schnaubte höhnisch. „Die haben keine Zeit, sich in der Stadt aufzuhalten. Für diejenigen, die das Hochleveln ernst nehmen, ist das Spiel ein Job. Und das kann sogar ziemlich gefährlich sein!“
Ich traute meinen Ohren kam. „Gefährlich? Hör doch auf! Das sind echte Kampfmaschinen!“
„Jeder kann sein Leben verlieren. Man muss sich nur mehr anstrengen oder mehr Leute mobilisieren. Manche Spielermörder haben es gezielt auf Spieler mit hohen Levels abgesehen.“
„Warum das denn?“
„Erfahrungspunkte. Coole Ausrüstung. Manche Clans setzen sogar Kopfgeld aus, nur um einen rivalisierenden Clan zu schwächen.“
„Kopfgeld?“
„Klar. Kannst du dir vorstellen, wie umfangreich ihre schwarzen Listen sind? Selbst du hast dir gerade einen erklärten Feind gemacht.“
Ich erschauderte. „Du meinst, sie können wirklich jemanden ermorden?“
„Wenn sie schnell genug zuschlagen“, grinste sie. „Jetzt hör zu. Meine Spielzeit neigt sich dem Ende zu. Ich bringe dich zum Gasthaus und logge mich aus. Morgen entscheiden wir, was wir als Nächstes machen.“
Wir bogen in einen schmalen Durchgang zwischen einigen Häusern ab, hatten jedoch kaum zehn Schritte getan, als ein Portal vor uns auftauchte. Mit einem lauten Geräusch öffnete sich ein weiteres direkt hinter uns.
Ehe ich mich versah, wimmelte die Gasse vor Menschen, Elfen und Zwergen, die Schwerter und Hellebarden auf uns gerichtet hatten. Die Menge quoll über vor Zauberstäben und gespannten Armbrüsten. Als ich mich umdrehte, erwartete mich das gleiche Bild.
Jetzt steckten wir in der Klemme.
Isabella verwandelte sich auf der Stelle in eine Furie. Dennoch sah es nicht so aus, als könnten wir diese Schlacht gewinnen. Unsere Feinde waren zu zahlreich — auch wenn es keine Spieler, sondern nur angeheuerte NPCs waren.
Prinz Julien trat vor. Er war ein Dunkler Ritter auf Level 89. Auf seiner tiefblauen Rüstung funkelte Schutzzauber, hinter seinem Rücken ragte das weiße Heft seines beidhändigen Schwerts auf, das aus Dämonenknochen gemacht war. Meiner Ansicht nach hatte er die Hilfe der Söldner gar nicht nötig. Er war problemlos in der Lage, uns ganz allein zu Hackfleisch zu verarbeiten.
„Jetzt kämpft jeder für sich“, warnte ich Isabella, denn ich hatte fest vor, mich zu tarnen und zu verduften.
„Bleib, wo du bist!“, fuhr sie mich an und wandte sich dann an den Prinzen. „Wie kann ich dir helfen, mein Junge?“
Seltsamerweise schien ihre sarkastische Anrede einen Volltreffer zu landen. Mit einer ruckartigen Bewegung schloss der Prinz sein Visier, das als Tigerkopf mit gefletschten Zähnen gestaltet war, um sein hübsches Gesicht und das Grübchen in seinem Kinn zu verbergen.
„Leg dich nicht mit mir an“, sagte er. „Gib mir einfach die Scherbe.“
„Oh, wir haben uns jetzt also auf Diebstahl verlegt?“
„Du kannst dein Geld aus der Schatzkammer des Clans bekommen. Wenn du nicht mitspielst, wirst du es bereuen.“
Sie lachte. „Du brauchst also Leibwächter, um mir das zu sagen? Hast du solche Angst vor Frauen?“
Ich konnte mich nicht zurückhalten. „Er weiß einfach nicht, was er mit dir anfangen soll!“, gab ich meinen Senf dazu. „Deshalb hat er sich Berater mitgebracht!“
„Ich wollte nur nicht meine Zeit damit verschwenden, dir hinterherzujagen, das ist alles“, stieß er durch die Zähne hervor und griff hinter sich, um mich für seine Blamage bezahlen zu lassen.
Sein Schwert glitt aus der Scheide. Vorsichthalber zog ich mich hinter Isabella zurück.
Der Prinz schnaubte: „Das ist deine letzte Chance, diese Sache friedlich zu klären.“
Sein ursprünglicher Plan war jetzt sonnenklar. Indem er an der Spitze einer großen unerwarteten Söldnergruppe auftauchte, hatte er Isabella so einschüchtern wollen, dass sie ihm das Artefakt aushändigte. Sie musste das freiwillig tun. Die Chance, das Objekt am toten Körper der Priesterin sicherzustellen, war zu gering.
Isabella durchschaute seine Strategie genauso gut wie ich, wollte sich aber nicht den Spaß nehmen lassen, ihn gründlich zu verärgern.
„Der Kleine ist also gerne dominant?“, schnurrte sie. „So ein schlimmer Junge! Ein ganz, ganz schlimmer Junge!“
Das Schwert des Prinzen zuckte in seinen nervösen Händen. Die blaue Klinge war mit schwarzen Runen übersät, und der Anblick gefiel mir ganz und gar nicht. Ich packte mein Halsband und wollte es schon abreißen und mich tarnen, als Isabella sich zu gewissen Zugeständnissen herabließ.
„Du willst das Fragment, ja?“, lächelte sie und griff in ihr Inventar. „Hast du keine Angst, dir den Zorn der Herrscherin des Purpurmonds zuzuziehen?“
Beim Anblick der Kugel aus gespenstischem Licht erschauerte der Prinz. Dennoch ließ er sich nicht provozieren. Er war nicht so dumm, dass er die Göttin kränkte.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich um diesen Tand schert“, sagte er sarkastisch und streckte fordernd die Hand aus. „Gib her!“
Isabella pustete auf ihre Hand. Der weiße Schein verschwand und wich einem ungesund aussehenden Purpur. „Nimm doch. Aber pass auf, dass du dir nicht deine hübschen Fingerchen verbrennst.“
Er zog die Hand zurück. „Du Miststück!“
„Komm schon, nimm!“, beharrte Isabella. „Sobald die Sphäre komplett ist, brauchst du meine Herrscherin sowieso.“
Julien wandte den Blick von dem Artefakt ab, das dunkelrot in ihrer Hand leuchtete, und versuchte sogar einen Hieb mit dem Schwert. Doch der Verstand war stärker als sein Instinkt. „Verschwinden wir“, sagte er.
Die Söldner steckten ihre Waffen weg und zogen sich langsam aus der Straße zurück. Der Prinz folgte seinen Schergen.
„Wir sehen uns noch“, bemerkte er.
Kaum war er um die Ecke verschwunden, stieß Isabella ein erleichtertes Seufzen aus und verstaute das Artefakt wieder in ihrem Inventar.
„Was hast du damit gemacht?“, wollte ich wissen.
Sie ging die Straße hinunter, als würde sie damit rechnen, dass der Prinz zurückkommen könnte. „Der Wille meiner Herrscherin hat sie berührt“, erklärte sie widerwillig. „Jetzt kann sie niemand ohne meine Erlaubnis benutzen. Doch sobald dieses jämmerliche Exemplar von Prinz erkennt, dass er die perfekte Gelegenheit hatte, der Konkurrenz eins auszuwischen …“
Bei der Vorstellung, dass jederzeit eine Horde bewaffneter Halsabschneider zurückkommen könnte, ließ ich meinen Geist zu meinem toten Phönix aufsteigen. Sofort veränderte sich die Welt um mich herum, wurde bunter, heller und schneller. Sie wurde sogar höllisch schnell.
Meine Vogelscheuche schoss über die gesamte Stadt. Ich sah alles durch ihre Augen: sämtliche Dächer, die Schornsteine und die Wetterfahnen auf den Häusern darunter. Erstaunlicherweise flog dieses tote Federbüschel ungehindert hindurch, hielt auf den Kanal zu und hockte sich auf einen Laternenpfosten.
Der Prinz marschierte das Ufer entlang in Richtung Brücke. Die Söldner folgten ihm in einiger Entfernung. Die Schatten wurden dichter, spuckten einige Gestalten in dunklen Umhängen und Kapuzen aus. Allerdings griffen sie den Prinz und seine Leute nicht an, sondern stellten sich als Scouts des Clans heraus.
Menschliche Sprache klang durch die Ohren des Phönix ziemlich verzerrt, doch ich konnte das Gespräch dennoch einigermaßen verstehen. Was ich hörte, ließ mich auflachen.
„Was ist denn?“ Isabella riss an der Kette. „Hast du den Verstand verloren, Schätzchen?“
Ich schüttelte den Kopf und löste mich von meinem Haustier. „Ich habe gerade eine Gruppe Diebe gesehen, die angeheuert wurden, um dir das Fragment zu stehlen. Und der Prinz hat soeben alles zunichte gemacht.“
„Im Ernst?“, fragte sie, wobei sie ihre Verwunderung nicht unterdrücken konnte. „Wieso denkst du das?“
„Ich bin schließlich ein Lich, oder?“, sagte ich mit einem selbstgefälligen Lächeln. „Ich kann vieles, von dem du nichts ahnst.“ Ich lehnte mich an die Wand, weil sich mir der Kopf drehte.
Isabella lachte. „Du steckst voller Überraschungen, Schätzchen.“ Sie zog an der Kette. „Komm jetzt. Lass uns hier verschwinden, bevor sie es sich anders überlegen.“

4

OHNE WEITERE ZWISCHENFÄLLE erreichten wir den Gasthof. Kaum waren wir wieder in unserem Zimmer, loggte sich Isabella mit einer Reihe von elektronischen Soundeffekten aus. Ich riss mir das Halsband ab und schleuderte es in die entlegenste Ecke.
Neo hörte die Kette klirrten und spähte aus dem zweiten Zimmer. „Alles in Ordnung?“, fragte er schläfrig.
Ich winkte ab. „Alles bestens. Leg dich wieder hin.“
Dann überlegte ich es mir anders und verteilte all meine erbeuteten Amulette auf dem Bett. „Meinst du, du kannst sie identifizieren?“
Der Junge war begeistert. „Natürlich, Onkel John! Lass mich mal sehen!“
Er konnte einige einfache Zauberanhänger erkennen, doch der Großteil meiner Beute blieb unbekannt. Das ärgerte ihn ungemein.
„Onkel John, soll ich die Phönix-Kräfte verwenden?“, bot er an.
Ich erschauerte. „Nein, bitte nicht. Isabella kann den Rest übernehmen. Leg dich jetzt wieder schlafen.“
Neo schniefte und verzog sich in das andere Zimmer. Ich nahm den Anhänger der Erleuchtung, der seinem Besitzer zwei zusätzliche Intellektpunkte verschaffen sollte, und wollte ihn mir um den Hals hängen. Doch das ging nicht. Als ich ihn näher betrachtete, stellte ich fest, dass die Ausrüstung der Toten offenbar nicht mit anderen Zauberobjekten kompatibel war.
Verdammt. Irgendetwas war immer im Argen.
Ich schleuderte den Anhänger aufs Bett, hockte mich auf die Fensterbank und drückte die Stirn gegen das kalte Glas. Die Straße unten war dunkel, nur hin und wieder zuckte helles Zauberlicht durch die Düsternis. Entweder waren das angetrunkene Hexenmeister, die sich einen Spaß erlaubten, oder Räuber, die sich das Eigentum anderer unter den Nagel rissen. Für manche machte die Markierung als Spielermörder das Spiel einfach etwas spannender.
Denn genau das war es für sie. Ein Spiel. Nur ein Spiel.
Ein Spiel ist etwas, das man nach Belieben anfangen und beenden kann. Wenn man nicht mehr herauskann, ist es kein Spiel mehr. Dann ist es das Leben.
Ich stieß die Stirn gegen das Glas. Vielleiht würde ich im Laufe der Nacht verrückt werden. Die ganze Zeit über hatte ich mich auf etwas freuen können. Erst darauf, endlich den Laufstall zu verlassen, dann darauf, den Eingang zum Königreich der Toten zu finden, dann die Hauptstadt zu erreichen ... Und jetzt musste ich warten und wusste nicht einmal, worauf. Das war unerträglich.
Sollte ich rausgehen und mich vielleicht auch ein wenig vergnügen? Zum Beispiel ein paar Spieler um die Ecke bringen? Gute Idee, aber wie lange würde die Spielermörder-Markierung bleiben? Ganz zu schweigen davon, dass ich auch getötet werden könnte, was mehr Komplikationen mit sich bringen würde, als ich gebrauchen konnte. Oh nein, herzlichen Dank. Ich sollte besser mit meinem Seelentöter trainieren.
Ich hatte den Knochenhaken schon aus dem Gürtel gezogen, als ich von der Straße ein heiseres Krächzen hörte.
Ich lachte und ließ meinen Geist zu meinem untoten Haustier fliegen. Auf geht’s, mein Freund!

ISABELLA LOGGTE SICH am frühen Nachmittag des nächsten Tages wieder ein. Mittlerweile wusste ich schon nicht mehr, was ich denken sollte. Ich lief Runde um Runde durch das Zimmer und wusste nichts mit mir anzufangen. Von den Fenstern hielt ich mich fern, weil die Sonnenstrahlen sich ins Zimmer ergossen. Das helle Licht brannte mir in den Augen, nach meinem Ausflug über die Stadt im Körper meines toten Phönix hatte ich Schwindel und Übelkeit verspürt. Ich konnte nicht klar denken, Schläfen und Hinterkopf bereiteten mir Höllenqualen.
Ohne besonderen Grund fiel mir das Gespräch mit Mark, dem Gastwirt, wieder ein. Das brachte mich ins Grübeln — wer mochte auf der dunklen Seite dieser Welt wirklich das Sagen haben? Waren es die Spieldesigner oder das Technik-Team?
Ich ging ins Erdgeschoss, um Neo etwas zu essen zu besorgen, und hoffte, Mark zu treffen und mit ihm reden zu können. Allerdings stand jemand anderes an der Bar. Mark war offensichtlich offline.
Der Barkeeper nahm meine Bestellung auf und ging in die Küche. Ich beugte mich über die Theke, schnappt mir die erstbeste Flasche und versteckte sie unter meinem Umhang. Immer hin war ich ein Dieb, oder etwa nicht? Ja, ja, mir war klar, dass man nicht stehlen darf. Aber letztendlich waren Verpflegung und Getränke sowieso im Zimmerpreis enthalten.
Der erfolgreiche Diebstahl brachte mir 10 Erfahrungspunkte. Als ich wieder nach oben ging, war ich sehr zufrieden mit mir.
Doch kaum hatte ich einen Schluck Whiskey getrunken, überkamen mich die schlimmsten aller Krämpfe. Ich ließ mich aufs Bett fallen und konnte nur hoffen, dass meine Muskeln sich entspannen und das Brennen in meiner Kehle nachlassen würde. Offenbar war Alkohol nichts für Zombies.
Erst fünf Minuten später hörten meine Augen auf zu tränen. Und genau dann kündigte das leise Ploppen des Portals Isabellas Rückkehr an.
„Du schaffst es immer wieder, dich ins Knie zu schießen, Schätzchen!“, sagte sie ohne Umschweife.
Wie kam sie darauf? Ich warf einen Blick auf die Flasche auf dem Tisch, aber nein, die hatte sie nicht entdeckt.
„Was ist denn?“, stöhnte ich.
„Öffne den Video-Tab“, befahl sie. Zwischen ihren Augenbrauen war eine tiefe Falte entstanden. Sie sah jetzt aus wie eine Tierärztin, die entscheiden muss, ob sie eine Katze einschläfert oder noch ein wenig länger leiden lässt.
Ein Video-Tab? Ich hatte schon so viel Zeit im Spiel zugebracht, dass mir die Virtuelle Realität zur normalen Umgebung geworden war. Dass es noch anderes wie Foren und sonstige In-Game-Dienste gab, hatte ich schon fast vergessen.
Sie kniff bedrohlich die Augen zusammen.
„Ja, ja, ich habe ihn geöffnet!“, antwortete ich eilig. „Und jetzt?“
„Schau dir das Video mit den meisten Zuschauerzahlen in den letzten vierundzwanzig Stunden an. Du gehört zu den ‚meistgesehenen‘!“
„Ich? Bist du dir sicher? Wie kann das sein?“
Leider hatte sie recht. Unter den „meistgesehenen“ war ein Video mit meiner Wenigkeit. Eine Viertelmillion Aufrufe und Platz Drei im Ranking.
Die Aufnahme zeigte den Augenblick, in dem der Drow meinen untoten Phönix mit dem Bogen vom Himmel holte, sowie meine Racheaktion. Der Erfolg dieses eher unspektakulären Zwischenfalls war zum Großteil auf den reißerischen Titel zurückzuführen: Spieler des Lichts bestraft Finsterling am Turm der Düsternis hatte der Uploader sich einfallen lassen.
Ein Mönch vom Orden des Silberphönix tötet einen Spieler der dunklen Seite und verschwindet ungehindert — und zwar ausgerechnet direkt neben dem Turm der Düsternis!
Na toll. Den wahren Ernst der Lage erkannte ich aber erst, als ich die Kommentare durchsah. Mich interessierten weder die Drohungen der dunklen Spieler noch die ermutigenden Worte der Hellen. Weitaus mehr beunruhigte mich ihre Diskussion über mein Flammenschwert. Obwohl meine Ausrüstung der Toten nicht zu meiner Kleidung eines Spielers des Lichts passte, hatte ein Waffenkenner sie prompt identifiziert und sogar ihr offizielles Wiki-Bild veröffentlicht.
Verdammt! Wenn Garth zufällig auf dieses elende Video stieß, würde er sofort wissen, wo er mich finden konnte.
Eine Viertelmillion Aufrufe. Miiiist. …
„Was bedeutet die Zahl ‚37.000‘ neben dem Bildschirm?“, fragte ich Isabella. „Sind das Spenden für den Urheber?“
„Oh nein, Schätzchen.“ Sie lächelte mich zuckersüß an. „Das sind Spenden dafür, dich zu erledigen. Wer dich als Erster tötet, bekommt 50 %. Wer dich als nächstes tötet, bekommt 50 % des Rests. Das kann bis zu fünf Mal wiederholt werden.“
Ich erschauerte. „Ist das legal?“
„Die Admins lassen alles zu, was das Spiel etwas spannender macht.“
„Mistkerle!“ Ich spuckte aus. „So viel zum Thema Unerkanntbleiben! So viel zum Thema Inkognito! ‚Hallo, Fremder! Was ist das für ein Silberphönix auf deiner Brust?“, dichtete ich einen alten Schlager um.
Isabella musste kichern, doch ehe ich mich versah, war sie wieder ernst geworden.
„Ich fürchte, dein Schwert ist etwas zu auffällig, Schätzchen. Du bist zu leicht zu erkennen.“
Ich winkte ab. „Das ist mir egal. Sag du mir besser, was wir mit der Scherbe der Seelensphäre machen. Das Geld ist mir vollkommen egal, aber ich will unbedingt ins Königreich der Toten. Wirklich unbedingt.“
„Entspann dich, Schätzchen“, grinste sie und riss sich den Lederbesatz von der Rüstung. „Als du auf deinem bequemen Bettchen geschnarcht hast, habe ich den Sprösslingen der Finsternis ein neues Angebot gemacht. Eines, das sie nicht ablehnen können.“
„Im Ernst?“, sagte ich ungläubig. „Bedeutet das, sie nehmen uns mit auf den Raubzug?“
„Nein.“
Ich fluchte enttäuscht. „Wieso freust du dich dann so? Welche Vereinbarung hast du mit ihnen getroffen?“
Sie beugte sich vor, um mir die Wange zu tätscheln, bemerkte jedoch meinen finsteren Blick und überlegte es sich anders. „Zunächst einmal wird uns niemand mehr belästigen. Sinnlos. Das Fragment wurde sicher verstaut. Zweitens hat der Clan eine Vereinbarung erstellt, nach dem er das Vorkaufsrecht hat, wenn wir uns jemals zum Verkauf entschließen sollten. Dann sind sie erste Wahl.“
„Aber wir haben doch gar nicht vor, es zu verkaufen!“
Sie kicherten. „Natürlich nicht. Früher oder später sorgen wir dafür, dass sie unseren Bedingungen zustimmen.“
Ich runzelte die Stirn. „Wozu brauchen wir dann dieses Vorkaufs-Ding?“
„Du kannst im Augenblick scheinbar nicht klar denken, Schätzchen! Bist du noch nicht richtig wach?“, fuhr sie mich an. Sie versuchte erst gar nicht, ihren Ärger zu verbergen, ließ sich jedoch zu einer Erklärung herab. „Die Sprösslinge sind sich sicher, dass keiner der erfahrenen Spieler uns auf den Raubzug mitnehmen wird. Was bedeutet, dass wir die Scherbe früher oder später versteigern müssen. Und jetzt haben sie die offizielle Garantie, dass das Fragment nicht in andere Hände gerät. Es sei denn, wir können jemand anderes überreden.“
„Das wird nicht passieren“, prophezeite ich düster. „Die Söhne des Lichts hören uns gar nicht erst zu.“
„Das stimmt“, gab sie mir Recht. „Auf ein Lich und eine dunkle Priesterin können sie gut verzichten. Aber wenn das Rennen in die Endphase geht, wird sich alles ändern, glaub mir. Wenn sich die Sprösslinge der Finsternis 97 % der Sphäre gesichert haben, werden sie an uns denken, das versichere ich dir.“
„Soll das heißen, dass auf der dunklen Seite niemand sonst die Sphäre sammelt?“
Sie schüttelte den Kopf. „Die Schwerter des Chaos haben ihre Chance gehabt, sind jetzt jedoch raus. Alle anderen sind nur Mittelsmänner und Schieber.“
Als sie die Schwerter erwähnte — den zweithöchsten dunklen Clan —, fiel mir wieder ein, dass ich bei ihnen nun auf der schwarzen Liste stand. Ich holte die Silberscheibe hervor, die ich in Stone Harbor dem toten Karl Blitzschlag abgenommen hatte.
„Apropos Schwerter des Chaos“, sagte ich zur Priesterin. „Meinst du, du kannst das hier identifizieren?“
Isabella nahm mir die Scheibe vorsichtig mit zwei Fingern ab, musterte sie eine Weile durchdringend und warf sie auf den Tisch. „Ich kann nicht verstehen, wieso du unbedingt jeden Mist sammeln musst“, beschwerte sie sich und wischte die Finger an der Tagesdecke ab. „Wo hast du das her? Keine Ahnung, mit was für einem Zauber es belegt ist, aber ich kann dir sagen, dass er auf jeden Fall tödlich ist.
Ich setzte sie ins Bild, ließ aber alle Einzelheiten aus, die sie nichts angingen.
Isabella runzelte die Stirn. „Wegen eines Mordes haben sie dich auf die schwarze Liste gesetzt?“ Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Das ergibt keinen Sinn! Das macht man nicht! Es sei denn, du hast ihnen ihre Pläne durchkreuzt.“
Ich zuckte die Schultern. „Offensichtlich schon.“ Ich schüttete alle Amulette aus dem Sarkophag auf das Bett. „Das ist meine Beute aus dem Verlies der Toten. Sollen wir sie teilen?“
Sie grinste. „Gute Idee! Die Sprösslinge der Finsternis haben uns zehntausend gegeben. Davon gehören dir vier.“
„Nur vier?“
„Tausend musste ich für die Lagerung zahlen“, erläuterte sie. „Und weitere fünfhundert für den Schutz deines Schädels. Ich bin schließlich nicht die Heilsarmee.“
„Schon gut“, sagte ich, da ich nicht kleinlich sein wollte. „Schau dir doch mal die Amulette an. Wenn du damit etwas anfangen kannst, müssen wir nicht für die Identifizierung zahlen.“
„Klar“, schniefte sie und machte sich an die Arbeit.
Ich legte mich auf das andere Bett und starrte an die Decke.
Der Raubzug ins Königreich der Toten schien auf unbestimmte Zeit vertagt worden zu sein. Davon war ich nicht gerade begeistert.

5

VON SÄMTLICHEN AMULETTEN hatte Isabella lediglich drei nicht identifizieren können: Einen Smaragd-Anhänger, einen schweren Ring mit einem großen, sternförmigen Saphir und ein Armband, das aus einem unbekannten grauen Metall geformt war. Der Rest war nicht besonders wertvoll. Dennoch meinte sie, wir könnten damit sechs- oder siebentausend Goldstücke verdienen.
„Wenn wir Glück haben, bringen diese drei vielleicht das Gleiche“, vermutete sie und legte sich eine Kette um den Hals, die das Ansehen bei NPCs förderte. „Die nehme ich mir als meinen Anteil“, erklärte sie.
Ich nickte.
Für mich war in dem ganzen Stapel leider nichts Sinnvolles dabei. Die Ausrüstung der Toten verhinderte, dass ich den Sternenring oder das Armband des Wahren Feuers anlegen konnte. Ersterer verbesserte alle Haupteigenschaften ein wenig, während Letzteres den Schutz vor Verbrennungen um 30 % erhöhte. Zu schade. Ich hätte beide gut gebrauchen können.
„Wollen wir die versteigern?“, fragte ich.
„Nein.“ Isabella bewunderte sich vor dem Spiegel. „Wir verkaufen sie an einen Händler. Bei einer Auktion braucht man ewig, um den ganzen Mist loszuwerden. Ganz zu schweigen von den halsabschneiderischen Provisionen.“
Sie rückte die Kette zurecht und warf mir einen neugierigen Blick zu. „Wie steht es bei einem Lich denn mit dem Blutkreislauf?“
„Fehlanzeige.“
„Du nutzloser —“ Sie ließ den Ausruf unvollendet und zuckte die Schultern. „Egal. Ich werde jetzt mal die Amulette an den Mann bringen. Kommst du mit?“
Ich konnte es im Gasthof nicht mehr aushalten. Außerdem brauchte ich etwas Ausrüstung. Deshalb erhob ich mich vom Bett und griff nach dem Flammenschwert, das an der Wand lehnte. „Klar, ich komme.“
Isabella runzelte die Stirn. „Nein, Schätzchen. Diesen rostigen Stahl lässt du besser hier, sonst erkennt man dich in zwei Sekunden. Hast du die Aufnahme schon vergessen?“
Zögerlich folgte ich ihrem Ratschlag. Stattdessen verstaute ich das schwarze Ork-Langschwert hinter meinem Rücken.
„Wenn ich dich richtig verstehe, kommt es dir also auf die Größe an?“, stichelte sie.
Ich winkte ab. „Das will ich verkaufen.“
Isabella grinste und legte sich dann einen kurzen Umhang um, der ihre knappe Rüstung etwas wenig aufreizend wirken ließ. Allerdings sah sie damit im Grunde noch verführerischer aus, weil er ihr ein gewisses Understatement verlieh.
Ich öffnete die Tür und ließ sie in den Korridor. „Neo? Wir sind weg!“
Der Junge spähte aus dem anderen Zimmer. „Kann ich mitkommen?“
„Diesmal nicht.“ Ich schloss die Tür und lief hinter Isabella die Treppe hinunter.

VORSICHTIG VERLIESS ICH den Gasthof. Ich muss zugeben, dass ich Angst hatte. Wer hätte das nicht? Wegen des elenden Videos hatte ich das Gefühl, jeder Passant würde gleich mit dem Finger auf mich zeigen. Und hoffentlich nur mit dem Finger und nicht mit dem Schwert! Sterben würde mir jetzt gar nicht in den Kram passen.
Nur ein Spiel, was? Von wegen.
Ohne das Flammenschwert kam ich mir nackt vor. Das schwarze Schwert war ein wenig länger und deutlich schwerer. Zu allem Überfluss war es in einem Kampf absolut nutzlos. Sollte es hart auf hart kommen, konnte ich mich nur auf meinen Knochenhaken verlassen. Und zugegebenermaßen war der Seelentöter eine sehr komplizierte Waffe. Ich hatte den Bogen immer noch nicht richtig raus.
Doch wir erreichten eine Kreuzung, dann die nächste, ohne dass etwas geschah. Niemand schien uns zu beachten. Auf den schmalen Straßen kamen wir an genügend Spielern vorbei, doch keiner schien sich mit dem Ruf „Da ist er!“ auf uns stürzen zu wollen. Ihre Blicke glitten offenbar einfach von mir ab. Es hatte sich wirklich gelohnt, in das Inkognito zu investieren. Eine hervorragende Fähigkeit, die ich nicht genug loben konnte.
Isabella, die voranging, schien die örtlichen Schleichwegen so gut zu kennen wie eine streunende Katze. Bald führte sie uns zu einer Brücke. Dort musste ich meine Kapuze tiefer in die Stirn ziehen, um meine toten Augen vor den grellen Sonnenstrahlen zu schützen.
„Ist es noch weit?“, fragte ich.
„Wir sind fast da“, erwiderte sie und eilte über einen Platz auf eine kleine Menge aus etwa zwanzig Spielern zu, die sich auf der anderen Seite befanden.
Ich wurde ein wenig nervös, doch die Spieler hatten andere Sorgen. Sie diskutierten hitzig über einen anstehenden Raubzug, warfen ungeduldige Blicke auf einen Turm mit einer goldenen Uhr. Die langen Zeiger standen auf fünf vor eins.
Wir bogen in eine Nebenstraße ab. Sofort gab mir meine Fähigkeit Aufmerksamer Blick das Gefühl, dass sich ein Messer zwischen meine Schulterblätter bohrte.
Ich wirbelte mit dem ausgestreckten Seelentöter herum, verfehlte mein Ziel jedoch. Der ungetarnte Dieb erstarrte mitten in der Bewegung, sodass der scharfe Knochen die Luft vor seinem Gesicht durchschnitt. Im nächsten Augenblick konnte er erstaunlicherweise meinem zweiten Hieb ausweichen und verschwand in einer dunklen Gasse. Einfach so.
Ich ließ meinen Geist zu meinem Phönix aufsteigen, der am Himmel über den Dächern kreiste. Eilig jagte er über die Straßen hinweg, aber der Dieb war schon lange verschwunden.
„Gewiefter Mistkerl“, murmelte ich, denn ich selbst war nicht so geschickt.
Isabella runzelte die Stirn. „Was zum Teufel war das? Hat dich jemand erkannt?“
„Glaube ich nicht.“ Ich schüttelte den Kopf, während ich den Haken wieder im Gürtel verstaute. „Er hatte nichts in den Händen.“
„Vermutlich ein Taschendieb“, verkündete sie. „So was passiert. Jetzt komm.“
Ich sah noch einmal misstrauisch die Straße hinauf und hinunter, drehte mich um und eilte ihr hinterher.
„Übrigens“, schnappte ich mit den Fingern, als ich sie einholte, „meine Fähigkeiten stecken auf Level 15 fest. Wie kann ich das ändern?“
„Auf fünfzehn?“ Sie sah mich überheblich an. „Du musst etwas trainieren. Dann hast du Zugang zu den nächsten zehn Levels.“
„Wie denn trainieren?“
„Geht es dir um Tarnung?“, vermutete sie. „Dafür gibt es mehrere Schulen. Die Tarnkünstler zum Beispiel.“
„Gibt es keine andere Möglichkeit?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nur Meister und Lehrlinge können dich trainieren. Das ist vermutlich ein Problem für dich?“
Ich nickte. Problem traf es nicht richtig. Niemand würde einen Toten trainieren. In diesem Fall konnte mir auch das beste Inkognito nicht helfen. Ein Schüler mit geschlossenem Profil war ein Widerspruch in sich.
Mist! Ich hatte so viele Punkte, die ich noch verteilen musste! Die wollte ich nicht in unnötige Fähigkeiten investieren.
Aus dem dunklen Durchgang bogen wir auf eine belebte Straße ab. Dort ging Isabella durch ein offenes Tor in einen schattigen Garten. Auf dem Ladenschild stand:

An- und Verkauf von Waffen, Rüstungen und Amuletten

Als sie die Eingangstür aufstieß, fuhr der Verkäufer hinter der Theke zusammen und schüttelte den Kopf. „Frau Ash-Rizt! Leider war bislang keines Ihrer Gebote für die Krone des Chaos erfolgreich.“
Die Priesterin verzog enttäuscht das Gesicht. „Ist der Alte da?“
Der Verkäufer zögerte. „Ja, Herr Lloyd ist da“, erwiderte er nach einer deutlichen Pause. „Sie können durchgehen.“
„Wunderbar.“ Isabellas Laune hob sich, und sie drückte eine Innentür auf, ohne zu klopfen.
Herr Lloyd stellte sich als Alchemist heraus. Er war überhaupt nicht alt, sondern nur grau. Außerdem war er kein Mensch. Ich konnte ihn auch keiner anderen mir bekannten Spielrasse zuordnen.
Auf seiner hohen Stirn waren kurze Hörner zu sehen. In seinen Augen funkelte ein bernsteinfarbener Schein.
Ein Dämon? Und wenn schon. Ich hatte sowieso nicht vor, ihm meine Seele zu verkaufen.
Als wir hereinkamen, sah der Alchemist von seinem Gravurtisch auf und fuhr verärgert zusammen. „Was ist denn jetzt schon wieder, Isabella?“, seufzte er, während er seinen schlichten Overall zurechtrückte. „Ich habe doch gesagt, dass du die Krone des Chaos einfach nicht kaufen kannst! Und du hast nicht einmal einen realistischen Preis geboten.“
„Tja, manchmal geschehen eben Wunder“, murmelte sie.
Der Alchemist stand beleidigt auf.
Sie bedeutete ihm, er solle sich wieder hinsetzen. „Bitte reg dich nicht auf. Deswegen bin ich gar nicht gekommen. Ich will dir nur ein paar Sachen geben.“
„Warum wendest du dich dann nicht an Ulrich?“, schniefte er, womit er vermutlich den Verkäufer meinte, und sah mich durch die getönte Alchemistenlinse an. „Ist dein Zeug so heiß, dass du einen Leibwächter brauchst?“
„Das ist ein Freund“, stellte Isabella richtig. „Und nein, mein Zeug ist nicht heiß. Ich kann nur einige Dinge nicht identifizieren.“
„Na gut, Kleine, lass mal sehen“, schlug er vor und wischte den ganzen Tand, der den Tisch bedeckte, in die oberste Schublade. „Zeit ist Geld!“
Knirschend drehte sich der Schädel oben auf dem Stab der Priesterin um. Seine Zähne klapperten.
Der Ladeninhaber deutete mit einem knorrigen Finger auf ihn. „Halt die Klappe, Roger!“
Es stellte sich heraus, dass der Alte auch ein Spieler war. Nach meinem Gespräch mit Mark konnte mich das nicht mehr überraschen. Ehrlich gesagt war es erheblich cooler, einen Hehler zu spielen als einen Gastwirt. Und vermutlich verdiente man damit auch mehr.
Isabella lehnte ihren Stab an die Wand und breitete die drei Objekte auf dem Tisch aus: den Smaragdanhänger, den Saphirring und das graue Armband.
Angewidert fegte Lloyd den Anhänger auf den Boden. „Weg mit dem widerlichen Ding!“
„Was hast du denn jetzt?“, wollte Isabella empört wissen.
Gequält legte er seine Linse zur Seite und rieb sich die Schläfen. „Hast du schon einmal vom Fluch des Nachtdruiden gehört?“, fragte er sichtlich verärgert. „Er tötet langsam, aber sicher. Und selbst wenn man wiederauferstanden ist, muss man einen Haufen Gold bezahlen, um den Fluch aufzuheben.“
„Bist du dir sicher?“
„Ich habe die Beschreibung in mehreren Katalogen gelesen. Du kannst von Glück sagen, dass du ihn nicht angelegt hast.“
Isabella schnaubte. „Sehe ich etwa so dumm aus?“
„Ihr scheint nur alle eine Schwäche für protzige Klunker zu haben“, seufzte er und wandte sich dann dem Ring zu. „Das ist ein schönes Stück“, nickte er anerkennend, während er ihn zwischen den Fingern drehte. „Der Ring der Intuition. Leider können ihn nur Elementarmagier verwenden.“
„Wie viel würdest du dafür zahlen?“
„Frag Ulrich“, sagte der Alte abschätzig. „Er hat den Taschenrechner im Kopf und kann dir das sagen.“
Der Alchemist legte das Armband hin und verstummte, während er die Metallarbeit durch sein Vergrößerungsglas studierte.
Isabella ließ sich auf einen wackeligen Stuhl fallen. Ich lehnte mich mit der Schulter in den Türrahmen und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Er war von Bücherregalen gesäumt, die mit staubigen alten Bänden vollgestopft waren. Für Beleuchtung sorgte ein Zauberkristall, der von der Decke hing. Kisten oder Dinge, die zum Verkauf standen, sah ich nicht. Auch keine Fenster.
„Sehr interessant“, ließ der Alte erstaunt hören. Er goss irgendeine magische Flüssigkeit auf das Armband. Das Metall zischte, dünner weißer Rauch stieg auf.
„Was soll das?“, wandte Isabella besorgt ein.
Der Alte schnüffelte, während er das Artefakt mit einem Lappen abwischte. Die Säure hatte der komplizierten Metallarbeit offenbar nichts anhaben können.
„Zwergensilber“, verriet uns Lloyd. „Das Objekt ist für Runensprüche vorbereitet. Da es keine Magie enthält, ist es unfertig. Bei einer Versteigerung könnte es tausend bis tausendfünfhundert bringen. Geht damit zu Ulrich.“
Isabella nahm sowohl Ring als auch Armband vom Tisch. Ich gab ihr die magere Beute, die ich eingeheimst hatte, als ich allein unterwegs war — die Goldbarren und ein paar Edelsteine —, beschloss aber, weder die Schulterplatte aus Mithril noch das Konchenstück des Nestjägers zu zeigen. Ich bezweifelte sehr, dass sie etwas wert waren. Und ich wollte ganz bestimmt nicht ausgelacht werden.
„Lass das hier für mich gesondert schätzen“, sagte ich zur Priesterin.
„Und nimm dieses fürchterliche Ding weg“, fügte der Alchemist hinzu.
Isabella sah zu Boden und trat den verfluchten Anhänger aus dem Zimmer. „Ein Glück, dass ich den nicht anprobiert habe. Ich war kurz davon“, murmelte sie im Hinausgehen.
Lloyd sah zu mir auf. „Wie kann ich Ihnen helfen, geheimnisvoller Fremder? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“
Ich hockte mich auf den Stuhl, von dem Isabella aufgestanden war. „Ich interessiere mich für die Ausrüstung der Toten.“
Er musterte mich mit unverhohlenem Interesse. „Ihr Schwert gehört nicht dazu“, sagte er nonchalant.
„Das will ich verkaufen“, sagte ich. „Aber das kann warten. Was ist mit der Ausrüstung der Toten?“
Er nickte nachdenklich, erhob sich vom Tisch und zog aus dem nächsten Bücherregal einen dicken, ledergebundenen Band mit Stahlrahmen hervor. „Hier steht, was wir haben oder was innerhalb von vierundzwanzig Stunden geliefert werden kann“, sagte er und warf das Buch vor mir auf den Tisch. „Alle Objekte hier sind noch nicht zur Versteigerung gemeldet. Alles stammt von Privatverkäufern.“
Ich schlug das Buch auf.
„Der Abschnitt, den Sie brauchen, ist ziemlich in der Mitte“, erklärte er, während er die Objekte aus der Schublade nach und nach wieder auf den Tisch legte.
Das Buch stellte sich als richtiggehender Katalog heraus. Sobald ich mich auf ein Bild konzentrierte, wurde es schärfer, bekam mehr Tiefe und Dimension. Neben den einzelnen Objekten standen die Preise. Wenn ich meine Beute losgeworden war, würde ich mir vielleicht ein oder zwei Sachen kaufen können. Leider waren die Preise in dem Bereich, der mich interessierte, drei- oder gar viermal höher als alle, die ich bisher gesehen hatte.
Die Stahlkrone des Toten sollte zwölftausend kosten. Der Knochenring dreizehntausendfünfhundert und die Eishandschuhe stolze siebzehntausend! Das war Wucher! Soviel Geld hatte ich nicht einmal annähernd. Manche der Artikel im Katalog waren sogar noch teurer, und für Unikate wurden Mondpreise verlangt.
Nach einer Weile entdeckte ich zufällig ein schlichtes graues Gewand mit Kapuze und einem kurzen Umhang. Ich konnte den Blick nicht davon abwenden. Der Preis lag bei vierzehntausend.

Schatten des Todes

Du bist selbst im strahlenden Sonnenschein von Schatten umgeben, sodass du niemandem verdächtig erscheinst und feindliche Angriffe vermeiden kannst.

+3 % Tarnung

+1 % Ausweichfähigkeit

Wow. Ein gewöhnlicher Nekro hätte nicht so viele Vorteile, wenn er es anlegte. Aber ein Lich ... ein Lich hätte bereitwillig ein zweites Mal seine Seele verkauft, um es in seine toten Finger zu bekommen. Und ein Lich, der gleichzeitig ein Schurke war? Das war keine Frage. Diese Bonuseigenschaften!
Aber vierzehntausend?
„Äähm“, räusperte ich mich. „Ihre Preise sind nicht sehr kundenfreundlich, oder? Andere Ausrüstungen sind deutlich günstiger.“
„Andere Ausrüstungen!“ Er warf einen Blick in den Katalog und lachte. „Das sind Sets, die man aufteilen kann. Mit der Ausrüstung der Toten geht das nicht.“
„Ist das denn so ein großer Unterschied?“
Er seufzte gequält und fuhr sich durch das graue Haar. „Manche Sets können jederzeit verändert werden. Die nicht-trennbaren nicht. Außerdem ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass ein Spieler sie verliert, wenn er stirbt.“
„Das weiß ich.“
„Deshalb kosten die Teile eines aufteilbaren Sets das, was sie eben kosten. Wenn ein Objekt aber zu einer untrennbaren Ausrüstung gehört, muss der Käufer mehr dafür zahlen, dass es nicht durch etwas anderes beeinträchtigt wird. Können Sie mir folgen? Drücke ich mich klar aus?“
„Nicht wirklich“, gab ich zu.
„Tja“, lächelte er, „wenn ich das sagen darf, Ihre Stiefel reduzieren den Preis Ihrer Komplettausrüstung um etwa 20 %.“
„Wieso, was stimmt mit ihnen nicht?“
„Das sind Stiefel der Stille, nicht wahr? Aber die Ausrüstung der Toten interessiert nur Nekromanten. Die sind entweder tote Magier oder Todesritter, für die sind solche Stiefel überflüssig wie ein Kropf.“ Er grinste schwach. „Jetzt verstehen Sie, oder? Wenn man die einzelnen Bestandteile einer Ausrüstung so bunt durcheinander mischt, wird sie niemand haben wollen, weder für Geld noch für gute Worte. Mit einer sorgfältig abgestimmten Ausrüstung kann man dagegen jeden beliebigen Preis erzielen.“
Ich horchte auf. „Interessant. Soll das also heißen, dass es Zeitverschwendung ist, nach erschwinglichen Angeboten Ausschau zu halten?“
„Welchen Betrag hatten Sie denn im Sinn?“
Ich wies bedeutungsvoll auf die Tür, durch die Isabella gerade verschwunden war.
„Verstehe“, seufzte er. „Dann müssen wir wohl auf sie warten. Bis dahin würde ich gerne auf das Schwert zurückkommen, wenn Sie nichts dagegen haben.“ Er streckte die Hand aus. „Darf ich?“
Ich zog das schwarze Langschwert hinter dem Rücken hervor und legte es vorsichtig auf den Tisch. „Nur zu.“
Der Alte strich die Klinge entlang und studierte das Gütezeichen dann sorgfältig durch sein Vergrößerungsglas. Erst danach schloss er die Hand um das Heft. Erwartungsgemäß rutschten seine Finger ab.
Er lachte, wirkte aber zufrieden. „Für Sie ist das Langschwert der Herbst-Tagundnachtgleiche absolut nutzlos, aber an sich ist es äußert selten, ganz außergewöhnlich. Ich habe nur von einem dieser Schwerter gehört, und es war nicht verkäuflich.“
„Wie hoch könnte der Preis sein?“
Lloyd überlegte. „Bei einer Versteigerung? Ich würde dreißig- oder gar vierzigtausend verlangen. Aber Ihnen muss klar sein, dass sich nicht so schnell ein Käufer finden wird. Realistisch betrachtet wird es sicher sechs Monate dauern, um ein solches Objekt loszuwerden.“
„Wirklich?“ Ich runzelte die Stirn, da ich falsches Spiel witterte.
Ein Grinsen umspielte seine Lippen. „Da bin ich mir ganz sicher. Raritäten sind meine Spezialität.“
Verdammt!
Vierzigtausend! Das wäre genug, um den Schatten des Todes zu kaufen, und es wäre sogar noch etwas für die Schulterplatten der Hölle oder gar den Helm des Dunklen Ruhmes übrig. Aber …
Seufzend fragte ich ihn geradeheraus: „Was würden Sie dafür zahlen? Hier und jetzt?“
Er schob das Schwert von sich und schüttelte den Kopf. „Gar nichts. Ich kenne nur einen Spieler, der daran Interesse hätte, und der ist gerade pleite.“
„Nur einen?“, schniefte ich. „Warum das denn?“
Lloyd seufzte erneut. „Orks sind noch schlimmere Rassisten als Elfen oder Zwerge. Sie sind nicht nur gegen andere Rassen, sondern gegen alle, die irgendwie anders sind. Es gibt keine Orks, die auf der Seite des Lichts stehen, aber auch auf der dunklen sind sie sehr eigen und neigen entschieden zum Chaos. Ein Ork, der die Tagundnachtgleiche verehrt? Ich kenne einen. Wie viele kennen Sie?“
Ich kannte überhaupt keine derartigen Gestalten. Dennoch war ich nicht so dumm, seiner Argumentation zuzustimmen, sondern wechselte das Thema. „Ist Schwerter des Chaos ein Ork-Clan?“
„Keineswegs. Orks machen einen erheblichen Teil der Clanmitglieder aus, aber längst nicht alle. Die Chaos-Brüder identifizieren sich eher religiös als über ihre Rasse.“ Er tippte mit dem Finger auf den Tisch. „Um noch einmal auf das Schwert zurückzukommen …“
Die Tür schwang auf und Isabella trat ein, die mir einen schweren Geldbeutel auf den Schoss warf. Ich hörte Goldstücke klimpern.
„Wie viel hast du bekommen?“, fragte ich rasch.
Sie zuckte die Schultern. „Zähl doch selbst nach.“ Sie wandte sich zum staubigen Spiegel um und richtete sich das Haar. „Bist du noch nicht fertig?“
Ich schüttete das Gold in mein Inventar. Obwohl mein Anteil recht beträchtlich war, fehlten mir noch fast fünftausend zu dem Gewand.
„Ist die Option schon dabei?“, fragte ich.
Sie sah mich vielsagend an und lächelte gewitzt. „Ja, Schätzchen. Das ist alles.“
Der Alchemist wurde bei diesen Worten jedoch hellhörig. „Hast du gerade Option gesagt? Isabella-Schatz, ich hoffe, du hast nichts Schlimmes angestellt.“
„Oh“, stöhnte sie theatralisch. „Hör bloß auf. Es hat mich vernichtet.“
Schnell versuchte ich, den Fauxpas wiedergutzumachen. „Nehmen Sie es mir für fünftausend ab?“, fragte ich mit Blick auf das Schwert.
Der Alte schüttelte den Kopf. „Es geht nicht um das Geld.“ Er strich sich durch den Bart und erläuterte weiter: „Handeln hat keinen Sinn. Es geht vielmehr um moralische Fragen.“
Isabella löste den Blick vom Spiegel. „Ein Interessenskonflikt?“, lächelte sie verständnisvoll.
Der Alchemist nickte. „Ich könnte Ihnen die Kontaktdaten meines Kunden geben, damit Sie direkt verhandeln können. Aber ich möchte Sie warnen: Er hat kein Geld.“
Isabella höhnte: „Du hast einen Kunden, der nicht zahlen kann? Wem willst du das denn weismachen!“
„Er musste ein Darlehen aufnehmen, um die Rüstung der Herbst-Tagundnachtgleiche zu kaufen, und hat nicht einmal die erste Rate zurückgezahlt.“
„Mist!“, fluchte ich. „Isabella, sei so lieb und leih mir fünftausend.“
„Kommt nicht in Frage, Schätzchen! Ich habe meinen Anteil bereits investiert, um mein Gebot zu erhöhen.“
„Ach ja, die Krone des Chaos“, erinnerte sich der Alte. „Die ist selten und teuer. Aber ohne die gesamte Ausrüstung kann man nicht zur Hohepriesterin aufsteigen.“
Isabella verzog gequält das Gesicht. „So ist es leider.“
Ich runzelte die Stirn. „Wozu brauchen wir diesen Typen, wenn er nicht mal bezahlen kann?“
Der Alchemist zuckte die Schultern. „Er hat die gesamte Ausrüstung der Herbst-Tagundnachtgleiche zusammen. Nur eine geeignete Waffe fehlt ihm noch. Vielleicht könnt ihr euch irgendwie einigen. Schon mal was von ‚Tauschhandel‘ gehört?“
Isabella überlegte. „Sag ihm, er soll zum Gasthof zum Alten Bogenschützen kommen“, entschied sie für mich. „Der liegt —“
„Auf der Granitinsel. Ich weiß“, sagte Lloyd.
Isabella nickte und wandte sich zu mir um. „Komm, Schätzchen!“
„Moment mal!“, stieß ich hervor. „Ich habe fast neuntausend in der Tasche und soll wieder gehen, ohne irgendetwas zu kaufen?“
Der Alchemist schob mir das Buch zu. „Suchen Sie sich etwas aus, das Sie sich leisten können.“
„Oder verschwende dein Geld nicht für etwas Billiges, sondern spar auf das, was du wirklich brauchst“, riet mir Isabella.
Ich strich nachdenklich über den Ledereinband des Katalogs.
„Nur als Vorschlag: Vielleicht finden Sie in den Versteigerungen einen Fehlgriff.“
„Was soll das heißen?“
„Manche Leute kaufen alles, was sie in die Finger kriegen. Und ein einziger schlecht gewählter Artikel kann eine untrennbare Ausrüstung erheblich abwerten.“
Ich erhob mich resolut. „Was soll ich mit einem schlecht gewählten Artikel anfangen.“
Lloyd zuckte die Schultern und kniff seine unmenschlichen Augen zusammen. „Ich wollte nur helfen. Außerdem können die Artikel selbst ganz vernünftig sein. Es ist nur so, dass manche bei Nekros und dergleichen begehrt sind, zum Beispiel Todesrittern, aber zusammengenommen —“
Ich ließ mich wieder auf den Stuhl fallen. „Sind sie wirklich so viel billiger?“
„Schauen wir mal.“
Er zog das Buch zu sich und blätterte durch die Seiten.
Isabella kicherte übertrieben. „Ich geh dann mal zu Ulrich.“
„Bitte tu das, Kleine“, sagte der Alchemist und schob mir das Buch zu. „Hier sind ein paar Sets, die nur zwei oder drei Artikel umfassen. Dafür könnten zehntausend reichen.“
Ich bedankte mich und studierte die Angebote. Dennoch ließen sich die Sets offenbar in zwei Kategorien unterteilen: sehr teuer und sehr dämlich. Zwar konnten einige billigere Artikel das, was ich bereits hatte, durchaus verbessern. Aber wozu brauchte ich ein Set mit einem Amulett, das die Geschwindigkeit von Zaubersprüchen erhöhte, einer Halskette zum Schutz vor Todeszauber und einem Knochenbogen? Oder einen Ring, der die Anzahl der auferstehenden Zombies erhöhte, eine beidhändige Keule, die Schädel zertrümmerte, und ein Amulett zum Schutz vor Verbluten? Oder eine Elementschild, einen Stab des Todes und einen Runenharnisch?
Und so weiter, und so fort. Jede Menge Plunder.
Als ich schon stark daran zweifelte, überhaupt etwas Sinnvolles zu finden, und mir die Ausrüstungen aus nur zwei Artikeln ansah, entdeckte ich endlich die Kombination aus Linker Manschette der Macht und Gürtel der Erinnerung.
Der Armschutz, der aus einem stumpfen Metall geschmiedet war, schützte den Arm von Handgelenk bis zur Schulter. Am Ellenbogen saß eine Art Scharniergelenk. Auf dem stählernen Schulterstück befand sich ein einzelner Stachel.

Linke Manschette der Macht (Ausrüstung der Toten: 2 von 13)

Rüstung: 14

Stärke: +2

Sieben Rüstungspunkte für jedes Teil der Ausrüstung? Das war nicht schlecht, obwohl nur mein Arm geschützt war. Mit etwas Training konnte ich Hiebe mit dem Arm genauso gut abwehren wie mit dem Schild.
Der breite Gürtel war mit Metallscheiben besetzt und wirkte genauso eindrucksvoll. Doch nicht deshalb war er mir so wertvoll.

Gürtel der Erinnerung (Ausrüstung der Toten: 2 von 13)

Rüstung: 1

Ergänzt eine zusätzliche Zauberspruch-Stufe von 1 bis 5.

Zu dem Gürtel gehörten Zaubersprüche! Und damit konnte mein unausgegorener Lich endlich zaubern! Zwar brauchte ich das nicht unbedingt — doch je länger ich mir diese Ausrüstung ansah, desto besser gefiel sie mir. Besonders, da der Besitzer offenbar keine Hoffnung mehr hatte, sie jemals loszuwerden, und mit dem Preis auf siebentausendfünfhundert heruntergegangen war.
„Die nehme ich“, sagte ich zum Alchemisten und gab ihm das Buch zurück.
Er klickerte skeptisch. „Es gibt bessere Wege, Geld zum Fenster rauszuschmeißen.“
Das wollte ich nicht hören. „Ich möchte, dass Sie das Geschäft abschließen“, verlangte ich.
Der Alte zuckte die Schultern. „Wie Sie wollen. Das macht dann achttausendfünfhundert Goldstücke.“
„Wie bitte?“
Er seufzte. „Und wer zahlt für die Versteigerungsgebühr und die Eillieferung?“
Ich gab mich geschlagen und legte das Geld auf den Tisch.
„Das Geschäft gilt unter Vorbehalt“, sagte er. „Das Zeug ist in ein bis zwei Stunden bereit. Soll es in den Gasthof geschickt werden oder holen Sie es lieber selbst ab?“
„Schicken Sie es in den Gasthof“, beschoss ich, weil ich nicht länger warten wollte. Ein Spiel ist unberechenbar. Man konnte nicht wissen, wann ich meine neuen Artikel brauchen würde.
„Sonst noch etwas?“, fragte er.
„Oh ja“, lachte ich. „Ich brauche noch ein paar andere Sachen …“

6

ICH VERLIES DEN Laden mit leeren Taschen. Ich hatte bis zum letzten Goldstück alles ausgegeben und scherte mich nicht im Geringsten darum. Geld ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um etwas zu erreichen, insbesondere virtuelles Geld. Was sollte ich damit sonst anfangen? Etwa vergraben? Ohne die richtige Ausrüstung dagegen kam ich nicht weiter.
Als erstes gönnte ich mir zwei Sets Schurken-Kleidung, ein Paar kräftige Handschuhe mit Metallbesatz und lederne Beinschienen mit schmiedeeisernen Kniebuckeln. Leider konnte ich für meine Beine keinen weiteren Schutz verwenden, da sowohl Kettenhemd als auch Plattenharnisch meine Beweglichkeit einschränkten und die Ausweichfähigkeit reduzierten. Die einzige Panzerung, die ich kaufte, war ein Schutz für den rechten Arm. Bezüglich des Harnischs hatte der Alchemist mir geraten, noch zu warten, bis ich mir einen Schulterschutz des Toten beschafft hatte. Außerdem erwarb ich einen ganz einfachen Helm aus gehärtetem Leder. Dieser bot zwar nicht besonders viel Schutz, doch ich konnte immerhin die Kapuze darüberziehen.
Doch der Großteil meines Geldes war für die Maske draufgegangen. Diejenige, die ich von Isabella bekommen hatte, war schon ziemlich ramponiert, und es war nicht ratsam, unverhüllt durch die Stadt zu laufen — zumindest nicht bei Tageslicht, wenn die Fähigkeit „Fast lebendig“ nicht funktioniert.
Der Alte legte mir einen weiteren dicken Band vor, der alle erhältlichen Angebote anführte. Doch kaum hatte ich ihn aufgeschlagen, verdrehte Isabella mit einem herzzerreißenden Seufzen die Augen.
„Sag ihm einfach, was du brauchst, und er besorgt es dir!“, sagte sie ungeduldig.
Ich sah den Alchemisten an. „Geht das?“, fragte ich überrascht.
Lloyd lächelte. „So verdienen wir unser Geld. Normalerweise haben unsere Kunden kompliziertere Bestellungen, aber für Sie kann ich eine Ausnahme machen. Hier, zeichnen Sie es auf.“ Er reichte mir ein Blatt Papier.
Ich skizzierte eine ovale Maske mit Augenschlitzen und ein paar kleinen Löchern anstelle der Mundöffnung.
„Soll die anatomisch geformt sein?“, fragte er.
„Ja, bitte.“
„Aus welchem Material?“
„Spielt das eine Rolle?“
„Natürlich!“
„Was würden Sie mir raten?“
Der Alchemist schüttelte den Kopf. „Die Frage ist doch, was Sie sich leisten können.“
Ich wollte schon meinen Geldbeutel öffnen, überlegte es mir aber anders. Ich war wirklich zu dumm.
Stattdessen griff ich in mein Inventar. „Wäre das geeignet?“, fragte ich und legte das verformte Schulterstück des Knochengolems auf den Tisch.
Der Alte stieß einen erstaunten Pfiff aus. „Schwarzes Mithril? Davon gehe ich aus!“
Isabella sah es sich eilig an und schenkte mir ein wenig herzliches Lächeln. „Ich sehe schon, du hast das Verlies nicht mit leeren Händen verlassen, Schätzchen!“
Ich drehte mich um und hielt ihrem Blick stand. „Das ist aus einem anderen Verlies. Aus dem in Stone Harbor.“
„Wirklich?“
„Ja, wirklich.“
Der Alchemist schlug auf den Tisch, um unser Streitgespräch zu unterbrechen. „Klärt das draußen auf der Straße!“
Er beugte sich über das zerdrückte Metallstück, musterte es und seufzte dann. „Es widerstrebt mir, schwarzes Mithril für so einen halbgaren Pfusch zu verschwenden.“
Ich verstand den Wink und reagierte mit einem ebenso schweren Seufzer.
Wir haderten noch eine weitere Viertelstunde miteinander, dann gab ich mein restliches Gold her, während der Alte versprach, mir eine Maske mit Halterungen für drei magische Runen anzufertigen. Das war teuer, aber definitiv seinen Preis wert.

ALS WIR UNS trennten, waren wir beide sehr zufrieden. Auf dem Rückweg beklagte Isabella sich unablässig darüber, wie viel Zeit sie meine Geschäfte gekostet hatten. Ich lachte nur leise. Als wir den Gasthof fast erreicht hatte, hielt ich es nicht mehr aus.
„Du bist nur sauer, weil du die Krone des Chaos nicht bekommen hast!“
Ich wusste, dass ich einen wunden Punkt erwischt hatte, als sie in stummer Wut mit den Zähnen knirschte. Ich sollte wirklich den Mund halten und nicht weiter darauf herumreiten.
„Was ist das denn überhaupt für eine Krone?“, fragte ich, um sie wieder versöhnlich zu stimmen.
Sie musterte mich mit durchdringendem Blick, antwortete jedoch trotzdem. „Es ist das letzte Teil der Ausrüstung „Chaos der Priester“. Den Rest habe ich schon.“
Ich nickte. Plötzlich wurde mir klar, dass ich etwas gesehen hatte, was zu dieser Beschreibung passte wie die Faust aufs Auge. Der Hauptmann der Golems im Verlies schien etwas ganz Ähnliches gehabt zu haben.
Allerdings verriet ich ihr nichts davon. Mein Überlebenstrieb hinderte mich daran. Und was sollte es bringen, ihr falsche Hoffnungen zu machen?

ISABELLA BRACHTE MICH zurück zum Gasthof und ging dann wieder, weil sie noch etwas zu erledigen hatte. Ich stieg hinauf in mein Zimmer. Müde war ich zwar nicht, musste jedoch meine innere Energie wiederherstellen.
Kaum hatte ich das Ork-Langschwert in die Ecke gestellt und mich aufs Bett fallen lassen, steckte Neo die Nase durch die Tür. „Glückwunsch zu deinen Käufen, Onkel John.“
Verdammt! Ich hätte daran denken sollen, ihm auch etwas zu kaufen. Das hatte ich komplett vergessen. Wie dumm von mir! Ich war nicht daran gewöhnt, mich um jemanden zu kümmern, schon gar nicht um einen NPC. Zu schade.
„Hast du schon etwas gegessen?“, fragte ich, um das unbehagliche Schweigen zu brechen.
Er nickte. „Ja. Kann ich rausgehen und mir die Stadt ansehen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Das ist keine gute Idee.“
„Warum denn nicht?“, fragte er überrascht. „Ich nehme auch Vogelscheuche mit!“
Er öffnete die Fensterläden. Sofort kam der schwarze Phönix heruntergeschossen und landete auf der Fensterbank. Seine mächtigen Krallen gruben tiefe Rillen ins Holz.
Kraaah!“, schrie er aus Leibeskräften.
Ich fuhr zusammen, zögerte und nickte dem Jungen dann zu. „Okay, du kannst mit ihm losziehen. Aber bleib auf der Insel!“
„Versprochen!“ Glücklich rannte Neo zur Tür hinaus.
Vogelscheuche warf mir aus seinen verhangenen toten Augen einen schiefen Blick zu, krächzte noch einmal und flatterte ins Freie.
Ich bezweifelte, dass ein toter Phönix dem Jungen entscheidend helfen konnte — aber was sollte ihm am helllichten Tag schon passieren? Das war für mich kein Grund, ihn unter Verschluss zu halten!
Nachdem ich die Tür verriegelte hatte, ging wieder zum Bett. Doch sofort musste ich wieder aufspringen. Jemand klopfte energisch an der Tür.
Ich packte mein Flammenschwert, das noch auf dem Tisch lag, überlegte es mir jedoch anders und zog stattdessen den Knochenhaken aus dem Gürtel. Er war wie gemacht für den Nahkampf in engen Räumen wie demjenigen, in dem ich mich gerade befand.
Es klopfte erneut.
„Wer ist da?“, fragte ich.
„Ihre Bestellung“, ertönte die Antwort aus dem Korridor.
Ich stellte mich hinter die Tür und schob den Riegel weg. „Tretet ein.“
Paranoid, ich? Eher nicht. Nicht, wenn per Crowdfunding ein Kopfgeld von siebzigtausend auf mich ausgesetzt waren. Sicher nicht, wenn ich auf der schwarzen Liste des dritt-einflussreichsten Clans stand oder mein Erzfeind alles daran setzte, mich zu finden und zu töten.
Die Tür schwang auf und ließ den Assistenten des Alchemisten hinein, der sich verwirrt nach mir umsah.
Endlich entdeckte er mich. „Da sind Sie ja, John!“
„Was haben Sie mitgebracht, Ulrich?“
„Nur das ersteigerte Zeug. Die Maske ist noch nicht fertig.“ Er reichte mir ein schweres Bündel.
Kaum hatte ich die Tür hinter ihm versperrt, riss ich die Verpackung eilig auf. Der Gürtel der Erinnerung erwies sich als überraschend schwer. Ich legte ihn über mein Kettenhemd und zog dann die Linke Manschette der Macht aus dem Karton.
Sie passte wie angegossen. Außerdem gehörte dazu eine Schutzschiene für den rechten Arm, allerdings ohne magische Eigenschaften. Hätte ich das eher gewusst, hätte ich etwas Geld sparen können.

Ausrüstung der Toten: Geändert

Ausrüstung der Toten: Gespeichert

Ich trat vor den Spiegel und bewegte den Arm, wobei ich mein Spiegelbild bewunderte. Die Rüstung, die aus irgendeinem dunklen Metall bestand, sah unglaublich respekteinflößend aus. Das Ellenbogengelenk war sehr leichtgängig, es quietschte nicht und hatte auch kein Spiel. Jetzt war ich mir ganz sicher, dass meinem Kettenhemd genau deshalb der linke Ärmel fehlte.
Ich öffnete die Statistiken zu diesem Objekt.

Die Linke Manschette der Macht (Ausrüstung der Toten: 7 von 13)

Rüstung: 49

Stärke: +7

Hervorragend. Nun konnte ich Hiebe mit dem linken Arm abwehren. Aber nur, wenn …
Ich runzelte die Stirn, denn mir fiel auf, dass ich den versprochenen Stärke-Bonus nirgendwo entdecken konnte. Ich hatte immer noch 28 Punkte wie zuvor. Was sollte das jetzt?
Doch das Rätsel löste sich, als ich mein Flammenschwert packte. Ja! Da war er!
Ich legte das Schwert weg und nahm den Knochenhaken in die linke Hand. Der Bonus war immer noch da. Eigentlich logisch.
Ich untersuchte die restlichen Sachen aus dem Set, um zu ermitteln, ob sich die Werte auch verbessert hatten. Was ich feststellte, hob meine Laune ungemein. Zwar hatte das Kettenhemd nicht mehr als 25 Punkte, doch das Silberne Amulett des Toten regenerierte nun alle 10 Minuten 7 % Gesundheit, Ausdauer und interne Energie.
Jetzt konnte ich sowohl Inkognito als auch Fast lebendig nach Belieben einsetzen, ohne Gefahr zu laufen, mein gesamtes Mana zu verbrennen, denn das Silberamulett stellte es anderthalb Mal so schnell wieder her.
All das jedoch wurde von meinem Flammenschwert in den Schatten gestellt. Die rostigen Flecken auf der Klinge füllten sich mit einem blutroten Schein, der schwarze Runen zum Vorschein brachte. Die letzten noch verbliebenen Macken und Dellen waren von der Spitze verschwunden. Das Heft vibrierte leicht in meiner Hand, als könne es das nächste Opfer kaum erwarten.

Blutiges Flammenschwert (Ausrüstung der Toten: 7 von 13)

Schaden: 16 - 22

Genauigkeit: +15 %

Wahrscheinlichkeit kritischer Schäden: +15 %

Wahrscheinlichkeit von Schäden mit Blutverlust: 11 % für jede Welle der Klinge, die zum Einsatz kommt

Fünfhundert Schadenspunkte bei jedem erfolgreichen Treffer? Und wenn es ein kritischer Treffer war? Und wenn ich ein dreifach unbewegtes Ziel angriff? Kaum auszudenken!
Ein Fehlgriff? Kommt ganz auf den Benutzer an!
Dann fiel mir der Gürtel der Erinnerung ein. Funktionierte sein Bonus auch?
Und ob! In meinem Zauber-Tab blinkte eine neue Nachricht, die mich dazu aufforderte, einen der Zaubersprüche der Stufe 1 auszuwählen.
Das überforderte mich wirklich. Als ich meinen Charakter erschaffen hatte, hatte ich mehrere Tage in Foren recherchiert, um die beste Level-Strategie für meinen Schurken zu ermitteln, doch Zauberei war für mich absolutes Neuland.
Wie sollte ich nur dahinter kommen?
Es verstand sich von selbst, dass ich die Zombieerweckung gar nicht erst ausprobieren musste. Die Untoten, die ich auferstehen lassen konnte, würden höchstens einen absoluten Neuling in Schrecken versetzen. Angriffszauber kamen auch nicht in Frage. Ihr Schaden wäre lächerlich. Und Verteidigungszauber ließen sich durch einen einzigen entschlossenen Hieb durchbrechen. Angreifen konnte ich mit dem Flammenschwert, meine Abwehr war die Ausweichfähigkeit. Was ich brauchte, waren Zaubersprüche, mit denen ich eine dieser Fähigkeit verstärken konnte. Ich benötigte etwas, um sie aufzupeppen.
Ich sammelte alle verfügbaren Zaubersprüche in einem Fenster und sortierte sie. Als erstes kamen diejenigen, deren Wirkung von der Wahrnehmung des Hexenmeisters abhing und nicht von seinem Intellekt. Aus dieser Liste strich ich Todeszauber und Seelenmagie, dann sah ich die Zaubersprüche durch, die nur Lichs vorbehalten waren. Damit würde mein Gegner nicht rechnen.
Genau so etwas meinte ich mit Aufpeppen!
Also kamen Berührung des Todes, Sphäre des Toten Feuers und der Große Satz in die engere Auswahl. Nummer Eins war eine verbesserte Variante des Todesgriffs, den ich bereits kannte. Nummer Zwei explodierte und reduzierte die Wahrnehmung des Opfers. Und Nummer Drei konnte den Hexenmeister wegtransportieren — ein wenig wie ein Miniport, allerdings nur über eine kurze Streckte. Eine Beförderung durch Hindernisse hindurch war auch nicht möglich. In meinem Fall ergaben 3 Zoll pro Wahrnehmungspunkt einen Satz von knapp einem Meter. Das klang nicht besonders spektakulär, aber ein derartiger plötzlicher Sprung ist für einen Schwertkämpfer Gold wert, auch wenn er nicht sehr weit ist.
Das war es also. Ich wählte den Großen Satz aus und testete ihn sofort, indem ich vom Spiegel zurück zum Tisch sprang.
Das geschah im Bruchteil einer Sekunde. Ich merkte es nicht einmal. Genauso wie ich nicht bemerkte, dass auf einen Schlag 100 Punkte interne Energie verschwanden.
Damit wäre mein Vorrat nach nur vier Sätzen erschöpft. Allerdings verbrauchten alle anderen Zaubersprüche erheblich mehr Mana. Und in Verbindung mit der Fähigkeit, die Blicke anderer zu entdecken und unsichtbare Ziele zu treffen, konnte der Große Satz für jeden Schurken eine unangenehme Überraschung bedeuten.
Eine tödliche Überraschung.
Ich nickte zu meinen eigenen Gedanken und schob das Flammenschwert wieder in die Scheide hinter meinem Rücken, weil ich das Zimmer verlassen wollte. Nach einigem Zögern nahm ich auch das schwarze Langschwert mit. Es wäre dumm, wenn ich es erst wieder aus dem Zimmer holen müsste, falls der Ork-Käufer auftauchte.

ALS ICH NACH unten kam, nickte Mark mir lässig zu und nahm einen Schluck von seinem starken, aromatischen Kaffee.
„Bedien dich“, deutete er auf den Kaffeekanne neben ihm.
„Nein, danke.“ Ich lehnte das schwarze Schwert an die Bar und setzte mich auf einen quietschenden Stuhl. „Hör mal, Mark. Was du da über Licht und Finsternis gesagt hast … Was glaubst du denn? Wer ist wer?“
Der Gastwirt schniefte. „Was ist das denn für eine Frage? Das ist doch elementar.“
Allerdings hatte er keine Zeit, seine Mutmaßungen mit mir zu teilen. Geräuschvoll öffnete sich die Eingangstür. Ein enormer Ork in schwarzer Rüstung betrat den Gasthof. Er hatte seinen gehörnten Helm unter dem Arm, sodass jedermann seine grau-grüne Haut, seinen blutunterlaufenen Augen und die Fangzähne bewundern konnte, die unter seiner Oberlippe hervorragten.

Goar der Herbstdonner, Paladin der Tagundnachtgleiche

Er war nicht nur stämmig, sondern auch unglaublich groß. Als er den Gasthof betrat, musste er sich bücken, um nicht mit dem Kopf an den Türrahmen zu stoßen.
Oh wow. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wie viel Geld er in die Entwicklung seines Charakters gesteckt hatte, um die Rassenbeschränkungen der Orks zu umgehen. Offenbar Unmengen.
Er sah sich im Speisesaal um, entdeckte das Langschwert und kam direkt auf mich zu. Ich erhob mich mit einem ruhigen Lächeln.
„John?“, dröhnte der Ork.
„Das bin ich“, erwiderte ich und ging in die hintere Ecke. „Hat Lloyd Sie geschickt?“
Er nickte und folgte mir. Ich musste eigentlich gar nicht fragen. Mein Schwert und seine schwarze Rüstung gehörten ganz eindeutig zur gleichen Ausrüstung. Daran gab es keinerlei Zweifel.
Ich lehnte das Schwert an die Wand und setzte mich, sodass es vor dem Ork verborgen war. Mir gefiel nicht, wie durchdringend er die begehrte Waffe anstarrte.
Nicht wäre leichter. Er musste nur die Hand danach ausstrecken und es sich nehmen. Einen Paladin mit Level 74 konnte ich kaum aufhalten.
Goar der Herbstdonner löste seinen Blick vom Schwert und ließ sich mit einem schweren Seufzen auf den Stuhl mir gegenüber fallen. Der Stuhl protestierte mit einem Quietschen.
Unwillkürlich musste ich an den Wächter am See denken. Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter.
„Wie viel würden Sie für das Schwert zahlen?“ Ich kam direkt zur Sache. Ich hatte bereits entschieden, dass ich dafür so viel bekommen sollte, dass es mindestens für das Gewand reichte.
Goar runzelte die Stirn und atmete geräuschvoll aus. „Hat Lloyd nicht gesagt, dass ich pleite bin?“
Ich lächelte. „Zwischen pleite und mittellos ist ein großer Unterschied.“
„Genau das bin ich“, sagte er.
Ich zuckte zusammen. „Zu schade. Dann kommen Sie wieder, wenn Sie wieder Geld haben.“
Er warf einen raschen Blick hinter meinen Rücken.
„Keine gute Idee“, warnte ich.
Das hielt ihn nicht auf. Er erhob sich bereits vom Tisch, als aus dem Nichts Isabella auftauchte.
„Ich glaube, das würde Lloyd nicht gefallen“, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Das dämliche Grinsen des Orks verschwand. Er ließ sich wieder auf den Stuhl fallen, der unter seinem Gewicht quietschte. Isabellas Warnung schien ihn sichtlich zu beeindrucken. In seinem Blick lag unverhohlene Angst, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde.
Das musste ich mir merken. Mit diesem Herrn Lloyd war offenbar nicht zu spaßen.
„Ich habe kein Geld“, sagte Goar finster, die Hände vor sich verschränkt.
Isabella zog sich einen Hocker von einem Nachbartisch herbei, setzte sich und lächelte ihn an. „Was schlagen Sie dann vor?“
„Ich könnte es abarbeiten“, meinte er unsicher. „Oder ich könnte es später zurückzahlen.“
Ich wollte gerade einwenden, dass ich das Geld jetzt brauchte, als ich Isabellas nachdenklichen Blick bemerkte. Also sagte ich nichts.
„Abarbeiten?“, fragte sie langsam. „Wie denn?“
Der Ork zuckte die Schultern. „Ich könnte jemanden töten. Oder ich könnte euch beim Hochleveln helfen.“
Isabella schnippte mit den Fingern. „Wir brauchen einen Leibwächter!“ Sie wandte sich zu mir um. „Was meinst du, Schätzchen? Sollen wir diesen Trottel für einen Monat anheuern?“
Ich nickte. Die Idee gefiel mir.
Der Ork wirkte allerdings weniger begeistert. Genau genommen strahlte er durch und durch Abscheu aus.
„Einen ganzen Monat lang hier bleiben und gar nichts tun?“ Er blähte die breiten Nüstern. „Von wegen!“
Isabella verdrehte die Augen. „Mein lieber Freund, Sie sollten den Kopf mal zum Denken benutzen und ihn nicht nur mit Essen vollstopfen. Meinen Sie wirklich, wir brauchen einen Leibwächter, wenn wir Tag und Nacht im Gasthof bleiben? Dieses schwarze Stück Stahl, das Ihnen aus irgendeinem Grund so wichtig ist, wo kommt das wohl her?“
Goar kratzte sich mit seiner behandschuhten Hand nachdenklich die Wange. „Ich will einen gleichen Anteil an der Beute.“
Isabella und ich tauschten Blicke. Sie schüttelte den Kopf. „Nicht gerade bescheiden, was?“
Er runzelte die Stirn. „Ich muss meine Rechnungen bezahlen. In einem Monat bin ich pleite.“
Wiederwillig kam Isabella ihm entgegen. „Zwanzig Prozent von der Beute, wenn sie verkauft ist.“
Der Ork nickte. „Abgemacht.“
Er griff nach dem Schwert, aber ich schirmte es immer noch ab. „Wollen wir das nicht schriftlich festhalten oder so?“
Er sah mich böse an, erhob sich und erklärte feierlich: „Ich schwöre bei der Tagundnachtgleiche, einen Monat lang als Leibwächter von John ... wie heißen Sie?“
„John Doe.“
„... als Leibwächter von John Doe zu dienen.“
Gespenstische Flammen züngelten um seine schwarze Rüstung. Ich gab ihm das Schwert.
Vor Freude machte er fast einen Satz, zwang sich jedoch zur Ruhe. Er trat zur Seite und drehte das Schwert in den Händen, als könne er sein Glück nicht fassen.
Isabella, die ihn beobachtete, sagte mit saurer Miene: „Zumindest etwas Gutes hat das dämliche Stück Metall bewirkt.“
„Ich hätte lieber das Geld gehabt.“
„Tja, das Leben ist nicht perfekt. Man muss immer Zugeständnisse machen.“
Ich seufzte nur. Das ließ sich nicht bestreiten.
Die Eingangstür öffnete sich, als Ulrich hereinkam. Diesmal war der Karton in seinen Händen ziemlich klein.
„Ihre Bestellung“, verkündete er und stellte den Karton vor mir auf den Tisch.
Ich öffnete den Deckel und nahm eine schwarze Metallmaske von ihrem Strohbett.

Maske aus schwarzem Mithril.

Rüstung: 5

Runen: 0/3

„Alles in Ordnung?“, fragte Ulrich.
„Perfekt“, sagte ich und legte sie an. Sie passte wie angegossen auf mein Gesicht.
Der Assistent des Alchemisten verabschiedete sich von Isabella. Als die Tür hinter ihm zufiel, meinte sie sarkastisch: „Schätzchen, jetzt bist du der Mann mit der eisernen Maske.“
„Genaugenommen ist es Mithril“, korrigierte ich.
Ich hörte ein Klopfen an der Tür und drehte mich um. Allerdings trat niemand ein.
„Was hast du gesagt?“, lachte sie. „Rede lauter! Ich kann dich nicht verstehen.“
Obwohl meine Stimme zugegebenermaßen dumpf klang, war sie ziemlich deutlich. Ich holte gerade tief Luft, um ihr genau das ins Ohr zu schreien, als ich abrupt innehielt und stattdessen hauchte: „Wir haben Besuch.“
Ein kalter, unbarmherziger Blick brannte mir im Rücken.



Veröffentlichung am 28. Oktober 2019



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